eJournals Kodikas/Code 28/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
283-4

Margrith Lin-Huber 2001: Chinesen verstehen lernen, Bern / Göttingen / Toronto / Seattle: Huber, 245 S., 19,95 € / 34,80 CHF, ISBN 3-456-83630-9

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2005
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod283-40425
Reviews 425 jungen und z.T. bereits etablierten Gesprächsforschern, die sich im Rahmen einer Tagung der deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) in Frankfurt am Main in verschiedenen Sektionen (neben der Gesprächslinguistik auch solchen zur Mündlichkeitskultur, zur Medienkommunikation, zur Rhetorik und Sprecherziehung) und von den unterschiedlichsten theoretischen Positionen aus über den gemeinsam interessierenden Gegenstand dialogförmiger Verständigung austauschten und beschlossen, ihre Diskussionsbeiträge zu einem Band zu verbinden, der eine gelungene Momentaufnahme gegenwärtiger einschlägiger Forschung im deutschsprachigen Raum zu bieten vermag. Das so entstandene Bild ist in der Tat facettenreich. Die thematische Vielfalt der Beiträge und der darin repräsentierten Ansätze und Methoden wird balanciert durch das ihnen gemeinsame theoretische Interesse, das die vermeintliche oder unterstellte Theoriefeindlichkeit der ‘klassischen’ Konversationsanalyse zu überwinden trachtet, durch die Gemeinsamkeit der fachübergreifenden Orientierung und durch die von allen geteilte Absicht der empirischen Untermauerung der Untersuchungen in anschaulichen Fallstudien. Die Autoren widmen sich Themen, in denen sie sich auskennen, wie man aus andern Zusammenhängen weiß, und bewegen sich dabei auf sicherem Grund. Ulrich Dausendschön-Gay untersucht “Rituale und Höflichkeit”, Arnulf Deppermann plädiert für eine “reflexive ethnomethodologische Konversationsanalyse”, Wilhelm Grießhaber erklärt am Beispiel von Speiserestaurant und Cybercafé “Verfahren und Tendenzen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse”, Heiko Hausendorf nimmt die grammatischen Mittel der ‘Hervorhebung’ im Gespräch genauer unter die Lupe, Zsuzsanna Iványi steuert “Bemerkungen zur Möglichkeit von Warum- Fragen in der Gesprächsanalyse” bei, Inken Keim analysiert die Interaktionsmodalität des Klatsches bei Mannheimer Arbeitern, András Kertész prüft, inwieweit die kognitive Metapherntheorie sich auch für die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme eignet, Walther Kindt fordert die Integration der Argumentationsanalyse in die Diskursforschung, Sven F. Sager entwirft das Programm einer Gesprächsethologie, Reinhold Schmitt entdeckt die Tafel als Statusrequisit in Situationen institutionell-hierarchischer Gruppenkommunikation, Carmen Spiegel und Thomas Spranz-Fogasy erörtern am Beispiel des Interaktionstyps ‘Schlichtung’ die Frage, wie der Handlungscharakter von Gesprächen beschrieben werden kann und greifen dafür auf die bewährte Handlungsschemaanalyse von Kallmeyer & Schütze zurück. Aufgrund der Qualität der Beiträge und des zuverlässigen Niveaus der Autoren ist dem Band die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu wünschen und den Herausgebern für dessen Aufnahme in eine Reihe zu danken, die den Dialog zwischen Theoretischer und Angewandter Linguistik zu befördern unternimmt. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Margrith Lin-Huber 2001: Chinesen verstehen lernen, Bern / Göttingen / Toronto / Seattle: Huber, 245 S., 19,95 € / 34,80 CHF, ISBN 3-456-83630-9 Natürlich sind die Chinesen den Europäern fremd, fast so fremd wie die Schweizer den Deutschen. Bei vielem, was ich über Kommunikation in China lese, kommt einem Deutschen, der seit etlichen Jahren in der Schweiz lebt, seine neue Umgebung in den Sinn, die zu verstehen kaum weniger Anstrengung kostet als die fernöstliche Fremde zu begreifen. Offenbar kommt dieses Gefühl nicht ganz von ungefähr. Der helvetische Schriftsteller Peter Bichsel hat einmal einen klugen kleinen Text geschrieben über “Die Deutschen” und darüber, wie sehr sie sich doch unterschieden von seinen Landsleuten (Bichsel 1985). Seine Bemerkungen über das unterschiedliche Kommunikationsverhalten sind von besonderem Interesse, wenn man den schmalen Band von Margrith A. Lin-Huber zur Hand nimmt, die sich als Schweizerin bemüht hat, Chinesen verstehen zu lernen. Dafür hatte sie Einblick aus der Nähe. Sie ist mit einem Chinesen verheiratet und hat ihr Buch ihrem Schwiegervater Lin Song gewidmet. So neige man, schreibt Bichsel, in Deutschland etwa dazu, Kontroverses ausführlich zu erörtern, worüber man in der Schweiz lieber schweige. 426 Reviews Dort genügten oft ein paar knappe Andeutungen dessen, was die Deutschen des langen und breiten auszuwalzen wünschten. Die Schweizer wissen eben auch, wie die Chinesen in ihrem berühmten Chengyu, “wenn ein Wort einmal über die Lippen gekommen ist, so können es die schnellsten Pferde nicht mehr einholen” (zitiert auch bei Lin- Huber 2001: 45). Der Zürcher Philosoph Elmar Holenstein (1998) hat sich nun in einem Experiment den akademischen Scherz erlaubt, in Bichsels Text zwei Wörter zu ersetzen, und zwar “die Deutschen” durch “die Europäer” und “die Schweizer” durch “die Japaner”. Er legte den ansonsten unveränderten Text Lesern in der Schweiz, in Deutschland und in Japan vor: niemand bemerkte die Vertauschung. Mit anderen Worten: das Verhalten von Schweizern kommt Deutschen ungefähr so exotisch vor wie das von Japanern, also ausweichend, konsensorientiert, indirekt und eigentlich undurchschaubar, während umgekehrt die Deutschen den Schweizern zu laut, zu direkt, zu aggressiv, zu arrogant und inflexibel erscheinen. Dieselbe Sprache zu sprechen bedeutet also keineswegs, dieselbe Kultur zu teilen; räumliche Nachbarschaft schützt nicht vor Fremdheit. Kulturelle Regelverletzungen wirken sich potentiell weitaus gravierender, d.h. beziehungsgefährdender und gesichtsbedrohender aus als ‘Fehler’ in der Grammatik oder bei der Aussprache, weil sie dem Sprecher als Person, als ens sociale, angelastet werden, nicht seiner Sprachkompetenz. Mit den Schweizern verbindet die Chinesen überdies, daß ihnen Vernunftgründe allein offenbar nicht auszureichen scheinen zur plausiblen Begründung von Behauptungen; sie erwarten von ‘vernünftiger Rede’ (jiang-li) darüberhinaus, daß sie auch mit der “menschlichen Natur” übereinstimme, also mit jener praktischen Vernunft, die nicht identisch sein muß mit der logischen. Auch in der Kunst interpersonaler Beziehungen (guan-xi) scheinen Chinesen und Schweizer prima facie einander näher als diese den Deutschen. Wenigen Fremden ist es gelungen, sich in das Wurzelwerk helvetischer Beziehungsnetze einzuflechten, das guan-xi à la suisse. Das Gefangensein in solchen Beziehungsnetzen empfinden manche freilich auch eher als Gefängnis, als soziale Kontrolle und Freiheitsbegrenzung bis zur Grenze des Erträglichen, wie Lu Xun in seinem Tagebuch eines Verrückten so eindrucksvoll beschreibt. Regelwerke der Verhaltenssteuerung wie das der qu- oder tschou-Etikette mit ihren 3300 Vorschriften (Lin 1981: 185-188) sind eben nicht nur Richtschnur, auch Einschnürung. Der Zwang zu Etikette, zu Umweg und Verschleierung bereitet manchen Westlern Mühe. Die Rhetorik des innuendo ist für sie ein stetig sprudelnder Quell immer neuer Mißverständnisse, während umgekehrt ihre unbekümmerten Äußerungen vom entsprechend trainierten chinesischen Gesprächspartner beständig auf versteckte Anspielungen und kritische Subtexte hin abgeklopft werden. Die Kunst der Täuschung im Gespräch hat in China eine lange Tradition, deren Wurzeln bis ins Ende der Ming-Zeit vor ca. 500 Jahren zurückreichen (cf. Behr ed. 2004). Die damals formulierten Handlungsanleitungen, die ihrerseits eine jahrtausendealte Erfahrung im Umgang mit schwierigen Situationen zusammenfassen und wohl ursprünglich Überlegungen zur Kriegskunst entstammen, sind im Westen von dem Sinologen und Juristen Harro von Senger (2000) erst vor kurzem als “Katalog der 36 Strategeme” einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht geworden. Die Kenntnis solcher Strategien listenreicher Konversation kann nützlich sein, wenn man selbst in argumentative Bedrängnis gerät oder gegen die Finten des Gesprächspartners sich wappnen will. Ironie oder Sarkasmus gelten dabei übrigens als ungeeignet, weil Chinesen aus Gründen der Höflichkeit ohnehin oft etwas anderes sagen als sie meinen und dies keineswegs mit Humor verbinden (cf. Lin-Huber 1998: 206). Kulturspezifische Sprach-, Denk- und Verhaltensmuster als Ursache interkulturellen Mißverstehens werden neuerdings auch von Kognitionspsychologen erforscht, deren Ergebnisse für die Linguistik interessant werden können. In ihren Untersuchungen von Gesprächen zwischen Asiaten und Kanadiern haben Forscher der University of British Columbia in Vancouver allerdings auch herausgefunden, daß die diesbezüglichen Testergebnisse der Asiaten denen der Einheimischen immer ähnlicher wurden, je länger sie im Lande lebten (cf. Hein 2004: 41). Mißverstehen ist also nicht gottgegeben (Babylon) oder genbestimmt (Biologie), sondern kulturbe- Reviews 427 zogen. Bei genügend Zeit und Geduld und wechselseitiger Neugier besteht also durchaus Hoffnung, daß auch Deutsche und Chinesen einmal einander verstehen lernen. Das Buch von Lin- Huber kann dazu einen gut dokumentierten Einstieg bieten. Literatur Behr, Hans-Joachim (ed.) 2004: List in Ost und West, Schöppenstedt: Eulenspiegel-Museum Bichsel, Peter 1985: “Wie deutsch sind die Deutschen? ”, in: id. 1985: Schulmeistereien, Neuwied: Luchterhand 151-165 Böckelmann, Frank 1998: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, Frankfurt/ Main: Eichborn Hein, Till 2004: “Das kommt Chinesen spanisch vor”, in: Die Zeit 41 v. 30.09.2004: 41 Holenstein, Elmar 1998: “Asiatische Werte - schweizerische Werte”, in: Neue Zürcher Zeitung 152 v. 4./ 5.7.1998 Lin, Yutan 1981: Glück des Verstehens, Stuttgart: Klett Lin-Huber, Margrith A. 1998: Kulturspezifischer Spracherwerb, Bern: Huber Lin-Huber, Margrith A. 2001: Chinesen verstehen lernen, Bern etc.: Huber Senger, Harro v. 2000: Strategeme, 2 vols., Bern: Scherz Senger, Harro von 4 2004 [ 1 2001]: Die Kunst der List, München: C.H. Beck Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Markus Oliver Spitz 2004: Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr, Würzburg: Königshausen & Neumann, 198 S., ISBN 3-8260-2962-3 Christoph Ransmayr ist ein sehr erfolgreicher österreichischer Schriftsteller, sein jüngstes Werk mit dem Titel Der fliegende Berg, ein in Flattersatz gedruckter und zum lauten Lesen animierender Versroman, der von der gefährlichen Expedition zweier Brüder im Transhimalaja erzählt, deren einer sie nicht überlebt, was an das Schicksal der Gebrüder Messner gemahnt, deren Geschichte Ransmayr aber erkennbar nicht erzählt, diese Epopoë vom Übergang zwischen Wirklichkeit und erfundener Welt wird in diesen Tagen der Buchmesse 2006 in allen besseren Gazetten mit lobendem Respekt besprochen. Dabei macht sich der Autor eher rar, gerade mal drei Romane hat er in den beiden letzten Dekaden publiziert. Sein erster, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, erschien 1984, vor 22 Jahren, und berichtete in fiktionaler Form ebenfalls von einer Expedition, und zwar einer historischen Eismeerexpedition. Das Werk des Debütanten machte ihn auf einen Schlag bekannt. Vier Jahre später erst, 1988, erschien sein zweiter Roman, Die letzte Welt, eine phantastische Erzählung auf den Spuren Ovids, aber ebenfalls mit historisch jüngeren Bezügen. Elf Jahre ist es nun schon wieder her, seit der dritte Roman, Morbus Kitahara, für Aufsehen sorgte, angesiedelt in einer merkwürdig unwirklichen Nachkriegszeit. Jetzt also sein vierter Roman, ein guter Anlaß zu prüfen, ob seine früheren Arbeiten bereits zum Gegenstand der jüngeren Forschung geworden sind. Die Ausbeute ist vergleichsweise gering. Aus den Dissertationen zu Ransmayrs Werk sticht jetzt die eines jungen Germanisten hervor, Jahrgang 1971, vor allem in England und Frankreich tätig, der die drei Romane einmal nicht im Lichte postmoderner Literaturtheorie zu lesen versucht, sondern als Modelle der Wirklichkeit aus dem Geiste der Aufklärung. Auf hermeneutisch und rezeptionsästhetisch solide bereitetem Boden sucht Spitz dabei Befunde aus den Romanen mit solchen aus dem Reportagenwerk gleichsam wechselseitig zu belichten. Dies scheint insofern plausibel, als es in allen drei Romanen um Geschichte geht - aber es sind keine “historischen Romane”. Aus anachronistisch verschachtelten Schichten verschiedener historischer Epochen wird vielmehr ein fiktives Handlungs- und Raumgefüge aufgebaut, in das Versatzstücke aus der jüngsten Geschichte eingepaßt sind. Diese Anachronismen, vor allem die aus der Zeit des Dritten Reiches, haben für das Verständnis der Texte eine Bedeutung, die in der bisherigen Forschungsliteratur noch kaum aus eigenem Recht herauspräpariert wurde. Ransmayr wurde dort meist entweder vorgeworfen, er verharmlose die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, oder aber er treibe ein postmodern beliebiges Spiel mit zeitlos montierten Zitaten.