Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
283-4
Das Unsagbare zur Sprache bringen
121
2005
Karoline Münz
Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (1945/46) ist ein Prozess der Übersetzungen: in die und aus den vier offiziellen Gerichtssprachen, in den juristischen Diskurs, aus den kommunikationslosen Täter- und Opfersprachen in bedeutende Aussagen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und weiter in die Geschichtsbücher der Zukunft. Gelingen soll dies mit Hilfe des technikunterstützten Simultandolmetschens, das im Nürnberger Gerichtssaal erstmals eingesetzt wird. Der Aufsatz untersucht Momente des übersetzerischen Scheiterns und dekonstruiert die Logik der unmittelbaren Präsenz als Grundprinzip der Nürnberger Dolmetschung als illusionär und gefährlich. Denn erst, wenn die eigentliche Schwierigkeit beim zur Sprache Bringen der nationalsozialistischen Verbrechen ihre übersetzerische Entsprechung in einer ebenso gebrochenen, differenten Fremd-Sprache findet, lässt sich das Ausmaß der menschlichen Katastrophe des Holocaust in eine erfahrbare Form bringen.
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Das Unsagbare zur Sprache bringen. Über die Aufgabe der Dolmetscher beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Karoline Münz Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (1945/ 46) ist ein Prozess der Übersetzungen: in die und aus den vier offiziellen Gerichtssprachen, in den juristischen Diskurs, aus den kommunikationslosen Täter- und Opfersprachen in bedeutende Aussagen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und weiter in die Geschichtsbücher der Zukunft. Gelingen soll dies mit Hilfe des technikunterstützten Simultandolmetschens, das im Nürnberger Gerichtssaal erstmals eingesetzt wird. Der Aufsatz untersucht Momente des übersetzerischen Scheiterns und dekonstruiert die Logik der unmittelbaren Präsenz als Grundprinzip der Nürnberger Dolmetschung als illusionär und gefährlich. Denn erst, wenn die eigentliche Schwierigkeit beim zur Sprache Bringen der nationalsozialistischen Verbrechen ihre übersetzerische Entsprechung in einer ebenso gebrochenen, differenten Fremd-Sprache findet, lässt sich das Ausmaß der menschlichen Katastrophe des Holocaust in eine erfahrbare Form bringen. The Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal, held in Nuremberg in 1945/ 46, can be viewed as a trial of translations. It featured translation into legal discourse, from and into the four official languages of the trial, from both the delinquents’ and the victims’ distressed testaments into significant communication, and from past events into current hearings and future historical textbooks. This was to be accomplished through the technical system of simultaneous translation, used at Nuremberg for the first time. Analysing instances of translation failure, this paper deconstructs the logic of unmediated presence as a basic principle of the trial’s translation policy, and reveals the illusory and dangerous nature of this project. It suggests substituting, for the accurately edited Nuremberg translations, a broken foreign language interpretation. Only when the actual difficulty of putting national-socialist crimes into words has found its translation into similarly fragmented and different language can the dimension of the human catastrophe of the holocaust be taken. KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 380 Karoline Münz “Bei diesem Prozeß braucht man keine Anwälte. Was hier gebraucht wird, das ist ein guter Dolmetscher.” (Hermann Göring) 1. Der Angeklagte: Übersetzen und Überleben Am 1. Oktober 1946 beendet Lordrichter Sir Geoffrey Lawrence einen Gerichtsprozess, der Geschichte machen wird: den “Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof” (IMT). Verhandelt wurde über Leben und Werk der 22 überlebenden höchsten Vertreter des nationalsozialistischen Staates. Soeben verhängte das multinationale Gericht zwölf Urteile zum Tod durch den Strang. Einer der Verurteilten ist Fritz Sauckel, von 1942 bis zum Zusammenbruch “Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz” ausländischer Zwangsarbeiter. Angesichts des Todesurteils ist er fassungslos. Binnen weniger Stunden hat Sauckel eine Erklärung für seine Verurteilung gefunden, für die er Sympathisanten zu gewinnen versucht: “Er bestürmt Friseur, Gefängnisarzt und Psychologen mit dem Hinweis, daß alles zweifellos einem Übersetzungsfehler zuzuschreiben sei. Er sei fest überzeugt, daß man den Irrtum noch entdecken und das Urteil revidieren werde” ( Heydecker/ Leeb 1979: 475). Seiner Überzeugung zum Trotz wird Sauckel in der Nacht zum 16. Oktober 1946 in der Turnhalle des Nürnberger Justizgebäudes gehängt. Diese Momentaufnahme aus dem Leben Sauckels bringt in wenigen Sätzen eines der zentralen Probleme des Nürnberger IMT-Prozesses auf den Punkt: die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung jedes während des Prozesses geschriebenen und gesprochenen Wortes. Dieser Aufsatz versucht, Funktionsweise und Bedeutung der unterschiedlichen Übersetzungstechniken da aufzuzeigen, wo sie ihren vom Gericht zugewiesenen Bereich des reibungslosen Funktionierens verlassen, ins Stocken geraten oder ganz versagen. Der technischen Vision einer Simultan-Dolmetschmaschine, die zeitnah und präzise jedes Wort in jede andere der vier Gerichtssprachen 1 transformieren soll, steht eine heterogene Gruppe von Dolmetschern gegenüber, die Angeklagten, Richtern, Anklagevertretern, Verteidigern und Zeugen ihre Stimmen leihen müssen. Angesichts der Größe ihrer Aufgabe und der Schwierigkeit des zu übersetzenden Gegenstandes können sie die in sie gesetzten Hoffnungen nur enttäuschen. Dabei ist die Bedeutung der gerichtlichen Übersetzung in Nürnberg, wie die Prozessdolmetscherin Marie-France Skuncke feststellt, “capitale, au sens propre du terme” (Skuncke 1989: www, Hervorhebung nicht im Original). Wo es für die Angeklagten, aber auch für Zeugen, Richter, Anwälte und eben Dolmetscher im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht, kommt es nicht nur auf eine ausreichende Bedienung des physischen Sprech- und des technischen Übersetzungsapparates an. Dass Sauckel eine fehlerhafte Übersetzung für seine Hinrichtung verantwortlich macht, ist nur die eine Seite des Eingriffs in das Leben eines Menschen durch eine Übersetzung, die die von Skuncke angesprochene Verantwortung von Dolmetschern und Übersetzern verdeutlicht. Vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal kommen verschiedene Lebens- und Leidensgeschichten zur Sprache, in denen Übersetzungen in einem nicht unerheblichen Maße eine lebenserhaltende oder -verkürzende Rolle spielen. Gerade in der Welt der Konzentrationslager, in denen ein Häftling in ein unvergleichlich fragiles Verhältnis von Leben und Tod gestellt wird und wo, wie sich Primo Levi (1986: 92) erinnert, der Gummiknüppel der Aufseher “der Dolmetscher” genannt wird - “der, den alle verstanden” -, fungiert die (Nicht)-Übersetzung häufig als Zünglein an der Waage. Das Unsagbare zur Sprache bringen 381 So kann der Nürnberger Zeuge Samuel Rajzman vor dem IMT nur deshalb über die Vernichtungsmaschinerie des Konzentrationslagers Treblinka Bericht erstatten, weil ihn ein alter Freund erkannt und als Dolmetscher empfohlen hat: “Ich stand schon nackt, um auf der ‘Himmelfahrtstraße’ zur Gaskammer zu gehen. Mit einem Transport waren etwa 8000 Juden aus Warschau angekommen. Im letzten Augenblick, bevor wir auf die Straße traten, hat mich der Ingenieur Galeski bemerkt, ein Freund aus Warschau, den ich schon viele Jahre kannte. Er war Aufseher über die jüdischen Arbeiter. Er sagte mir, ich solle zurückkehren, da man einen Dolmetscher aus dem Hebräischen ins Französische, Russische, Polnische und Deutsche brauche. Und auf diese Weise gelang es ihm, mich anzustellen.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 8/ S. 360) Auf das Verhältnis von Übersetzung und Überleben geht auch Walter Benjamin im Vorwort seiner Übersetzung von Gedichten des französischen Dichters Charles-Pierre Baudelaire ein. 2 Benjamin beginnt seinen Übersetzeraufsatz mit der These, dass literarische Übersetzungen nicht eine möglichst Sinn-volle Vermittlung des Originals an wirkliche oder mögliche Rezipienten zum Ziel haben dürfen, sondern das Fortleben des Originals in einer übersetzten Form. Denn Original und Übersetzung verbinde ein “Zusammenhang des Lebens” (Benjamin (19+) 1972: 10), der nicht genealogisch verstanden werden darf. Vielmehr trägt eine Übersetzung idealer Weise nach außen, was tief im Inneren des Originals verborgen angelegt ist: Sie bringt, um Benjamins Bild zu benutzen, “den Samen reiner Sprache zur Reife” (Benjamin (19+) 1972: 17). Erst seine Übersetzung lässt das Original (und damit seinen Autor) überleben - und zwar, indem sie es verändert: “[…] so ist hier erweisbar, daß keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde. Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.” (Benjamin (19+) 1972: 12) Aus seiner veränderten Übersetzung, der der biologischen Ausdruck der Metamorphose nicht fern ist, schöpft das Original die Kraft, weiterzuleben; seine neue Form erlaubt es ihm, wie Levi formuliert, “verwandelt, mißverstanden oder vielleicht auch durch eine unverhoffte Möglichkeit der fremden Sprache verstärkt” (Levi 1986: 176) sprachliche Aspekte aufgedeckt zu sehen, die dem, was eigentlich gemeint war, möglicherweise besser entsprechen als das Original. Hier offenbart sich die Unmöglichkeit eines übersetzerischen Abbildens von Sprache. Jedes Übersetzen, auch in seiner extremen Form des simultanen Dolmetschens, muss immer mit der Selbstverständlichkeit und Selbst-Verständlichkeit einer direkten Übertragung von Sinn brechen. Der Aufsatz macht sich zum Programm, Momente dieser Differenz im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess nachzuzeichnen und dort jeweils zu verdeutlichen, was Michael Wetzel (2002: www) programmatisch die “Wendung von der Mimesis zur Mehrwert-Montage” im übersetzerischen Denken nennt. Wenn also Fritz Sauckel sein Todesurteil als Folge von Falschübersetzungen ansieht, dann folgt er genau dieser Denkfigur der übersetzerischen “Mehrwert-Montage”: Seinen vermeintlich die Anschuldigungen gegen ihn entkräftenden Aussagen ist durch und in der Prozess-Übersetzung anscheinend soviel Kriminalität hinzufügt worden, dass er, unschuldig, vom IMT unangemessen hart bestraft worden ist. Mit einer Theorie der Übersetzung als Abbild des Originals ist diese Argumentation nicht mehr vereinbar. 382 Karoline Münz 2. Das Gericht: Logik einer Übersetzungsmaschine Wer sich einen Kriminalfilm ansieht, der kann verschiedene Techniken bei der polizeilichen und gerichtlichen Aufdeckung eines Falls beobachten, die viele Gemeinsamkeiten mit dem aufweisen, was ein Übersetzer für die Übertragung eines Textes in eine andere Sprache leistet. Analog zu dieser literarischen Übersetzer-Tätigkeit kann auch die polizeiliche Ermittlung, die in ein Gerichtsverfahren mündet, als Übersetzung der vorliegenden Spuren in einen Tathergang und in den juristischen Diskurs einer Verhandlung verstanden werden. Die hierbei verwendete Technik ist die des Abbilds, das für ein vorliegendes Phänomen (z.B. eine rechtfertigende Aussage) genau die Entsprechung in einer anderen Diskursform (z.B. dem Gesetzbuch) sucht, die den Sinn des Gesagten spiegelt, ohne ihn zu verändern. Gefahndet wird nach dem fremdsprachlichen Signifikanten, der den Signifikanten in der zu übersetzenden Sprache ersetzt, ohne dabei das gemeinsame Signifikat zu beeinflussen. Für diese gerichtliche Übertragungsarbeit findet sich im französischen Sprachgebrauch eine begriffliche Entsprechung: “jemanden vor Gericht stellen” bedeutet dort “traduire quelqu’un en justice”. Cornelia Vismann (2004: 47) resümiert Selbstbild und Arbeitsweise der Rechtsprechungs-Instanz deshalb als “Übersetzungsmaschine”. Die Logik von Übersetzungsmaschinen beschreibt Günter Abel als die Annahme, “daß das Sprechen und das Verstehen einer Sprache sowie das Übersetzen […] Vorgänge sind, die als das Beherrschen eines Kalküls bzw. Algorithmus angesehen werden können” (Abel 1997: 10). Die Möglichkeit einer Übersetzung wird weder von der maschinellen Sprachübersetzung noch von der rechtlichen Übersetzung in Frage gestellt. Ihr jeweiliges Gelingen ist nur von technischen Vorgaben abhängig. Ist das “Kalkül” einmal gefunden, widerspricht nichts mehr einer erfolgreichen Übertragung von Bedeutung in die neue Sprache im Sinne eines Abbilds, das, um mit der IMT-Eidesformel zu sprechen, “die reine Wahrheit sprechen […], nichts verschweigen und nichts hinzufügen” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 4/ S. 344) will. Mit seiner Hilfe soll die eine korrekte Entsprechung aus dem Fundus der (sprachlichen und juristischen) Möglichkeiten ausgewählt und unvermittelt übertragen werden. Der Übersetzungsprozess als solcher bleibt unsichtbar. Das Selbstverständnis des IMT entspricht in allem dem einer Übersetzungsmaschine. Die Richter von Nürnberg streben nach einer strafprozessualen Übertragung der einen Wahrheit des Holocaust. Die Fülle des zu behandelnden Materials und die Vielsprachigkeit potenzieren das juristische Übersetzungsproblem des ersten internationalen Kriegsverbrechertribunals in der europäischen Geschichte. Der zugrunde liegende Logarithmus, der trotz aller Probleme den Prozesserfolg garantieren soll, ist die Dolmetschmaschine, das System des technikunterstützten Simultandolmetschens. 3 Solange das Dispositiv des “technischen und menschlichen Apparat[s]” (Nürnberger Nachrichten 1945: 26) reibungslos funktioniert, stellt niemand die generelle Möglichkeit eines Gelingens der Übersetzung in Frage; stattdessen verschiebt sich die Übersetzungszu einer rein technischen Übertragungsproblematik, die durch einen stattlichen Regelkatalog beherrschbar scheint. Bis ins letzte Detail sind die zwölf verschiedenen Übersetzungswege, die sich aus den Prozesssprachen des IMT ergeben, 4 ausgearbeitet und durchdacht, ist das Filene-Finlay-IBM-System getestet und perfektioniert worden, um auf die Schwere der Anklage und die Komplexität des zu verhandelnden Gegenstandes mit einem ebenso komplexen technischen Apparat reagieren zu können. Das Unsagbare zur Sprache bringen 383 Der Versuch einer technisierten Kontrolle des offensichtlich unüberschaubaren Prozess- Gegenstands durch das Gericht macht auch vor den Dolmetschern selbst nicht halt. Was der langjährige Chefinterpret im Auswärtigen Amt Paul-Otto Schmidt als Dolmetscher-Bild der 20er Jahre notiert, hat seine Gültigkeit für das IMT auch 25 Jahre später nicht verloren: Dolmetscher werden als “eine Art Sprachautomat angesehen, in den man auf der einen Seite etwas hineinredete, das auf der anderen Seite mechanisch in der gewünschten Sprache wieder herauskam” (Schmidt 1949: 81). Dieser Vision des Dolmetschers als letztes Rädchen in der Übersetzungsmaschine kommt beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess eine erhebliche Bedeutung zu. Analog zum technisch-maschinellen Aufwand, den das IMT betreibt, haben auch die Dolmetscher ihre spezielle Funktion, wie Vismann (2004: 54) analysiert: “Damit das Kriegsverbrechertribunal nicht an Sprachlosigkeit und Sprachverwirrung scheitert, haben Dolmetscher […] dafür zu sorgen, dass die tief greifende Unübersetzbarkeit des Holocaust gar nicht erst wahrnehmbar wird.” In der babylonischen Sprachenvielfalt der Prozessteilnehmer und -inhalte tragen die Dolmetscher die Verantwortung dafür, dass eine reibungslose Übersetzung gelingt, die gleichzeitig ihr Übersetzt-Sein verbirgt. Die Präsenz und Unvermitteltheit suggerierende Gleichzeitigkeit der simultanen Übersetzungen (die Zeitspanne zwischen Originalaussage und Beginn der gedolmetschten Version darf laut Reglement nur acht Sekunden betragen (cf. Vismann 2004: 52)), ist hierbei nur ein erster Schritt. Denn mit einem umfangreichen Regelkatalog 5 bemüht sich das Gericht auch um eine Disziplinierung der Prozessteilnehmer: Sie sollen ihre Äußerungen so gestalten, dass der dargestellte Sachverhalt direkt von den Dolmetschern begriffen und übertragen werden kann. Der gerichtliche Regelkatalog, der angesichts neu auftretender Sprachschwierigkeiten während des Prozesses laufend ergänzt wird, beinhaltet Vorgaben über das Sprechtempo im freien Vortrag genauso wie über die Art und Weise der Artikulation. Mit diesen Vorgaben zielt das Gericht auf eine Art abbildender Wortwörtlichkeit der Übersetzung: Den Dolmetschern soll in einem angemessenen Tempo und mittels des in allen Gerichtssprachen möglichen Hauptsatzaufbaus ein Wort nach dem anderen geliefert werden, für das sie dann nur noch die entsprechende Vokabel nennen müssen. Indem das Gericht seine Übersetzungstechnik so weit es geht vervollkommnet, versucht es, den unüberbrückbaren Abstand zur unübersetzbaren “Wahrheit” des Holocausts so aufzufüllen, dass dabei der ursprüngliche Mangel vergessen gemacht werden soll. Dank der menschlich-technische Übersetzungsmaschinerie hält die Übersetzungsmaschine IMT den Holocaust für re-präsentierbar, zurück in die Präsenz des Verfahrens übersetzbar und schließlich erfahrbar. Der Holocaust als die “historische Wahrheit” 6 soll - so will es das Kriegsverbrechertribunal - übersetzend aus dem vorgetragenen Beweismaterial abgebildet werden; die ausgefeilte Technik und die Sprechregeln sorgen dafür, dass der Dolmetscher als Träger dieses Übersetzungsprozesses weitestgehend unsichtbar bleibt. Der Übersetzer garantiert die unmittelbare Präsenz der Übertragung, ohne aber als Medium dieses Vermittlungsprozesses auf sich aufmerksam zu machen. Mit der unvermittelten Präsenz des gesprochenen und simultan gedolmetschten Wortes, die durch die Vielzahl der Regeln unterstützt werden soll, steht und fällt die gerichtliche Strategie des zur Sprache Bringens der nationalsozialistischen Verbrechen. 384 Karoline Münz 3. Die Anklage: über die Urkunde zur Kunde Die internationale Anklagebehörde des Nürnberger IMT-Prozesses steht in der Vorbereitungsphase des Gerichtsverfahrens vor der Herausforderung, die zwölfjährige Geschichte des nationalsozialistischen Staates aufzurollen und seine Verbrechen zu dokumentieren. Wie schwierig es allein schon ist, in der Anklageschrift die von der nationalsozialistischen Staats-, Partei- und Militärführung begangenen Verbrechen gegen die Juden korrekt zu benennen, zeigt die Tatsache, dass erst einmal ein Name für diesen neuen Typ des systematischen Massenmords gefunden werden muss, damit er überhaupt in den juristischen Diskurs zu bringen ist (cf. Internationaler Gerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 26). Der Neologismus Genocidium entsteht aus dem griechischen génos (Geschlecht, Sippe) und dem lateinischen Suffix -zid (von caedere = töten) als griechisch-lateinisches Doppelfremdwort und verbindlicher terminus technicus der Anklage. 7 Fast scheint es, als habe sich keine der Anklagebehörden dazu durchringen können, die sprachliche Entsprechung eines derartigen Verbrechens in den ureigenen englischen, französischen und russischen Wortschatz einzugliedern. Auch die Beweisführung der Anklage im IMT-Prozess reflektiert das Problem der Direktheit in der gerichtlichen Übersetzung. Die Ankläger beschränkt sich auf den Beweis mittels Urkunden, den so genannten Dokumentenbeweis 8 - weil dieser, so glaubt der amerikanische Chefankläger Robert Jackson, die unmittelbarste und authentischste Art ist, den Sachverhalt zu klären: Die nationalsozialistischen Verbrecher sollen “sich selbst durch ihre eigenen Dokumente anklagen” (Kempner 1983: 212). Noch schärfer formuliert diese Absicht Jacksons Landsmann Sidney Alderman in seiner Anklagerede: “Was jedoch die Vorlage der deutschen Dokumente betrifft, so möchte ich, daß die Dokumente für sich selbst sprechen” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 283). Die Präsenz der Dokumente speist sich aus der Direktheit der Befehle, Verordnungen und Reden der Angeklagten selbst. Diese Direktheit erlaubt eine Übersetzung in den juristischen Diskurs als unvermittelte Übertragung, die ihre Medialität unterdrückt. Indem sie den vorliegenden Nazi-Dokumenten die Eigenschaft zubilligen, für sich selbst sprechend zu sein, negieren beide Ankläger (stellvertretend für die gesamte Nürnberger Staatsanwaltschaft) die Notwendigkeit ihrer Vermittlung und damit ihre eigene anwaltliche Rolle als Fürsprecher - ins Fremdwort übersetzt: Dolmetscher - der Texte, auf die sich die Anklage stützt. Ähnlich wie das Gericht bei der technischen Vorbereitung der Prozesse glauben die Ankläger, dass allein eine ausreichende Quantität an schriftlichem Material genügt, um eine Übersetzung der Tatbestände in den juristischen Diskurs und in die Köpfe der Beteiligten zu bewerkstelligen. Angesichts des Ausmaßes der Naziverbrechen kann dieses Anliegen nur scheitern. Denn für den Holocaust als unvorstellbares Verbrechen muss zunächst einmal eine Sprache gefunden werden, in die und in der er übersetzbar wird. Jean-François Lyotard schließt die unsagbare Erfahrung Auschwitz und den Komplex der Judenvernichtung aus diesem Grund aus dem Kreis der im juristischen Diskurs verhandelbaren Rechtsstreite (litige) aus und macht an ihrem Beispiel die Kategorie der Widerstreite (différend) fest. Der Widerstreit gründet sich auf das Paradox des “instant du langage où quelque chose qui doit pouvoir être mis en phrases ne peut pas l’être encore” (Lyotard 1983a: 29). Weil der Holocaust eine andere Sprache als alles bisher Dagewesene spricht, muss er übersetzend für den Prozess sprechend gemacht, also zur Sprache gebracht werden, um erfahrbar zu sein und im benjaminschen Sinne “fortleben” zu können (cf. Benjamin (19+) 1972: 11f.). Das Unsagbare zur Sprache bringen 385 Die Anklagebehörde bleibt der gerichtlichen Abbildtechnik bei der Feststellung von Verbrechen verhaftet. Sie hält am groß angelegten Dokumentenbeweis fest, mit dem sie das Ziel verfolgt, die Echtheit der nationalsozialistischen Verbrechen lückenlos zu verbürgen. Insbesondere überlebende KZ-Zeugen könnten, so fürchten nicht nur die Ankläger, sondern auch viele der Prozessbeobachter, dieser Aufgabe angesichts des erlittenen Unrechts nicht gewachsen sein. Gabi Müller-Ballin (1995: www) zitiert einen Ausspruch Jacksons, der diesen problematischen Anspruch an die Beweisführung illustriert: “Wir müssen unglaubliche Ereignisse durch glaubwürdige Beweise festhalten.” Die Nürnberger Ankläger halten urkundliches Beweismaterial für glaubwürdiger als mündliche Zeugenaussagen. Untermauert wird dieser Glaube durch die akribische Dokumentation der Authentizität der Dokumente in Form von schriftlichen eidesstattlichen Versicherungen (Affidavits) von mindestens zwei Soldaten, die die Dokumente gefunden und überprüft haben. Im Nürnberger Prozess lässt sich diese Authentifizierungskette (die aus Zeitmangel nicht ins offizielle Protokoll eingegangen ist) an einer Stelle des Protokolls nachvollziehen: im Vorspann des Films, den die Amerikaner aus dem Material zusammengestellt haben, das anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager im Westen Europas gedreht wurde. Hier erscheinen zwei schriftliche eidesstattliche Erklärungen hochrangiger amerikanischer Offiziere, die die “wahre Wiedergabe der Personen und Szenen, die photographiert wurden” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 478), bezeugen. An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden, inwieweit das menschliche Bezeugen der Authentizität eines Dokuments eben dieser Authentifizierung dienen kann, da die Kunde des unglaubwürdigen Zeugens doch genau mittels der glaubwürdigeren Urkunde umgangen werden sollte. Das paradoxe Problem der Authentifizierungsketten macht auch Sonja Neef zum Thema ihrer Analyse der Tagebücher Anne Franks und Adolf Hitlers. Sie kommt zu dem Schluss, dass “the idea of authenticity can no longer be rooted in a single and indivisible origin, for any certificate of authenticity is as much in need of authentication as the doubted document itself” (Neef 2006: 30). Allerdings gibt es Momente, die die Agonie des dokumentengestützten Prozessablaufs durchbrechen. Dies gelingt z.B. dem stellvertretenden französischen Hauptankläger Edgar Faure, der in seiner Anklagerede die Verschleppung von jüdischen Kindern aus dem französischen Izieu vorträgt und dabei, anstatt das entsprechende Dokument selbst und unvermittelt sprechen zu lassen, die Form des Berichts zum Thema macht: “Ich glaube, daß man wohl sagen kann, wenn es noch etwas Erschütternderes und Schrecklicheres gibt als die konkrete Tatsache der Verschleppung dieser Kinder, so ist es die verwaltungsmäßige Bearbeitung dieser Sache, der dienstliche Bericht über eine Konferenz, bei der verschiedene Beamte sich darüber ruhig wie über einen normalen Vorgang ihrer Dienststellen unterhalten.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 7/ S. 54) Hier sprechen die Dokumente eine noch schrecklichere Sprache als die bloßen Tatsachen; und genau diesen Bruch, der sich in der Übersetzung des Geschehenen in den schriftlichen Bericht zeigt, hat der Ankläger erkannt. In diesen seltenen Momenten, in denen die verandernde Kraft der Übersetzungen vor Gericht zugelassen wird, übersetzt sich auch das Grauen des Holocaust, wird es für die Beteiligten in Nürnberg fühlbar, wie der Verteidiger Carl Haensel festhält: 386 Karoline Münz “Die Luft in den Arbeitsräumen ist durchzittert von der Angst und dem Schrecken, die aus diesen Dokumenten wiederaufsteigen und uns nun einbeziehen. In ihrer saugenden Stille werden die kleinen schwarzen Zeichen auf den weißen Seiten in wache Gedanken umgesetzt.” (Haensel 1950: 86) Die Übersetzung, das Zur-Sprache-Bringen der traumatisierenden Ereignisse, von den unscheinbaren “kleinen schwarzen Zeichen” der Dokumente hinein in die Köpfe der Beteiligten, ist so zumindest momenthaft möglich - eine nicht unwichtige Erkenntnis angesichts der Tatsache, dass, genauso wie das Verhältnis vom Dokument zur Wahrheit, auch das Verhältnis der Zeugen zum tatsächlich Geschehen in einem komplexen Verhältnis steht. Der Holocaust ist ein Verbrechen, das keine Zeugen hinterlässt, sondern nur Opfer: die mehreren Millionen Getöteten und die unzähligen, die traumatisiert überlebt haben, ohne das Grauen zur Sprache bringen zu können. Susanne Düwell (2004: 27) definiert den Holocaust deshalb mit Shoshana Felman als “unbezeugbares Ereignis”. Darüber hinaus stellt der Komplex Holocaust und Zeugenschaft auch ein juristisches Dilemma dar, das der Rechtstheoretiker Thomas-Michael Seibert als “rechtssemiotisches Problem” der Konzentrationslager und ihrer Tötungsmaschinerie der Gaskammern versteht: “Wenn ‘Zeuge’ jemand ist, der tatsächlich etwas mit eigenen Augen gesehen hat, wie kann es dann einen Zeugen für die Endlösung und für den Tod in der Gaskammer geben? ” (Seibert o.J.: www). Genau das ist das Ausgangsproblem von Lyotards Widerstreit und das Paradox der Gaskammern, aus der sich auch die so genannte Auschwitz-Lüge speist: “La seule preuve recevable qu’elle tuait est qu’on en est mort. Mais, si l’on est mort, l’on ne peut témoigner que c’est du fait de la chambre à gaz” (Lyotard 1983a: 22). Auch wenn für den IMT-Prozess dieser letzte Beweis für die Gaskammer-Morde nicht geliefert werden muss, ist der Holocaust für Überlebende und Prozessbeobachter gleichermaßen schwer vorstellbar, wie der amerikanische Traumaforscher Dominick LaCapra analysiert: “The Shoah was a reality that went beyond powers of both imagination and conceptualization, and victims could at times not believe what they went through or beheld. It posed problems of ‘representation’ at the time of its occurrence, and it continues to pose problems today.” (LaCapra 1994: 220) Den Überlebenden des Holocaust fehlt die Möglichkeit, zur Sprache zu bringen, was sie erlebt haben. Trotzdem wollen und müssen sie vor allem in den entsprechenden Gerichtsprozessen ihre Erfahrungen in eine mitteilbare Form bringen. Holocaust-Zeugen, die unter Lyotards Definition des Opfers fallen - “Il est d’une victime de ne pas pouvoir prouver qu’elle a subi un tort” (Lyotard 1983a: 22) - bleiben in dem Dilemma gefangen, nicht übersetzen zu können, was für sie unaussprechbar ist. Ihnen fehlt die Möglichkeit einer Diskursform, die ihnen das erneute Durchleben-Müssen der traumatischen Situation erspart. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass in einer Übersetzung mehr passieren muss als ein bloßer Abbildungsvorgang des Grauens. Vielmehr geschieht für überlebende KZ-Häftlinge der Holocaust immer wieder aufs Neue, solange der Versuch, die Erfahrung mitzuteilen, an der Sprache scheitert. Aus diesem Teufelskreis von traumatischem Erinnern und unmöglichem Bezeugen lässt sich aber auch schließen, dass der Holocaust als stummes Trauma überwindbar ist, findet sich nur eine Diskursform, in die er sich übersetzen lässt. In einer solchen kommunikationslosen Situation wäre es an den Fürsprechern, den Fragestellern und den Dolmetschern, den Zeugen vor Gericht sprechend zu machen. Von dieser Das Unsagbare zur Sprache bringen 387 Möglichkeit Gebrauch macht der Ankläger im Jerusalemer Eichmann-Prozess, Gideon Hausner, der in seinem Anspruch, Leben und Sterben in allen Konzentrationslagern Europas zu dokumentieren, auf ein polnisches Lager stößt, aus dem (bis ins Jahr der Verhandlung 1961) kein Häftling überlebt hat: “So fiel es mir zu, die Geschichte des Todeslagers Belzec zu erzählen, eines Ortes, den ich selbst nie gesehen hatte, der aber zur Begräbnisstätte meiner Onkel, Tanten, Vettern und Kindheitsfreunde geworden war” (Hausner 1967: 529f.). Der Ankläger macht sich selbst zum Zeugen der Verbrechen, derer er Eichmann anklagt. Er spricht für die Opfer von Belzec, ohne das Lager je gesehen zu haben, und wird damit zu einem ähnlichen Dolmetscher der Toten wie die KZ-Überlebenden, die für den unbezeugbaren Tod ihrer Mithäftlinge in den Gaskammern bürgen. Die hier vorgestellten Beispiele für Zeugenschaft im Angesicht des Holocaust betonen die Unvereinbarkeit von nationalsozialistischem Massenmord und der Übersetzungstechnik des sprachlichen Abbildens, wie sie die internationale Staatsanwaltschaft beim Nürnberger Prozess praktiziert. Ein eifriger Ankläger, der einen überlebenden Zeugen “verstanden” hat und das ihm zugefügte Unrecht in drei rhetorisch brillanten Sätzen synthetisiert, könnte - anstatt ihn sprechend gemacht zu haben - bei seinem Zeugen ein noch viel tieferes Schweigen verursachen und sein Leid vergrößern. 9 Vielmehr soll in der Zeugenaussage das erlittene Trauma des Holocaust zur Sprache gebracht werden, ohne den gebrochenen Ausdruck zugunsten einer zusammenhängenden Aussage zu bereinigen - denn im Nicht-Sprechen-Können offenbart sich oft viel mehr als in einem korrekten, aussagekräftigen Bericht. “The problem is not the nature of the event, nor an intrinsic limitation of representation; rather, it is the split between the living of an event and the available forms of representation which/ in which the event can be experienced” (Alphen 1999: 25f.). Der Traumaforscher Ernst van Alphen spielt hier insbesondere mit seiner Dopplung “which/ in which” darauf an, dass der bezeugende Sprechakt einen performativen Satz darstellt. Analog lässt sich aus van Alphens Analyse schließen, dass sich die traumatische Erfahrung des Holocaust in einer performativen Äußerung mitteilen kann, sobald für diese die passende Diskursform gefunden ist. Losgelöst von einem mitteilenden Subjekt entsteht im Akt des Sprechens ein Sprachausdruck, der Akt, Handlung wird. Eine solche “Form” der Übersetzung, die gleichzeitig Übersetzung als Form ist (cf. Benjamin (19+) 1972: 16), macht es möglich, einen sprachlichen oder auch nichtsprachlichen Ausdruck zu finden, durch den, aber eben auch in dem sich das traumatische Erlebnis offenbaren kann. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und auch in den meisten anderen Nazi-Folgeprozessen ist der Film die übersetzerische Form, die den Prozessbeteiligten das von den Dokumenten Ausgelassene zeigt und die gleichzeitig die grausame “Art des Meinens” (Benjamin (19+) 1972: 14) der Holocaust-Erfahrung, die belastende Sprachlosigkeit angesichts der schrecklichen Bilder, erfahrbar macht. An zwei Stellen greifen die Nürnberger Ankläger auf Filmmaterial zurück: beim Beweis der “nationalsozialistischen Verschwörung” (Anklagepunkt eins) und bei der Beweisführung zu Anklagepunkt Zwei, den “Verbrechen gegen die Juden”. 10 Obwohl keine amtlichen Urkunden über offizielle KZ-Mordbefehle gefunden worden sind und obwohl das Dilemma der Zeugen das direkte Verbürgen des Gaskammertodes unmöglich macht, besteht für alle Prozessbeteiligten - auch für Angeklagte und Verteidiger - nach Anschauen des schlicht “Nazi- Konzentrationslager” betitelten Beweisstücks 11 kein Zweifel mehr an der objektiven Wirklichkeit der Judenvernichtung (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 477). Wie diese Wirkung gelingt, deutet US-Ankläger Thomas Dodd bereits in seiner Einführung an: “Dieser Film gibt […] in kurzer und unvergeßlicher Form eine Erklärung 388 Karoline Münz führung an: “Dieser Film gibt […] in kurzer und unvergeßlicher Form eine Erklärung dessen, was das Wort ‘Konzentrationslager’ bedeutet” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 476). “Kurz” und “unvergesslich” formulieren den wohl krassesten Gegensatz zu allem, was bisher zur Beweisführung der Anklage beigetragen hat: Allein schon weil sich das Filmmaterial von der Flut der Dokumente und ihrer langatmigen Verlesung abhebt, bewirkt es eine andere Prozess-Atmosphäre. Die eigentliche “Unvergesslichkeit” des Films ruht allerdings in einer tieferen Schicht: in der Unerträglichkeit der Bilder, die gleichermaßen auf alle Anwesenden wirken. Einer der wesentlichen Gründe für das lähmende Entsetzen, das der Film auslöst, offenbart sich in Werner E. Süskinds Verhandlungsberichts, den zu beenden er sich überwinden muss, denn: “Die Feder sträubt sich, über den Film zu berichten” (Süskind 1963: 27). Aus der beschriebenen Schockwirkung und den Schwierigkeiten des Zur-Sprache-Bringens ihrer Erlebnisse lässt sich ableiten, dass die Prozessbeteiligten nach der Filmsichtung vor dem gleichen Dilemma stehen wie die Holocaust-Überlebenden, die vor dem Gericht als Zeugen zu Wort kommen. Der “Nazi-Konzentrationslager”-Film hat sie stumm gemacht. Für das Grauen, das zu erfahren sie so begierig waren, haben sie nun selber keine Übersetzung mehr. Richter, Ankläger, Verteidiger, Angeklagte und Beobachter werden somit zu Zeugen und sprachlosen Opfern des Holocaust, wie Robert André am Beispiel Süskinds analysiert: “Die Sprache funktioniert nicht einfach, sie steht nicht bequem zur Verfügung, sondern Süskind muss vielmehr nach Sprachbildern suchen - ‘die Woge oder Schneewächte gliederpuppenhaft weicher und krampfig starrer Leiber’ - welche, gerade weil diese Metaphern so verfehlt und grotesk unangemessen sind, den schockartigen Eindruck vernehmen lassen, der das eigene Selbstbild und Selbstverständnis zum Einstürzen zu bringen droht.” (André 2004: 35, Hervorhebung im Original) Genau dieselbe Erfahrung macht der österreichische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jean Améry beim innersprachlichen Übersetzen seiner unaussprechlichen KZ-Erfahrungen in Metaphern: “Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es ‘wie ein glühendes Eisen in meiner Schulter’ oder war dieses ‘wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl’? - ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karrussel der Gleichnisrede.” (Améry 1966: 63) Dass alle Anwesenden im Angesicht des Films zu Opfern geworden sind, die dieselbe Sprachlosigkeit teilen, kann nur bedeuten, dass mit dem Filmdokument die Diskursform gefunden worden ist, die den Holocaust für den Nürnberger Prozess übersetz- und damit erlebbar macht. Im verfahrenen Verfahren zur Feststellung der nationalsozialistischen Massenmorde, in dem die Opfer bislang kaum zu Wort, geschweige denn zur Sprache gekommen sind, ist der Konzentrationslager-Film der Stein, der das Verstehen des erlittenen Unrechts anstößt. Der Holocaust kann sich “setzen”, wie es Lyotard fordert, “pour que le tort trouve à s’exprimer et que le plaignant cesse d’être une victime” (Lyotard 1983a: 29). Ohne gesprochen haben zu müssen, hören die Zeugen auf, sprachlose Opfer zu sein, weil das Gericht die Grauenhaftigkeit des Gaskammertodes dank des Films in ihrer ganzen Tiefe erkennt. Es ist kein Zufall, dass die Überwindung des Widerstreits ausgerechnet dem Dokumentarfilm gelingt, ist jener doch auch formal der übersetzerische Kompromiss, der den gerichtlich- Das Unsagbare zur Sprache bringen 389 juristischen Abbildungswillen genauso entspricht wie der geforderten Authentizität. Als “Film, der Begebenheiten und Verhältnisse möglichst genau, den Tatsachen entsprechend, zu schildern versucht”, wie es der Fremdwörter-Duden (2000: 351) formuliert, wirkt der Dokumentarfilm authentischer als das Beweismittel der Zeugenaussage; er gibt vor, nicht mehr übersetzt werden zu müssen, sondern objektiv aufgezeichnet zu haben und wiedergeben zu können. 12 Zusätzlich zu dem Merkmal der Authentizität bietet das Filmdokument über seine fotografierten Bilder einen Vorteil gegenüber allen anderen Dokumenten; es re-präsentiert den Referenten auf eine weitaus zugänglichere, weniger vermittelte Art und Weise als das Schriftstück. Der Film suggeriert absolute Präsenz. Im Nürnberger Prozess soll das Filmdokument Dokumentarfilm eine Wiederholung der Wahrheit leisten. Mit dem Film zielt die Anklage darauf ab, die Schockwirkung des Holocaust entstehen, oder besser sich performativ, als Äußerung mit Handlungscharakter, herstellen zu lassen - der Film “Nazi-Konzentrationslager” soll nicht die Vernichtung der Juden zeigen, sondern sie ein zweites Mal vollziehen. Uwe Wirth sieht genau hierin die kommunikative Kraft der performativen Sprechakte: “Im Gegensatz zur ‘konstativen Beschreibung’ von Zuständen, die entweder wahr oder falsch ist, verändern ‘performative Äußerungen’ durch den Akt des Äußerns Zustände in der sozialen Welt, das heißt, sie beschreiben keine Tatsachen, sondern sie schaffen soziale Tatsachen.” (Wirth 2002: www) Der KZ-Film soll den Holocaust im Nürnberger Gerichtssaal herstellen. Dass diese Performativität nicht in einem krassen Gegensatz zur “technischen Reproduzierbarkeit” des Mediums Film steht, der Benjamin (1935: 19f.) genau den auratischen Charakter des Hier und Jetzt abgesprochen hat, verargumentiert Jacques Derrida mit einer Umkehrung des Verhältnisses von Performativät und Iterabilität, das John L. Austin in How to do things with words vorstellt. Schließt Austin (1962: 44f.) aus seiner Sprechakttheorie iterierbare performative Äußerungen wie z.B. ein gegebenes Versprechen im Rahmen einer Theateraufführung als parasitär aus, ist für Derrida die Iterabilität gerade die Bedingung für den Zeichencharakter des Zeichens: “un énoncé performatif serait-il possible si une doublure citationnelle ne venait scinder, dissocier d’avec elle-même la singularité pure de l’événement? ” (Derrida 1971a: 388). Das Zeichen bestätigt sich nicht in seiner Wiederholung, so Derrida, sondern verändert sich in der Singularität des Ereignisses. Iterabilität bei Derrida meint differente Wiederholung mit einem Bruch. Es entsteht das Paradox einer iterablen Singularität oder singulären Iterabilität. Diese derridasche Begriffsverschiebung rückt auch die Verhältnisse im Nürnberger Schwurgerichtssaal 600 wieder ins Gleichgewicht. Wenn, wie Derrida (1971b: 151) sagt, sich auch “in der performativen Äußerung, der ‘ereignishaftesten’ aller Äußerungsarten” eine Differenz manifestiert, dann wiederholt sich der Holocaust nicht vor dem IMT-Prozess, auch wenn die Anklage genau diese Wirkung beabsichtigt haben mag. Selbst der “Nazi- Konzentrationslager”-Film kann den Holocaust nicht präsentieren im Sinne von präsent machen, er kann ihn nur repräsentieren. Was der Dokumentarfilm im Gerichtssaal herstellt, ist nicht die historische Wahrheit der Holocaust-Erfahrung, nach der das IMT-Verfahren so lange schon sucht: Kein Jude, kein politischer Häftling wird im Gerichtssaal gefoltert oder ermordet. Trotzdem soll der KZ-Film ähnlich wie die Begehung eines Tatorts das Verbrechen durch die räumliche Nähe rekonstruieren - der Ort wird dadurch aber nicht derselbe wie im Moment der Tat. Auch die Wiederholung aller Tatumstände und die menschliche Präsenz am Tatort kann kein Verbrechen wieder entstehen lassen. Bei den im Kriegsverbrecherprozess gezeigten KZ- 390 Karoline Münz Filmen erhält dieser Aufschub von Authentizität noch eine weitere Dimension: Keiner der Filme zeigt tatsächlich den Mord an den Juden - zum Zeitpunkt der Aufnahmen ist der Holocaust bereits Geschichte. Die Beteuerung der vermeintlichen Unvermitteltheit des Anklagematerials lässt sich am Beweisstück des Dokumentarfilms am besten erläutern: Als direktes “Abbild” des Holocaust, behauptet der Film, keine Übersetzung, sondern eine Wiederholung des Konzentrationslagergrauens zu sein. Die durchschlagende Wirkung des Films gibt der Anklagetaktik Recht; aber auch die Filmbilder können den Holocaust nicht präsent, performativ machen. 4. Die Verteidigung: zur Übersetzung der nationalsozialistischen Sprachkorruption Die zentrale Frage, mit der sich die Verteidiger der angeklagten Gruppen und Einzelpersonen während des IMT-Prozesses konfrontiert sahen, fasst Haensel wie folgt zusammen: “Wie kann man dem Gericht klar machen, daß in den 12 Hitler-Jahren, die hinter uns liegen, das Wort einen anderen Sinn hatte, als vorher und heute vielleicht wieder? Die meisten Briefe und Berichte waren damals auf eine Art von Löschpapier geschrieben; die Tinte zerfloß zu verwaschenen Lettern, die anders aussahen, als man sie schrieb, wieder anders, wenn man sie las, und die dann schließlich noch ganz andres verstanden, ausgelegt und weitergegeben wurden.” (Haensel 1950: 201) Wo auf die Referenz der sprachlichen Zeichen kein Verlass mehr ist, da ist eine Verteidigungsarbeit, die auf nichts anderem als Dokumenten und Zeugenaussagen aufgebaut ist, enorm schwierig. Der kommunikative Aspekt von Sprache wird hier bewusst pervertiert, ohne dass die Mehrheit der Bürger (und auch längst nicht alle ihre Opfer) dieser Sprachpolitik gewahr werden. Nur Eingeweihte verstehen den Code und die dahinter steckende Botschaft. Im Falle der Nazi-Sprache ist die metaphorische Sinnverschiebung allerdings nicht Mittel zum Zweck der Veranschaulichung der Sprache, sondern genau zu deren Gegenteil. In der nationalsozialistischen Metaphorik beruht die Bedeutungsübertragung (z.B. von “töten” auf “liquidieren” 13 ) nicht auf einem konventionalisierten Verhältnis der Ähnlichkeit, sondern auf einem zumeist willkürlichen Akt der Neubennenung, der nur für Eingeweihte den Begriff als übersetzte und übersetzende Metapher kenntlich macht. Der Prozess der Neubenennung spielt in der Sprach- und Übersetzungstheorie Walter Benjamins eine wichtige Rolle. In der “heiligen Einsprache” des Paradieses garantiert der Akt der Namensgebung der gottgeschaffenen Dinge durch den gottgeschaffenen Menschen Adam die Einheit der Sprache und ihrer Referenten: “Durch das Wort ist der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden” (Benjamin 1916: 41). Diese absolute Identität von Sprache und Ding, von Bezeichnendem und Bezeichnetem im göttlichen Wort, wird mit der Vertreibung aus dem Paradies aufgehoben: “Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte […]. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes” (Benjamin (19+) 1972: 14). Zwischen dem “Gemeinten” und der “Art des Meinens” tut sich ein Abgrund auf, der menschlichen Willkür ist es überlassen, einen Namen für jedes Ding zu erfinden und ihm somit eine vermittelnde Bedeutung zu geben. 14 Die nationalsozialistische Propaganda bricht das Verhältnis von Gemeintem und Art des Meinens weiter auf, indem sie in ihrer Sprache Neu- oder Umbenennun- Das Unsagbare zur Sprache bringen 391 gen vornimmt, die eine weitere Abstraktionsstufe zwischen den Namen und das Ding schieben: Das Wort soll nicht nur “etwas mitteilen (außer sich selbst)”, sondern etwas anderes mitteilen als sich selbst. 15 In der NS-Vernichtungspropaganda verweist der Name auf einen unbestimmten Referenten, der mit der eigentlich gemeinten Grausamkeit nichts zu tun hat. Gerschom Scholem scheint die nationalsozialistische Verquickung von Namensgebung und Manipulation bereits 1924 in seinem Unveröffentlichten Brief an Franz Rosenzweig vorausahnend zu thematisieren: “Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Abgrund versiegelt” (Scholem zitiert nach Derrida 1996: 97). Im Akt der Namensgebung steckt die Macht, die kommunikative “Bedeutung” des durch die und in der Sprache bezeichneten Objektes zu verändern und zu vernichten. An keinem Beispiel wird diese “Versiegelung des Sprach-Abgrundes” besser deutlich als bei den so genannten Einsatzgruppen, die an vielen Stellen des IMT-Prozesses zur Sprache kommen und deren Mitgliedern später einer der zwölf amerikanischen Nachfolgeprozesse gewidmet ist. “Das Wort ‘Einsatzgruppe’ ist bürokratischer Jargon, eigens dazu erfunden, die Aufgaben dieser Einheiten zu verdecken”, bringt Henry A. Lea (2004: 70) die nationalsozialistische Sprachtaktik auf den Punkt. Die hauptsächlich aus SS-Freiwilligen bestehenden vier Einsatzgruppen gründen sich nach Beginn des Russland-Feldzuges 1941, um in den eroberten Ostgebieten die jüdische Bevölkerung zu ermorden. Für den internen und externen Schriftverkehr und Sprachgebrauch werden zahlreiche Begriffe erfunden oder ihrer ursprünglichen Bedeutung enthoben, um die Mordbefehle zu tarnen. Hannah Arendt deckt in ihrer Analyse der Banalität des Bösen diese “Sondercodierungen” (Seibert o.J: www) der Einsatzgruppen auf, die z.B. anstelle von “Befohlene Banden ermorden Juden” den Satz “Einsatzgruppen machen Gebiete judenrein” (Arendt 1963: 95) setzt. Dass dieser Ge- oder Missbrauch von heute berüchtigten Begriffen wie “Regulierung” oder “Liquidation” tatsächlich nicht den Zweck verfolgt, im benjaminischen Sinne auf die gemeinte Sache zurückzuverweisen, veranschaulicht allein schon die Tatsache, dass diese Termini aus dem Sprachgebrauch der Dritten Reichs verschwanden, hatten sich Gerüchte über ihre eigentliche Bedeutung verdichtet. So bemerken Karl-Heinz Brackmann und Renate Birkenhauer, dass der Neologismus Sonderbehandlung “durch seine dauernde Verwendung schließlich so bekannt [wurde, K.M.], daß neue Sprachreglungen angeordnet werden mußten, z.B. ‘durchgeschleust’” (Brackmann/ Birkenhauer 1988: 147). Wenn ein Wort aus dem Verkehr gezogen werden muss, weil seine Bedeutung klar geworden ist, so lässt dies eindeutige Rückschlüsse auf den eigentlichen Gebrauch dieses Wortes und die allgemeine Funktion von Sprache im Nationalsozialismus zu. Zwei Grundtendenzen lassen sich feststellen: Zum einen gelingt es der nationalsozialistischen Propaganda, mit der einfachen Ersetzung des gängigen Ausdrucks durch Fremdworte die eigentliche Bedeutung mancher Schlag-Worte zu verhehlen, zum anderen funktioniert die sprachliche Verschleierung mittels Neologismen, Wort- und Satzhülsen, deren Referenz im Dunklen bleibt. In beiden Fällen ist eine Übersetzung - zumal nach den strikten, auf Unmittelbarkeit abzielen Vorgaben des IMT - äußerst kompliziert. Hier ist nicht schwer zu verstehen, warum Vismann über Süskind stellvertretend für alle Prozessbeobachter festhält: “Süskind kommt zu dem Schluss, dass die Bürokratensprache der Nationalsozialisten unübersetzbar ist” (Vismann 2004: 63). Die Unmöglichkeit der Übersetzung zu bekämpfen, die Sprache der Nationalsozialisten korrekt und gleichzeitig nicht falsch zu übersetzen, ist eine der großen Herausforderungen des IMT-Prozesses - und ihr Paradox. Für die Wort- und Satzhülsen der 392 Karoline Münz Nationalsozialisten müssen in den anderen Prozesssprachen Entsprechungen gefunden werden, die gleichzeitig den Wortausdruck und die Bedeutung des Begriffs treffen; viele der Nürnberger Prozessteilnehmer halten das nicht nur bei Ausdrücken wie “Nacht-und-Nebel-Aktion” oder “der Endlösung zuführen” für ein nahezu unmögliches Unterfangen. Wie der Bürokratenjargon des NS-Regimes zu analysieren ist, fasst der amerikanische Hauptankläger Jackson zusammen: “In dem Lexikon der Nazis von zynischen Euphemismen bedeutete der Ausdruck ‘Endlösung der Judenfrage’ die Ausrottung, ‘Sonderbehandlung’ von Kriegsgefangenen bedeutete Tötung, ‘Schutzhaft’ war gleichbedeutend mit Konzentrationslager, ‘Arbeitsdienstpflicht’ bedeutete Sklavenarbeit, und ein Befehl, eine ‘feste Haltung einzunehmen’ oder ‘positive Maßnahmen zu ergreifen’ hieß, mit zügelloser Grausamkeit vorzugehen. Bevor wir ihre Worte als das gelten lassen, was sie auf den ersten Eindruck zu sein scheinen, müssen wir immer erst nach ihrer verborgenen Bedeutung suchen.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 478f.) Dem ersten Eindruck eines Begriffs oder einer Parole aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch muss stets misstraut werden, da dessen “zynische Euphemismen” wie “Sonderbehandlung” oder “Schutzhaft” in den allermeisten Fällen den Zweck verfolgen, zu verhüllen, worauf sie eigentlich verweisen. Was Jacksons Kollege Sidney Alderman als sprachtaktischen “double talk” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 468) zusammenfasst, lässt sich heute mit double bind verstehen - der aus der Psychoanalyse entlehnte Begriff thematisiert noch stärker die Diskrepanz zwischen dem Gesagten und der (körperlichen, hier aber auch politischen) Haltung, die die nationalsozialistische Sprache kennzeichnet. Sie meint etwas anderes, als sie sagt. Die Verweiskette zwischen Bezeichnung und Bedeutung hat die nationalsozialistische Sprachpolitik zu einer Festung ausgebaut. Die augenscheinliche Bedeutung eines Begriffs übersetzend zu durchschauen, zu verstehen, was hinter dem Begriff steckt, worauf er eigentlich verweist, verlangt daher viel Einsatz und tendiert je nach Geheimhaltungsstufe ins Unmögliche. Die Taktik dieser, wie Süskind sie bezeichnet, “propagandistische[n] Nazifassade” (Süskind 1963: 40) lässt sich analog zur “Mauer vor der Sprache” verstehen, mit der Benjamin ((19+) 1972: 18) in seinem Übersetzeraufsatz arbeitet. Die vermittelnden Übersetzungen errichten in der Unvollkommenheit der nachparadiesischen Sprachen eine zusätzliche Sprach- Mauer, die den Blick auf die reine Sprache verstellt. Diese Mauer einzureißen, ist für Benjamin Auftrag der idealen, nicht vermittelnden Übersetzung: “Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur umso voller auf das Original fallen” (Benjamin (19+) 1972: 18). Vor das Strahlen der reinen Sprache schiebt sich die Bedeutung der Sinn vermittelnden Übersetzung. Werden diese Sprachreglungen wörtlich, à la lettre, genommen, können sich nationalsozialistische Schreibtischtäter wie Sauckel als Befehlsübersetzer auf ihre “Buchstabenkompetenz” (Süskind 1963: 43) berufen und sich dadurch entschuldigen, wie folgender Protokoll-Auszug aus der Vernehmung Sauckels durch seinen Verteidiger belegt: “D R . S ERVATIUS : Über die Durchführung des Zwanges liegen ja nun eine Reihe von Berichten vor, die Sie ja hier auch gehört haben, die Methoden dartun, die ja wohl von jedem unbedingt abzulehnen sind. Sie haben gehört vom Abbrennen von Dörfern, Erschießen von Menschen. Wie stellen Sie sich generell dazu? Das Unsagbare zur Sprache bringen 393 S AUCKEL : Alle diese Methoden widersprechen eindeutig den Anordnungen und Weisungen, die ich gegeben habe und die ja aus der damaligen Zeit zahlreich hier vorliegen und auf die ich mich berufen muß. Es handelt sich hier um Methoden, die ich, wenn ich davon auch nur andeutungsweise erfahren habe, schärfstens bekämpft habe. D R . S ERVATIUS : Wer trägt denn die unmittelbare Verantwortung für solche Vorfälle? S AUCKEL : Für solche Vorfälle tragen die Verantwortung die örtlichen Stellen, die das ausgeführt haben.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 17) Sauckel pocht darauf, dass er in seinem “Verordnungs-Sprachgebrauch” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 57) nie von Brandstiftung und Erschießung gesprochen hat, sondern nur davon, “daß diese Arbeitskräfte unter allen Umständen nach Deutschland gebracht werden müssen, und daß man rücksichtslos vorgehen müsse” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 19). Hätten seine Untergebenen die gleiche Buchstabentreue besessen wie er, wäre kein Arbeiter getötet worden - da muss, so Sauckels Argumentation, irgendetwas mit der Übersetzung seiner Anordnungen an die “örtlichen Stellen” nicht funktioniert haben. Hier wird deutlich, dass eine so gedolmetschte Übersetzung der Dokumente sowie der Aussagen Sauckels trotz aller formalen Vorgaben des Gerichts einer Aufarbeitung der Naziverbrechen nicht dienlich ist: Die Sprache des dritten Reichs, die sich für den Preis der Wahrheit die trügerische Sicherheit in der Harmlosigkeit der Kommunikation erkauft, hat ihre Begriffe so korrumpiert, dass sie für eine wortwörtliche Übersetzung ungeeignet sind. Indem die Nazisprache die semiotische Verweiskette von Kommunikation aufreißt, ihre Sprache auf etwas anderes verweisen lässt als auf die Wirklichkeit, führen Übersetzungen der reinen Referenten zu nichts als einer Übertragung des Verständnisproblems in die jeweilige Zielsprache. Eine rein zwischensprachliche Übersetzung, wie die Dolmetscher sie zu leisten beauftragt sind, ist daher unmöglich. Stattdessen muss erst einmal in einer innersprachlichen Übersetzung das Gemeinte, der eigentliche Referent der Begriffe rekonstruiert werden, bevor dann dieses Ergebnis fremdsprachlich übersetzt werden kann. Das “uneigentliche Sprechen” als quasi-metaphorische Redeweise braucht eine Übersetzung zurück in die eigentliche, bedeutende Sprache 16 . In dieser Übersetzungsleistung zeichnen sich beim Nürnberger Prozess vor allem die britischen und russischen Anklagevertreter aus, die in ihren Kreuzverhören die wenigsten Nazi- Ausdrücke unkommentiert zum Dolmetschen freigeben, sondern ständig nach der Bedeutung der von Süskind (1963: 39) “begriffliches Gummielastikum” getauften Worthülsen der Kriegsverbrecher fragen. So kommt im Kreuzverhör Wilhelm Keitels, Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, durch den sowjetischen Hauptankläger R.A. Rudenko die Notwendigkeit des ständigen innersprachlichen Übersetzens der “Tätersprache” (André 2004: 44) zum Vorschein: “Was meinen Sie, wenn Sie von ‘Regulierung’ sprechen, denn wir kennen so viele Ausdrücke in der deutschen Armee: ‘Regulierung’, ‘Spezialbehandlung’, ‘Exekution’, all das in eine direkte Sprache übersetzt heißt Ermordung.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 10/ S. 689) Ankläger und Richter überarbeiten den nationalsozialistischen “Fachjargon der Gewalttätigkeit” (Hausner 1966: 532), um zu einer Sprache zu kommen, der die Qualität der “Übersetzbarkeit” (Benjamin (19+) 1972: 9) sowohl im Hinblick auf andere Sprachen als auch im Hinblick auf ihre Übersetzung in Straftatbestände innewohnt. Nach der nicht selbstverständlichen Referenz der Worte muss gefragt werden - nach dem, was gemeint ist, gerade 394 Karoline Münz ohne dass es gesagt wird. Auch Sauckel wird so mitsamt seiner pseudomilden Manifeste entlarvt. Zur viel beschworenen Freiwilligkeit des Arbeitseinsatzes fasst der amerikanische Richter Francis Biddle lakonisch zusammen: “Das heißt mit anderen Worten, man konnte zwischen einer Zwangsarbeit in einer Fabrik in Frankreich oder in Deutschland wählen; in diesem Sinne war es freiwillig” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 223f.). Nur so ist die nationalsozialistische Sprachpolitik aufzubrechen. Die Übersetzungsschwierigkeiten, die alle Prozessbeteiligten und nicht zuletzt die Dolmetscher mit dem Propaganda- und Bürokratendeutsch der Angeklagten und Nazi-Zeugen haben, bleiben von den Verteidigern nicht unbemerkt. Angesichts der Masse und der Schwere der von Dokumenten und Zeugen unbestreitbar vorgebrachten Tatsachen sehen die Anwälte der Angeklagten in einem Infragestellen der Übersetzungen die einzige Chance, das vorgebrachte Material zu entkräften. Insbesondere Sauckels Verteidiger Servatius, den der amerikanische Ankläger Telford Taylor respektvoll einen “Rechts- und Sprachgelehrten” (Taylor 1992: 561) nennt, weil er als einziger im Gerichtssaal alle vier Prozesssprachen beherrscht, verfolgt diese Taktik. Sie beruht einerseits auf dem ständigen Zur-Sprache-Bringen sämtlicher mutmaßlicher Übersetzungsfehler in Affidavits, Dokumenten und sogar nachträglich im Verhandlungsprotokoll und andererseits auf der eigenen bewussten Missdeutung der vor allem in der Anklageschrift vorgebrachten Anschuldigungen. Hauptziel aller Verteidiger ist, die Ankläger zu einem Verzicht auf belastendes Beweismaterial zu zwingen. So streiten Sauckel und der Mitangeklagte Hans Fritzsche die als Beweisstücke eingereichten Protokolle ihrer Vorverhöre ab, da diese nach ihrer Aussage in englischer bzw. russischer Sprache schriftlich festgehalten wurden und somit nicht mehr im deutschen Original vorliegen. Fritzsche fasst dieses Problem mit den Worten “dieses Protokoll enthält nicht meine Sprache” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 17/ S. 224) prägnant zusammen. Auch Servatius begründet seinen Einspruch gegen die Verhörprotokolle seines Mandanten mit der Veränderung, die die Aussagen durch die und in der Übersetzung erfahren haben könnten; schließlich seien es “nicht die eigentlichen Niederschriften seiner bei der Vernehmung gesprochenen Worte […], da er in Deutsch vernommen worden sei” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 3/ S. 549). Hier stellt sich erneut das gerichtliche Verständnis einer abbildenden Übersetzung, die das Original nicht verändert und somit authentisch bleibt, gegen die benjaminische Auffassung einer Übersetzung als “verändernden qua ‘verandernden’” (Wetzel 2003: 148) Instanz. Einen Höhepunkt der taktischen Thematisierung der Übersetzungsproblematik erleben die Prozess-Teilnehmer mit Servatius’ Plädoyer für Sauckel, an dessen Beginn er, wie sein Kollege Viktor von der Lippe (1951: 388) beobachtet, “eine interessante sprachliche Abhandlung über die Terminologie des Statuts hinsichtlich der Begriffe Sklavenarbeit und Deportation” gestellt hat. Servatius argumentiert, dass die Anklageschrift in allen drei Sprachen der Ankläger unterschiedliche Übersetzungen des Begriffs Zwangsarbeit benutzt; was Sauckel zum Vorwurf gemacht werde, sei einerseits die unter Anklagepunkt vier (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) vermerkte Sklavenarbeit, die in den fremdsprachigen Anklage-Varianten mit “enslavement” und “réduction en eclavage” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 18./ S. 51) betitelt sei. 17 Diesem Komplex gegenüber stünden allerdings die unter Anklagepunkt drei (Kriegsverbrechen) fallenden “nicht humanitätswidrigen Maßnahmen” (Lippe 1951: 389) wie “slave labor” oder “travaux forcés”, die sich mit dem Begriff der “Zwangsarbeit” übersetzen ließen und nach Kriegsrecht beurteilt werden müssten. Sauckel bestreite, für Das Unsagbare zur Sprache bringen 395 eine “humanitätswidrige Arbeit, also Versklavung” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 18./ S. 512) verantwortlich zu sein, gebe den Tatbestand der Zwangsarbeit aber zu. Da in der Haager Landkriegsordnung als Kodex des Kriegsrechts nicht expliziert von Zwangsarbeit als Kriegsverbrechen die Rede sei, griffe der nulla poena sine lege-Grundsatz, und Sauckel könne nicht schuldig gesprochen werden. Hier wird mehr als deutlich, wie bewusst gerade dem sprachlich so kompetenten Servatius das Problem der Übersetzungen im Prozess ist und wie fragil das Verhältnis von Übersetzung und Wahrheit in Nürnberg erscheint. Die mehrfach geprüfte und für gut befundene Anklageschrift des IMT wird in ihrer Rückübersetzung durch den deutschen Verteidiger ihrer Anklage enthoben: Statt eines Todesurteils kann aus ihrem Wortlaut jetzt nur ein Freispruch gefolgert werden. Es offenbart sich die sprachverändernde Wirkung von Übersetzungen, die zwischen Höchststrafe und Entlassung das Zünglein an der Waage des Gerichts bilden. 5. Die Dolmetscher: eine unendliche Aufgabe Obwohl sie das vielleicht wichtigste Rädchen in der Übersetzungsmaschine des IMT darstellen, wird der Beitrag der Dolmetscher zu den Kriegsverbrecherprozessen erst seit kurzer Zeit reflektiert. 18 Dass sie fast 50 Jahre vergessen wurden, liegt wohl daran, dass das Gericht von Nürnberg Manifestationen ihrer Anwesenheit während der Prozesse weitestgehend unterbindet, um die unvermittelte Re-Präsentation der vorgetragenen Beweise zu betonen. Weil Richter und Ankläger den Übersetzungsprozess als reines Abbilden verstehen, kommt den Dolmetschern nur die Rolle des Mittlers zu. Ihnen ist nicht erlaubt, sich in irgendeiner Form in den Gerichtsprozess einzubringen; entsprechend der Vision des Gerichtes ist ihre Hauptfunktion in der Verhandlung, ihre eigene Rolle vergessen zu machen. Dies entspricht genau der zentralen Eigenschaft, die Schmidt einem guten Dolmetscher zuschreibt: “Er muß in allererster Linie, so paradox es auch klingen mag, schweigen können” (Schmidt 1949: 19). Im krassen Gegensatz zur der kaum dokumentierten Herkunft und Rekrutierung der Nürnberger Prozessdolmetscher stehen Berichte über ihre Arbeitsweise und ihren Tagesablauf - beides vom Gericht stark reglementierte Bereiche, über die schriftliche Referenzen vorliegen. Als direkte Prozessdolmetscher beschäftigt sind drei Teams mit jeweils zwölf Übersetzern. An einem Verhandlungstag arbeiten zwei Teams im Wechsel von etwa 90-minütigem Kabinendienst im Schwurgerichtssaal und 90-minütigem Standby in einem der Nachbarräume, von dem aus die Verhandlung verfolgt werden kann (cf. Skuncke 1989: www). Das dritte Team hat den Tag frei. Während die Stenografen alle 25 Minuten fliegend wechseln, können die Dolmetscher nur in den Verhandlungspausen ausgetauscht werden (cf. Poltorak 1965: 22). Eine der pointiertesten Charakterisierungen des Dolmetschers findet sich bei Derrida - allerdings in einem Abschnitt über den Schauspieler: “le comédien naît de la scission entre le représentant et le représenté. Comme le signifiant alphabétique, comme la lettre, le comédien lui-même n’est inspiré, animé par aucune langue particulière. Il ne signifie rien. Il vit à peine, il prête sa voix. C’est un porte-parole.” (Derrida 1967a: 430) Genauso versteht das Nürnberger Gericht den Verhandlungs-Dolmetscher: als Überbrücker des Zwischenraums zwischen dem Dargestellten (beim IMT-Prozess z.B. der Beweisführung gegen Sauckel) und dem Darsteller (z.B. dem amerikanischen Ankläger Jackson). Seine Exis- 396 Karoline Münz tenz bleibt dabei auf das schlichte stimmliche Übertragen von Sinn beschränkt, auf das Sprechen an der Stelle eines Anderen. Die deutsche Übersetzung dieser Passage Derridas bringt die Nähe des Schauspielers zum Dolmetscher noch stärker zum Ausdruck, indem sie den porteparole in seinem Doppelsinn betont: “Träger der Rede, Fürsprecher” (Derrida 1967b: 523, Hervorhebung nicht im Original). Durch die Dolmetscher sprechen Angeklagte, Richter, Ankläger und Verteidiger in Nürnberg und bleiben dabei trotzdem Angeklagte, Richter, Ankläger und Verteidiger. Dem Wiedergegebenen soll, so das gerichtliche Credo, der Dolmetscher nichts Persönliches hinzufügen, genauso wenig wie er den Ausdruck der Rede verändern oder Passagen weglassen darf. Festgeschrieben ist diese Philosophie in einem Teil des IMT- Regelkatalogs. Ein eigens für sie geschaffener Eid verpflichtet die Dolmetscher, alle Äußerungen vor Gericht “wahrheitsgemäß und nach […] bestem Wissen” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 17/ S. 363) wiederzugeben, was anscheinend auch die absolute Zurückhaltung aller individuellen Impulse einschließt. Für alle offiziellen Gerichtsdokumente bleibt das Gros der Dolmetscher anonym. Sollte während der Verhandlung einer der deutschen Dolmetscher ein deutsches Originaldokument verlesen, damit seine Kollegen es simultan in alle Gerichtssprachen einbringen, so erscheint, obwohl er der “Sprecher” des Dokuments ist, im Protokoll nicht sein Name, sondern seine Funktion: “Dolmetscher”. 19 Im Nürnberger Prozess ist er also nicht nur Darsteller der auftretenden Personen, sondern auch der auftretenden Dokumente. Insgesamt macht die geringe Zahl an (personalisierten) Protokollbeiträgen der Dolmetscher deutlich, dass dem Gericht nicht daran gelegen ist, neben eigentlichen Personen im Kriegsverbrecherprozess parasitäre, weil “unbeseelte” Redner in den offiziellen Verhandlungsmitschriften sprechen zu lassen. Emblematisch für dieses Bemühen ist das Phänomen der bunten Glühbirnen, mit denen die Dolmetscher auf den jeweils Sprechenden einwirken können. Sie verdienen eine kurze Analyse. Die Funktionsweise des Lampensystems im Nürnberger Gerichtssaal ist denkbar einfach: Kommt ein Dolmetscher beim Erfassen und Wiedergeben der zu übersetzenden Aussage nicht mehr hinterher, gibt er dem kontrollierenden Beamten ein Zeichen. Dieser aktiviert je nach Problemlage eine der beiden Birnen, die gut sichtbar auf der Richterbank (und später im Zeugenstand und auf dem Pult der Anwälte) platziert sind: ein blinkendes gelbes Licht steht dabei für “langsam sprechen”, ein rot blinkendes Licht bedeutet aufhören - “stop proceeding” - und warten, bis der Dolmetscher wieder auf gleicher Satzhöhe ist oder zum Wiederholen auffordert (cf. Lea 2004: 69; Poltorak 1965: 35). Genau so einfach nachzuvollziehen ist der Sinn dieses Warnsystems: Es soll den Dolmetschern die Möglichkeit geben, sprachliche Schwierigkeiten zu signalisieren, ohne dabei den ihnen zugewiesenen Bereich zu verlassen. Den Prozessdolmetschern steht kein eigener Diskurs zu, weswegen sie einen Zeugen oder gar einen der Richter nicht laut zum Langsamsprechen auffordern dürfen, sondern stattdessen dem diensthabenden Offizier eins der beiden in jeder Kabine ausliegenden Schilder “SLOW” oder “STOP” (cf. D’Addario/ Kastner 1994: 146) entgegenhalten müssen, woraufhin der Sprachoffizier, der als Relais zwischen den beiden in sich abgeschlossenen Bereichen von Dolmetschern und Gericht verstanden werden kann, das entsprechende Lämpchen auslöst. Das Lampensystem ist das wohl stärkste Symbol für die bis ins kleinste Detail hinein reichende Politik der Unsichtbarmachung des Dolmetschers, die das Gericht betreibt, um den Übersetzungsprozess möglichst unvermittelt wirken zu lassen. Und es deckt auch die Absurdität dieser Bemühungen auf: So gibt sich der Entlastungszeuge für Hans Fritzsche, Moritz von Schirmeister, in seiner Vernehmung die allergrößte Mühe, allen Anweisungen des Gerichtes Das Unsagbare zur Sprache bringen 397 Folge zu leisten und seine Rede frei von syntaktischen und semantischen Dolmetscher-Fallen zu gestalten. Ihm gelingt das Kunststück, keine der Birnen zum Leuchten zu bringen - zum Preis der absoluten Lächerlichkeit, wie von der Lippe notiert: “Fortsetzung der Vernehmung des Fritzsche-Zeugen Schirmeister, der ebenso wie gestern belustigend wirkt, da er die Übersetzungsarbeit des Dolmetschers scharf überwacht und seine kurz abgehackten Sätze mit zu den Dolmetschern gewandtem Gesicht spricht” (Lippe 1951: 350). Die Vorgaben des Gerichtes nicht nur wörtlich, sondern buchstäblich umsetzend, produziert Schirmeister eine allgemein erheiternde Einlage, die dem Fortschreiten des Prozessgeschehens wenig dienlich ist, weil sie den unverhältnismäßigen Aufwand, den das Gericht zur Unsichtbarmachung des Übersetzungsprozesses treibt, viel stärker betont als das kommunikative Ergebnis der Aussage. An Stelle der gewünschten Unmittelbarkeit der fremdsprachlichen Übertragung wird die zwischengeschaltete Instanz der Dolmetscher und damit die Mittelbarkeit der Übersetzung deutlich. Neben diesen rein sprachlichen Schwierigkeiten, die immer eine gebrochene Übersetzung der Reden vor Gericht verursachen können, macht auch das technische Dispositiv der Dolmetschanlage das übersetzerische Eingreifen der Dolmetscher sichtbar. Weil die Technik der Kopfhörer den Hörsinn von seiner ständigen Aufnahmepflicht - der er sich im Vergleich zum Sehsinn nicht entziehen kann - befreit, ist es mittels der Kopfhörer plötzlich möglich, während der Verhandlung genauso wegzuhören, wie man sonst nur wegsehen kann. Da im Gerichtssaal wegen der Mikrofone leise gesprochen wird, können sich die Angeklagten aus einer Anklagerede oder einer Zeugenaussage, die ihnen nicht gefällt, ausklinken, wie Rebecca West am Beispiel des so genannten “Reichsjugendführers” Baldur von Schirachs illustriert: “Der feminine Schirach machte eine rührende Geste. Er lauschte aufmerksam, was Sir Hartley über seine Handlungen als Reichsjugendführer zu sagen hatte, und als er hörte, wie dieser von seiner Verantwortung für die Deportationen von vierzigtausend sowjetischen Kindern sprach, hob er seine zarte Hand, nahm den halbringförmigen Kopfhörer ab und legte ihn in aller Ruhe vor sich auf die hölzerne Ablage.” (West 1946: 40) Hier wird die groteske Situation des mehrsprachigen Prozessaufbaus deutlich, die Vismann (2004: 51) in Analogie zur telefonischen Übertragungstechnik als “groß angelegtes Ortsgespräch” charakterisiert. In dieser paradoxen Situation, in der Menschen im selben Raum einander nicht hören und verstehen können, sondern auf die Übertragung durch Fernsprechtechnik angewiesen sind, wird die zwischengeschaltete Instanz der Dolmetscher wahrnehmbar. Sie sind nicht mehr nur stumme portes-parole des Referenten, sondern betonen den Unterschied zwischen dem eigentlichen Sprecher (der, anders als beim Schauspieler, im Raum physisch präsent ist) und dem Dargestellten, wie die argentinische Journalistin Victoria Ocampo in ihrem Prozesstagebuch verdeutlicht: “Die Stimmen und ihr Klang sind untrennbar mit den Worten verbunden. In Nürnberg wie überall zerstört die Synchronisation etwas Wesentliches” (Ocampo 1946: 244). Was eigentlich synchronisierend, zusammenführend wirken soll, betont den offensichtlichen Bruch, der umso stärker hervortritt, je mehr der dargestellte Sachverhalt die diensthabenden Dolmetscher bedrückt. Die wohl anschaulichste Darstellung der persönlichen Berührtheit, die die Dolmetscher in den Übersetzungsprozess einbringen, gelingt dem amerikanischen Schriftsteller und Prozessbeobachter John Dos Passos: 398 Karoline Münz “Als der Staatsanwalt bei den Verbrechen gegen die Juden anlangt, sind alle vor Anspannung erstarrt. Die Stimme der deutschen Dolmetscherin folgt der des Staatsanwalts wie ein schrilles Echo der Vergeltung auf dem Fuße. Hinter der gläsernen Trennwand neben der Box der Häftlinge ist das angespannte Gesicht der dunkelhaarigen Frau, die übersetzen muß, zu sehen. Ihr Gesicht ist eine Maske des Schreckens. Manchmal scheint ihre Kehle wie zugeschnürt, so daß sie Mühe hat, die entsetzlichen Worte auszusprechen. […] Jackson fährt ruhig und gefaßt in seiner Beschreibung der Taten von Wahnsinnigen fort. […] Es ist die Stimme eines vernünftigen Menschen, den die Verbrechen, die er entdeckt hat, entsetzen. Und ihr Echo, die erstickte, schrille Stimmer der Dolmetscherin, sirrt wie eine Stechmücke über den Bänken der Angeklagten.” (Dos Passos 1945: 88) Hier wird die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des diskreten “menschlichen Dolmetsch- Apparates”, wie ihn das Gericht vorgesehen hat, mehr als deutlich. Für Dos Passos und die meisten anderen Prozessteilnehmer sicht- und hörbar, fällt es der Dolmetscherin schwer, einem so grausamen Verbrechen ihre Stimme zu leihen: Sie stockt, verlässt die neutrale, sachliche Tonlage zugunsten eines “schrillen Echos” und verdeutlicht damit die Diskrepanz zwischen der vom Gericht gewünschten Emotionslosigkeit der unsichtbaren Dolmetschung und der sich in den Gefühlsausbrüchen äußernden Menschlichkeit der Dolmetscher. Ähnlich stark manifestiert sich die mehr als nur übermittelnde Präsenz der Dolmetscher, wenn Zeugenaussagen aus einer Sprache übersetzt werden müssen, die zu keiner der offiziellen Prozesssprachen zählt. Weil die IBM-Technik keine Übertragungsmöglichkeiten für eine fünfte Sprache besitzt, wird das Zeugenproblem anders gelöst: Ein der Zeugensprache mächtiger Dolmetscher begibt sich mit dem Zeugen in den Zeugenstand und übersetzt dessen Aussage simultan ins Mikrofon. Von da an geht die technikunterstützte Simultanübersetzung ihren gewohnten Gang. Während das offizielle Protokoll nur eine derartige Zeugenaussage vermerkt, 20 belegt der Fotoband Ray D’Addarios (1994: 149) ein weiteres Beispiel. 21 Plötzlich ist der Dolmetscher im Zeugenstand der eigentliche Redner, dem Mikrofon und Aufmerksamkeit gehören. Gleichzeitig ist er der Einzige, der den originalen Wortlaut der Aussage hören kann, denn da der Zeuge nicht ins Mikrofon spricht, kann seine Aussage nicht aufgezeichnet und hinterher mit der Übersetzung verglichen werden. Der Dolmetscher macht den Zeugen in seiner Übersetzung sprechend; gleichzeitig sind alle Simultanübersetzungen dieser Aussage Übersetzungen zweiten Grades (die Kabinendolmetscher dolmetschen die Aussage des Dolmetschers im Zeugenstand, nicht das Original). Von einer unvermittelten Abbildung als Mechanismus, der der Übersetzung zugrunde liegt, kann nicht mehr gesprochen werden - hier ist es der Dolmetscher, der, den Übersetzungsprozess thematisierend, erst die Übersetzung und erst in der Übersetzung die Sprache hervorbringt. Dolmetscher können gar nicht anders, als ihre Person in den Prozess der Übersetzung mit einzubringen. Sie laufen damit der gerichtlichen Vorgabe entgegen, für nicht mehr und nicht weniger als eine korrekte Übertragung in ihre Sprache zu sorgen. Das geschieht zumeist unbewusst und - wie im Fall der von ihren Emotionen überwältigten Dolmetscherin Jacksons - auch ungewollt. Ein Beispiel einer bewussten und durchaus provokanten Falschübersetzung im gerichtlichen Sinne ist die Verhörtechnik des aus Deutschland ausgewanderten und als amerikanischer Soldat und Dolmetscher nach Nürnberg zurückkehrenden Richard W. Sonnenfeldts. 22 Im Verhör Wilhelm Keitels, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, widersetzt sich Sonnenfeldt der vorgegebenen Frage Jacksons: “Ich hatte die Frage des Anklägers, ‘Sagen sie die Wahrheit? ’ mit ‘Warum lügen Sie wie ein Feigling? ’ übersetzt” (Sonnenfeldt 2002: Das Unsagbare zur Sprache bringen 399 186). Hier wird deutlich, dass sich die Arbeit eines Dolmetschers nicht unbedingt an den Kategorien von korrekt und inkorrekt messen lassen kann. Vielmehr gelingt es dem Dolmetscher hier, die richtige Übersetzung zu bringen: die Sprache zu treffen, die zwar nicht das sprachliche Original des Anklägers abbildet, aber in ihrem Anderssein, in dieser Differenz, mehr zum Ausdruck bringen kann, als es der korrekten Übersetzung gelungen wäre. Alle hier zitierten Beispiele liefern Belege für das Herauslösen des Dolmetschers aus seiner vorgegebenen Mittler-Rolle hin zu der eines Mediums, in dem die Informationen zusätzlich zur ihrer reinen Übertragung eine Veränderung erfahren, die sie bereichern. Nichts anderes macht Benjamin ((19+) 1972: 16) in seinem Übersetzeraufsatz zum Thema, indem er die Mitteilung bzw. Übermittlung aus dem Zentrum der Übersetzungsarbeit herauslöst und in der Aufgabe des Übersetzers die eines Mediums sieht, der das dem Original zugrunde liegende Sprachmaterial, die “Art des Meinens”, auf Kosten der Sinnübertragung aufdeckt und so den Weg zur “reinen Sprache” weist. In der gebrochenen, vorläufigen Version der Übersetzung von Nürnberg kommt genau das zum Ausdruck, was unter dem enormen technischen Aufwand und dem ausgefeilten Sprechregelwerk verborgen bleiben sollte: die Selbst-Thematisierung des Mediums der Übersetzung in der Manifestation der dolmetschenden Zwischenschaltung. Dass es in der Geschichte der internationalen Rechtsprechung nach dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess keine vielsprachigen Gerichtsverfahren mehr gegeben hat, ist nicht zuletzt diesem “Versagen” des Übersetzungsapparates geschuldet (cf. Vismann 2004: 54). Wie ist die Arbeit der Dolmetscher beim IMT-Prozess zu bewerten? Haben sie tatsächlich versagt? Oder wird durch sie nicht vielmehr zur Sprache gebracht, was ohne ihre Übersetzung im Rhythmus der “Übersetzungsmaschine” Gerichtsverfahren untergegangen wäre? Für Benjamin besteht die Aufgabe des Übersetzers darin, “diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird” (Benjamin (19+) 1972: 16). Das Echo des Originals zu erwecken, meint bei Benjamin aber gerade nicht, den Inhalt des Originalwerkes deckungsgleich abbildend zu übertragen, sondern vielmehr, den mitteilbaren Inhalt im Klangteppich des Echos unterdrückend, das der jeweiligen Sprache Eigentliche und Charakteristische, ihre “Art des Meinens”, herauszustellen und zu verstärken. Dies erklärt, warum - wie Benjamin ((19+) 1972: 15) beschreibt - “das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig verschieden ist in Original und Übersetzung”. Einer Übersetzung darf nicht daran gelegen sein, das Original in der Zielsprache heimisch zu machen, es also in einer anderen Sprache simultan oder zeitversetzt zu wiederholen. Genau wie das Echo soll eine Übersetzung einen Wiederhall der Originaläußerung liefern, in der aber auch ein Widerhall, eine Gegenstimme gegen das Original und auch gegen die Zielsprache hörbar wird. Diesem Anspruch kommt das Simultandolmetschen beim IMT-Prozess mit seiner improvisierten Technik nahe, durch die häufig zwei oder mehr Prozesssprachen kurzgeschlossen werden. Im Kopfhörer klingt nicht mehr und nicht nur die auf der Wählscheibe gewünschte Sprache, sondern oft auch die Originalversion oder eine andere Fremdsprache mit, die in Form einer Gegen-Stimme nach- und widerhallt, wie Süskind (1963: 24) beschreibt: “Die Sprachen sind nicht aufs letzte voneinander isoliert. Manchmal summt die eine wie ein Muschelton unter der anderen fort.” Dieser Doppeleffekt der Stimmen lässt sich in Analogie zu Benjamin als akustische Interlinearversion verstehen. Zwischen den Zeilen, im Text des Originals, entsteht eine Übersetzung, die auf Syntax und Sinn verzichtet und jedes Wort einzeln aus der Ausgangsin die Zielsprache übersetzt. Oder vielmehr “über setzt”, denn Wetzel bezeichnet nicht umsonst die Benjaminsche Aufgabe des Übersetzers als “Fährdienst” (Wetzel 2002: www), um das ständige 400 Karoline Münz “Zwischen” der Übersetzung, das sich in der Interlinearversion auch räumlich manifestiert, auf den Punkt zu bringen. Was Benjamin als ideale Übersetzung bezeichnet, kann hier als ideales Dolmetschen verstanden werden. Aus dem Phänomen der Übersetzung als Echo lässt sich darüber hinaus noch Weiteres über den Charakter der Übersetzung erfahren. Bettine Menke bringt die doppelte Bewegung, die sich im Echo herstellt und sich in der gedolmetschten Version im Wieder- und Gegenhall der Stimmen besonders deutlich offenbart, auf den Punkt: “Als Gespenster der Stimme präsentieren Echos die oxymorale Ab-Anwesenheit der Stimme in jenen Wiederholungen, die sie sind, als Stimmen aus dem off” (Menke 2002: 130f.; Hervorhebung im Original). Die Stimme ist gleichzeitig präsent und absent. Mit seiner zeitlichen Verzögerung als Wiederholung des Gesagten und dessen Veränderung im Widerhall kann das gedolmetschte Echo in Analogie zu Derridas différance-Begriff verstanden werden, wie Menke an anderer Stelle ausführt: “‘Echo’ nutzt als Personifikation einer Differenz in der Wiederholung deren Widerspiel aus, um Bedeutung zu erzeugen; damit hört und erwartet sie aber nur ‘Laute’ statt der Worte, die gemeint waren; sie hat in dieser Wi(e)der-Gabe die Worte schon durchquert, einen Riß durch sie gelegt.” (Menke 2001: 370) Sprachmaterial und sprachliche Bedeutungsträger verschieben sich zeitlich und räumlich gegeneinander, um eine gebrochene, veranderte Bedeutung durchscheinen zu lassen. Genau in dieser doppelten Bewegung situiert Derrida seinen différance-Begriff. Aus dem französischen Verb différer (= auf-, ver-, hinausschieben, aber auch: sich von etwas unterscheiden) abgeleitet, überträgt Derrida die inhaltliche Doppelsinnigkeit des Wortes auf eine formale: Mit der différance wird ein “néo-graphisme” (Derrida 1968: 3) geschaffen, der ausschließlich in seiner schriftlichen Form einen Unterschied zum herkömmlichen Begriff der différence macht. Gleichzeitig lehnt sich différance an das Partizip Präsenz des Grundverbs (différant) an; hier begegnen und entzweien sich der aktive Vorgang des Aufschiebens mit der passiven, gesetzten Form des Unterschieds (cf. Derrida 1968: 9). Wie die différance ist das Echo (zeitlicher) Aufschub und (räumlicher) Unterschied zusammen, Wiederholung mit einem Bruch. Derrida charakterisiert die différance als allen Zeichensystemen zugrunde liegende “passage détourné et équivoque d’un différent à l’autre, d’un terme de l’opposition à l’autre” (Derrida 1968: 18), als permanentes Bewegen im Zwischen von Differenzen aller Art, das gleichzeitig vereint und entzweit. Schließlich ist jedes Zeichen als Zeichen nur ein anwesender Referent für das eigentlich abwesende Bezeichnete. Mit dem Begriff der différance bestimmt Derrida (1967b: 26) die “Urkraft” aller Sprachsysteme, die sich explizit gegen die Präsenz als Kernmoment des auf die Vorherrschaft des Wortes gegründeten Logozentrismus richtet. Denn wie in der Schrift, argumentiert Derrida, so gibt es auch in der Präsenz der Stimme, die sich über das s’entendre parler, den Live-Effekt des Sich-selber-als-Redner-Hörens, authentifiziert, das aufschiebende, differierende Moment. Anders als bei der Schrift wird die zeichenimmanente Spaltung Präsenz/ Absenz in der Rede aber nicht thematisiert und somit nicht deutlich. Wenn aber, so Derrida, alles Zeichenhafte différance, Unterschied und Aufschub ist, ist auch die Stimme Teil der Schrift und nicht anders herum - das Echo ist (trotz oder gerade wegen der paradoxen Tatsache, dass es im Schriftlichen kein Echo gibt) vielleicht das anschaulichste Argument, das die These Derridas stützt. Hier bricht die logozentristische Philosophie des Nürnberger Kriegsgerichtes, die in der unmittelbaren Präsenz der technikunterstützten dolmetschenden Rede das Kernstück ihrer Das Unsagbare zur Sprache bringen 401 Prozessführung sieht, auf. Nicht die vorgeschriebene Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit aller vor Gericht gesprochener Äußerungen durch den menschlichen und technischen Dolmetsch-Apparat bringt eine gute Übersetzung im Sinne der Präsenz des Bezeichneten, der Wahrheit des Holocaust, hervor. Vielmehr offenbart sich im differenten Zwischenraum und in der Zwischenzeit, in der die Nürnberger Prozessdolmetscher ihre echohaften, bruchstückartigen Übersetzungen produzieren, die richtige und gute Entsprechung einer jeden Äußerung. In diesem Zusammenhang dolmetschend das “Echo” des Holocaust zu erzeugen, bedeutet also, die Unmöglichkeit seines Zur-Sprache-Bringens ins Zentrum der Übersetzungsarbeit zu setzen. Analog zur plötzlichen Performanz des Dokumentenbeweises über die Verschleppung der Kinder von Izieu (der seine Wirkung aus der Betonung der Spaltung von Präsenz/ Absenz des Bezeichneten im Dokument zieht), ist die Diskursform, in der sich das erlittene Leid der Opfer des Nationalsozialismus offenbart, die differente, von “Sprachbrüchen” (Vismann 2004: 63) gezeichnete Übersetzung. Ganz ähnliche Schlüsse zieht Gerhard Scheit aus dem Scheitern des innersprachlichen Übersetzens bei Améry: “Indem Améry gerade die Unmöglichkeit, die Grenzen von Denken und Sprache beschwört, wird die Situation selbst, die unmöglich beschrieben und gedacht werden kann, gegenwärtig” (Scheit 1997: 396). Die eigentliche Leistung der Dolmetscher von Nürnberg besteht gerade darin, dass sie mit jedem Stocken, jeder Sinnverschiebung und jedem Aufgeben angesichts der Unmöglichkeit ihres Auftrags die Doppellogik offen legen, auf der ihre Übersetzungsarbeit gründet: Jede im IMT-Prozess übersetzte Äußerung thematisiert gleichzeitig ihre Unsagbarkeit. Auch diese Feststellung ist nicht weit von Derridas différance-Begriff entfernt, definiert er diese in der Grammatologie doch folgendermaßen: “La différance produit ce qu’elle interdit, rend possible cela même qu’elle rend impossible” (Derrida 1967a: 206). Als Moment der différance gelingt es der dolmetschenden Übersetzung, die sich zumindest im Live der Verhandlung (und in den Prozessberichten und Prozesserinnerungen - aber nicht mehr im offiziellen Protokoll) sprachliche Brüche und Widersprüche leisten kann, die Instanz des Zwischen zu thematisieren und so “zur Sprache [zu, K.M.] bringen, was unaussprechlich ist” (Vismann 2004: 54). Die Unaussprechbarkeit in eine sprachliche Form bringen - das ist genau der Anspruch, den Benjamin an den Übersetzer stellt, wenn er beim Übersetzen für eine Privilegierung der “Art des Meinens” der Sprache gegenüber dem “Gemeinten” des Autors wirbt. In der Fremdheit des gedolmetschten Sprachausdrucks (das dem Empfänger am Ende der Leitung eigentlich doch muttersprachig heimisch sein müsste) klingt - präsent/ absent, transparent - die Fremdheit der Originalsprache mit, die nicht ausreicht, um den Holocaust zu formulieren. Dass sich diese Verfremdung in der Übersetzung bis zur Entfremdung von Inhalt und Sprache steigern kann, ist für Klaus Reichert kein Verlust, sondern eher ein Gewinn: “Die Fremdheit kann bis an die Grenze der Unverständlichkeit gehen oder sogar über sie hinaus, wenn der Gegenstand - der zu übersetzende Text, die Wirklichkeitsform - es erfordert” (Reichert 1981: 51). Der Wirklichkeitsform des Holocaust entspricht möglicherweise tatsächlich nur der nichtbedeutende Diskurs, der wie die derridasche Schrift die Abwesenheit des Referenten hervorbringt, anstatt sie zu dissimulieren. Somit sind die als sprachlich defizitär und dolmetscherisches Scheitern gebrandmarkten und aus dem offiziellen Prozessprotokoll entfernten Übersetzungen die eigentlichen, richtigen Entsprechungen für die Schwierigkeit des Zur-Sprache- Bringens der Holocaust-Erfahrung. Indem sie die Medialität ihres Vermittlungsprozesses thematisieren, anstatt nur reine Dolmetschung 23 zu sein, bringen diese Übersetzungen den Moment der différance, den niemals ganz präsenten Charakter ihres Vermittlungsprozesses 402 Karoline Münz zum Ausdruck. Abel pointiert die vorangegangenen Überlegungen, indem er einen Bogen zwischen Übersetzen und Recht schlägt: “Im Übersetzen geht es auch darum, der anderen Sprache gerecht zu werden. […] Gelungene Übersetzung ist Gerechtigkeit der Sprache und auch darin Ausdruck von Humanität” (Abel 1997: 23f.; Hervorhebung im Original). Die Nürnberger Prozessdolmetscher haben mit jeder Äußerung, die sie aus den engen Grenzen der gut geölten Übersetzungsmaschine heraustreten lässt, die Diskursform getroffen, die die Unmöglichkeit des Beherrschens des Holocaust und seiner Opfer zum Ausdruck bringt und damit der Sprachlosigkeit des Holocaust “gerecht” wird. Wenn auch nur in kurzen Momenten der Verhandlung, manifestiert sich in diesen Augenblicken angeblicher Sprachstörungen die Diskursform, in der tatsächlich Recht gesprochen wird. 6. Das Urteil: Erinnerung als différance Das richterliche Urteil schließt ein Gerichtsverfahren ab - im doppelten Sinne des Wortes: als letzter Akt der Verhandlung und als finale Über- und damit Festsetzung des juristischen Sachverhalts sowie aller im Prozess gemachter Äußerungen. Mit dem Urteil ist ein Gerichtsprozess Geschichte. Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als historisches Ereignis geht hier noch einen Schritt weiter: Er soll - so wollen es vor allem die amerikanischen Ankläger 24 - den kurz zuvor beendeten Weltkrieg als geschichtliches Phänomen untersuchen und mit und in seinem Urteil für die Zukunft lesbar machen. Und so liest sich der mehr als 200 Seiten starke Urteilstext wie ein Geschichtsbuch, in dem akribisch alle in der Beweisführung ans Tageslicht gekommenen Verbrechen der Angeklagten aufgeführt sind. Dank des vorgebrachten Beweismaterials ist die Wahrheit des Holocaust aufgedeckt und in Tatsachen gepackt. Angesichts der Schwere des verhandelten Materials haben viele der Prozessbeobachter allerdings Zweifel an dieser Zielsetzung, der an einer möglichst eindeutigen Schilderung der Geschehnisse im Sinne einer abbildenden Übersetzung gelegen ist: “Es sagt sich so leicht: der Nürnberger Prozeß gehört der Geschichte an - und es klingt famos. Aber meistens bedeutet es leider: ein Aktendeckel schließt sich. Wenn es auch in diesem Fall so geht, dann ist wahrlich eine Schlacht verloren.” (Süskind 1963: 184) Süskind fürchtet eine abschließende Festschreibung der unbeschreibbaren Erfahrung des Holocaust, die diesen versteh- und schließlich auch überwindbar macht. Das Problem dieser Art der Geschichtsschreibung beruht auf der Prämisse, analog zur abbildenden Übersetzung einer apriorischen Sprache die Historiografie als abbildende Übersetzung der apriorischen historischen Wahrheit zu verstehen, die im Falle des Nürnberger Prozesses ein zusammenhängendes, authentisches Gesamtbild der Hitlerzeit ergibt. Dem Wunsch nach guter Lesbarkeit des so entstehenden gerichtlichen und geschichtlichen Urteils, das frei von Brüchen und Unstimmigkeiten ist, entspricht das, was man eine Planierung aller Widersprüche, Unsicherheiten oder Unaussprechbarkeiten nennen könnte. Die vollständige, end-gültige Erfassung von Geschichte ist insbesondere im Umgang mit dem Holocaust problematisch. So gibt der amerikanische Traumaforscher Dominick LaCapra (1994: 222) zu bedenken, dass der Versuch, traumatisierende Erfahrungen in nur einer schriftlich fixierten Version zu kanonisieren, eine von vielen Möglichkeiten darstellt, die Erlebnisse zu unterdrücken. Das Unsagbare zur Sprache bringen 403 In ihrer Analyse der “Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah” untersucht Susanne Düwell die literarische Bearbeitung von Holocaust-Erfahrungen der KZ- Überlebenden. Sie stellt dabei einen fundamentalen Unterschied zwischen dem geschichtswissenschaftlichen und dem autobiografischen Erinnern fest: “Dem visuellen Konzept rekonstruierender Erinnerung gegenüber steht ein Entwurf, der Erinnerung in erster Linie als sprachlichen Produktionsprozess auffasst. […] Erinnerung erscheint innerhalb dieser Konzeption als eine kreative Leistung, als nachträglich konstruktiver Akt und damit zwangsläufig als Bruch mit der Vergangenheit. Problematisch und dem Charakter der sich entziehenden Vergangenheit unangemessen ist demzufolge die Praxis, eine bestimmte Version als Geschichte festzuschreiben.” (Düwell 2004: 19) Damit etabliert Düwell einen Gegenvorschlag zu der repräsentationslogisch arbeitenden und die apriorische Wahrheit der Geschichte festhalten wollenden Erinnerung, die Derrida (1968: 12) in einem Nebensatz ganz ähnlich als “répression finale de la différence” charakterisiert: den “Akt” des Erinnerns, der als “sprachlicher Produktionsprozess” aus der Gegenwart verstanden werden muss. Im Hier und Jetzt stellt sich das Erinnern einer Erfahrung durch und in Sprache her. Die hier verwendeten Begriffe weisen stark darauf hin, dass die beiden verschiedenen Visionen des Übersetzens - die abbildende Übersetzung als Spiegel des Originals und das den Erkenntnisprozess durch Veränderung ins Zentrum ihres Denkens stellende Übersetzen, das im Dolmetschen seine vielleicht prägnanteste Form findet - als Erklärungsmodell für die beiden Grundrichtungen im Verständnis von Erinnerung/ Erinnern dienen können. Düwells Erinnerungsmodell des “nachträglich konstruktiven Akts” bringt van Alphen (1997: 10) in eine prägnantere Form, indem er der konservativen Holocaust-Repräsentation den Begriff des “Holocaust-Effekts” als performativem Erinnerungsakt gegenüberstellt: When I call something Holocaust effect, I mean to say that we are not confronted with a representation of the Holocaust, but that we, as viewers or readers, experience directly a certain aspect of the Holocaust or of Nazism […]. Those performative acts ‘do’ the Holocaust, or rather, they ‘do’ a specific aspect of it.” (Alphen 1997: 10) Als Beispiel für einen gelungenen Holocaust-Effekt, der auf die Verweiskette der Zeichen zugunsten eines anderen, gebrocheneren Zugangs zum Erinnerten verzichtet, nennt van Alphen die Fotoinstallationen Christian Boltanskis. 25 Dass dieser mit allen Repräsentationslogiken brechende Zugang zum Erinnerten über die von van Alphen angesprochenen Kulturbereiche Malerei und Photographie hinausgeht, bestätigt Düwell, die für den autobiografischen Roman mit ganz ähnlichen Worten als Kernmoment festhält: “Die Unabschließbarkeit der autobiographischen Erinnerung wird als permanenter Aufschub und als Verweigerung der Repräsentation von Vergangenheit prozessiert” (Düwell 2004: 221). Die differente Bewegung des “permanenten Aufschubs” bricht die Repräsentation des Erinnerten auf. Erfahrungen wie der Holocaust sind nicht einfach in ein erinnertes Bild zu bringen und damit zu übertragen. Zwischen Erinnertem und Erinnerndem nistet die différance von Zeichen und Bezeichnetem, die sich auch nicht von der noch so detailliertesten Darstellung völlig überbrücken lässt. Dagegen reißen Erinnerungen, die genau diesen Aufschub betonen - entweder durch unscharfe, ungleichmäßig beleuchtete Vergrößerungen von Fotos von Naziopfern vor ihrer Deportation wie bei den Bildinstallationen Boltanskis oder durch die Betonung der ungenügenden Sprachbilder wie in den Romanen Amérys -, die abbildende Referenz zum Erinnerten ein. “History is present - but not quite”, bezeichnet van Alphen 404 Karoline Münz (1997: 11) dieses aufschiebende Moment, das dem nicht repräsentierenden Holocaust-Effekt innewohnt und das ein Erinnern des Holocaust als “keep in touch” mit der Vergangenheit ermöglicht - obwohl und gerade weil die Schnittmenge mit dem Erinnerten kleiner sein kann als in einer Holocaust-Repräsentation. Hier reibt sich van Alphens Argumentation an Benjamins Übersetzeraufsatz, der zum Verhältnis von Original und Übersetzung im Hinblick auf den Sinngehalt folgendes Bild benutzt: “Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkt berührt […], so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkt des Sinnes das Original, um nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.” (Benjamin, Walter (19+) 1972: 19f.) Auch wenn es nur ein “unendlich kleiner Punkt” ist, den die benjaminsche Übersetzung noch mit dem Original gemeinsam hat, ist diese Übersetzung um einiges richtiger, “treuer” als eine abbildende Übersetzung - selbst wenn jene das Spiegelbild des Originals in der Fremdsprache ist. Denn nur die Übersetzung, die sich von der Sinnübertragung löst, bietet den Raum, in dem sich im Akkord der verschiedenen Arten des Meinens aller Menschensprachen idealer Weise die Erkenntnis der einen wahren Sprache performativ herstellen kann. Genauso kann geschichtliches Erinnern als Neuerleben von Erfahrungen nur dann geschehen, wenn in der Differenz Raum gelassen wird für verschiedene Arten des Umgangs mit dem Erinnerten, anstatt Reaktionen vorzuprogrammieren. Der Akt des Erinnerns, mit van Alphen verstanden als Holocaust-Effekt, zielt genau auf diese ständige performative Vergegenwärtigung des Vergangenen ab. Immer wieder und immer wieder aufs Neue stellt sich die Geschichte im übersetzerischen Akt des Erinnerns her, macht sich der Holocaust subjektiv in Kunst, Literatur und bald möglicherweise in neuen medialen Formen erfahrbar. So kommt der Holocaust und mit ihm der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess weder zu einem gedanklichen Abschluss, noch gerät er ins Abseits der Aktenberge. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der die letzten Zeugen des Holocausts sterben, sind Formen der Übersetzung von Erinnertem notwendig, die Geschichte machen, anstatt sie nur in Museen, Bibliotheken und Archiven abzubilden. 7. Fazit Im Zentrum dieses Aufsatzes steht das Prinzip der Unmittelbarkeit als Drehmoment juristischer, sprachlicher und medialer Übersetzung im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 1945/ 46. Das gemeinsame Symbol aller Übersetzungsarbeit von Nürnberg ist die Dolmetschmaschine, die die unvermittelte Präsenz aller Äußerungen im Rahmen der Verhandlung hervorheben und den Übersetzungsprozess als solchen (mitsamt ihrem medialen Träger, dem Dolmetscher) unterdrücken soll. Zwei Phänomene verursachen das zumindest zeitweilige Scheitern der vom Gericht gewünschten direkten fremdsprachlichen Übertragung: die Unmöglichkeit des Zur-Sprache-Bringens der traumatisierenden Holocaust-Erfahrung und die Unübersetzbarkeit der nationalsozialistischen Sprache, die als “uneigentliches Sprechen” die intern vereinbarte Referenz zwischen Sprachausdruck und eigentlicher Bedeutung camoufliert. Wo der Versuch der Opferzeugen scheitert, Erlebtes sprachlich zu repräsentieren, und wo eine Täter-Vokabel im wahrsten Sinne des Wortes nichts bedeutet, weil nicht klar ist, wofür sie steht, da kann eine unmittelbare Das Unsagbare zur Sprache bringen 405 bedeutet, weil nicht klar ist, wofür sie steht, da kann eine unmittelbare Übersetzung zwar die korrekte Entsprechung der Aussage einer anderen Sprache finden, aber keineswegs den Kern dessen treffen, was eigentlich gemeint ist. Der grundlegende Gedanke der strafprozessualen Dolmetschung als direktem Abbild und die diesen Gedanken sprengenden Momente des Übersetzens von Holocaust-Erfahrungen und der nationalsozialistischen Sprache bilden den Rahmen, in dem sich die Nürnberger Prozessdolmetscher situieren. Die vorliegende Arbeit hat versucht, die hinter der Simultandolmetschtechnik stehende Logik analog zu Jacques Derridas Dekonstruktion des logozentristischen Primats der Stimme zu dekonstruieren: Mit dem “technischen und menschlichen Dolmetschapparat”, der simultan im Medium der gesprochenen Rede arbeitet, gibt sich das Gericht ebenso der Illusion der Unvermitteltheit der Abbildung von Wahrheit in der Präsenz hin wie die Philosophen des Logozentrismus. Denn der aufschiebende Bruch der différance, die jeder repräsentationslogischen Abbildung im sprachlichen Zeichen innewohnt, durchzieht Sprechen und Dolmetschen genauso wie Schrift und Übersetzung. In Momenten der Unübersetzbarkeit wird dies besonders deutlich. Hier offenbart sich die Verantwortung der Nürnberger Prozessdolmetscher. Ihre Aufgabe, die sich oft genau in ihrem Aufgeben angesichts der Übersetzungsprobleme äußert, besteht eben darin, diese Unsagbarkeiten in einer bruchstückhaften, unrunden, differenten Übersetzung zu thematisieren, anstatt sie unter dem Siegel einer unmittelbaren Verständlichkeit einzuebnen. Den Holocaust-Zeugen würde damit die sprachliche Gerechtigkeit widerfahren, die Jean-François Lyotard (1983b: 33) als Ausweg aus der Sprachlosigkeit des “Widerstreits” vorschlägt. Die Bedeutung, die der Sprache und damit auch der Übersetzung nicht nur im Nürnberger Verfahren, sondern in jedem Gerichts- und Erinnerungsprozess zukommt, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In seinem Vorkriegstagebuch stellt der Philologe der Victor Klemperer fest, “daß Sprache für uns dichtet und denkt” (Klemperer 1946: 114) - dieses Wissen um die Bedeutung des Übersetzens bei der Umsetzung von Gedanken in Sprache und von Wahrnehmungen in Äußerungen sollte ausblickartig als die Basis verstanden werden, auf die ein verantwortungsvoller Umgang mit Sprache und Erinnerung gründen kann. Süskind zieht, so resümiert André, aus der Schreckenserfahrung der nationalsozialistischen Sprachkorruption genau diese Lehre: “Die Einsicht, dass die Sprache nicht bloß Welt abbildet oder das Vorhandene wiedergibt, sondern selbst wirklichkeitsschaffend ist, gibt […] zu der die Artikel des ‘Wörterbuch des Unmenschen’ tragenden Hoffnung Anlass, dass eine Reflexion auf den Sprachgebrauch dazu führen könnte, die vorhandenen Weltverhältnisse zu verändern.” (André 2004: 43) In diesem Zusammenhang kann sich in einer gerechten, reflektierten Sprache vielleicht tatsächlich performativ Gerechtigkeit für die Opfer als letztes Ziel eines gerichtlichen Verfahrens herstellen. Den Gerichtsprozessen weltweit - vom deutschen Amtsgericht bis zum Internationalen Strafgerichtshof - wäre diese Einsicht zu wünschen. Literaturverzeichnis Abel, Günter 1997: “Übersetzung als Interpretation”, in: Elberfeld, Rolf et al. (Hrsg.) 1999: Translation und Interpretation. Schriften der Académie du Midi, Bd. V. 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Mannheim etc.: Dudenverlag Anmerkungen 1 Den Prozess führen je zwei Richter aus den USA, der Sowjetunion, England und Frankreich in ihrer jeweiligen Muttersprache und in der Sprache der Angeklagten, auf Deutsch. 2 Die Aufgabe des Übersetzers - das geplante Vorwort zu Tableaux parisiens (1921) wurde allerdings erst nach Benjamins Tod veröffentlicht. 3 Die heute standardmäßig verwendete Technik des simultanen Konferenzdolmetschens erlebte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ihre Feuertaufe; zuvor war die auf simpler Telefontechnik aufbauende Anlage nur bei der International Labour Organization des Völkerbundes und ausschließlich für die Übersetzung von vorbereiteten Reden eingesetzt worden, die den Dolmetschern im Original vorlagen. 4 Nämlich für Englisch-Deutsch, Deutsch-Englisch, Englisch-Französisch, Französisch-Englisch, Englisch- Russisch, Russisch-Englisch, Französisch-Deutsch, Deutsch-Französisch, Französisch-Russisch, Russisch- Französisch und Russisch-Deutsch, Deutsch-Russisch. 5 Auf dessen Existenz nur einzelne Stellen der Protokolle hinweisen, allerdings werden Ankläger und Verteidiger im Laufe der Verhandlungen an die Einhaltung der Verhaltensregeln vor Gericht erinnert - und müssen somit einmal umgehend darüber informiert worden sein (cf. z.B. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 13/ S. 7). 6 So der französische Hauptankläger Auguste Champetier de Ribes in seinem Abschlussplädoyer (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 595). 7 Der Begriff “Genocidium” geht auf den Juristen Raphael Lemkin und das Jahr 1944 zurück, (cf. Wieviorka 1994: 593); “Völkermord” taucht im deutschen Protokoll abgesehen von einer Nennung am ersten Prozesstag erst im Plädoyer des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross auf (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 556). 8 Glaubt man den Angaben des Verteidigers Viktor von der Lippe, so haben die insgesamt 40 Anklagevertreter 2100 Dokumente vorgelegt, “aber nur 29 Zeugen verhört” (Lippe 1951: 159). 9 Genau das drückt der spanische Literaturwissenschaftler Jorge Navarro-Perez in seinem “Plädoyer für das Schweigen” aus: “Der interpretierte Mensch macht den Mund zu; er hat nichts mehr zu sagen, er ist bereits verstanden worden.” (Navarro-Perez, Jorge 1999: “Italo Calvino und Herr Palomar über Schweigen oder Übersetzen? ”, in: Elberfeld, Rolf et al. (Hrsg.) 1999: Translation und Interpretation. München: Fink, S. 157-162). 10 Zur Nazi-Verschwörung cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 3/ S. 448f.; zu Verbrechen gegen die Juden cf. ebd.: Bd. 3/ S. 597f., ebd., Bd. 13/ S. 189; zu dem im Sachindex nicht enthaltenen Hauptfilm cf. ebd.: Bd. 2/ S. 478ff. 11 Der etwa einstündige Film zeigt einen Zusammenschnitt von Bildern, die amerikanische Soldaten während und nach der Befreiung der Konzentrationslager Bergen-Belsen, Mauthausen und Buchenwald gedreht haben - die eigentlichen Vernichtungslager im Osten wie Auschwitz oder Treblinka bleiben den Anwesenden also erspart. 12 Auch wenn Roland Barthes den Film aus seiner Analyse der Fotografie und ihres zentralen Merkmals, der Repräsentation eines ça-a-été ausschließt, hält Manfred Hattendorf (1994: 75) eine Übertragung dieses Prinzips auf das Genre des Dokumentarfilms für zulässig. 13 Hier ist zu beachten, dass die metaphorische Bedeutung des Begriffs “liquidieren” (eigentlich: verflüssigen) dem heutigen Leser bekannt, der Übertragungsweg also klar ist; damals beruhte er aber gerade noch nicht auf einer Denkkonvention, was die “Beliebtheit” in der Verwendung des Begriffs erklärt. 14 Die Diskrepanz von Gemeintem und Art des Meinens, die in der Aufgabe der Identität zwischen Wort und Namen begründet ist, verursacht schließlich die unterschiedlichen Benennungen in den verschiedenen Sprachen der Welt und die Notwenigkeit der Übersetzung (cf. Benjamin (19+) 1972: 14). 15 Im Rahmen dieser Skizze der nationalsozialistischen Neu- und Umbenennungen soll nicht vergessen werden, dass sich der Akt der Namensgebung auch ins System der Konzentrationslager übersetzt: KZ- Häftlinge verlieren mit der Einlieferung ihren Namen und werden nur noch über die ihnen eintätowierte Das Unsagbare zur Sprache bringen 409 Nummer in den Arm registriert und identifiziert, wie Primo Levi berichtet: “Mein Name ist 174 517; wir wurden getauft, und unser Leben lang werden wir das tätowierte Mal auf dem Arm tragen” (Levi 1947: 34f.). 16 Die der benjaminschen Menschensprache entsprechen würde. 17 Auf die russischen Entsprechungen wird hier jeweils verzichtet. 18 Vgl. dazu den Beitrag Rosemaries Papadopoulos-Kilius in: Ueberschär, Gerd. R. (Hrsg.) 1999: Der Nationalsozialismus vor Gericht, Frankfurt a.M.: Fischer, oder die 2002 von Theodoros Radisoglou konzipierte Fotoausstellung “Dolmetscher und Übersetzer beim Nürnberger Prozess 1945/ 46” (z.T. elektronisch veröffentlicht unter http: / / www.radisoglou.de). 19 Die Beispiele sind vielfältig (cf. z.B. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 319). 20 Die des bulgarischen Katyn-Zeugens Boris Bazilevsky (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 17/ S. 351ff.). 21 Nämlich die Zeugenaussage Severina Schmaglewskajas zum Verschwinden der neugeborenen Kinder in Auschwitz (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 8/ S. 349ff.). 22 Sonnenfeldt ist als Angestellter der amerikanischen Anklagebehörde, nicht des Gerichtes, für die Vorverhöre der Kriegsverbrecher vor Erhebung der offiziellen Anklage verantwortlich und steht somit nicht unter Eid. 23 Der Begriff Dolmetschen entspricht auch insofern der Derridaschen différance, als dass er wie sie aus der Partizip-Präsenz-Form des Stammverbs abgeleitet ist. Der Term Dolmetschung existiert nicht als vollendetes Produkt (wie die Übersetzung), sondern als aktivische Bewegung, als ständiger Prozess, der nie ankommen und “sich setzen” können wird. 24 Allen voran Telford Taylor, der in seinen Abschlussplädoyer auf diesen Anspruch an den Prozess hinweist: “Wir können hier nicht die Geschichte korrigieren, aber wir können danach trachten, daß sie wahrheitsgemäß geschrieben wird” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 22/ S. 340). 25 An dieser Stelle sei nur auf van Alphens Analyse im 4. Kapitel seiner Monographie Caught by History (1999, Stanford: Stanford University Press) verwiesen; ein tieferes Eingehen auf die Performativität der Installationen Boltanskis würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
