eJournals Kodikas/Code 29/1-3

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2006
291-3

Balladesk kontaminiert

91
2006
Ulrich Binggeli
Die Arbeit geht von der These aus, dass das Charakteristische der Ballade, das Balladeske, weit besser mit dem Konzept des Mediums als mit dem der Gattung erfasst werden kann. Aus dieser Perspektive wird der intermediale Stil der Ballade sichtbar, der in Anlehnung an die Bezeichnung Polyrhythmie des Schweizer Musikpädagogen Hans Georg Nägeli für die Bestimmung der neuartigen Qualität des romantischen Liedes als polymedial spezifiziert werden kann.
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Balladesk kontaminiert Zur intermedialen Qualität der Ballade Ulrich Binggeli Die Arbeit geht von der These aus, dass das Charakteristische der Ballade, das Balladeske, weit besser mit dem Konzept des Mediums als mit dem der Gattung erfasst werden kann. Aus dieser Perspektive wird der intermediale Stil der Ballade sichtbar, der in Anlehnung an die Bezeichnung Polyrhythmie des Schweizer Musikpädagogen Hans Georg Nägeli für die Bestimmung der neuartigen Qualität des romantischen Liedes als polymedial spezifiziert werden kann. In this paper it is assumed that the main characteristics of the ballad, what is termed ‘the balladesc’, can be accounted for by the notion of medium rather than that of genre. In this perspective, the ‘intermedial style’ of the ballad is the object of the analysis, following the concept of poly-rhythmics proposed by the Swiss musicologist Hans Georg Nägeli in order to better understand the new quality of the romantic song. On this basis, the ballad is specified as a ‘poly-medial’ text. Von Balladen und Balladenhaftem ist in unterschiedlichsten Kontexten die Rede. In der CD- Kritik wird erstaunt festgehalten, dass Jochen Distelmeyers Lieder “durch eine schöne Balladen-Harmonik überhaupt nicht mehr banal klingen” (Steiner 2003); bei Sergiu Celibidaches Brahms-Interpretation kommt der “grüblerische Balladenton” (Schwinger 1974) zu seinem Recht und der frühere Boxweltmeister Muhammad Ali leistet in seinen Memoiren seinen einstigen Gegnern gegenüber lyrische “Abbitte im Balladenton” (Kreitling 2005). Johannes Brahms schrieb 1854 unter dem Eindruck des Selbstmordversuchs seines Mentors Robert Schumann die vier Klavierballaden op. 10, Brecht/ Weills Mackie Messer zelebriert die Ballade im alten Moritatenstil, Schauspielhäuser, Rezitatoren, Liederabendveranstalter laden regelmäßig zu Balladenabenden mit und ohne Musik ein, und die Schüler lernen, dass die Kunstballade mit Goethe und Schiller im Balladenjahr 1797 auf ihrem absoluten Höhepunkt angekommen ist. Diese kurze Umschau beim aktuellen Wortgebrauch zeigt, dass der Balladenbegriff heute ebenso populär wie diffus ist. Namentlich im Jazz und in der populären Musik ist umgehend balladesk, was langsam, sentimental und romantisch daher kommt. 1 Einerseits legt die Selbstverständlichkeit seines Gebrauchs auch in alltäglichen Zusammenhängen die Vermutung nahe, dass weit herum ein fast konspiratives Einverständnis über seine Bedeutung zu herrschen scheint, andererseits aber gerät der Begriff eben deshalb in den Verdacht, nichts weiter als ein modisches Label zu sein, das bedenkenlos und in fröhlicher Beliebigkeit auf alle möglichen kulturellen Phänomene applizierbar ist. Immerhin sind bei den zitierten Beispielen, wenn auch schemenhaft, zwei unterschiedliche Verwendungsweisen ablesbar: Auf der einen Seite dient das Wort der Umschreibung eines Stils, eines Ausdrucksmodus’, eines Lebensgefühls, einer Befindlichkeit, auf der anderen Seite verweist es auf eine Gattung oder ein Genre. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 29 (2006) No. 1 - 3 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrich Binggeli 122 Dieser Befund korrespondiert mit einer alten Balladenproblematik: Seit der Geburt der Kunstballade im ausgehenden 18. Jahrhundert versuchen Theoretiker, die Ballade als Gattung im Gattungsgefüge der Literatur bzw. der Musik zu verorten. Dass es bis heute nicht gelungen ist, auch nur das begrenzte Segment der Kunstballade allgemein verbindlich zu systematisieren, ist ein Indiz dafür, dass mit dem Gattungsansatz die Ballade als Phänomen offensichtlich nur unzulänglich zu erfassen ist. Vergegenwärtigt man sich die mediale Heterogenität dessen, was in den zitierten Beispielen als Balladen oder balladenhaft bezeichnet wird - die Rede ist von rein literarischen oder rein musikalischen Werken, aber auch von medialen Mischungen in unterschiedlichster Zusammensetzung -, ist das nicht erstaunlich. Von einem Gattungstyp im Sinne eines systematischen Ordnungsbegriffs erwartet man in der Regel die Zusammenfassung von Produkten mit gemeinsamen Merkmalen 2 , also auch identischen medialen Konfigurationen, unabhängig davon, wie viele Medien involviert sind. Ein Gedicht ist als sprachlicher Text, der innerhalb der Literatur zur Gattung Lyrik gehört, im Prinzip monomedial, das Klavierlied dagegen, als Kombination von lyrischem Text, Vokal- und Instrumentalmusik plurimedial ebenso wie der Photoroman, der die Medien Bild und Sprache kombiniert. Genau diesen normativen Anforderungen scheint sich der Balladenbegriff zu entziehen. Noch unbefriedigender als die Bilanz der Klassifizierungsbemühungen ist die der Versuche, über das Gattungsparadigma das zu erfassen, was oben als Stil, Befindlichkeit u.ä. umschrieben wurde. Versteht man hingegen dieses ‘Andere’ der Ballade, ihr Balladeskes, als das Resultat eines intermedialen Zusammenspiels verschiedener Parameter, die konventionell unterschiedlichen gattungstypologischen Kategorien oder, in komparatistischem Sinne, den traditionellen Künsten zugeordnet werden, dann zeigt sich ein anderes Bild. Die Eingliederung der Ballade in das im kulturwissenschaftlichen Bereich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dominierende Konzept des Mediums drängt sich förmlich auf, seit der Begriff, historisch erweitert als Kommunikationsmittel und als Kommunikationsorganisation, “die Gesamtentwicklung der Kommunikationstechniken von den oralen über die skripturalen Kulturen bis zu den modernen technischen Massen- und Individual-M[edien]” integriert (Schanze 2000: 331). Mit “Multimedia”, dem seit Beginn der 90er Jahre zunehmend popularisierten Medienbegriff, ist die mediale Dimension der Ballade allerdings nicht zu erfassen. Einseitig reduziert auf technologische Aspekte verkürzt er die Vielschichtigkeit eines umfassenden Medienbegriffs “unzulässig um seine historischen und kulturellen Dimensionen, die beim Reden über multimediale Kommunikation stets mitgedacht werden müssen” (Hess- Lüttich 2004: 3488). Im Hinblick auf die semiotische und kommunikationstheoretische Bestimmung eines leistungsfähigen und flexiblen Medienbegriffs schlagen Roland Posner und Ernest W.B. Hess-Lüttich vor, von Kriterien seines Gebrauchs im Alltag auszugehen. 3 Auf diesem Weg werden die unterschiedlichen Dimensionen eines Medienbegriffs sichtbar, die in analytischer Hinsicht eine “genau zu spezifizierende Analyse multimedialer Semioseprozesse” erlauben, je nachdem, “auf welchen Aspekt der Vermittlung sich das Interesse vornehmlich richtet” (Hess-Lüttich 2004: 3489). Aus der “Perspektive einer gebrauchstheoretischen Bedeutungstheorie” wendet sich auch Mike Sandbothe entschieden gegen Forderungen nach “einer begrifflich strengen Definition des Medienbegriffs”, die darauf aus sind, “ein Merkmal zu suchen bzw. definitorisch festzulegen, das allen (bzw. den mit seiner Hilfe dann als medienwissenschaftlich legitim auszuzeichnenden) Verwendungsweisen des Wortes Medium gemeinsam wäre” (Sandbothe 2004: 119). Während “Mediendefinitionen im klassischen Stil” darauf abzielen, dem unterschiedlichen Gebrauch im Bereich der Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Verbreitungsmedien durch spezifische Definitionen der Balladesk kontaminiert 123 einzelnen Medientypen gerecht zu werden, plädiert Sandbothe im Gegenteil dafür, die “dynamischen Interferenzen” in diesem Bereich ernst zu nehmen (Sandbothe 2004: 120). So nämlich sei ablesbar, welche Auswirkungen Veränderungen im Bereich der Verbreitungs-, Verarbeitungs- und Speichermedien auf die Nutzungsgewohnheiten im Bereich der Kommunikationsmedien haben und wie diese ihrerseits zu einer Reorganisation unserer Wahrnehmungsmedien führen. In einer zweiten Perspektive fasst Sandbothe Verwendungsweisen zusammen, die dem Begriff “etymologisch eingeschrieben” (Sandbothe 2004: 120) sind: In der deutschen Sprache bedeutet das lateinische Fremdwort “medius” im 18. Jahrhundert sowohl “‘das, was zur Erreichung eines Zweckes dient’”, also sinngemäß “‘Mittel’” oder “‘Werkzeug’”, wie auch “‘das zwischen zwei Dingen Vermittelnde’”, im Sinne von “‘Mitte’”, “‘Mittler’” oder “‘vermittelndes Element’” (Sandbothe 2004: 120). In der praktischen Anwendung erlaubt diese Doppeldeutigkeit eine klare Differenzierung zwischen Medien und Massenmedien “als (pragmatisch verstandene) ‘Kommunikationsmittel’ bzw. als (theoretisch verstandene) ‘Informationsvermittler, Information vermittelnde Einrichtungen’” (Sandbothe 2004: 121). Diese doppelte Perspektive eines medienwissenschaftlich orientierten Medienbegriffs bestimmt auch den Medienbegriff, den Werner Wolf und Irina Rajewsky ihren Systematisierungsvorschlägen intermedialer Phänomene zugrunde legen. Medium ist für sie nicht primär ein technisch-materiell definierter Übertragungskanal von Informationen wie Schrift oder Rundfunk, sondern “ein konventionell im Sinn eines kognitiven frame of reference als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv” (Wolf 2002: 165; Rajewsky 2002: 7). Kennzeichen dieses Dispositivs ist in erster Linie die Übertragung kultureller Inhalte durch den spezifischen Gebrauch eines semiotischen Systems. “Medium in diesem Sinn umfasst also die traditionellen Künste mit ihren Vermittlungsformen ebenso wie neue Kommunikationsformen” (Wolf 2002: 165). 4 Die Mediengrenze bestimmt die Differenz zwischen Intermedialität und Intertextualität. Insofern letztere das verbale Medium nicht verlässt, überschreitet sie lediglich Textnicht aber Mediengrenzen und bildet so einen Teilbereich der Intramedialität, “die als Terminus zur Bezeichnung jener Phänomene herangezogen wird, die, dem Präfix entsprechend, innerhalb eines Mediums bestehen […], z.B. Bezugnahmen eines literarischen Textes auf einen bestimmten Einzeltext […] eines Films auf einen Film […], einer Oper auf eine Oper, eines Gemäldes auf ein Gemälde usw.” (Rajewsyk 2002: 12). In dieser Konzeption ist Intermedialität eine wesentlich weiter gefasste Kategorie als Intertextualität, schließt diese jedoch grundsätzlich aus. Nicht der Zeitgeist allein legt es nahe, die Ballade als Medium zu begreifen. Fasst man das intermediale Zusammenspiel der involvierten Medien genauer ins Auge, zeigt sich, dass im Balladenschaffen aktuelle medientheoretische Konzepte längst präfiguriert sind, nur eben durch die Fixierung auf die Gattungsdiskussion als solche nicht wahrgenommen wurden. Die Auseinandersetzung mit dem balladesken Modus des Medialen leistet insofern auch einen Beitrag zur (Kultur-)Geschichte des Medienbegriffs. Ausgangs- und Zielpunkt des folgenden Exkurses ist Marschall McLuhans Formel, “dass in seiner Funktion und praktischen Anwendung das Medium die Botschaft ist” (McLuhan 1968: 13). Im Zusammenhang mit der Erläuterung der persönlichen und sozialen (Aus-)Wirkungen des neuen Maßstabs, der “durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird” (McLuhan 1968: 13), präzisiert McLuhan die Botschaft, mit der das Medium auf sich selbst verweist, als die “Wirkung des Mediums”, die “gerade deswegen so stark und eindringlich [wird], weil es wieder ein Medium zum ‘Inhalt’ hat. Der Inhalt eines Films ist ein Roman, ein Schauspiel oder eine Oper. Die Wirkung des Films ist ohne Beziehung zu seinem Programm- Ulrich Binggeli 124 inhalt” (McLuhan 1968: 25). Auf das Balladenschaffen bezogen bedeutet das, dass die Wirkung einer Ballade nicht auf dem Stoff beruht, den sie darbietet, sondern auf der medialen Konfiguration seiner Aufbereitung. Was McLuhan am Roman, verstanden als Gattung, exemplifiziert, lässt sich analog auf die Ballade übertragen: Indem er “den Roman als Medien-Gattung von den jeweils erzählten Inhalten unterscheidet, definiert er im weiteren Sinne kulturelle Gattungen ebenfalls als Medien, die ihrerseits intermedial funktionieren können” (Paech 2002: 276). Obwohl McLuhans Bezugspunkt die neuen, die elektronischen Medien sind, ist sein Postulat der radikalen Selbstreferentialität der Kommunikationsmedien, die die inhaltliche zugunsten der wirkungsmäßigen Relevanz völlig negiert bzw. den Inhalt eines Mediums als anderes Medium bestimmt, in der Geschichte der Balladentheorie als Option angelegt. Wolf weist darauf hin, dass die Entscheidung, ob “man z.B. Drama und Roman als verschiedene Medien oder nur als Gattungen desselben verbal-literarischen Mediums ansieht”, vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängt: je nachdem wird man von Intermedialität oder aber von Intertextualität ausgehen (Wolf 2002: 166). Namentlich das spezifische Wirkungspotential der Ballade, ihr Balladeskes, erschließt sich, wie zu zeigen ist, nur über die Medienperspektive. Die Ballade gilt konventionell als musikalisch-literarische Gattung. Begriffsgeschichtlich gesehen ist die Koppelung von Musik und Literatur konstituierender Bestandteil des Genres: Die Balladenforschung nimmt an, dass die frühesten Vorläufer der deutschen Ballade, die Heldenlieder aus der Völkerwanderungszeit 5 mit Harfenbegleitung vorgetragen wurden (Weißert 1993: 52). Auch wenn der Begriff Ballade sich in Deutschland erst relativ spät im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts für kurze erzählende Gedichte durchsetzte, ist unbestritten, dass die damit bezeichnete Kunstform in einer Traditionslinie steht, die über die Volksballade zurück bis zum erwähnten Heldenlied reicht. Bereits das Heldenlied arbeitet mit Stilelementen, die in abgewandelter Form auch in der Volksballade wieder auftauchen und von vielen späteren Balladendichtern nachgeahmt werden. Kennzeichnend ist die Mischung von lyrischen, dramatischen und epischen Elementen. Diese Mixtur ist verantwortlich dafür, dass bis heute noch über die Einordnung der Ballade im Gefüge der Gattungen gestritten wird. Das ist insofern erstaunlich, als Goethe 1821 6 den höchst wirkungsmächtigen Vorschlag machte, die Ballade als “Ur-Ei” (Goethe 1989, HA 1: 400) der Dichtung aufzufassen: In diesem Bild kommen zwei balladeske Qualitäten höchst eindrücklich zur Anschauung: Das kreative Entfaltungs- und Einflusspotential in formaler Hinsicht und zugleich - vielleicht als Bedingung dieser Kreativität - die (noch) urtümlich gegebene Einheit der “drei Grundarten” (Goethe 1989, HA 1: 400) der Poesie: Lyrik, Epik und Drama. Viele Theoretiker wollten in diesem Konzept nur eine Verlegenheitslösung sehen, die den angeblich tatsächlich vorhandenen Klassifizierungsschwierigkeiten auswich bzw. sie lediglich übertünchten. Überzeugende Alternativvorschläge fehlen indes hüben und drüben. Die zahlreichen Versuche, die Ballade eindeutig einer der drei Großgattungen zuzuordnen, reflektieren weniger ein tieferes Verständnis der Balladenform als den theoretisch-methodischen Hintergrund und die rezeptionsästhetischen Vorurteile der jeweiligen Wissenschaftler. Auf dem zweiten Kampfschauplatz der Balladenspezialisten geht/ ging es - mit ebenso unergiebigem Ausgang - um Typologiefragen. Aus dem Versuch, sich in der unübersehbaren inhaltlich-stofflichen Fülle der Balladenpoesie zurechtzufinden, wurden im Verlaufe der Zeit eine ganze Reihe von ‘Balladenarten’ erfunden. Seit Wolfgang Kaysers umstrittener Geschichte der deutschen Ballade von 1936 ist von Geister-, Ritter-, Ideen-, Schauer-, Schicksals- und Sagenballaden, von heldischen, historischen, exotischen und politisch-sozialen Balladen die Rede. Paul Kämpchen (1956) steuerte die Typen der numino- Balladesk kontaminiert 125 sen, naturmagischen, totenmagischen und psychologischen Problemballaden bei und Walter Hinck (1968) schließlich glaubte, das Balladenschaffen insgesamt in einen nordischen und einen legendenhaften Balladentyp einteilen zu können. Neuere Arbeiten lehnen Typologisierungen aufgrund inhaltlicher Kriterien grundsätzlich ab (Laufhütte 1979). Alternativ zu den inhaltlich orientierten Systematisierungsversuchen versuchte Winfried Freund schließlich das Korpus der Kunstballade in unterschiedliche Funktionstypen einzuteilen, die er am Maßstab der persönlich verarbeiteten Geschichtserfahrung des jeweiligen Autors und seiner literarischen Wirkungsabsicht entwickelte (Freund 1982). Liest man vor diesem Hintergrund nochmals Goethes “Betrachtung” nach, zeigt sich, dass bereits Goethe nicht inhaltliche Kriterien, sondern ganz dezidiert formale und wirkungsästhetische Aspekte in den Vordergrund rückt: Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, dass er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll, er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter (Goethe 1989, HA 1: 400). Goethe unterstreicht nachdrücklich den Zusammenhang zwischen “Vortragsweise” (Goethe 1989, HA 1: 400) und Wirkungsabsicht. Der freie Wechsel zwischen den drei Grundarten der Poesie steht unmissverständlich im Dienste der Wirkung. Der Balladensänger hat die Lizenz, die Formen nach Gutdünken so wechseln zu können, wie es ihm zum Erzielen seiner Absicht am zweckdienlichsten scheint. 7 Die Erklärung, wie und warum sich aus diesem Wechsel die spezifisch balladeske Wirkung generiert, bleibt Goethe schuldig bzw. erklärt sie für ‘geheimnisvoll’. Positiv formuliert, deutet Goethe an, dass das, was die besondere - ‘mysteriose’ - Wirkung der Ballade ausmacht, nicht mit gattungstypologischen Kriterien zu erfassen ist, sondern auf etwas kategorial anderes verweist, die mediale Dimension nämlich. Vor einer genaueren Erörterung dieses ‘magischen’ Zusammenhangs zwischen Gattung und Medium soll noch kurz der Schweizer Musikpädagoge und Komponist Hans Georg Nägeli (1773-1836) zu Wort kommen. Nägeli versuchte in einem Aufsatz von 1817, das Neuartige des romantischen Liedes mit einer strukturell vergleichbaren Modellvorstellung zu erfassen. Nägeli zufolge lässt sich die Liedentwicklung seiner Zeit als vierstufigen Entwicklungsprozess beschreiben, der mit Schubert auf einem “höheren Liederstyl” kulminiert, daraus eine neue Epoche der Liederkunst (nach meiner Eintheilung, die vierte) hervorgehen, deren ausgeprägter Charakter eine bisher noch unerkannnte Polyrhythmie seyn wird, also dass Sprach-, Sang- und Spiel-Rhythmus zu Einem höheren Kunstganzen verschlungen werden - eine Polyrhythmie, die in der Vocal-Kunst völlig so wichtig ist, als in der Instrumental-Kunst die Polyphonie (Nägeli 1817: Sp. 765f.). Sprache, Singstimme und Begleitung gehen danach jeweils eigene Wege und verfolgen einen eigenen ‘Rhythmus’. Entscheidend ist dabei jedoch das Verhältnis des Ganzen zur Sprache, denn “alle diese Kunstmittel dienen […] zur Erhöhung des Wortausdruckes” (Nägeli 1817: Sp. 766). Nägeli versuchte, mit der Neuschöpfung “polyrhythmisch” - ein Begriff, der sich in der Liedtheorie nicht durchsetzte und auch von Nägeli in der Folgezeit nicht mehr aufgegriffen wurde - das spezifisch Neue der romantischen Liedkunst auf den Begriff zu bringen. Ulrich Binggeli 126 Zentral dabei ist die Vorstellung, dass alle drei das Lied konstituierenden Komponenten nicht nur gleichberechtigt zum Lied als ganzem Kunstwerk beitragen, sondern dass hierbei etwas qualitativ Neues entsteht. Die Relevanz dieses qualitativ Neuen auch für das Balladenschaffen ergibt sich historisch aus dem Verhältnis von Lied und Ballade in der Musik am Ende des 18. Jahrhundert. Am Beginn der Entwicklung des romantischen Liedes, das in der Folge zum Synonym für das “deutsche Lied” 8 schlechthin wurde, steht eine Ballade: Der Tag, an dem Schubert sein Gretchen am Spinnrad niederschrieb, der 19. Oktober 1814, ist für viele Liedforscher die Geburtsstunde dieser Gattung (Dürr 2002: 7). Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde deutlich zwischen Lied- und Balladenform unterschieden; letztere war für die Zeitgenossen eine Untergruppe innerhalb des allgemeinen Liedschaffens. 9 Schuberts “Wunder des ersten modernen deutschen Klavierliedes” (Gülke 1991: 68) ist hinsichtlich des Verhältnisses von Balladen- und Liedform insofern ein Geniestreich, als es einen Zusammenfall, ja eine Synthese beider Paradigmen darstellt, ohne jedoch ein neues Genre zu begründen. Die Wege der beiden Gattungen bzw. Medien trennen sich schon bald wieder. Das romantische Lied löst sich aus der kurzen balladesken Umarmung und verfolgt eine eigenständige Entwicklung im Rahmen der bisher vorgegebenen Gattungskonventionen. Die (romantische) Balladenform als Klavierlied hingegen, wie sie Zumsteeg, Schubert und Loewe prägten, wird, abgesehen von Loewe, der sie sein Leben lang pflegte, zwar auch von Schumann, Brahms, Wolf und Liszt aufgenommen, aber in andere Formen überführt. Brahms schreibt wie Chopin Klavierballaden, Schumann komponiert zahlreiche Chorballaden und gestaltet literarische Vorlagen, so wie Liszt, als Melodramen 10 . Über das Melodram entwickelt sich namentlich die kantatenhafte 11 Qualität der Ballade weiter, um in dem von Schönberg entwickelten Sprechgesang 12 eine neuerliche Metamorphose zu feiern. Was Nägeli als polyrhythmische Qualität diagnostizierte, nahm eine höchst unterschiedliche Entwicklung. Beim Lied führte es zu einer Ausprägung, die in intermedialer Hinsicht dem Typus von Intermedialität 13 entspricht, der in der Kategorie der ‘Medienkombination’ 14 dem “weitestgehend ‘genuinen’ Zusammenspiel der Medien, bei dem - idealerweise - keines von beiden privilegiert wird” (Rajewsky 2002: 15), entspricht. Die Ballade hingegen entwickelte daraus das Balladeske, das als eine Art Phönix aus der nicht weiter entwicklungsfähigen - vielleicht auch nicht überbietbaren - Form der Schubertschen Ballade aufstieg und neue Formen generierte. Eben deshalb lässt sich die Ballade nicht so umstandslos in die gängigen Intermedialitätskategorien einordnen wie das Lied. Ihr Weiterwirken über das Balladeske markiert die Differenz zum Lied. Nägelis ‘polyrhythmische’ Qualität verschmilzt im Lied zu einem Gebilde, das in der Terminologie von Rajewsky, wie angedeutet, beinahe die Qualität eines neuen Mediums hat. Im Balladesken behauptet sich demgegenüber die Goethesche Vorstellung hinsichtlich der ‘geheimnisvollen’ Wirkung der Ballade, die ziemlich genau mit dem Signifikat der Nägelischen Bezeichnung ‘Polyrhythmie’ korreliert, wonach diese auf einem besonderen Zusammenspiel der das Genre konstituierenden Parameter beruhe. Weil diese Auffassung gerade nicht in Richtung Medienverschmelzung weist, sondern im Gegenteil die Wirkungsmächtigkeit an die autonome Entfaltung der involvierten Parameter knüpft, lässt sich das Auftauchen des Balladesken in neuen Genres als Flucht vor dem ‘Verschmelzungs’-Sog der Liedform auffassen. Das allein würde noch nicht dagegen sprechen, die Ballade der ‘Medienkombination’ im Sinne Rajewskys zuzuschlagen, umfasst diese Kategorie doch “die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien” (Rajewsky 2002: 15). Schwierigkeiten ergeben sich jedoch aus der ergänzenden Bestimmung, dass die involvierten Balladesk kontaminiert 127 Medien “in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen” (Rajewsky 2002: 15). Das wird zum Stolperstein für die Ballade. Eine vertonte Ballade bleibt eine Ballade, auch wenn sie ohne Musik rezipiert wird; eine Oper hingegen, ohne Musik und Szene, reduziert auf die Rezeption des Librettos, ist keine Oper. Darüber hinaus scheint es zum Spezifikum des Balladesken zu gehören, dass es sich nicht automatisch in immer den gleichen, standardisierten medialen Konfigurationen manifestiert wie das Lied, sondern im Gegenteil unterschiedlichste mediale Konfigurationen generieren kann. Das Balladeske ist nicht das Resultat eines intermedialen Zusammenspiels der involvierten Medien. Es ist vielmehr Ausdruck eines souverän-eigenwilligen Verfügens über die vorhandenen Medien. Nicht die Medien bestimmen ihren Gebrauch oder die Art ihres Einsatzes, sondern allein die Wirkungsintention, die der Autor verfolgt, wenn er für einen Stoff die Balladenform wählt und damit ihren intermedial generierten Mehrwert als polymediales Medium ausnutzt bzw. sich dieser Eigentümlichkeit fügt. Hier lohnt es sich, noch einmal auf McLuhans Konzept der Selbstreferentialität der Medien und seine Anwendbarkeit auf das Balladenschaffen zurückzukommen. Insofern die Basismedien Text, Ton und Bild (Schanze 2000: 331) Inhalt des Mediums Ballade sind, kann es als ein frühes, wenn nicht gar als erstes ‘neues’ Medium aufgefasst werden. Seine medial schillernde, aber ungebrochene Traditionslinie bis in unsere Tage hinein wäre dann ein Beleg für McLuhans These, dass die eigentliche Botschaft jedes neuen Mediums die nachhaltige Veränderung der Wahrnehmung bzw. der Situation des Menschen sei. Schließlich liefert McLuhans Einsicht in die radikale Selbstreferentialität der Medien eine Erklärung für den Sonderstatus der Ballade in der Mediensystematik. Die Ballade nutzt auf exemplarische Weise das Wirkungspotential, das dem Rekurs auf die Kombination mehrerer Medien innewohnt. Weil der Ballade der exklusive Medienträger oder Kanal fehlt, ist sie auf die Benutzung der Kanäle bzw. Zeichensysteme anderer Medien angewiesen. Diesen Nachteil kompensiert sie durch mediale Beweglichkeit und Flexibilität: Das Balladeske eignet sich mühelos die je unterschiedlichen Zeichensysteme fremdmedialer Kanäle an. Diese Unabhängigkeit von einem bestimmten Medium oder einer bestimmten medialen Konfiguration lässt das Balladeske als mediales Chamäleon erscheinen, das sein mediales Design der beabsichtigten Wirkung anpasst. Abschließend sollen die Konsequenzen aus der Bestimmung der Ballade als polymediales Medium an zwei Bezugnahmen auf Goethes Erlkönig konkretisiert werden. Sowohl das Gedicht Erlkönigs Tochter von Sarah Kirsch aus dem gleichnamigen Gedichtzyklus von 1991 als auch der Roman Le roi des Aulnes (Der Erlkönig) von Michel Tournier von 1970 stiften den Bezug bereits im Titel. Sofern man den weiten Medienbegriff im Sinne Wolfs/ Rajewskys akzeptiert, ist diese Versuchsanordnung unter intermedialen Gesichtspunkten wesentlich aufschlussreicher als unter intertextuellen, weil die tatsächliche Tragweite der Bezugnahme auf den Erlkönig als Ballade für die Posttexte nur so ersichtlich wird. In intermedialer Hinsicht handelt es sich um Bezugnahmen, die in den Bereich der ‘intermedialen Bezüge’ fallen, d.h. es geht um ein Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (=Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent (Rajewsky 2002: 157). Ulrich Binggeli 128 Irina Rajewsky hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass auch bei einzelreferentiellen Verfahren im Bereich des Intermedialen immer auch ein Rekurs auf das kontaktgebende fremdmediale System einhergeht: Indiziert wird also nicht nur der spezifische Diskurstyp, dem das aufgerufenen Medienprodukt zugehörig ist, rekurriert wird zugleich immer auch auf das altermediale System, dessen sich das aufgerufene Produkt bedient (Rajewsky 2002: 149). Der systemische Bezug, d.h. der auf die Ballade als Medium, ist im vorliegenden Fall doppelt wichtig, muss doch in allen drei Fällen mehr oder weniger offen bleiben, auf welchen Erlkönig rekurriert wird, auf den von Goethe oder auf dessen Prätext von Herder oder auf beide oder auf eine der über 200 Vertonungen der Goetheschen Ballade. Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass in diesem Fall auch die Rezeptionsgeschichte des Erlkönigs quasi Prätextqualität hat. Aus gebrauchstheoretischen Gründen ist die Beschränkung auf Goethes Ballade und ihre Vertonung durch Schubert und Loewe als Prätexte naheliegend. Alle anderen Versionen sind nicht annährend so bekannt, verbreitet und wirkungsmächtig. Bereits Goethes Erlkönig, entstanden 1782 im Zusammenhang mit dem Singspiel Die Fischerin, ist entstehungsgeschichtlich intermedial kontaminiert: 15 Bekanntlich handelt es sich um eine Bearbeitung der Herderschen Übersetzung einer dänischen Volksballade unter dem Titel Erlkönigs Tochter. Zudem wies Goethe ihr auch die Funktion der Ouverture für das Fischerinnen-Singspiel zu. Als solche macht die Ballade vorweg klar, dass es sich bei dem Streich, den die weibliche Protagonistin inszeniert, nicht einfach um einen übermütigen Scherz handelt, sondern, dass Dortchens eigentliche Motivation die Angst vor der geplanten Hochzeit ist, eine Angst, die sich nicht vernünftig erklären lässt. Während bei Herder der Stoff vom ausreitenden Bräutigam Oluf, der auf seinem nächtlichen Ritt in die Fänge von Erlkönigs Tochter gerät und tödlich verletzt nach Hause zurückkehrt, insofern pastoral-bieder perspektiviert ist, als Oluf zwar stirbt, aber nicht als Verführter, sondern als vorbildlich tugendhafter Mensch, der der Verführung widerstand, entrümpelt Goethe den Stoff von jeglicher theologischen Moral. Er ersetzt den erwachsenen Reiter durch Vater und Kind, Opfer der Verführung ist das Kind, vordergründig beschützt zwar durch den Vater, der dem Geschehen gegenüber aber ebenso hilflos ist wie das Kind. Aus dem Konflikt Mann-magische Frau wird der Konflikt Vater-Sohn-Elfenkönig. Ziel des Begehrens ist nicht der erwachsene Mensch, sondern das Kind. Der Kampf der Geschlechter wird zum Konflikt zweier grundverschiedener menschlicher Wahrnehmungsmuster, wenn nicht gar Lebensgefühle, umgedeutet. Durch seine Figurenkonstellation transformiert Goethe die Verführungsproblematik ins Allgemeine, er löst sie insbesondere aus der durch die Bibel vorgeprägten geschlechtlichen Dimension. Lebensgefährlich ist in Goethes Erlkönig nicht die Verführung des Mannes durch das Weib, sondern die latente Gefährdung des menschlichen Lebens durch lebenszersetzende Kräfte. Indem Goethe den Stoff insgesamt radikalisiert, ihn zugleich aber durch eine sorgfältige Disposition der poetischen bzw. medialen Mittel so zubereitet, dass das Erschrecken vor den existentiellen Abgründen durch die Form aufgefangen wird, macht er auf exemplarische Weise Gebrauch von der medialen Leistungsfähigkeit des Balladesken. Im Gedichtzyklus Erlkönigs Tochter (1992) von Sarah Kirsch imaginiert sich das lyrische Ich gleich selbst als Tochter des Erlkönigs. Diese Lesart drängt sich spätestens beim vierundvierzigsten von insgesamt zweiundsechzig Gedichten des Zyklus, Watt III, auf: Balladesk kontaminiert 129 Ich Erlkönigs Tochter hab eine Ernsthafte Verabredung mit zwei Apokalyptischen Reitern im Watt ein Techtelmechtel auf unsicherem Boden Jetzt ehe der Morgen sich rötet. Drehender Nebelqualm bemerkenswert Eiliger Schneefall stellen ne schöne Verbindlichkeit her das legt sich Auf Möwenkadaver Colabüchsen der Abgeblaßte Mond auf der Hurtigroute Zwischen kopulierenden Wolken bezeugt er Dem Albatros höchste Bewunderung wie der Von Süden herüberkömmt während Jupiter Über dem Kuhstall später der Bohrinsel glänzt. Happy Neujahr! Rufen die Seenotraketen Und der Jung aus Büsum wird niemals Gefunden es fallen die Krähen Schwarze Äpfel vom einzigen Baum (Kirsch 1993: 50) Indem das lyrische Ich in die Rolle der Elfe schlüpft, verändert sich die Optik im Vergleich zu Goethes Gedicht völlig. Sarah Kirsch reaktiviert, aktualisiert jene Schicht der Erlkönig- Motivik, in der die magische, nordische Welt der Elfen und Feen noch nichts Bedrohliches und Gefährliches hat. Erlkönigs Reich steht nicht für all die ‘dunklen’ Mächte, die das Verderben des Menschen betreiben. Die Bedrohlichkeit geht nicht vom naturmagisch Rätselhaften des väterlichen Reichs aus, die Tochter registriert vielmehr Spuren zerstörerischen Handelns an den Rändern dieses Reichs, auf seiner Oberfläche. Die Watt-Landschaft, in der sie ihre “Verabredung” hat, ist entzaubert: Möwenkadaver neben Colabüchsen, Kuhstall neben Bohrinsel, ein “Jung aus Büsum” - der Knabe aus Goethes Erlkönig ? - in Seenot, ohne dass ihm geholfen wird. “Happy Neujahr! Rufen die Seenotraketen”, die niemand hört, zynisch hilflos. Offen bleibt, wer für diese Minikatastrophe verantwortlich ist: die Menschenwelt, die Erlkönigswelt, Erlkönigs Tochter selber? Erlkönigs Tochter ist hier die Beobachtende, sie hat ihre aktive Rolle als Verführerin abgelegt. In dieser zerstörten Natur, in dieser Trümmerlandschaft trifft sie sich denn auch mit zwei “Apokalyptischen Reitern”. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass über die definitive Apokalypse verhandelt wird, sie hat nämlich nur ein “Techtelmechtel auf unsicherem Boden”. Ist Erlkönigs Tochter also eine heimliche Advokatin des irdischen Lebens? Setzt sie demnach ihre Reize nicht zum Schaden der Menschen ein - um durch die menschliche Verführbarkeit gewaltsam Dimensionen klar zu stellen, die sich menschlicher Vernunft entziehen -, sondern zu deren Wohl? So nämlich, dass sie sie als Mittel einsetzt, um mit dem Schöpfer dieser Welt bzw. seinen Boten, ein “Techtelmechtel” anzuleiern - und dabei für die Erde und ihre Bewohner vielleicht einen Aufschub der durch die Umweltzerstörung absehbaren Apokalypse herauszuhandeln? Der Erlkönig-Bezug ist durch mindestens drei Rekurse markiert und damit das mediale System ‘Ballade’ aktiviert: Die Bezugnahme durch den Namen des lyrischen Ichs bzw. den Titel des ganzen Gedichtzyklus’ ist auf den ersten Blick überraschend irritierend, gibt sich Erlkönigs Tochter doch fast prometheisch selbstbewusst, emanzipiert, unabhängig, souverän die Rollenerwartungen Ulrich Binggeli 130 unterlaufend, umgestaltend. Wie bei Prometheus gilt die Liebe der Erlkönigin der Erde, das nächste Gedicht im Zyklus heißt denn auch “Erdenliebe”. Die apokalyptischen Reiter stiften insofern einen weiteren Bezug, als im Erlkönig selber, wie im Balladenschaffen überhaupt, geritten wird. Durch das Attribut “apokalyptisch” wachsen dem balladesken Reitermotiv indes geradezu kosmische Dimensionen zu. In vergleichbar übermenschliche Dimensionen wird die erlkönigspezifische Verführungsthematik gestellt: Die Anthropomorphisierung der Natur im Bild der “kopulierenden Wolken” entgrenzt sie radikal. Das “Techtelmechtel” wiederum ruft den im Erlkönig praktizierten Verführungsstil ab. Typisch dafür ist, dass Verführung primär als Phänomen besprochen, nicht aber gezeigt wird. Von Verführung ist die Rede und die Rede selber ist praktizierter Verführungsversuch. Das balladeske Substrat des Erlkönigs ist bei Sarah Kirsch grundsätzlich positiv konnotiert. Es steht für eine Versicherung in und durch die Natur als Gegenbewegung zu den natur- und damit lebenszerstörenden zivilisatorischen Kräften. Der Erlkönig wird zum Therapeutikum für die havarierte Seele - bei Kirsch mit der feinen Variante, dass die heilende Kraft nicht vom Erlkönig selber, sondern seiner Tochter ausgeht. Am Erlkönig interessiert sie das Magische, die positive, lebensspendende Kraft, die vom Geheimnisvollen des naturmagischen Raums ausgeht. Der Erlkönig indiziert bei Kirsch nicht Grauen und Panik, er steht im Gegenteil für die Rückgewinnung des Lebens, der Lebenslust. Als Natur-Zauber vermag er den Menschen zu verwandeln, insofern kann er zum Lebensretter werden. 16 Eine vage Hoffnung, dass von der Poesie, ihrer Poesie, eine erlkönigzauberisch-verwandelnde Kraft ausgehen möge, klingt im letzten Gedicht des Zyklus, Freie Verse, an, das die Einschätzung des Chronisten kurz zuvor, es gäbe heute nicht mehr viel zu preisen (Kirsch 1993,: 61), still korrigiert: “[die Verse] müssen hinaus / In die Welt. […] Wer weiß was aus ihnen noch wird. Eh sie / Zur Ruhe gelangen” (Kirsch 1993: 68). Sarah Kirschs Gedicht ist ein Gedicht und keine Ballade. Durch die motivischen Bezugnahmen und die Imagination als Erlkönigs Tochter, einer Einzelreferenz, wird automatisch auf das mediale System rekurriert, dem das aufgerufene Medienprodukt zuzurechnen ist - das Balladeske also. Indem das Gedicht diese Elemente reproduziert, werden sie illusionistisch für die Bedeutungskonstitution des Textes fruchtbar gemacht; das Gedicht ist, um mit Rajewsky zu sprechen, balladesk ‘kontaminiert’. Auch in Michel Tourniers Roman Der Erlkönig, im französischen Original Le roi des Aulnes von 1970, ist die Bezugnahme auf Goethes Erlkönig explizit markiert: Der nationalsozialistische Altertumsforscher Keil vom Institut für Rassenkunde und Frühgeschichte rezitiert beim Fund eines sog. Torfmenschen, eines alten Germanen, tief ergriffen Goethe Ballade: ‘Und deshalb kann ich nicht umhin, an Goethe, den größten Dichter deutscher Zunge, und an sein berühmtestes und zugleich geheimnisvollstes Werk zu denken - an die Ballade vom Erlkönig. Sie klingt in unseren deutschen Ohren, sie schwingt in unseren deutschen Herzen, sie ist wahrhaft die Quintessenz der deutschen Seele. Darum schlage ich Ihnen vor, […] dieser Mensch hier vor uns soll in die Annalen der frühgeschichtlichen Forschung unter dem Namen Erlkönig eingehen’ (Tournier 1989: 196). Die Szene ist Teil einer fiktiven Erkundung des Nationalsozialismus von innen, die der Roman vornimmt. Tourniers Protagonist Abel gerät als Kriegsgefangener in den Bannkreis des deutschen Nationalsozialismus. Deportiert in ein Arbeitslager nach Ostpreußen entwickelt Abel weder Abscheu noch Hass, sondern erliegt einer eigentümlichen Faszination für verschiedene Phänomene des Faschismus. Im Umfeld der Nazis agiert er seine private Balladesk kontaminiert 131 faschistische Disposition aus, ohne sich der Tragweite seines Tuns bewusst zu sein. Seine Traum- und Phantasiewelt zerbricht erst durch die Begegnung mit dem Kind Ephraim und dessen KZ-Biographie. Das Motiv des Vaters der Goetheschen Ballade, der sein Kind trägt, taucht in verwandelter Form im ‘Porte-Enfant’-Mythos wieder auf: Am Schluss trägt Abel Ephraim auf den Schultern aus der zerstörten Burg weg und gerät ins Moor. Tournier inszeniert die faschistische Herrschaft in einer Weise, dass sie nicht von vornherein als Sperrzone oder Fremdgebiet gekennzeichnet ist. So wie Abel haben auch die Leser Zutritt, die Türe steht weit offen, der Faschismus ist nichts germanisch Exotisches, sondern gegenwärtig. Die Exponenten des Naziregimes erscheinen nicht als etwas Ungewöhnliches, Abartiges, sie sind nicht als Ausgeburten der Unmenschlichkeit gezeichnet. Tournier verzichtet, abgesehen von den KZ-Erlebnissen Ephraims, auf die Inszenierung von Horrorszenen und raubt so dem Leser die Möglichkeit, sich vom Geschehen zu distanzieren. Die drei dramatischen Instanzen der Erlkönig-Ballade, Vater, Sohn, Erlkönig, fallen in Tourniers Protagonisten gleichsam zusammen: Abel bewahrt bis zum Schluss kindlich-naive Züge, er ist Opfer und Täter zugleich, Kinderfänger und Kinderretter, der fasziniert alle möglichen Facetten der NS-Kultes verfolgt. Als ‘Oger’ (Monster) repräsentiert Abel eher modellhaft den Menschen an sich bzw. dessen Entfaltungspotential: “Ich jedenfalls, ich war schon vor tausend, vor hunderttausend Jahren da” (Tournier 1989: 9). So wie der Mensch sowohl die Option Abel wie auch die Option Kain in sich trägt, so ist er potentiell auch ein Oger: “das Sein und ich, wir beide wandern schon so lange Seite an Seite, wir sind so alte Weggenossen, dass wir […] einander verstehen und einander nichts abschlagen können” (Tournier 1989: 9). Tourniers Erlkönig ist als Versuch, das Verführungspotenzial der NS-Ideologie zu erkunden, umstritten. Jean Améry hat ihm vorgeworfen, er betreibe eine “Ästhetisierung der Barbarei”, eine “Mystifizierung des Dritten Reichs” (Kindler 1996: 737). Aus intermedialer Optik ist das ein Missverständnis. Verantwortlich dafür ist unter anderem die fehlende Berücksichtigung der Imprägnierung des Romans durch das Balladeske. Durch den Erlkönig- Bezug ist der Roman ebenso balladesk kontaminiert 17 wie das Gedicht von Sarah Kirsch, d.h. der Roman als kontaktnehmendes System ist “in Richtung auf das kontaktgebende System modifiziert” (Rajewsky 2002: 160). Die Nazi-Ideologie wird so auf ganz spezifische Weise mit der Verführungsthematik des Erlkönigs verknüpft. Der Faschismus ist nicht als singulärer Ausrutscher der Menschheit perspektiviert, sondern als latent stets vorhandene Option. Die Disposition zum Erlkönig, zur Inhumanität, gehört zu den unhintergehbaren anthropologischen Konstanten. Die Affinität der Ballade zu ‘grossen’ Themen, unlösbaren Konflikten, schicksalhaften Verhängnissen scheint direkt mit ihrer spezifischen Medialität zusammenzuhängen. Diese ist gekennzeichnet durch Ungebundenheit, die erlaubt, jenseits der Gattungsgrenzen balladesk zu agieren. Die gattungsmäßige Heimatlosigkeit ist janusköpfig: Sie bedeutet sowohl Flexibilität und Unabhängigkeit, als auch Bindungslosigkeit, fehlende Identität. Die balladeske Empathie für menschliche Nöte hängt demnach möglicherweise auch mit der Geschichte der Ballade zusammen. Der Modus des Balladesken ist bzw. wurde zum Modus der Vertriebenen und Heimatlosen, aber auch der Nostalgiker und Weltschmerzler. Das Balladeske kann zwar keine wirkliche Heimat bieten, aber etwas Heimatähnliches suggerieren - illusionistisch hervorzaubern, was alle gelegentlich brauchen: das Gefühl von Geborgenheit. In diesem Sinn gewinnt die Ballade in der Medienperspektive zeichenhafte Qualität. Zeichenhaft ist auch die Aura des Geheimnisvollen, das die Wirkungsmacht der Ballade umfängt und das ihr auch in der Medienperspektive nicht zu entreißen ist. In dieser Hinsicht müsste das Balladeske im Ulrich Binggeli 132 Grunde genommen als das Produkt eines alchemistischen Prozesses aufgefasst werde, bei dem die Basismedien auf einmalige Weise amalgamiert wurden, ohne dass dabei eine stabile neue Gattung generiert wurde, sondern ein neues Medium. Dieses ist weder Zweck seiner selbst noch reiner Informationsvermittler, sondern steht zum Zweck der Bedeutungsvermittlung als Werkzeug und als Instrument zur Veränderung von Wirklichkeit zur Verfügung. Es gehört in die Kategorie von Werkzeugen, “die nicht nur dazu dienen, die Wirklichkeit zu verändern”, sondern “wirklichkeitsveränderndes Handeln intersubjektiv zu koordinieren. Eine gebrauchstheoretische Mediendefinition würde daher lauten: Medien sind Werkzeuge, die der Koordination zwischenmenschlichen Handelns dienen” (Sandbothe 2004: 121). Die Ballade ist auf das menschliche Maß zugeschnitten. Etwas balladesk zu behandeln, bedeutet, es menschlich adäquat zu behandeln. Literaturverzeichnis Primär- und Quellentexte: Goethe, Johann Wolfgang 1989: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1: Gedichte und Epen I, textkritisch durchges. und kommentiert von Erich Trunz, 14. durchges. Aufl., München: Beck [1981], zitiert mit der Sigle: HA 1 Kirsch, Sarah 1993: Erlkönigs Tochter, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 3. Aufl. Tournier, Michel 1989: Der Erlkönig. Deutsch von Hellmut Waller, Frankfurt a.M.: Fischer Wissenschaftliche Literatur: Balme, Christopher 2001: Einführung in die Theaterwissenschaft, 2. überarb. Aufl., Berlin: Erich Schmidt Bohländer, Carlo und Karl Heinz Haller (eds.) 1970: Reclams Jazzführer, Stuttgart: Reclam Freund, Winfried (ed.) 1982: Arbeitstexte für den Unterricht. Deutsche Balladen, Stuttgart: Reclam Fritz, Walter Helmut 2003: “Sarah Kirsch”, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Arnold, Heinz Ludwig (ed.), Bd. 6, 75. Nlg. 10/ 03, München: edition text und kritik Dürr, Walther 2002: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, zweite verb. Auflage, Wilhelmshaven: Noetzel Gülke, Peter 1991: Franz Schubert und seine Zeit, Regensburg: Laaber Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2004: “169. Multimediale Kommunikation”, in: Posner, Roland u.a. (eds.): Semiotik. Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin, New York: de Gruyter, Bd. 13.4: 3487-3503 Hinck, Walter 1968: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Kämpchen, Paul 1956: “Von den Typen der deutschen Ballade”, in: DU 8, H. 4: 5-13 Kayser, Wolfgang 1936: Geschichte der deutschen Ballade, Berlin: Junker und Dünnhaupt Kindlers Neues Literaturlexikon, Walter Jens (ed.), München: Kindler 1996, Bd. 16: 737 Koch, Heinrich Christoph 1964: Musikalisches Lexikon: welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält, Reprograf. Neudr. d. Ausg. Frankfurt 1802. Hildesheim: Olms Kreitling, Holger: “Das Herz eines Boxers kennt mehr als nur eine Liebe”, in: Die Welt, 14. 05. 2005 Laufhütte, Hartmut 1979: Die deutsche Kunstballade, Heidelberg: Winter McLuhan, Marshall 1968: Die Magischen Kanäle, Düsseldorf, Wien: Econ Müller, Jürgen E. 1998: “Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept”, in: Helbig, Jörg (ed.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt: 31-40 Nägeli, Hans Georg 1817: “Die Liederkunst”, in: Allgemeine Musikalische Zeitung XIX, Leipzig Paech, Joachim 1998: “Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration”, in: Helbig, Jörg (ed.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt: 14-30 Paech, Joachim 2002: “Intermediale Figuration - am Beispiel von Jean-Luc Godards Histoire(s) du Cinéma”, in: Eming, Jutta u.a. (eds.): Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven, Freiburg: Rombach: 275-295 Balladesk kontaminiert 133 Posner, Roland 1985: “Nonverbale Zeichen in öffentlicher Kommunikation”, in: Posner, Roland (ed.): Zeitschrift für Semiotik, Bd. 7, 3: 235-271 Rajewsky, Irina O. 2002: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke Sandbothe, Mike 2004: “2.3. Medien - Kommunikation - Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft”, in: Jaeger, Friedrich und Burkhard Liebsch (eds.): Handbuch der Kulturwissenschaften. 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Für das einzelne Werk ist die Zugehörigkeit zu einer Gattung sowohl bei der Entstehung als auch bei der Aufnahme durch das Publikum ein eingrenzendes und bestimmendes Moment. Der Autor schafft ein Werk, das von vornherein in einem Gruppenzusammenhang steht, und nimmt - sich anpassend oder abweichend - auf Regeln, Konventionen und Erwartungen Bezug” (Suerbaum 1993: 83f.). 3 Posner/ Hess-Lüttich unterscheiden einen biologischen Medienbegriff (auf die Sinnesmodalitäten der Zeichenvermittlung bezogen, z.B. visuelle, auditive oder taktile Medien), einen physikalischen Medienbegriff (auf die physische Kontaktmaterie der Zeichenvermittlung bezogen, z.B. optische oder akustische Medien), einen technologischen Medienbegriff (auf die technischen Apparaturen der Zeichenvermittlung und ihre Produkte bezogen, z.B. Printmedien/ Zeitungen oder Bildschirmmedien/ Fernsehen), einen soziologischen Medienbegriff (auf Institutionen von Zeichenvermittlungsprozessen bezogen, Fernsehanstalten, Kulturbetriebe), einen kulturellen Medienbegriff (auf die Gattung oder Textsorte der übermittelten Botschaft bezogen oder auf die Dialogsorte der Gruppe der Zeichenbenutzer), einen systemischen Medienbegriff (auf den Kode und damit die Regeln der Zuordnung von Botschaften und Zeichenträgern bezogen) und einen strukturellen Medienbegriff (auf den semiotischen Modus der Zeichenvermittlung bezogen, z.B. ikonische, indexikalische, symbolische Zeichenmodalitäten) (Posner 1985: 253ff.; Hess-Lüttich 2004: 3488f.). 4 Als Beispiele nennt Wolf “die im Konzertsaal aufgeführte Instrumentalmusik und die in Ausstellungen rezipierte Malerei ebenso wie den Kinounterhaltungsfilm und technisch über den Film hinausgehende ‘virtuelle Welten’, oder im Bereich des verbalen Mediums die Unterform des in Buchform veröffentlichten Romans ebenso wie computervermittelte narrative Hypertexte” (Wolf 2002: 165). 5 Das einzig erhalten gebliebene Heldenlied auf deutschem Boden ist das “Hildebrandslied” in einer fragmentarisch überlieferten Fassung, die vermutlich um 800 aufgeschrieben wurde (Weißert 1993: 51). 6 Goethes Kommentar “Ballade, Betrachtung und Auslegung” zu seiner eigenen Ballade vom vertriebenen Grafen - unter dem programmatischen Titel “Ballade” - erschien erstmals im dritten Band, Heft 1 von Über Kunst und Altertum 1821. 7 vgl. die Freundschen Funktionstypen (Freund 1982: 115-122): a) Der kompensatorische Funktionstyp (aa. Der Projektionstyp: Projektion des unterdrückten Handlungswillens auf fiktive Helden; ab. Der Sublimierungstyp: Identifikation mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen; ac. Der Isolationstyp: Flucht in eine außergesellschaftliche, fiktive Welt) Ulrich Binggeli 134 b) Der didaktischer Funktionstyp (Glaube an menschliche Lernfähigkeit) c) Der defätistische Funktionstyp (Resignation und Katastrophenbewusstsein angesichts der Einsicht in die reale Wirkungslosigkeit der menschlichen Handlungssurrogate) d) Der appellative Funktionstyp (Auflehnung des Menschen gegen Unterdrückung, Kritik an der herrschenden Gesellschaftsordnung) 8 Das deutsche Kunst- oder Sololied gilt in der Musikwissenschaft übereinstimmend als so eigenständige Gattung, dass sich dafür der Begriff “deutsches Lied” eingebürgert hat. (vgl. Oskar Bie: Das deutsche Lied, Berlin 1926: 18; Walter Wiora: Das deutsche Lied, Wolfenbüttel und Zürich 1971: 68; Carl Dahlhaus: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. von C.D., Wiesbaden 1980, Bd. 6: Die Musik des 19. Jahrhunderts, 68; Walther Dürr: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert Wilhelmshaven 2002: 7) 9 Vgl. Heinrich Christoph Koch im Musikalischen Lexikon von 1802 unter dem Eintrag “Lied”: “bezeichnet überhaupt jedes lyrische Gedicht von mehrern Strophen, welches zum Gesange bestimmt, und mit einer solchen Melodie verbunden ist, die bey jeder Strophe wiederholt wird, und die zugleich die Eigenschaft hat, dass sie von jedem Menschen, der gesunde und nicht ganz unbiegsame Gesangsorgane besitzt, vorgetragen werden kann.” (Koch 1964, Sp. 901). Auch für die Ballade ist laut Koch “eine lyrische Versart” charakteristisch; aber seit einiger Zeit habe man angefangen, die Melodie “nicht so wie bey dem Liede, mit jeder Strophe des Textes zu wiederholen, sondern den Text ganz durch zu komponiren” (Koch 1964: Sp. 212). 10 Liszts 1860 veröffentlichte Lenore trägt den Untertitel: “Ballade von Gottfried August Bürger mit melodramatischer Pianoforte-Begleitung zur Deklamation”; Schumann überschreibt seine Komposition von Friedrich Hebbels Der Heideknabe von 1852 mit: “Vom Haideknaben. Ballade von F. Hebbel, für Declamation mit Begleitung des Pianoforte.” 11 “Die Grundgestalt der Ballade ist jedoch die Kantate, in der mannigfache Formen und Gestalten sich verbinden: einfache Strophenlieder, Arietten, Rezitative und durchkomponierte Szenen” (Dürr 2002: 186). 12 Erstmals im Pierrot lunaire op. 21 von 1912. 13 Inzwischen existieren zahlreiche Konzepte von Intermedialiät: Jürgen E. Müller etwa setzt Intermedialität tendenziell mit einer integrativen plurimedialen “Hybridität” gleich: “Ein mediales Produkt wird dann intermedial, wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt” (Müller 1998: 32); der Theaterwissenschaftler Christopher Balme versteht darunter die “Umsetzung medialer Konventionen eines oder mehrerer Medien in ein anderes” (Balme 2001: 155); Joachim Paech sieht in der Intermedialität eine Möglichkeit, Differenzen zu beschreiben, die bei Transformationsprozessen in der Medienevolution entstehen (Paech 1998: 18f.). Der vorliegenden Aufsatz stützt sich auf die Arbeit von Irina Rajewsky, die Intermedialität als Relation zwischen Mediengrenzen überschreitenden Phänomenen auffasst, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren” (Rajewsky 2002: 199). 14 Rajewsky unterscheidet drei Phänomenbereiche des Intermedialen, denen verschiedene Intermedialitätsbegriffe zugrunde liegen: Die Medienkombination (auch “mediales Zusammenspiel”, “Multi-, Pluri- oder Polymedialität”, Medienfusion”) umfasst Produkte, die auf einer Kombination von mindestens zwei, konventionell als distinkt wahrgenommenen Medien beruhen. Die Medienkombination führt häufig zur Herausbildung eigenständiger Kunst- oder Mediengattungen, bei denen die plurimediale Grundstruktur zu einem Spezifikum des neuen Mediums wird. Diese Kategorie reicht von bloßer Kontiguität bis hin zu einem weitestgehend ‘genuinen’ Zusammenspiel der Medien. Beispiele: Multimedia-Show, Varieté, Lied, Photoroman, Film, Oper. Der Medienwechsel (auch “Medientransfer”, “Medientransformation”) versammelt Produkte, die aus dem Prozess der Transformation eines medienspezifisch fixierten Prätextes in ein anderes Medium hervorgegangen sind. Beispiele: Literaturverfilmungen, ‘Veroperungen’. Die Intermedialen Bezüge subsumieren Bezugnahmen eines Mediums auf ein anderes qua semiotischem System. “Die Qualität des Intermedialen betrifft in diesem Fall ein Verfahren der Bedeutungskonstitution, nämlich den (fakultativen) Bezug, den ein mediales Produkt zu einem Produkt eines anderen Mediums oder zum anderen Medium qua System herstellen kann.” In seiner Materialität präsent ist nur das kontaktnehmende Medium, damit ergibt sich die Differenz zu den plurimedialen Produkten der Medienkombination. Beispiele: der Bezug eines literarischen Textes, eines Films oder Gemäldes auf ein bestimmtes Produkt eines anderen Mediums (Rajewsky 2002: 15ff.). 15 Rajewsky benutzt den Terminus ‘Systemkontamination’ “nicht im negativen Sinne einer ‘Verseuchung mit schädlichen Stoffen’, sondern im Sinne einer Modifikation des kontaktnehmenden in Richtung auf das kontaktgebende System […] d.h. im Sinne einer Veränderung des kontaktnehmenden Systems durch Einbeziehung Balladesk kontaminiert 135 altermedialer Kommunikations- und Darstellungsprinzipien, die, wenn auch systemverschoben, dem fremden Medium adäquat verwendet werden” (Rajewsky 2002: 133). 16 Der Untertitel zum Kirsch Band Schwanenliebe von 2001 heißt denn auch “Zeilen und Wunder”. Wunder erkennt Kirsch vor allem in den alltägliche Dingen, Vorgängen, Lebewesen. “‘Wunder’ sind es auch, die die Autorin ihren Lesern in den Aufzeichnungen und ‘Akvarellern’ von einer (im Sommer 1992 unternommenen) Islandreise zeigt. Mit einigen Freunden ist sie […] unterwegs im Land, im Hochland voller Wollgras und Fettkraut, unterhält sich mit Pferden und Schafen […] Immer wieder spricht Glück aus den Seiten. Deshalb meint der Titel “Islandhoch” (2002) weit mehr als einen meteorologischen Zustand” (Fritz 2003: 11). 17 Bei der Systemkontamination wird das “fremdmediale System selbst […] nicht aktualisiert oder realisiert; vielmehr werden bestimmte Präsentations-, Konstruktions- und Kommunikationsprinzipien des Bezugssystems oder […] fremdmedial gebundene Rezeptionsmechanismen in das literarische Medium verschoben und der Textproduktion unterlegt” (Rajewsky 2002: 133).