Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
283-4
Markus Oliver Spitz 2004: Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr, Würzburg: Königshausen & Neumann, 198 S., ISBN 3-8260-2962-3
121
2005
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod283-40427
Reviews 427 zogen. Bei genügend Zeit und Geduld und wechselseitiger Neugier besteht also durchaus Hoffnung, daß auch Deutsche und Chinesen einmal einander verstehen lernen. Das Buch von Lin- Huber kann dazu einen gut dokumentierten Einstieg bieten. Literatur Behr, Hans-Joachim (ed.) 2004: List in Ost und West, Schöppenstedt: Eulenspiegel-Museum Bichsel, Peter 1985: “Wie deutsch sind die Deutschen? ”, in: id. 1985: Schulmeistereien, Neuwied: Luchterhand 151-165 Böckelmann, Frank 1998: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, Frankfurt/ Main: Eichborn Hein, Till 2004: “Das kommt Chinesen spanisch vor”, in: Die Zeit 41 v. 30.09.2004: 41 Holenstein, Elmar 1998: “Asiatische Werte - schweizerische Werte”, in: Neue Zürcher Zeitung 152 v. 4./ 5.7.1998 Lin, Yutan 1981: Glück des Verstehens, Stuttgart: Klett Lin-Huber, Margrith A. 1998: Kulturspezifischer Spracherwerb, Bern: Huber Lin-Huber, Margrith A. 2001: Chinesen verstehen lernen, Bern etc.: Huber Senger, Harro v. 2000: Strategeme, 2 vols., Bern: Scherz Senger, Harro von 4 2004 [ 1 2001]: Die Kunst der List, München: C.H. Beck Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Markus Oliver Spitz 2004: Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr, Würzburg: Königshausen & Neumann, 198 S., ISBN 3-8260-2962-3 Christoph Ransmayr ist ein sehr erfolgreicher österreichischer Schriftsteller, sein jüngstes Werk mit dem Titel Der fliegende Berg, ein in Flattersatz gedruckter und zum lauten Lesen animierender Versroman, der von der gefährlichen Expedition zweier Brüder im Transhimalaja erzählt, deren einer sie nicht überlebt, was an das Schicksal der Gebrüder Messner gemahnt, deren Geschichte Ransmayr aber erkennbar nicht erzählt, diese Epopoë vom Übergang zwischen Wirklichkeit und erfundener Welt wird in diesen Tagen der Buchmesse 2006 in allen besseren Gazetten mit lobendem Respekt besprochen. Dabei macht sich der Autor eher rar, gerade mal drei Romane hat er in den beiden letzten Dekaden publiziert. Sein erster, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, erschien 1984, vor 22 Jahren, und berichtete in fiktionaler Form ebenfalls von einer Expedition, und zwar einer historischen Eismeerexpedition. Das Werk des Debütanten machte ihn auf einen Schlag bekannt. Vier Jahre später erst, 1988, erschien sein zweiter Roman, Die letzte Welt, eine phantastische Erzählung auf den Spuren Ovids, aber ebenfalls mit historisch jüngeren Bezügen. Elf Jahre ist es nun schon wieder her, seit der dritte Roman, Morbus Kitahara, für Aufsehen sorgte, angesiedelt in einer merkwürdig unwirklichen Nachkriegszeit. Jetzt also sein vierter Roman, ein guter Anlaß zu prüfen, ob seine früheren Arbeiten bereits zum Gegenstand der jüngeren Forschung geworden sind. Die Ausbeute ist vergleichsweise gering. Aus den Dissertationen zu Ransmayrs Werk sticht jetzt die eines jungen Germanisten hervor, Jahrgang 1971, vor allem in England und Frankreich tätig, der die drei Romane einmal nicht im Lichte postmoderner Literaturtheorie zu lesen versucht, sondern als Modelle der Wirklichkeit aus dem Geiste der Aufklärung. Auf hermeneutisch und rezeptionsästhetisch solide bereitetem Boden sucht Spitz dabei Befunde aus den Romanen mit solchen aus dem Reportagenwerk gleichsam wechselseitig zu belichten. Dies scheint insofern plausibel, als es in allen drei Romanen um Geschichte geht - aber es sind keine “historischen Romane”. Aus anachronistisch verschachtelten Schichten verschiedener historischer Epochen wird vielmehr ein fiktives Handlungs- und Raumgefüge aufgebaut, in das Versatzstücke aus der jüngsten Geschichte eingepaßt sind. Diese Anachronismen, vor allem die aus der Zeit des Dritten Reiches, haben für das Verständnis der Texte eine Bedeutung, die in der bisherigen Forschungsliteratur noch kaum aus eigenem Recht herauspräpariert wurde. Ransmayr wurde dort meist entweder vorgeworfen, er verharmlose die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, oder aber er treibe ein postmodern beliebiges Spiel mit zeitlos montierten Zitaten. 428 Reviews Demgegenüber sucht Spitz in seiner Arbeit - darin im Ansatz ähnlich wie eine in Bern kurz zuvor entstandene (aber leider unveröffentlichte) Dissertation von Michele C. Marrafino - gerade aufzuzeigen, daß und inwiefern die Anachronismen eine zentrale narrative Funktion für das Verständnis der Werke Ransmayrs haben. Durch diese Erzählweise werden nämlich die dem Leser vertrauten Orientierungs- und Deutungsmuster, mit denen er der Vergangenheit gegenübertritt, im positiven Sinne des Wortes fragwürdig, d.h. Geschichte wird durch das Überschreiten der Wirklichkeit neu wahrgenommen, das vertraute historische Faktum wird durch seine Fiktionalisierung unvertraut, verfremdet, neu beleuchtet. Ransmayrs Debütwerk, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, behandelt vordergründig die Nordpol-Expedition Payer-Wayprechts von 1872-74. Der Ich-Erzähler erzählt die Geschichte eines in der Arktis verschwundenen Mannes, indem er all die ihm verfügbaren Informationen in eine Ordnung zu bringen versucht. Nach der Analyse der Erzählstruktur des Romans geht es um das Schreibprojekt des Ich-Erzählers und seine Schwierigkeiten, aus Geschehen Geschichte zu produzieren. Anfangs geht er von der Vorstellung aus, einfach nur zeigen zu wollen, “wie es wirklich war”. Geschichte, glaubt er, habe einen Sinn in sich selbst, sei die Wegstrecke zu einem Ziel, dessen Erreichen es nachzuzeichnen gelte. Das Ergebnis am Ende seines Schreibprojektes ist dann freilich eine allenfalls wahrscheinliche Erfindung. Geschichte wird als ein in der Gegenwart erzeugter Sinnzusammenhang gezeigt, der durch das Erzählen erst hergestellt wird. Literatur und Geschichte nähern sich an - und damit huldigt der Roman durchaus gewissen Grundauffassungen postmoderner Philosophie, nach der es eine ‘objektive’ Wirklichkeit nicht gibt. Dies hat Konsequenzen für die Erfahrung, Beschreibung und Bewertung dessen, was als ‘historische Wirklichkeit’ gilt und führt zu einer Geschichtsauffassung, in der die objektive Erkennbarkeit historischer Zusammenhänge obsolet geworden ist. Die aus der Strukturanalyse des Werkes (mit besonderem Blick auf die Rolle des Ich-Erzählers und dessen Reflexion des Scheiterns seines Erzählprojekts) gewonnenen Einsichten werden dann systematisch auf die etlichen in den Roman eingestreuten Exkurse über historische Ereignisse übertragen, die nun als Konstruktionen gelesen werden können, als ‘Erfindungen’ eines historischen Sinnzusammenhangs aus Texten. So muß der Leser erkennen, daß die Rekonstruktion von Vergangenem immer schon Konstruktion ist, ein Experiment mit Texten, dem Auswahl, Anordnung, Reflexion vorausgeht und Wertung folgt. Erst indem die Wertung als relativ zur Konstruktion offensichtlich wird, kann die Bildung von Ideologie in ihren sprachlichen Spiegelungen durchschaut werden. In Ransmayrs zweitem Roman Die letzte Welt wird das Gewicht vor allem auf das kritische Potential von Literatur gelegt, historische Diskurse aufzubrechen und zu verändern. Eine Detailanalyse des Romanbeginns exponiert die Frage nach der Erzählinstanz und dem Referenzrahmen des Romans. Er wird als Palimpsest verschiedener Texte gelesen, deren Relationen zueinander der Verf. zu bestimmen sucht. Wichtig wird hierbei vor allem die in der Forschungsliteratur äußerst kontrovers beurteilte Thies-Episode, die auf das historische Ereignis des nationalsozialistischen Holocaust verweist. Zunächst wird der im Roman gezeigte römische Staat unter Berücksichtigung historischer Totalitarismusbegriffe als Diktatur beschrieben. Die im Roman agierenden Figuren, allen voran der Führer des Staates, Kaiser Augustus, werden als tief in den Strukturen des totalitären Staates bzw. Diskurses gefangene Individuen gezeigt, die der Fiktion erliegen, als selbstreflexive und autonome Individuen “Geschichte machen” zu können. Vor diesem Hintergrund sei der Anachronismus der Thies-Episode zu lesen: die Gaskammern des augusteischen Staates seien in der Logik des römischen Diskurses angelegt. Das totalitäre System Roms beruft sich auf eine (verengte Form der) Vernunft, die totalitär in dem Sinne ist, dass sie alles außerhalb der von ihr festgelegten Grenzen zum Verschwinden bringt, aber damit auch die Möglichkeit einer Selbstbesinnung und kritischen Erweiterung ausschließt, selbst nachdem sich herausgestellt hat, daß die römische Ordnung (in der Thies-Episode) zu kaum mehr zu überbietenden Verbrechen fähig ist. Reviews 429 Am Beispiel der Perspektivfigur Cotta, der sich auf den Weg macht, den verschwundenen Dichter Naso und dessen Werk zu suchen, wird aufgezeigt, wie die Literatur einen Weg weist aus jenem Diskurs, der für die Gaskammern verantwortlich war. Die Erfahrungen von Szenen der Metamorphosen Nasos (bzw. Ovids) führen Cotta in eine Krise und schließlich zur Erkenntnis einer Wirklichkeit außerhalb des römischen Diskurses, zu einer höheren Form der Vernunft und zur Utopie einer Ordnung, in der die Gaskammern aus der Thies-Episode nicht mehr möglich sind. Der dritte Roman Morbus Kitahara greift das Thema aus der Thies-Episode erneut auf. Diesmal geht es um die Frage nach dem Umgang mit schuldhafter Vergangenheit. Der Verf. zeigt anhand mehrerer Figuren, wie aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer werden können, wie ein falscher Umgang mit Geschichte dazu führt, daß eine Gesellschaft gleichsam moralisch erblindet und ihre Verstrickung in einen verbrecherischen Krieg verkennt. In einer fiktiven Nachkriegszeit, die viele Elemente der realen Geschichte vor allem aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zur Voraussetzung hat, wird die Geschichte des Dorfes Moor und seiner Bewohner über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten nachgezeichnet. Ransmayr reflektiert darin eine von den Siegern oktroyierte Nachkriegsordnung, in der sich die Moorer Gesellschaft nach den Bedingungen des Stellamour-Plans (also des Morgenthau-Plans) entwickelt. Die von den Siegern ideologisch festgeschriebene Geschichtsinterpretation führt bei den Moorern zu Abwehr und Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit. Anhand des Lebensweges der Hauptfigur Berings, eines der “Gnade der späten Geburt” teilhaftigen Nachgeborenen, belegt der Verf., wie die unterlassene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte einerseits die Zukunft dieser Gesellschaft verunmöglicht, anderseits aber als tragische Schuld auf diese zurückfällt; denn die Geschichte wiederholt sich. Bering entwickelt sich zu einem mehrfachen Mörder, der sich schließlich gegen die eigenen Leute wendet und sich kaum mehr von den Verbrechern der Kriegszeit unterscheidet. Die von den Siegern institutionell verfügte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einerseits und die von den Moorern verweigerte Aufarbeitung der eigenen Geschichte andererseits formen aus Bering einen Mann, der geschichtsvergessen moralisch ‘erblindet’. Seine Wahrnehmung hat im schönen Doppelsinn des Wortes einen blinden Fleck. Morbus Kitahara - die titelstiftende Augenkrankheit, unter der Bering leidet - wird so zur Metapher für eine Wahrnehmungslücke, für einen Umgang mit der Vergangenheit, der die offene Perspektive ins Künftige versperrt. Literatur Marrafino, Michele C. 2002: Erfindung von Wirklichkeiten. Geschichte und Wirklichkeitskonstruktion. Zu Christoph Ransmayrs Romanwerken, Bern. Diss.phil., 194 S. [Mimeo] Spitz, Markus Oliver 2004: Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr, Würzburg: Königshausen & Neumann, 198 S., ISBN 3-8260-2962-3 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Angelika Corbineau-Hoffmann 2004: Einführung in die Komparatistik, 2. Aufl., Berlin: Erich Schmidt, 288 S., 19,95 €, ISBN 3-503-07909-2 Verglichen mit vielen andern historischphilologischen Fächern der Philosophischen Fakultät ist das Fach der Komparatistik ein eher junges. So lange gibt es die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft als akademisch etablierte Disziplin noch gar nicht, auch wenn Literaturwissenschaft noch nie nur nationalphilologisch betrieben werden mußte (und ‘fremde’ Literatur nicht nur zur Kenntnis genommen wurde, um sie für die ‘eigene’ zu instrumentalisieren, wie Corbineau-Hoffmann etwas voreilig unterstellt (S. 58). Den Philologien war sie anfangs meist als Teildisziplin oder als Abteilung zugeordnet, so etwa in Bonn, wo ich als 68er-Student der Germanistik neben der Neueren deutschen Literatur (u.a. bei Benno v. Wiese, Helmut Koopmann und Helmut Kreuzer) Allgemeine Literaturwissenschaft und Literaturtheorie (bei Beda Allemann) und eben - in der dazu neu
