Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2006
291-3
Telekonzerte
91
2006
Jörg Türschmann
Der Musikvortrag hat mit der öffentlichen Aufführung von Geschlechtsakten und Hinrichtungen eines gemeinsam: Immer dann, wenn er mit Hilfe von AV-Medien über den Ort seiner Inszenierung hinaus verbreitet werden soll, steht die Authentizität des Vortrags zur Debatte. Häufig kommen hier paratextuelle Hinweise zu Hilfe, welche dazu dienen, die Echtheit der konzertanten Anstrengung zu beteuern. Die Glaubwürdigkeit von Kreativität in der Repräsentation spielt vor allem in Hinblick auf den Gesang eine Rolle. Musikvideos bieten hierfür eine hyperbolische Ästhetik. Obwohl Musik schon seit langem größtenteils in Abwesenheit der Musiker gehört wird, ist eine systematische Darlegung des Zusammenspiels von musikalischer und reproduktiver Medialität noch nicht vorgelegt worden. Ein erster Entwurf einer solchen Ordnung im Sinne einer Stilistik soll in folgendem Beitrag mit Blick auf die Frage vorgeschlagen werden, wo eigentlich der Ort musikalischer Kreativität zwischen vorgetragener Musik, instrumentaler bzw. medialer Technik und Hörerlebnis anzusiedeln ist.
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Telekonzerte Mediale Interferenzen und Stile der Präsenz musikalischer Kreativität Jörg Türschmann Der Musikvortrag hat mit der öffentlichen Aufführung von Geschlechtsakten und Hinrichtungen eines gemeinsam: Immer dann, wenn er mit Hilfe von AV-Medien über den Ort seiner Inszenierung hinaus verbreitet werden soll, steht die Authentizität des Vortrags zur Debatte. Häufig kommen hier paratextuelle Hinweise zu Hilfe, welche dazu dienen, die Echtheit der konzertanten Anstrengung zu beteuern. Die Glaubwürdigkeit von Kreativität in der Repräsentation spielt vor allem in Hinblick auf den Gesang eine Rolle. Musikvideos bieten hierfür eine hyperbolische Ästhetik. Obwohl Musik schon seit langem größtenteils in Abwesenheit der Musiker gehört wird, ist eine systematische Darlegung des Zusammenspiels von musikalischer und reproduktiver Medialität noch nicht vorgelegt worden. Ein erster Entwurf einer solchen Ordnung im Sinne einer Stilistik soll in folgendem Beitrag mit Blick auf die Frage vorgeschlagen werden, wo eigentlich der Ort musikalischer Kreativität zwischen vorgetragener Musik, instrumentaler bzw. medialer Technik und Hörerlebnis anzusiedeln ist. What do playing music, making love or executing someone have in common? The audiovisual representation of violence, creativity, feelings, and artistic virtuosity often suffers from a lack of authenticity. It is possible to point the authenticity out to the spectator by paratextuality. But these announcements do not make feel the reality represented by a camera and a sound recording system. One of the most difficult things to reproduce in a credible way is a singing person. The connection of voice and human body depends on the believable relation of image and sound. This is not a question of realism but of convincing stylistic conventions. Therefore music videos seem to compensate the lack of authenticity by hyperbolic esthetics. The impact of sound and image suspends the genuine medial dissolution of the unity of body and voice. But listeners and spectators who are interested in the theory of film sound must be reminded that the everyday experience of music actually consists of the reception of reproduced sound. So the following contribution is dedicated to the question how musical skills, creativity, and virtuosity can be located in a audiovisual representation of music concerts. 1. Metalepse und Akrobatik Die Repräsentation künstlerischer Schaffensprozesse stellt besondere Anforderungen an technisch-reproduktive Medien. Denn es handelt sich um den Versuch, den einmaligen Augenblick des Schöpfungsaktes wiederzugeben. Beschränkt man sich zunächst auf die Künstler, die in dem Medium bei der Arbeit gezeigt werden, in dem sie sich auszudrücken pflegen, ergibt sich folgendes Bild: Beispielweise in der Literatur und in der Malerei wird dieser Moment zu einer Selbstreflexion über die medialen Bedingungen künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Im Fall solcher Autoreflexivität vereinen sich dort Metadiskurs und Primärdiskurs, Rahmenerzählung und eingebettete Erzählung. Vorrangig in der Art der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 29 (2006) No. 1 - 3 Gunter Narr Verlag Tübingen Jörg Türschmann 178 Metalepse werden dann beide Komponenten auf einer Ebene gleich gestellt, obwohl sie eigentlich in einer Hierarchie erfundener Welten, nämlich der untergeordneten repräsentierten und der übergeordneten repräsentierenden Welt, zu finden sein müssten. Man denke hierfür nur an das Gemälde Las Meninas von Diego Velázquez (1656) oder an den Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore von Italo Calvino (1979). Im letzten Fall ist es der Leser, der den Text zu komplettieren versucht. Jedoch geht es immer darum, den Prozesscharakter mit Hilfe eines feststehenden Zeichenkörpers zu verdeutlichen. Der Maler beim Malen oder der Schriftsteller beim Schreiben bilden den einen äußersten Punkt der Präsenz menschlicher Kreativität. Am anderen Ende des Kontinuums sind beispielweise der Akrobat beim Drahtseilakt oder der Tänzer beim Tanzen angesiedelt. Ihre Leistung besteht essentiell darin, dass ihr momentaner Körpereinsatz mit dem Prozess der Darbietung verschmilzt. Ihre körperliche Ausdrucksfähigkeit ist zugleich mediale Bedingung künstlerischer Möglichkeiten. Die Flüchtigkeit ihrer Aufführung lässt zudem den Darbietungsprozess mit dem Rezeptionsprozess eins werden. Auf den ersten Blick haben diese Künste nichts mit technisch-reproduktiven Medien zu tun. Jedoch zeugt der Tanz und das akrobatische Bravourstück von einem immensen Planungsaufwand, dessen Ertrag allerdings an die gelungene Aufführung gebunden bleibt. Rudolf Chametowitsch Nurejew lockte ein großes Publikum an, weil er eine beständige Perfektion an den Tag legte, die sich als Aufführungsversprechen vermarkten ließ. Der Musiker beim Musizieren, besonders der Sänger beim Singen, tritt ebenfalls mit seiner persönlichen Anwesenheit während des Konzerts für seine Kunst ein. Er wagt es, vor einem Publikum in einer unwiederbringlichen Folge von Augenblicken Musik aufzuführen und das Risiko einzugehen, mögliche Fehler im Rahmen dieser Öffentlichkeit nicht korrigieren zu können. Mag der Charakter einer technischen Reproduktion bei den Aufführungskünsten auch nicht so deutlich zu Tage treten wie in der Literatur und der Malerei, so ist hier dennoch das Ziel der Vorbereitung eines Konzerts nicht nur seine Durchführung, sondern auch seine Wiederholbarkeit, seine Re-Präsentation. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Extremen besteht so gesehen darin, dass der Rezipient im Fall der autoreflexiven Malerei und Literatur quasi eine ‘schizophrene’ Haltung einnehmen muss. Denn es wird von ihm verlangt, ein Kunstwerk im Entstehen wahrzunehmen, wo er doch nur zu genau weiß, dass es bereits vollendet ist. Im Fall des Tanzes und des Konzerts gibt es eine andere Vor-Läufigkeit. Die Choreographie und die Partitur sind Vorlagen für die Darbietung, deren Gelingen nicht hundertprozentig sicher ist, selbst wenn es bei den größten Künstlern nicht mehr um offensichtliche ‘Patzer’ geht, sondern um die äußerste Marge künstlerischer Interpretation. Auch das so genannte happening in der jüngeren darstellenden Kunst muss sich hinsichtlich der Vorgabe rechtfertigen, ein Publikum versammelt zu haben, um uneingeschränkte Spontaneität zum Ausdruck zu bringen. Zwischen den beiden genannten Polen der Prämeditation sind alle die Fälle angesiedelt, in denen ein Künstler mit den Ausdrucksmitteln einer anderen Kunst bei der Arbeit gezeigt wird. Ich möchte mich für diesen Bereich auf die Repräsentation des konzertierenden Musikers im Tonfilm beschränken, wobei ich zum Tonfilm alle audiovisuellen Formen zähle, in denen Bild-Ton-Kombinationen anzutreffen sind. Damit soll auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass in der jüngeren Vergangenheit Musik vorrangig nicht live, sondern in einer nachgeordneten Form technischer Reproduktion gehört wird. Telekonzerte 179 2. Filmkunst Die Debatte um den Kunstcharakter des Films ist hinlänglich bekannt und sicherlich 1912 von Ricciotto Canudo mit der These vom Film als siebter Kunst angestoßen worden (Canudo 1995). Nicht nur in der Literatur, Malerei, Skulptur oder Musik, sondern auch im Film gelten selbstreflexive Werke als künstlerisch besonders wertvoll. Damit ist keine abstrakte, argumentative, nüchterne Darlegung von Ausdrucksprinzipien und Stilmitteln gemeint. Vielmehr muss ein Film die Grenzen medialer Ausdrucksmöglichkeiten sinnlich erfahrbar machen, um in den Genuss einer wohlwollenden Beurteilung durch die Kunstkritik zu kommen. Mehr noch: Es muss ihm gelingen, die Kunst, für die er steht, als einzigartige und unverwechselbare zu rechtfertigen. In diesem Sinn liegt also eine Verlagerung von einer historisch bedingten Qualität eines künstlerisch-darstellenden Werks zu einer überzeitlichen Grundlegung von Kunst vor. In Zusammenhang damit spielt auch die Dichotomie von kommerzieller Populär- und akademischer Elitekultur eine Rolle. Der Film kann seiner eigenen Entstehungskontexte auf zweierlei Art habhaft werden. Mit einem Hinweis von Christian Metz lässt sich das Metakinematographische vom Metafilmischen unterscheiden (Metz 1991: 20f.). Das Kinematographische umfasst die Produktion, Distribution und Rezeption von Filmen in einem weiteren Feld. Dazu gehören etwa die Vorlagen in Form des treatment oder des découpage technique, aber auch das werbende Filmplakat und die Aufführungsbedingungen im Kinosaal. Wenn in einem Film das Kinopublikum beim Filme-Schauen oder ein Regisseur am set gezeigt werden, dann liegt ein Fall von metakinematographischer Selbstbezüglichkeit vor. Da hier aber die darstellende Funktion meist immer noch deutlich im Vordergrund steht - so in den biopics über berühmte Filmstars oder die turbulenten Vorkommnisse während Dreharbeiten -, ist der Kunstcharakter nicht gegeben. Anders sieht es bei metafilmischen Passagen aus. Wider die Wahrnehmungs-, Erzähl- und Montagekonventionen konstruiert, wird der Zuschauer mit dem Anspruch konfrontiert, der gängigen Ausdrucksmittel gewahr zu werden, meist im Sinne eines Protests gegen unzulässige, repressive Beschränkungen künstlerisch-medialer Möglichkeiten durch die Unterhaltungsindustrie. 3. Filmstil Ein Beispiel metafilmischer Filmkunst sind die Filme von Jean-Luc Godard. Er lässt in A bout de souffle (1959) seinen ‘Hauptdarsteller’ Jean-Paul Belmondo bekanntlich direkt in die Kamera schauen und das Wort an den Zuschauer richten. Damit kündigt Godard den stillschweigend gültigen Kontrakt zwischen Filmrezeption und Filmproduktion auf, dass das Durchschreiten der vierten Wand im Sinne der Bühnentradition Tabu ist. Berühmt geworden ist dieser Film aber auch durch seine unkonventionelle Verknüpfung von Einstellungen sowie von Bild- und Ton. Die Einstellungsfolge zeugt nicht von Respekt vor den Regeln des guten Anschlusses und der continuity. Godard macht vielmehr die Produktionsbedingungen zum Thema, jedoch nicht ausdrücklich, sondern in der erlebbaren Form einer Enttäuschung von Zuschauererwartungen. Kennzeichnendes Merkmal von Filmkunst ist, dass sie in akademischen Kreisen eine Reflexion über künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten herausfordert. In diese Diskussionsforen schalten sich die Filmemacher mitunter selbst ein und ‘erklären’ ihre Filme, so auch Godard. Er erklärt die Produktionsbedingungen von A bout de souffle. Der Film ist ein Jörg Türschmann 180 Erstlingswerk und war als solches laut Godard wie üblich viel zu lang. Vom Produzenten angehalten zu kürzen, schneidet Godard in regelmäßigen Abständen Einstellungen heraus und zerstört damit die Kontinuität der anfangs konzipierten Montage, für die Geschichte der Filmkunst ein Glücksfall, für den Regisseur zunächst nicht mehr als die freche Reaktion auf Produktionszwänge. Man muss Godard nicht glauben, wenn er behauptet, er habe im Fall eines Schuss- Gegenschusses zwischen Belmondo und Jean Seberg einfach gelost, wer von beiden geopfert wird. Das Ergebnis spricht aber Bände: Über den unvermittelt aneinander montierten Ansichten von Sebergs Hinterkopf ist der darüber gelegte Dialog der beiden Protagonisten zu hören. Godard leitet aus diesen Zwängen zu einem neuen Montagerhythmus einen Stilbegriff ab: Denn woher kommt eigentlich der Rhythmus? Doch aus einer Verpflichtung und weil man diese Verpflichtung innerhalb einer gegebenen Zeit erfüllen muß. Der Rhythmus kommt vom Stil, den man hat gegenüber der Verpflichtung. […] Und das heißt überhaupt nicht, sich zu beugen, im Gegenteil, es heißt stärker und wendiger zu werden. Und seinen Rhythmus findet man da, wo man es geschafft hat, wendiger zu werden. Und hier zum Beispiel ist es allein aus diesem Grund zu dieser Montage gekommen. Ich finde, daher kommen wirklich die besten Momente des Films. Es sind die Augenblicke, wo etwas mit einer großen Freiheit gemacht wird, wo es eine Verpflichtung gibt und wir ihr mit einer großen Freiheit nachkommen (Godard 1981: 30). Die musikalische Metapher des Rhythmus, die bekanntlich in der Montagetheorie des Films geläufig ist und bereits zu Beginn der Filmgeschichte als Suche nach einer visuellen Musik zum Ausdruck kommt (Mitry 1987: 215-218), bleibt hier sicherlich unspezifisch. Sie kann aber als Hinweis auf eine werkimmanente Komposition gedeutet werden, die eine metafilmische Erlebnisqualität birgt. Godard ist allerdings nie der Liebling einer Filmkritik gewesen, die den Film betulich in eine Reihe mit den anderen Künsten und ihren im bürgerlichen Zeitalter kanonisierten Werken stellten wollte. Der Grund dafür liegt in der Verstörung durch eine Montage, die wohlwollend als Reaktion auf das kinematographische Umfeld und als Ausdruck eines Stil- und Freiheitswillen interpretiert werden kann, oder eben aber als handwerkliche Unfähigkeit. Mit Hilfe der filmhistorischen Gunst der Stunde, in der das Kino stagniert und Ende der Fünfzigerjahre neue Wege gehen muss, kann Godard durch den Verweis auf Produktionszwänge seinem Erstlingsfilm einen Platz im Bereich des narrativen Kinos sichern. Als Essay- Filme wären viele Godard-Filme belanglos. Gerade aber die Überschreitung der Grenze zwischen dem Darstellerisch-Narrativen und Formal-Kompositorischen macht Godard zum Autor, zum Erfinder seiner selbst als künstlerisch kreatives Subjekt in einer ansonsten durch und durch ökonomisch orientierten Gesellschaft, aber eben auch abseits des Essay-Films in der institutionalisierten Bildenden Kunst. 4. Film als Medium Die Transgression vom Film zur Musik ist von Godard immer wieder in seinen Schriften und Filmen angedeutet worden, dass nämlich die Musik im unmittelbaren wie übertragenen Sinn die höchste und reinste Form aller (Lebens-)Kunst sei, zuletzt in seinem Film Notre Musique (2004). Bereits zuvor hat er mit One plus one (1968) einen Musikerfilm gedreht. Es handelt sich um eine Beobachtung der Rolling Stones, wie sie im Studio für ihren Song “Sympathie for the Devil” proben. Die Kamera fängt in sehr langen Einstellungen die Musiker ein, die Telekonzerte 181 dabei sind, das Stück zu konzipieren und anzuspielen. Hier ist es die Langwierigkeit, die verstört. Unfertige Kompositionen sind zu hören, und ein Bildrhythmus in Form einer erkennbar gewählten Folge von Einstellungen fehlt völlig. Der Film ist zudem mit einhundert Minuten Spieldauer verhältnismäßig lang, obwohl doch so wenig zu ‘erzählen’ ist. Die ungeschnittene Präsentationszeit, die Godard den Musikern vor der Kamera gönnt, kann in seinem Sinn als stilistische Antwort auf die Verpflichtung verstanden werden, kreative Prozesse in ihrem Ablauf ungestört zu repräsentieren. Der ganze Last-Charakter konzeptioneller Arbeit kommt durch einen nahezu nicht vorhandenen Bilderrhythmus zum Ausdruck. Er wird aber auch zu einer Herausforderung für den Filmzuschauer, der sich mit dem Vorläufigen zufrieden geben muss. Der Entstehungsprozess als letzte Aussage muss eine unbefriedigende filmische Darbietung bleiben, wenn doch am Ende eine Musikaufnahme stehen wird, die diesen Entwicklungsprozess abschließt und dann möglicherweise nochmals den Ruhm der Musiker in der Öffentlichkeit steigert. Diese Aussicht auf Erfolg und stardom verweigert Godards Film. Gezeigt wird ein Unternehmen mit ungesichertem Ausgang, das sich ganz allein aus seiner Augenblicklichkeit rechtfertigt. Wenn man so will, lotet Godard hier gegenüber A bout de souffle das andere Ende bildrhythmischer Ausdrucksmöglichkeiten aus, nämlich ihr Fehlen. Dieser Mangel kann metafilmisch gedeutet werden: Eine Referenz auf den kreativen Prozess kann paradoxerweise nur durch eine sichtbare Unsichtbarkeit des Bilderrhythmus erfolgen. Diese Unsichtbarkeit ist nicht musikalisch, ist nicht dem Rhythmus der Musik der Musiker verpflichtet, sondern - wie im Fall von Godards Person selbst - dem Menschen als schöpferischer Kreatur und seiner “Passion”, Leben und Kunst im Schaffensprozess glücklich miteinander zu vereinen (Aragon 1965). Sowohl der Film als unsichtbare Wand zwischen dem Ertönen und Hören von Musik als Ausdruck von Kreativität wie in One plus one als auch die Transgression der Grenze zwischen Narrativität und Expressivität wie in A bout de souffle können möglicherweise in Zusammenhang gebracht werden mit der medientheoretischen Rechtfertigung des Films als (Inter-)Medium. Der Versuch, die medienwissenschaftliche Behandlung des Films einzelmedientheoretisch zu begründen, stützte sich lange Zeit darauf, das Spezifische des Films auszumachen (Leschke 2003: 90-130; Metz 1969). Doch bereits der hierbei berücksichtigte Umstand, dass sich der Film aus fünf Ausdruckskomponenten zusammensetzt, nämlich Bild, Graphie, gesprochener Sprache, Geräusch und Musik, machte es notwendig, ‘den’ Film als eine Verbindung, als etwas zwischen diesen einzelnen Komponenten zu berücksichtigen. Im Gefolge der Apparatusbzw. Dispositiv-Theorie kommt es zu einem für die Philologien und Kulturwissenschaften günstigen Intermedialitätsbegriff. Die Eigentlichkeit des Films besteht in seiner Uneigentlichkeit, und zwar gleich auf mehreren Ebenen. Einmal ist da das Verhältnis zu Malerei, Literatur und anderen Künsten. Es gilt: Die einmal erreicht Position, daß ‘Film’ niemals singulär und in diesem Sinne spezifisch vorgestellt werden kann, sondern von vornherein textuell mit dem literarischen Erzählen oder ästhetisch-ikonisch mit der Geschichte der Bilder oder technisch-apparativ mit der Geschichte der Mechanik und der Aufzeichnungs- Übertragungs- und Wiedergabetechnik verbunden ist, hat den ‘Film als Medium’ von vornherein intermedial auffassen lassen (Paech 2002: 9). Dann ist da der historische Wandel, der nicht mehr ideologiekritisch, sondern “institutionell”, “interkulturell” und “intertextuell”, eben nicht substanziell-medial, den Film als Medium definiert: Jörg Türschmann 182 ‘Film als Medium’ setzt die Intertextualität des Films voraus und erweitert sie auf ihre intermedialen Konstituenten. Das bedeutet, daß ‘Film’ selbst nicht mehr spezifisch technisch-apparativ, spezifisch ästhetisch, etc. definiert wird, sondern als Medium in historischen und systematischen Formprozessen aufgefaßt wird. Film ist etwas, was um 1900 anders technisch-apparativ konstituiert wird als um 2000. Film ist die sich nach den Bedingungen seines Mediums verändernde Form, wobei diese Bedingungen in der jeweiligen intermedialen Schnittstelle beobachtbar sind (Paech 2002: 10). Schließlich geht es doch indirekt an die Substanz: Man kann noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß das Bewegungsbild, das den Film ‘als Film’ konstituiert, seinerseits als Form durch das Medium der Differenz (zwischen den Einzelbildern) bestimmt ist, was den Film (als Bewegungsbild in welcher Form auch immer) zum privilegierten (synästhetischen) Medium seiner intermedialen Konstitution macht. […] Bewegung ist keine irgendwie geartete Eigenschaft des Bewegungsbildes oder Effekt der Trägheit eines unvollkommenen Auges, sondern eine Figur der Verbindung zwischen Phasenbildern, nämlich ihrer Differenz, fehlt die Differenz trotz mechanischen Filmtransports gibt es kein Bewegungsbild. Bewegung ist die Figuration von Differenz im Bewegungsbild, Intermedialität ist die Figuration von Differenz in der Beziehung der Medien zueinander (Paech 2002: 11). Es gilt hier also eine Definition, die sich auf eigentümliche Weise aus dem Umstand speist, dass einzelne Photogramme in ihrem Unterschied zueinander Bewegung “figurieren”. Film ist nach diesem Verständnis als “Form durch das Medium der Differenz” konstituiert (Paech 2002: 11). Neben dem möglicherweise angedeuteten Bezug auf die Systemtheorie Luhmanns bleibt letztlich im Sinne der saussureschen Systemtheorie der Film ein Element im System der Künste, das seinen Wert aufgrund der Werte hat, welche die anderen Elemente - sprich: Künste - nicht haben. Nur scheint dieses Anders-als-die-anderen-Sein eben doch dem Film, wenn auch nur in der Art einer ‘hohlen Entität’ der Differenz, substanziell einbegriffen zu sein und hebt ihn in die paradoxe Stellung eines metasystemischen Elements, das zugleich das System konstituiert und kommentiert. Die Metalepse der Literatur und Malerei ist hier nicht weit entfernt. Im Zuge dieser grundsätzlichen Art der Selbstkonstitution des Films als Form der Differenz wird allerdings gegenüber der Malerei und Literatur der Tod des Autors vorausgesetzt und nicht mehr ausgestellt. Der Film ist paradoxerweise eine autarke Maschine, die sich in Schwung hält, indem sie ohne Eigenständigkeit auskommt und gänzlich ihre Energie und Impulse woanders her bezieht. Film kann so gesehen auf dieser grundlegenden Ebene nichts anderes als eine “Form durch das Medium der Differenz” sein. 5. Die Suche nach der wahren Tonquelle I: Sehen geht über Hören Man kann aber trotz des Verzichts durch die Intermedialitätstheorie des Films auf den effet de réalité, hinter dem der Apparatus zurückträte (Paech 2002: 9), eine Spannung beschreiben, die aus dem Versuch herrührt, eine unüberwindbare Differenz überwinden zu wollen. Den kreativen Schaffensprozess im Film zu zeigen, bedeutet gemäß einer Formgebung von Differenz, ein Paradox zuzulassen. Die unmittelbare Gegenwart des Musikers soll - ein unmögliches Unterfangen - unmittelbar sein. Mit Godard besteht die Verpflichtung darin, eine durch die Parallelität von Erzählzeit und erzählter Zeit zeitlich begrenzte Suche zu zeigen, deren unerreichbares Ziel der Ursprungsort der erzeugten Töne ist. Die Suche selbst birgt ein uneinlösbares Versprechen. Denn die physische Präsenz des Künstlers lässt sich nicht wirklich substituieren. Der menschliche Körper oder auch der Korpus eines Musik- Telekonzerte 183 instruments sind als Resonanzraum im Zuschauerraum nicht zugegen. Wenn man so will, ist die Suche danach in Form einer filmischen Konstruktion die Form durch das Medium der Differenz. Die stilistischen Möglichkeiten bestehen dabei eben im Rahmen einer freien Wahl der Art und Weise, dieser Verpflichtung nachzukommen. Grundsätzlich muss dabei die Dominanz des Visuellen über das Akustische angenommen werden. In der Filmtheorie ist in diesem Zusammenhang von der “Stimme” die Rede. Damit ist eine Extension des menschlichen Körpers gemeint, die aufgrund ihrer akustischen Materialität die physische Gegenwart der Quelle sinnlich erfahrbar machen soll. Serge Daney nennt diesen Zusammenhalt “la voix out”: “La voix out, c’est, tout crûment, la voix en tant qu’elle sort de la bouche. Jet, déjection, déchet. Un de ces objets que le corps expulse (on en connaît d’autre: un regard, le sang, le vomi, le sperme, etc.)” (Daney 1983: 147). Daney fasst damit den Begriff der Quelle sehr weit. Dazu gehören auch Erzeuger visueller Produkte und raumstruktierender Verktorialisierungen, etwa durch einen Blick oder eine Waffe im Anschlag. Die akustischen Klänge sind in diesem Fall im on zum Bild ins Verhältnis gesetzt. “La voix out participe de la pornographie en ce qu’elle donne à fétichiser le moment de la sortie des lèvres […]. De même, le cinéma porno est entièrement centré sur le spectacle de l’orgasme, vu du côté mâle, c’est-àdire du côté le plus visible (1983: 147; Hervorhebung im Original). Die Kontiguität, hier die Berührung von Quelle und Produkt, ist in allen Fällen auf das Sichtbare ausgerichtet. Das heißt, dass der Ton auf den sichtbaren Körper seiner Quelle zurückgeführt wird. Als Authentifizierungsstrategie soll Bewegungsreichtum als sichtbarer Beleg für die Wahrhaftigkeit der Gefühle den Höhepunkt unmittelbarer Präsenz darstellen. Die Darstellung aufgeführter Musik ist eine schwierige Suche nach dem sichtbaren Quellenkörper: “C’est pourquoi, peut-être, la caméra qui filme un pianiste se promène du visage aux mains, en passant par les marteaux sur les cordes, comme si elle hésitait sur le lieu à filmer” (Chion 1985: 184). Eine mögliche Antwort auf die Verpflichtung, die Suche nach der Tonquelle filmisch umzusetzen, kann also in häufigen Einstellungswechseln bestehen. Laut Chion ist dieses Verfahren eher Ausdruck von Ratlosigkeit als von künstlerischer Entscheidung. Aber auch die Filmemacher, die bewusst lange Einstellungen oder eine Gesamtansicht des oder der spielenden Musiker am Instrument wählen, bieten laut Chion keine überzeugende Lösung: Et quand les moyens vidéo permettent de combiner en surimpression deux points de vue, on est déçu comme par un artifice, une fuite devant le choix. Mais quand on peut voir dans la Chronique d’Anna Magdalena Bach [Danièle Huillet/ Jean-Marie Straub 1968], le soliste filmé à distance et en continuité, on se sent la tête ficelée sur son siège, on aimerait bien bouger, s’approcher, changer. C’est l’inconfort permanent (1985: 184). Es geht um die Möglichkeit einer Bildgestaltung, die mittels ihrer Dynamik einerseits das Zuschauerinteresse aufrechterhält, andererseits in ihrer Berechtigung gegenüber der Musik fragwürdig erscheint. Umgekehrt verweist eine sparsame Kamera- und Montagearbeit auf andere mögliche, nicht gezeigte Blickperspektiven auf die vortragenden Musiker mit ihren Instrumenten (Chion 1985: 185). Einstellungswechsel sind sicherlich konventionell und stehen nicht für eine metafilmische Reflexion im Film selbst. Bei der Visualisierung von Pop-Musik sind sie, falls überhaupt noch voneinander unterscheidbar, gebräuchliches Stilmittel und Ausdruck der Verpflichtung, in kürzester Zeit Musik zu vermarkten. Dagegen kann man Huillet und Straub sicherlich den Anspruch unterstellen, gegen gängige Darstellungsweisen protestieren zu wollen. Jörg Türschmann 184 Wiederum mit Blick auf den Zusammenhang, den Godard zwischen Stil, Rhythmus, Verpflichtung und Freiheit stiftet, lässt sich die Situation des Filmemachers aber auch anders beschreiben. Die Suche nach der Tonquelle als dem wahren Ort, an dem der Ton entspringt, kann als der Stil der Pflichterfüllung eines strengen Materialismus und Humanismus beurteilt werden. Andere Lösungswege sind denkbar. “Man macht, was man kann, und nicht was man will. Andererseits versucht man das, was man will, zu machen mit der Macht, die man hat” (Godard 1981: 30). Man kann die Suche nach der Tonquelle als ein gesuchtes Problem ansehen. Durch die Vorgabe, Unmittelbarkeit mittelbar machen zu wollen, ergibt sich zwangsläufig der Verzicht auf einen Bilderrhythmus zugunsten einer scheinbar medial undeterminierten Vermittlung. Ein Stil und Wille zur freien Gestaltung kommt damit dennoch zum Ausdruck. Vor allem der mit dem Bild zugleich aufgenommene O-Ton ist hier als Stilmittel zu nennen. In der Überlieferung der Verbindung von Musik und Quelle durch den O-Ton liegt ein Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Ob diese Beziehung zwischen Akustischem und Optischem im Moment der Dreharbeiten in jedem Fall im Kinosaal erkennbar ist, darf aber bezweifelt werden. 6. Narration und Komposition Die feste Verbindung von Bild und Ton hat mit dem Verhältnis von Musik und Erzählung zu tun. Sie beruht häufig auf dem Versuch, im Rahmen der Suche nach der Tonquelle den Ton im Bild einzuschließen oder umgekehrt. Insbesondere die Instrumentalisten sind im Bild hinsichtlich der Präsenz ihrer Kreativität nur eingeschränkt glaubwürdig zu vermitteln. Laut Chion ist in diesem Fall die Suche nach der Tonquelle besonders schwierig (Chion 1985: 188). Anders als herkömmliche Geräusche hat die Musik keinen ausschließlich indexikalischen Charakter wie beispielsweise im visuellen Bereich der Rauch im Verhältnis zum Feuer. Es ist für den Zuschauer und Zuhörer nur schwierig auszumachen, wo der Ton genau herstammt. Die Kamera zeigt verschiedene Ausschnitte des Instruments oder Bilder vom Musiker. Doch sind diese Informationen nichts anderes als eine “Anekdote” (Chion 1985: 188). Wo also die musikalische Komposition für eine strukturelle Eigenständigkeit des Tons sorgt, ist es nicht ohne Weiteres möglich, der Verpflichtung nachzukommen, die Suche nach dem Ton darzustellen. Für die Intermedialitätstheorie mit ihrer Präferenz für Paradoxien ergibt sich hier allerdings ein sinnvoller Begründungszusammenhang. Bild und Ton sollen im Fall der humanistisch inspirierten Suche nach einer unverstellten Künstlerpersönlichkeit trotz ihrer Unvereinbarkeit aneinander angenähert werden. Je stärker die Bemühungen in diese Richtung gehen, desto deutlicher treten die Grenzen zwischen beiden zu Tage. Die “Einheit der menschlichen Person” zu wahren ist eine Frage der “Ethik des Filmens”, führt aber im Fall von Straub und Huillets Filmen zu einem ungeeinten “Trinitarismus” aus Bild, Ton und Ort ihres Auftretens (Chion 1985: 74f. u. 162f.). Jeder Versuch, die Diskontinuität zwischen Filmproduktion und Filmrezeption zu überwinden, bringt den Darstellungsaufwand zum Ausdruck und wendet ihn ins Metafilmische. Damit werden die Grenzen des “Films als Form durch das Medium der Differenz” aufgezeigt. Der Film profitiert davon, indem er sich als Kunst etablieren kann. In den meisten Fällen aber wird ein Filmzuschauer von den historisch gewachsenen Darstellungskonventionen genüsslich profitieren. Er wird die Beziehung zum Moment der Aufnahme eines Musikkonzerts nicht als epistemologisches Problem wahrnehmen. Er wird Telekonzerte 185 nicht nach einer metafilmischen ‘interszenischen’ Relation suchen zwischen seinem Aufenthalt im Kinosaal oder im Wohnzimmer und dem Musiker im Konzertsaal. Dagegen wird er wie im wirklichen Konzert über die Virtuosität eines Musikers oder die Intensität der von ihm vorgetragenen Musik staunen. Vielleicht wird er bedauern, dass er noch nie den Musiker wirklich hat spielen hören. Doch träumt er sich dann in eine Konzertsituation und damit in eine Erzählung hinein. Die Kamera kann dem Zuschauer mit einem Schwenk auf das Publikum im Konzertsaal Anekdoten über die Wirkung der Musik erzählen. Die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen. Die Narration stagniert nicht, sondern macht sich die musikalische Komposition zunutze. Das Szenische gewinnt die Überhand über das Musikalische. Das Konzert kann Teil und Höhepunkt einer lang angelegten Erzählhandlung sein, in der beispielsweise ein Musiker, der einen Musiker darstellt, am Ende eines Spielfilms mit seinem Aufführungserfolg sowohl seinen Karrieredurchbruch feiert als auch den begehrten Liebespartner für sich gewinnt. Es gilt hier üblicherweise die postmoderne Filmkritik an Rationalismus und Strukturalismus, welche die fiktionale bzw. reale Konzertsituation und reale Rezeptionssituation zu sezieren versuchen: So, wenn etwa aus der Tatsache, daß den Zuschauern bewußt ist, doch im Kino zu sitzen - daß sie dies wissen und doch wieder nicht - nur die versachlichende Struktur von Bewußtseinssprüngen konstatiert wird, statt die Schizophrenie selbst als solche als Realität zu sehen: Realität der Illusion (Kötz 1986: 95). Es liegt dann aber ein fragwürdiger Realitätsbegriff, wenn nicht sogar ein Euphemismus für seinen Verlust vor. Das “Denken der Differenz” hat hier ein besonderes Programm: “Gesucht ist ein Sinn für Realitäten, aber jenseits des Mythos von Sachlichkeit” (Kötz 1986: 7). Es fragt sich, wer noch in der Lage sein soll, ‘von außen’ auf die Realität der Illusion zu schauen, wenn ihr die Gleichsetzung von Realität und Illusion anhaftet. Eine solche Nivellierung und der Verzicht auf die Referenz ist in sich unbestritten schlüssig und weist alle Kritiker aus dem Ring. Daher kann dann nur unerhört vorgebracht werden, dass ein solches Kino Wünsche zwar als Wünsche wahr werden lässt, aber keine Wünsche als einen Mangel anzeigt, der seine Behebung verlangt. Godards Diktum, dass man nur macht, was man kann, das dann aber mit aller Macht, die man hat, wäre hier auf den Zuschauer zu übertragen. Das Wohlgefühl der emotionalen Anteilnahme steht dem Unbehagen angesichts von ‘Verfremdungstechniken’ gegenüber, die dem Zuschauer die Abkapselung seiner Wünsche in fiktionale Welten gewahr werden lassen. Eine Haltung dazu ist in jedem Fall Pflicht und beweist Stil: Er kann in der beschränkten Zeit der Filmvorführung die Distanzierung empört registrieren, er kann sie aber auch als Elemente eines Metadiskurses raffiniert goutieren. Wie der Leser in Calvinos Roman muss der Filmzuschauer den Film zu einem Ende, auf einen Punkt bringen. 7. Die Suche nach der wahren Tonquelle II: Höhlenausgänge Vor dem Hintergrund dieser Debatte geht die theoretische Grundlegung der Untersuchung des verfilmten Konzerts einen besonderen Weg. Im Mittelpunkt steht im Rahmen einer Art von Apparatus-Theorie die Körperlichkeit der Tonquellen. Hierbei wird zwischen der Gesangs- und Instrumentalmusik unterschieden. Von allen Tonkomponenten zieht nach Chion die menschliche Stimme am stärksten die Aufmerksamkeit auf sich, womit verbunden ist, sie zu “lokalisieren” und zu “identifizieren” (1982a: 15), was so verstanden werden kann, Jörg Türschmann 186 dass die Quelle der Stimme identifiziert wird. Chion bezeichnet dies als “Vokozentrismus” (1982a: 16). Die auf dem Instrument gespielte Musik in einem Film unterscheidet sich gegenüber einem gesprochenen oder gesungenen, sprachlichen Text wesentlich in einem Punkt: der Glaubwürdigkeit der Quelle als schöpferischem Ausgangspunkt des Tons. Eine Person im Bild scheint die Worte, die zu hören sind, selbst zu erfinden. Der Synchronismus der Lippenbewegungen und der Worte ist nicht bloß als akustischer verständlich, sondern erweckt den Eindruck im Filmbild, an der geistigen Anstrengung der Person teilzuhaben, eine Rede zu erzeugen (Marie/ Vanoye 1983: 57). Die Kreativität, die das Bild eines Sprechers in Verbindung mit den hörbaren Worten vermittelt, findet in der Verfilmung eines Instrumentalvortrags nicht ebenso selbstverständlich ihren Niederschlag. Die Mittelbarkeit der musikalischen Äußerung auf einem Instrument, die Trennung von menschlichem Körper und Schallkörper (Chion 1985: 184), bringt es mit sich, dass im Musikkonzert die Auseinandersetzung des Musikschaffenden mit seinem Apparat, dem Instrument, auffällt. Das Instrument gerät demnach nicht zugunsten der Musik in Vergessenheit, wie Schaeffer für das Instrument voraussetzt (1960: 14f.). Dies gilt für einen einzelnen Musiker ebenso wie für ein Ensemble. Bei einer Gruppe von Musikern ist zusätzlich das Zusammenspiel bedeutsam, da der musikalische Vortrag in besonderem Maß von Vorarbeiten abhängt. Für ein Konzert des Pianisten Glenn Gould, der im Fernsehen die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach vortrug und dabei anscheinend den Mund leicht bewegte, stellt Chion fest, dass die Klaviermusik aus seinem Mund zu dringen schien (1982b: XI). Stimme und Instrumentalklang scheinen sich zu vereinen und lassen den Pianisten als “Bauchredner” erscheinen. Dieser Vergleich findet sich in der Filmtheorie auch andernorts. Rick Altman beschreibt allgemein das Bild-Ton-Verhältnis auf eine Weise, die sich auf das Verhältnis zwischen dem Musikinstrument als technischer Apparatur und dem Körper, insbesondere dem Mund des Musikers als Quelle des Tons übertragen lässt, weil es dabei um das Verhältnis zwischen der Musik im Ton und der Person im Bild geht: […] the ventriloquist’s problem is exactly that of the sound track - how to retain control over the sound while attributing it to a carefully manipulated lifelike dummy with no independent life of his own. Indeed, the ventriloquist’s art depends on the very fact which we have found of the heart of sound film: we are so disconcerted by a sourceless sound that we would rather attribute the sound to a dummy or a shadow than face the mystery of its sourcelessness or the scandal of its production by a non-vocal (technological or ‘ventral’) apparatus (1980: 76f.). Es geht demnach um eine Suche nach dem Ort, an dem der Ton auszutreten scheint. Insofern wird die Musik wie eine “voix out” behandelt und auf einen Ort zurückgeführt, an dem sie scheinbar den Körper ihrer Quelle verlässt. Altman legt dar, dass ein Bauchredner besonders dann erfolgreich ist, wenn er seine verdrängten Wünsche in der “Persönlichkeit” seiner Puppen auszudrücken versucht (1980: 77). Die Bauchrede ist Ausdruck des Körpers, nicht des Verstandes und Bewusstseins: Called engastrimanteis (belly-prophets), the ventriloquists of ancient Greece were taken to be prophets and were said to emit their prophetic voice from the belly: the head-voice may produce apparent truths, but the body-voice reveals hidden truth. This identification of the ventriloquist’s voice with the belly, the locus classicus of that which is body (identified as it is with the bodily functions of eating, excretion, and sexuality), squares surprisingly well with the role traditionally allotted to the ventriloquist’s disguised voice. Whereas the head-voice speaks the society’s polite language, the body-voice speaks a more sincere, personal, and unguarded language, a language no longer watched over by the censorship of conscious mind (ebd. 1980: 78). Telekonzerte 187 Die vorgetragene Musik in dem von Chion genannten Beispiel wirkt auf diese Weise als persönlicher Ausdruck, ‘aus dem Bauch heraus’. Der Klavierklang scheint als Luftstrom von Innen heraus auszutreten. Das Instrument ist somit unsichtbar in dem Sinn, dass es zugunsten des schöpferischen Innenlebens des Musikers als Quelle in den Hintergrund tritt. Auffällig an Chions oben zitierter Bemerkung ist, dass das Zentrum dieses Innenlebens im Bauch liegt und nicht im Kopf, demnach nicht vorrangig als eine geistige Anstrengung denn als ein Einsatz des Körpers von innen heraus ist. Die Verbindung von Innerem und Äußerem im Fall der vorgetragenen Klaviermusik kann als “voix out” beschrieben werden, insofern darunter der Versuch zu verstehen ist, das Innere sichtbar zu machen. Die “Konzentration” des Körpers auf das Aussenden eines “Luftstroms”, welcher der Mundhöhle eines Sängers entweicht, mag hier eine Rolle spielen (Chion 1985: 184). Dagegen lässt der Luftstrom, der mit dem Spiel eines Blasmusikers einhergeht, eine vergleichbare Wahrnehmung der Veräußerung körperlicher Innerlichkeit nicht zu. 8. Das audiovisuelle Feld technisch reproduzierter Musik Fasst man die hier vorgetragenen Überlegungen zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Personen, die im Film beim Musizieren zu sehen und zu hören sind, bedeuten eine darstellerische Herausforderung. Sie zeigen ein Engagement, dessen Glaubwürdigkeit bei der Verfilmung auf dem Spiel steht. Denn die reine Selbstbezüglichkeit musikalischer Kompositionen löst bei ihrem Erklingen den Ton vom Bild und die Virtuosität der Person im Bild ist nicht gesichert. Die Einheit des Menschen geht beim Musiker im Film verloren. Bereits der erste Film der Filmgeschichte mit lippensynchronem Ton, The Jazz Singer (Alan Crosland, 1927), dokumentiert diese Identitätskrise: Er zeigt einen Weißen, den Varieté-Star Al Jolson, als farbigen Sänger. Dieser Mangel stellt eine Verpflichtung dar, der in der Dauer des Konzerts nachzukommen ist. Es gibt mehrere Stile, die Differenz zwischen Bild und Ton in eine Form zu bringen. Entweder es wird versucht, die Einheit des Menschen durch den Verzicht auf einen Rhythmus in den Bildern und mit Hilfe des O-Tons anzustreben. Das Ergebnis ist die Bemühung selbst, die durch ihre Defizite die Differenz zwischen Bild und Ton sowie zwischen Klang- und Quellenkörper in Form bringt. Oder aber ein Rhythmus aus wechselnden Einstellungen liefert Ansichten einer Suche nach der Tonquelle. Er hat eine Verlagerung vom Musikalischen zum Anekdotischen zur Folge. Sie darf als der Regelfall der Vermarktung von Musik mit Hilfe des Films angesehen werden. Sie ist konventionalisiert und mündet nicht in eine Distanzierung des Zuschauers, sondern seine Einbindung in eine Erzählsituation oder Szene. Der Film als (Inter-)Medium zeigt im Fall des verfilmten Konzerts mit diesen beiden Formen der Differenz die beiden Möglichkeiten des filmischen und des kinematographischen Metadiskurses. Im ersten Fall, der nur in der jüngeren Filmgeschichte wie bei Straub und Huillet in einer Gleichung von Kunst und Leben als künstlerisch ambitioniert gelten kann, ist die Kamera nicht im Bild zu sehen, sondern hält sich auffällig zurück und liefert lange Einstellungen. Im zweiten Fall kann sie im Bild sogar gezeigt werden, etwa bei der Übertragung von Konzerten im Fernsehen, wenn mehrere Kameras zum Einsatz kommen. In Zusammenhang damit kann der Genuss von Musik in alltäglichen Lebenssituationen generell in den Rahmen der maschinellen Reproduktionstechniken gestellt werden. Musik, durch Hi-Fi-Technologie erzeugt, begleitet den Alltag. Die sichtbare Stereo- oder Surround-Anlage gilt wie die Jörg Türschmann 188 Kameras, die beim Filmen von Musikern zu sehen sind, als Beleg für eine der Situation angemessene Musik. Das Abspielen konservierter Musik umfasst anders als im Fall des Spielens einer Partitur eine Substitution des Konzerterlebnisses als optisch-akustische Situation. Der Unterschied zum Konzert besteht allein im geringeren Grad an Gerichtetheit der Aufmerksamkeit. Es muss dabei auch an die funktionelle Musik gedacht werden, wie sie von der Firma Muzak Inc. entwickelt wurde unter dem Motto “Boring work is made less boring with boring music”. Auch das screening von Musikdarbietungen an öffentlichen Orten wie Flughäfen und Diskotheken hat die Funktion, ein Ambiente herzustellen. Dennoch steht es an der Schwelle zum Musikerfilm und ist mehr als Fahrstuhlmusik. Denn das verfilmte Konzert hat die Gerichtetheit des Blickes zur Folge. Der Blick auf einen Bildschirm oder auf eine Leinwand beschäftigt den Sehsinn in der Art, dass er sich anderen Dingen nicht zuwendet. Erst das tragbare Abspielgerät integriert den Zuhörer in eine Aufführungssituation wie im Fahrstuhl oder im Kaufhaus. Insofern ist das Spektrum reproduzierter Musik in audiovisuellen Zusammenhängen zu erweitern. Neben der Askese der humanistischen Entität von Bild und Ton und der identifikationsstiftenden ‘Erzählung’ eines Konzerts im Film gibt es eine dritte Variante: Die Ersetzung des Filmbildes durch die optische erfahrbare Umwelt, die von Musik ohne Musiker begleitet wird. Dieses Verfahren kommt entfernt einer Erlebnisqualität nahe, die andere körper- und rhythmusbetonte Kulturen außerhalb Europas schon immer kannten und die durch den Tanz in jedem Fall von Musik erreicht werden kann. Literatur Altman, Rick 1980: “Moving Lipps: Cinema as Ventriloquism”, in: Yale French Studies. 60 (1980): 67-79 Aragon, Louis 1965: “Qu’est-ce que l’art, Jean-Luc Godard? ”, in: Sami.is.free. Abschrift, 2001 (1965). Unter: http: / / sami.is.free.fr/ Oeuvres/ aragon_godard.html (14. Februar 2006) Canudo, Ricciotto 1995: L’usine aux images. Paris: Séguir/ Arte Chion, Michel 1982 a: La voix au cinéma. 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