Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2006
291-3
Der 'Video-Stil' im Fernsehen
91
2006
Nicole Labitzke
Seit dem Niedergang der täglichen Talkshow im Tagesprogramm der privaten deutschen Fernsehsender suchen die Programmverantwortlichen neue Strategien des Authentischen in den Geschichten, in den Bildern, in den Figuren. Als ein durchgängiges Verfahren der bildlichen 'Authentifizierung' identifiziert der Beitrag den Videostil, wie er normalerweise im Fernsehjournalismus oder im Dokumentarfilm Verwendung findet. Er evoziert jenen Wahrnehmungsmodus, der typischerweise durch die Verwendung von Bildern im Dokumentarstil ausgelöst wird. Dieser Videostil wird anhand von vier Beispielen aus dem Tagesprogramm im Hinblick auf die drei Dimensionen Raum, Zeit und Ästhetik untersucht, die für das Authentitätskonzept des Genres konstitutiv sind.
kod291-30189
Der ‘Videostil’ im Fernsehen. Strategien der Authentifizierung im kommerziellen Tagesprogramm Nicole Labitzke Seit dem Niedergang der täglichen Talkshow im Tagesprogramm der privaten deutschen Fernsehsender suchen die Programmverantwortlichen neue Strategien des Authentischen in den Geschichten, in den Bildern, in den Figuren. Als ein durchgängiges Verfahren der bildlichen ‘Authentifizierung’ identifiziert der Beitrag den Videostil, wie er normalerweise im Fernsehjournalismus oder im Dokumentarfilm Verwendung findet. Er evoziert jenen Wahrnehmungsmodus, der typischerweise durch die Verwendung von Bildern im Dokumentarstil ausgelöst wird. Dieser Videostil wird anhand von vier Beispielen aus dem Tagesprogramm im Hinblick auf die drei Dimensionen Raum, Zeit und Ästhetik untersucht, die für das Authentitätskonzept des Genres konstitutiv sind. German daytime television, since the decline of daily talk in the year 2000, strives for “authentic” stories, images and personnel. The “video style sequence” is one of the most persistent measures for creating that impression of pictorial “authenticity”. Usually, that style is traditionally applied in television journalism or documentary filmmaking and evokes the perceptive mode of authenticity on behalf of the viewers. It is this mode of perception that should be triggered by the usage of documentary-style images. The author traces this video style in four different daytime genres and defines three significant dimensions - space, time, aesthetics - which are constitutive for the genres’ concept of authenticity. 1. Das Tagesprogramm des deutschen Privatfernsehens Im Tagesprogramm von RTL, Sat.1 und ProSieben hat in den letzten drei Jahren eine massive Transformation stattgefunden. Die Mitte der 90er Jahre beginnende Vorherrschaft der Daily Talkshows, die in großer Zahl von den drei Anbietern zwischen 10 und 16 Uhr gesendet wurden, begann zu schwinden, als im Jahr 2000 die Gerichtsshows eingeführt wurden, und ist mittlerweile vollständig zu deren Gunsten verschoben. Nur mehr drei Talkshows sind übrig geblieben, wobei ProSieben seit etwa einem Jahr ganz auf das Format in seiner ursprünglichen Ausprägung verzichtet. Trotz der programmlichen Transformation zwischen 2000 und 2005 sind viele Kontinuitäten aus der Talkshowzeit auch heute noch feststellbar. Einerseits handelt es sich bei den Formaten des aktuellen Tagesprogramms vornehmlich um Studioproduktionen, die wesentlich kostengünstiger herzustellen sind als fiktionale Serien oder gar Filme. Andererseits setzt sich das Personal zum größten Teil aus Laiendarstellern zusammen, die über Casting-Agenturen im großen Stil für die Sendungen angeworben werden. Beide Faktoren sind neben der narrativen Struktur und der ästhetischen Auflösung für die stilistische Qualität des Tagesprogramms mitverantwortlich. Die spezielle Personalpolitik, d.h. der Einsatz von Laiendarstellern, sowie der hier adressierte Videostil haben im ökonomischen Gefüge des kommerziellen Fernsehens, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 29 (2006) No. 1 - 3 Gunter Narr Verlag Tübingen Nicole Labitzke 190 insbesondere im Tagesprogramm, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Der Einsatz von Laiendarstellern senkt die Personalkosten für einen nicht endenden Bedarf an immer neuen Gesichtern für die täglichen Shows. Videosequenzen sind günstig zu produzieren, erfordern lediglich einen kleine Crew, kaum Licht, geringere Materialkosten und erlauben den mobilen Einsatz auch in weniger zugänglichen und nicht für den Produktionsalltag ausgelegten Räumlichkeiten. Beide Aspekte, Videostil und Personalpolitik, sind für die Anbieter demnach Dreh- und Angelpunkt ihrer Programmplanung: kosteneffektive Maßnahmen einerseits und Authentizitätssignale andererseits. Im Tagesprogramm hat sich im Anschluss an die nicht-fiktionale Ausrichtung der Daily Talks eine Form von Realitätsfernsehen entwickelt, das seine Attraktivität offenbar weiterhin aus einem Authentizitätsversprechen bezieht: was gezeigt wird, soll realitätsnah, anschlussfähig und im wörtlichen Sinne für das Publikum über Casting-Agenturen zugänglich sein. Meistens weisen die Sendungen im Abspann zwar darauf hin, dass es sich um erfundene Geschichten handelt. Trotzdem präsentieren sich die Sendungen heute als nicht-fiktionale Formate, die von den Anbietern als “Doku-Soaps”, “Ermittler-Soaps” oder “Real-Life- Shows” bezeichnet werden. Das Streben nach einem “authentischen” Seheindruck ist den meisten Tagesformaten gemein. Authentizität hängt dabei nicht an den Bildern (vgl. Renner 2005: 338), sondern stellt vielmehr einen spezifischen Wahrnehmungsmodus, also eine pragmatische Kategorie dar. Diesen Modus adressieren die Produzenten des kommerziellen Tagesprogramms, indem sie authentifizierende Signale einsetzen, die Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe vermitteln sollen. Im Gerichtsfernsehen beispielsweise werden die erfundenen Fälle von ehemaligen Richterinnen oder Rechtsanwälten verhandelt. Auch in den meisten anderen Sendungen sind die Protagonisten in der Regel einschlägige ExpertInnen, d.h. von ihrem beruflichen Hintergrund her tatsächlich PolizistInnen (Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln, Sat.1), TherapeutInnen (Zwei bei Kallwass, Sat.1) oder JuristInnen (Richterin Barbara Salesch, Sat.1; Das Familiengericht, RTL u.a.). Diese Form der Personalpolitik basiert sicher nicht zuletzt auch auf wirtschaftlichen Erwägungen, jedoch kann man davon ausgehen, dass es sich hier um authentifizierende Maßnahmen handelt, die Glaubwürdigkeit vermitteln und die Realitätsnähe verstärken sollen (vgl. Meier 2003: 14). Im Fokus der Analyse steht jedoch im Folgenden der Videostil als ästhetisch-pragmatisches Authentizitätssignal und seine Verwendung in den verschiedenen Genres des kommerziellen Tagesprogramms. Jedes Genre setzt den Videostil gemäß des eigenen Authentizitätskonzepts unterschiedlich ein. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten sollen für vier Sendungen, Richterin Barbara Salesch, Britt - der Talk um Eins, Niedrig und Kuhnt - Kommisare ermitteln sowie Das Geständnis, anhand der drei wichtigsten Dimensionen - räumlich, zeitlich, ästhetisch - diskutiert und in den jeweiligen pragmatischen Funktionsrahmen eingeordnet werden. Zunächst wird im folgenden Abschnitt auf die besondere ästhetische Qualität des Videostils und seine pragmatische Funktion im kommunikativen Handlungsrahmen des Tagesprogramms eingegangen. 2. Fernsehformate und stilistische Darstellungsmittel Die stilistische Gestaltung von Fernsehtexten innerhalb der vorhandenen Genregrenzen richtet sich nach etablierten Konventionen, technischen und ökonomischen Bedingtheiten sowie narrativen Erfordernissen. Die Einhaltung bestimmter Genre-Konventionen oder Der ‘Videostil’ im Fernsehen 191 Schemata aktiviert Wahrnehmungsmodi und wird als entscheidend für die Rezeptionshaltung eingeschätzt (vgl. Paus-Haase, Hasebrink et. al. 1999: 31; siehe auch Hattendorf 1999: 77). Die Aktivierung verschiedener Wahrnehmungsmodi obliegt innerhalb des semiotischen Zeichenamalgams Fernsehen (vgl. Renner 2003) den stilistischen Darstellungsmitteln. Die Verwendung des Stilbegriffs folgt hier der Definition von Sanders, der Stil als Gestaltungsstrategie in kommunikativen Handlungszusammenhängen versteht (vgl. Sanders 1996: 26). Die Gestaltungsstrategien im kommerziellen Tagesprogramm der drei Anbieter Sat.1, RTL und ProSieben sind in der Tradition der täglichen Talkshows an das Fernsehstudio als vorherrschendem Ort der Handlung gebunden, was rekurrente stilistische Qualitäten nach sich zieht. In stilistischer, d.h. (produktions-)ästhetischer und technischer Hinsicht handelt es sich um eine “quasi-live”-Produktion. Gedreht wird fast auschliesslich mit fahrbaren Stativkameras, deren Bilder von der Bildmischung “live-on-tape” abgemischt werden. Die fensterlose Studioszenerie wird vollständig mit Kunstlicht ausgeleuchtet. Seit einiger Zeit wird allerdings zunehmend auf andere stilistische Mittel zurückgegriffen, die sonst nur im Fernsehjournalismus oder dem Dokumentarfilm zu finden sind und im Unterhaltungsfernsehen kommerzieller Prägung bislang unüblich waren: Reportage-Elemente wie Vor-Ort-Drehs ohne künstliches Licht, subjektive Kamera und DV-Format. Die Vorteile des DV-Formats für den Produktionsablauf identifiziert Urban (2005) in den geringen Kosten, der Lichtempfindlichkeit sowie der Unauffälligkeit der relativ kleinen, leichten und damit mobilen technischen Einheiten (vgl. ebd.: 45). Dieser Stil, der sich an journalistische Gestaltungsmittel anlehnt, wird als “Videostil” bezeichnet. Sein Auftreten ist mittlerweile typisch für die täglichen Formate des Tagesprogramms und konstituiert dort aufgrund seiner Rekurrenz einen eigenen hybriden Stil, der eine Vermischung der gängigen Studiosendungen (in Anlehnung an die täglichen Talkshows) mit Reportage- und Doku-Elementen darstellt. Dieser Akt der Stilbildung (vgl. Sanders 1996: 16) im Tagesprogramm ist ein Phänomen, das etwa seit dem Auftreten der Gerichtsshows im Jahr 2000 einerseits und dem Rückgang der täglichen Talkshows andererseits zunehmend zu beobachten ist. Der Einsatz hybrider stilistischer Formen im Rahmen der betrachten Fernsehtexte erfüllt in erster Linie eine pragmatische, d.h. sprechakttheoretische Funktion (vgl. Brinker 2001: 15). Die kommunikative Absicht der Tagesprogramme ist die Erzielung eines möglichst “authentischen” Wahrnehmungseindrucks auf seiten des Fernsehpublikums. Die stilistischen Zitate aus dem Fernsehjournalismus sollen Glaubwürdigkeit und Authentizität vermitteln und somit die Kommunikationsabsicht realisieren helfen. 1 3. Der Videostil im Gerichtsfernsehen: Richterin Barbara Salesch In der hier betrachteten Episode der Sendung Richterin Barbara Salesch (Produktion: filmpool für Sat.1, Erstausstrahlung am 11.02.2005) wird der Fall einer gefährlichen Körperverletzung verhandelt. Die Angeklagte hat eine junge Frau mit einer Rasierklinge angegriffen, um sie von einer belastenden Aussage gegen ihren Geliebten abzuhalten. Dieser sitzt seit der mutmaßlichen Vergewaltigung der Schwester des Opfers in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess. Die beschriebene Sendung enthält eine Videosequenz (Dauer: 01: 27 min.) kurz vor Ende der Sendung, die sich zeitlich, räumlich und ästhetisch deutlich vom vorherrschenden Sendungsrahmen, dem Studio als Gerichtssaal, abhebt. Nicole Labitzke 192 Das Video zeigt die entscheidende Aussage des bereits toten Vergewaltigungsopfers, das die entscheidende Wendung im Prozess herbeiführt. Das Zeigen des Videos bewirkt einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit auf Seiten der des Opfers sowie einen Verlust an Glaubwürdigkeit eines entscheidenden Zeugen, was schließlich ein Einlenken und das Geständnis der Angeklagten auslöst. Renner definiert das Dokument seiner ursprünglichen Bedeutung nach als “Urkunde, die vor Gericht als Beweismittel dient. Es ist Feststellung und Argument in einem” (2005: 335). In diesem Sinne dient das Video hier als glaubwürdiges Beweis-Dokument. Mit dem Dokument wird ein Realitätsanspruch verbunden, der im Fall der Erzählung in Barbara Salesch nicht hinterfragt, sondern als ausreichendes und für sich selbst sprechendes und in diesem Sinne “wahres” Beweismittel ratifiziert wird. 3.1 Räumliche Dimension Wie in allen anderen betrachteten Videosequenzen auch, etabliert das sogenannte “Abschiedsvideo” einen Raum abseits des Fernsehstudios bzw. des Gerichtssaals. Im Rahmen der Diegese handelt es sich dabei augenscheinlich um eine Wohnung, von der lediglich eine Wand und ein Ledersofa zu sehen sind. Eine genauere Spezifizierung des Ortes findet nicht statt. Es ist jedoch anzunehmen, dass es sich um die Wohnung der Zeugin handeln soll, also um einen privaten Raum, in dem sie kurze Zeit nach Aufnahme ihrer Aussage Selbstmord begeht. Um realitätsnahe Bezüge herstellen zu können, bedarf es eines wiedererkennbaren Raumes, der in pragmatischer Hinsicht einen authentischen Kontext herstellt. Das Sofa als semiotischer Index suggeriert ein “Allerweltswohnzimmer”, das weder zu künstliche noch allzu deutliche Konnotationen evoziert. 3.2 Zeitliche Dimension Charakteristisch für das Dokument ist die Darstellung vergangener Sachverhalte. So betrifft die Sequenz auch im vorliegenden Fall einen Zeitpunkt, der in diegetischer Hinsicht mehrere Monate vor der aktuellen Gerichtsverhandlung liegt. Der linear chronologische Ablauf der Erzählung wird somit durch die Rückblende, die das Videodokument repräsentiert, unterbrochen. Der Wechsel der zeitlichen Erzählebene wird einerseits verbal angekündigt: es handelt sich um ein vom entscheidende Zeugen lange geheim gehaltenes Videodokument, das zunächst nicht vorliegt, sondern erst beschafft werden muss. Andererseits ist es die Richterin, die mittels Fernbedienung ein Videogerät mit dem besagten Band startet, was dann von den Prozessbeteiligten auf einem kleinen Fernsehgerät betrachtet wird. Die dadurch entstehende Rahmung, also das gemeinsame Betrachten des Beweisvideos verwandelt dieses in ein intradiegetisches Dokument. Gleichzeitig wird das Fernsehpublikum in die Handlung miteinbezogen, wenn die Rahmung aufgehoben und das Video direkt ausgestrahlt wird, d.h. nur den äußeren Kommunikationskreis, nämlich das Publikum adressiert. Der ‘Videostil’ im Fernsehen 193 3.3 Ästhetische Dimension Im Gegensatz zu den noch folgenden Beispielen wird in diesem Beweisvideo eine feststehende Kameraeinstellung gewählt, die auch über die gesamte Dauer der Sequenz beibehalten wird. Die einzige halbnahe Einstellung der Zeugin, die auf dem Sofa sitzt, wird unterschnitten mit den Reaktionen der Prozessbeteiligten im Gerichtssaal. Das Videodokument ist nicht wie in anderen Sendungen eine Sequenz, die die Studiosituationen syntagmatisch ergänzt oder ablöst, sondern ein diegetisches Element, das die Figuren der Erzählung selbst rezipieren. Anders als im nachgestellten Gerichtssaal, der hell und flächig ausgeleuchtet ist, wird in der Videosequenz nur mit natürlichem Licht gearbeitet. Dieses scheint von rechts durch ein Fenster in das Zimmer zu fallen. Ähnlich wie bei der Kameraeinstellung wird hierdurch eine authentische und nicht-inszenierte bzw. -dramatisierte Situation nahe gelegt. Das Videodokument wirkt in seiner Ästhetik stark reduziert und stellt damit die Aussage der Zeugin in den Mittelpunkt, die in einem privaten Umfeld und ohne weitere anwesende Personen abgegeben wird. Die Privatheit und Authentizität der Situation wird entscheidend durch die Tatsache geprägt, dass die Videokamera von der Zeugin eigenhändig ein- und ausgeschaltet wird. Hier wird suggeriert, dass nichts gekürzt oder heraus geschnitten wurde, dass es sich also um ein vollständiges, selbst angefertigtes und demnach “wahres” Dokument handelt. Das Authentizitätssignal “Videodokument” erhält im vorliegenden Fall seine vorrangige Qualifikation durch die vermeintlich unbearbeitete Form, die Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit auslöst. Im Hinblick auf die Diegese setzt sich diese Strategie durch, denn die Aussage des Opfers wird von allen Beteiligten als glaubwürdig eingestuft und führt zur Auflösung, d.h. zum Geständnis der Angeklagten. Hausmanninger (vgl. 2002: 3) ist der Ansicht, es handele sich bei den Gerichtsshows insgesamt um eine “dokumentarische Objektivität”, die mittels ästhetischer Stilmittel erzeugt werde. Die gesamte Sendung sei in “high key” ausgeleuchtet, d.h. alles sei somit sichtbar. Die bildliche Auflösung, d.h. die Verwendung der einschlägigen Einstellungsgrössen halbnah, nah und gross erinnert an das journalistische Interview. Ebenso die Montage, die den Prozess im Shot-/ Counter-Shot-Verfahren und synchronem Ton verknüpft. Die kommunikative Absicht sieht Hausmanninger in der Präsentation einer “normativen Richtigkeit” (ebd.), die argumentativ-diskursiv über das faktionale Sendungskonzept transportiert werde. Die Videosequenz in Richterin Barbara Salesch, die als Beweis-Dokument eingesetzt wird, passt in dieses von Hausmanninger formulierte Genrekonzept. Das Dokument soll faktional und authentisch wirken, denn es erfüllt argumentative Funktionen in der Erzählung und stellt so diskursiv die Auflösung des Konflikts her. 4. Der Videostil im Daily Talk: Britt deckt auf Noch stärker als das Gerichtsfernsehen sind es die täglichen Talkshows, die einen eindeutigen Realitätsanspruch für sich reklamieren. Handelt es sich doch nicht um erfundene Geschichten, sondern um “reale” Erfahrungen und Konflikte von “realen” Personen. Jedoch scheinen im aktuellen Programmumfeld Authentizitätssignale wie etwa Videosequenzen auch für die Daily Talks notwendig zu werden. Nicole Labitzke 194 Die hier behandelte knapp 30-sekündige Sequenz ist der Sendung Britt deckt auf aus der Talkshow-Reihe Britt - der Talk um Eins (Produktion: Schwartzkopff tv für Sat.1, Erstausstrahlung am 09.02.2005) entnommen. Gezeigt wird ein offensichtlich gestelltes “Vorgespräch” in einem Büro zwischen der Moderatorin Britt und einer jungen Mutter (Nicole), deren Ex-Freund (Patrick) die Vaterschaft des gemeinsames Kindes nicht anerkennen wolle. Diese Sequenz bildet die Einleitung für die erste Episode der 60-minütigen Sendung und befasst sich mit einer ungeklärten Vaterschaft, die Britt mittels eines Vaterschaftstests klären soll. 4.1 Räumliche Dimension Die einleitende Videosequenz etabliert neben dem Studio einen zweiten Arbeitsplatz der Moderatorin: ein Büro, in dem sie die Vorgespräche mit den Gästen der kommenden Sendungen führt. Britts Rolle als Moderatorin wird durch diese Sequenz ergänzt um die Aufgaben einer Redakteurin bzw. Journalistin, die Recherche betreibt und ihre Sendungen inhaltlich vorbereitet und kontrolliert. Tatsächlich ist bei den Daily Talks eine ganze Redaktion dafür zuständig, die Vorgespräche mit den zukünftigen Talkgästen zu führen. Der räumliche Kontext soll den Eindruck des journalistischen Arbeitens und die Berufsrolle der sorgfältig recherchierenden und engagierten Journalistin, bessser gesagt, der “Redakteurin im Studio” vermitteln, die nicht von der Vorarbeit einer Redaktion abhängig ist. 4.2 Zeitliche Dimension Wie im vorherigen Beispiel suspendiert die Einspielung der Videosequenz als Rückblende die diegetische Erzählzeit der Sendung. Die Sendung beginnt mit dem Anfangstrailer und einer Anmoderation, in der die Sequenz angekündigt wird. Die folgende Szene im Büro der Moderatorin stellt im Rückblick dar, wie Britt zusammen mit Nicole, einer jungen Mutter, zunächst das Problem sondiert und die notwendige Maßnahme festlegt: einen Vaterschaftstest. Aus dem Gespräch lässt sich entnehmen, dass es einige Tage vor der eigentlichen Sendung stattgefunden haben soll. In der Logik der Erzählung wird damit einerseits suggeriert, dass die Vorbereitung für die Sendung, die Abwicklung eines Vaterschaftstests lediglich einige Tage in Anspruch nimmt. Andererseits wird angedeutet, dass Hilfesuchende bei Britt umgehend mit einer Lösung ihrer Probleme rechnen können. 4.3 Ästhetische Dimension Auffällig an dieser Sequenz ist seine eindeutige Referenz an den Kamerastil in der journalistischen Reportage. Hier wurde ausschließlich aus der Hand gedreht, so dass alle Bilder unruhig und hektisch wirken. Verwendet wurden zwei Kameras, die beide eine leichte Draufsicht auf die beiden sitzenden Protagonistinnen einnehmen. Während die andere Kamera bereits in Position steht, bewegt sich die erste Kamera in den Raum hinein, in dem Britt bereits mit Nicole an einem Schreibtisch sitzt. So bald die Kamera im Raum ist, wird ein sehr schneller ungenauer Zoom auf Nicole vollzogen, der einem Arbeitszoom ähnelt. Die Schärfe wird in der Großaufnahme mehrfach nachkorrigiert. Auch der Gegenschuss der zweiten Kamera von Britt ist zunächst unscharf und wird dann nachgezogen. Hier wird die dokumentarische Kamera mit schnellen Zooms und Reißschwenks zitiert, die sich dem Der ‘Videostil’ im Fernsehen 195 Geschehen, das sie dokumentiert, anpassen muss, ohne die nächsten Ereignisse genau zu kennen. Dieser Reportagestil wird explizit als Gegensatz zur fiktionalen, szenischen Kamera eingesetzt, bei der vorab alle Bewegungen der Figuren und dementsprechend auch der Kamera festgelegt sind (vgl. Renner 2005: 350). Die Ausleuchtung des Raumes entspricht mehr einem Reportagelicht, das aufgrund reduzierter lichttechnischer Möglichkeiten und magelnder Zeit lediglich grob eingerichtet wird. Anders als das sorgfältig arrangierte Studiolicht ist der Raum ungenau und zu grell ausgeleuchtet, so dass die Personen harte Schattenkonturen an den Wänden erzeugen. Die kurze Szene ist mit zwei Kameras gedreht, so dass die Interaktion zwischen Britt und ihrem Gast später in der Nachbearbeitung in einer klassischen Schuss-Gegenschuss-Situation aufgelöst werden kann. Sowohl Licht als auch Montage zitieren dokumentarisches bzw. journalistisches Arbeiten. Das Licht erscheint eher als dürftige Notlösung; die Montage simuliert ein hastig arrangiertes Interview. Anders als im vorigen Beispiel dient der Einsatz des Videostils in der Sendung Britt dazu, einerseits das Format an sich zu authentifizieren und als zuverlässige Institution, die “Wahrheiten aufdeckt” zu qualifizieren. Andererseits ist es daneben auch die Person der Moderatorin, die den Eindruck der glaubwürdigen, sorgfältig recherchierenden und verantwortungsvollen Journalistin erwecken soll. 5. Der Videostil in der Doku-Soap: Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln (Produktion: filmpool für Sat.1) ist eine der relativ jungen “Ermittler-Soaps” (Sendestart: 12.05.2003), in denen die Glaubwürdigkeit der Titelhelden wie in den Gerichtsshows an deren beruflichen Hintergrund, in diesem Fall die Arbeit bei der Polizei, geknüpft wird. Das Konzept der Sendung Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln wird auf der Internetseite von Sat.1 wie folgt formuliert: Zwei Ermittler gegen das Verbrechen. Die Sendung verfolgt die tägliche Arbeit der echten Kommissare Conny Niedrig und Bernie Kuhnt. Sie ermitteln in hochemotionalen, realitätsnahen Fällen bis zur finalen Klärung und der Überführung des Täters. Dabei führen sie Vernehmungen von Zeugen und intensive Verhöre von Verdächtigen durch und werden mit Lügen, Widersprüchen, Tricks, aber auch mit den persönlichen Tragödien der Personen konfrontiert (Sat.1, 15.10.2005, Hervorhebung: N.L.). Das Authentizitätskonzept des Genres, zu dem beispielsweise auch die Sendungen Lenßen & Partner und K11 gehören, wird hier deutlich. Man behauptet die korrekte und informative, zuweilen emotionale Darstellung von “realen” oder zumindest “realitätsnahen” Fällen, die von “Profis” gelöst werden. Die halbstündige Sendung weist eine zweigeteilte Struktur auf: Szenen im Polizeirevier (z.B. Verhöre) wechseln sich mit Außenszenen ab. Dabei sind es diese Außenszenen, die hier als Videosequenzen relevant sind und sich als Stilmittel im Hinblick auf die betrachteten drei Dimensionen signifikant von den Studioszenen unterscheiden. Charakteristisch für diese Sendung ist die stark verengte Perspektive: die Kameraführung in den Videosequenzen suggeriert eine strenge Beobachterposition. Die betrachtete Sendung vom 11.02.2005 handelt von einem Mord an einer ehrgeizigen und als unsympathisch dargestellten Theaterschauspielerin, die während der Vorstellung von einer ihrer Kolleginnen vergiftet wurde. Als relevante Videosequenz wurde eine Szene Nicole Labitzke 196 ausgewählt, in der zwei ErmittlerInnen einen füchtigen Tatverdächtigen zunächst mit dem Auto, dann zu Fuß verfolgen, zu Boden werfen und verhaften. 5.1 Räumliche Dimension Die betrachtete Verfolgungsszene etabliert einen neuen Raum außerhalb des Studios, nämlich die Wohngegend eines Verdächtigen, der bei Eintreffen der Ermittler versucht, in ein nahe gelegenes Feld zu fliehen. Die Etablierung des Raumes sowie der diegetischen Uhrzeit finden zusätzlich über eine Texteinblendung statt. Das Insert zu Beginn dieser Sequenz lautet: “Mittwoch 15: 16 Uhr, Wohnung Christoph Steinke”. Mit dieser extradiegetischen Information, die sich direkt an das Fernsehpublikum richtet und anders als das Videodokument in Salesch für die Protagonisten nicht wahrnehmbar ist, wird zunächst eine zeitliche und räumliche Einordnung der Handlung ermöglicht. Konterkariert wird die Informationsvergabe durch die Kameraführung. Die Subjektive, mit der die Kamera die Perspektive der beiden Ermittler einnimmt, vermittelt zwar einerseits einen eindeutigen Point of View, schränkt aber auf der anderen Seite den Blickwinkel stark ein, so dass häufig der räumliche Kontext verloren geht. Nur ganz zu Beginn der Sequenz ist eine etwas totalere Einstellung der Umgebung zu sehen, danach bleibt die Kamera dicht an den Protagonisten und folgt der Handlung. Die genaue textliche Einordnung des Handlungsraumes einerseits sowie die optische Reduzierung des Kontexts andererseits reproduziert Konventionen, die an Polizeifootage, d.h. ggf. von Laien gedrehtes Material oder Polizeidokumentationen erinnern. Deiktische Informationen wie Angaben zum Handlungsort sollen authentisch wirken, denn mehr als ein authentischer Seheindruck kann nicht erzielt werden, bleibt doch der Gesamtkontext immer ausserhalb des Blickfeldes. 5.2 Zeitliche Dimension Der exakten Chronologie der Ereignisse wird in allen Sendungen dieser Reihe ein großer Stellenwert zugemessen. Der Tagesablauf und die Ermittlungsfortschritte werden zeitlich exakt eingeordnet. Das Publikum erhält in 30 Minuten die folgenden Informationen: Die Aufklärung des Falles beginnt unmittelbar nach dem Mord an einer Schauspielerin, dienstags abends um 22.44 Uhr. Die Hauptermittler Niedrig und Kuhnt nehmen sich am nächsten Morgen ab 8.07 Uhr der Aufklärung des Falles an und haben diesen am Ende des Arbeitstages, um 18.03 Uhr mit einer letzten Befragung und dem Geständnis der Täterin gelöst. Die diegetische Uhrzeit in der hier betrachteten Videosequenz lautet auf 15.16 Uhr, die anschliessende Vernehmung des gefassten Tatverdächtigen findet um 15.57 Uhr statt. Das Publikum wird so detailliert informiert, dass sogar die Dauer der Ermittlungsschritte nachvollziehbar ist. Die Verfolgungssequenz wird strikt chronologisch in die Abfolge der Ereignisse eingebaut. Sie folgt inhaltlich auf die vorangegangene Studioszene, in der über den Verdächtigen gesprochen wird und ist Voraussetzung für die darauf folgende Szene auf dem Revier, nämlich die Vernehmung des gefassten Tatverdächtigen. Die strikte chronologische Ordnung hat dokumentarischen Charakter und suggeriert erzählerische Exaktheit und damit Glaubwürdigkeit. Die Videosequenzen in Niedrig und Kuhnt sind im Vergleich mit Salesch mitnichten als Dokumente zu betrachten, denn sie dokumentieren keine vergangenen Ereignisse, sondern Der ‘Videostil’ im Fernsehen 197 setzen das Hier-und-Jetzt der Ermittlungsarbeit, die vermeintlich von Anfang bis Ende verfolgt werden kann, konsequent fort. 5.3 Ästhetische Dimension Das Zitieren des Reportage-Stils ist hier augenfällig. Es wird auschliesslich aus der Hand gedreht, die Kamera befindet sich in unmittelbarer Nähe zu den Ermittlern und “dokumentiert” deren Schritte. Die Verengung des Kamerablicks, die teilweise in die Subjektive übergeht, ist charakteristisch für alle Videosequenzen dieser Sendung. “Establishing shots”, die im vergleicharen Krimi-Genre einen Überblick über den Handlungsraum ermöglichen, fehlen vollständig. Man setzt sich damit von der sorgfältigen Inszenierung der Krimi-Serie oder des Kriminalfilms ab, um die vermeintliche Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, die keine lange Planung zulassen, zu verdeutlichen. In den Videosequenzen dieser Sendung wird vor allem mit natürlichem Licht gearbeitet, eine Ausleuchtung wie in anderen inszenierten Situationen, z.B. dem Studio, würde dem spontanen und dokumentarischen Charakter der Szene zuwiderlaufen. Die Videosequenz besteht lediglich aus zwei Einstellungen, der einzige Schnitt nach etwa 11 Sekunden bleibt so gut wie unsichtbar, um den Eindruck der authentischen Verfolgungssituation nicht zu stören. Das Auffällige an den Videosequenzen in der Sendung Niedrig und Kuhnt ist ihr “Footage-Charakter”, der nicht planbare Dreharbeiten suggeriert, wo die Kamera der Handlung folgt und reagieren muss. Dieses vermeintliche Footage-Material wird so in Szene gesetzt, dass dabei quasi ein “Protokoll” der Ermittlungsarbeit entsteht. 6. Der Videostil in der “Real-Life”-Show: Das Geständnis Das Geständnis (Produktion: constantin entertainment für ProSieben) wird von ProSieben als “Real Life”bzw. “Enthüllungsshow” angekündigt. Das gewählte Sendungsbzw. Authentizitätskonzept wird auf der Internetseite des Anbieters folgendermaßen beschrieben: In der einstündigen Real Life Show nehmen Menschen jeder Couleur allen Mut zusammen und gestehen ihrem Partner, der Familie oder Freunden im Studio ihr Geheimnis. Welche Geschichten gelangen dabei ans Tageslicht? Alida Kurras recherchiert im Vorfeld Zeugenaussagen, prüft Indizien und vermittelt zwischen den Betroffenen vor Ort und im Studio. Am Ende hat der Geständige die Wahl: Bleibt er hinter der Schattenwand oder zeigt er sich der Öffentlichkeit? (ProSieben, 15.10.2005, Hervorhebung: N.L.). Das Geständnis suggeriert in diesem Werbetext einerseits fiktionale Anteile (“Geschichten”), die sich vor allem in der ästhtetischen Dimension des Videostils (s.u.) manifestieren. Andererseits vermittelt der Text den Eindruck, die Arbeit der Moderatorin Alida Kurras ähnele sowohl einer journalistischen als auch einer juristischen Tätigkeit. Derartige Authentizitätssignale finden sich auch in der räumlichen und ästhetischen Dimension der Videosequenzen wieder. Das Format lässt sich somit vereinfachend als Hybrid zwischen Daily Talk und Gerichtsshow beschreiben, wobei die Geschichten rein fiktional sind 2 . Wie die Daily Talks ist auch Das Geständnis zunächst eine Studiosendung, in der vermeintlich Geheimes durch Fragen, Erzählen und Gestehen öffentlich gemacht wird. Anders als in der Talkshow handelt es sich Nicole Labitzke 198 hier um abgeschlossene Geschichten, an deren Ende immer die Aufdeckung einer “Wahrheit” und im Zuge dessen die Wiederherstellung eines normativen bzw. affirmativen Gleichgewichts steht. Die Moderatorin hat in diesem Prozess, ähnlich einer Richterin, die Handlungsgewalt. Videosequenzen ergänzen die Studioszenen und sind in der Regel Rückblicke auf vergangene Ereignisse, die die Perspektive der jeweils Erzählenden wiedergeben. In der Sendung vom 09.02.2005 geht es um den Konflikt der beiden ehemaligen Freundinnen Nina und Caro. Nina, 18, hat eine Affäre mit Caros Vater Roland, 48, zu der sich Nina in der Sendung nun auch öffentlich und vor allem vor Caro bekennen will. Tatsächlich aber plant Nina die Abrechnung mit Caros Familie. Sie will sich dafür rächen, dass ihr eigener Vater die Familie verlassen hat, nachdem er mit Caros Mutter Ines, 42, ein Verhältnis hatte. Die hier betrachtete Videosequenz zeigt eine entscheidende Szene im Handlungsablauf: die Verführung des 48-jährigen Roland durch die 18-jährige Nina im Zimmer ihrer Freundin Caro. Aus Trauer über deren Trennung versucht Nina einen Brief an ihre Eltern zu schreiben, in dem sie beide darum bittet, sich wieder zu versöhnen. Dabei liegt sie weinend auf Caros Bett. Roland kommt herein und versucht sie zu trösten, indem er sie zu einem Stück von Caros Schokoladenkuchen überreden will. Alsbald beginnt Nina mit Roland zu flirten. Als er sich darauf einlässt, küsst sie ihn. 6.1 Räumliche Dimension Durch die Verwendung von Videosequenzen setzt sich Das Geständnis vom Setting der Daily Talks ab. Beide Genres ähneln sich deutlich im Hinblick auf das räumliche Arrangement im Studio: Bühne mit Sofas oder Stehtischen für die Protagonisten und einen davon getrennten Publikumsbereich. Durch die Inszenierung fiktiver Geschichten in Das Geständnis ist man anders als in den Talkshows nicht länger ausschließlich an das Studio gebunden. Handlungsorte, die für die Erzählung relevant sind, müssen nicht mehr nur beschrieben, sondern können im Bild gezeigt werden. Die Räume in den Videosequenzen wirken real und bewohnt. Das Interieur dürfte sich in dieser Form auch in vielen Wohnung der RezipientInnen wieder finden. Durch diese Strategie aktivieren die Sendungen einerseits den Wahrnehmungsmodus “authentisch”, weil vermeintlich nicht arrangiert. Andererseits ist es der Versuch, eine gewisse Nähe zwischen TV-Akteuren und Publikum zu etablieren. Wie auch in anderen Sendungen wird eine räumliche Orientierung durch die Vermeidung von transparenten räumlichen Strukturen erschwert, d.h. die Räume sind zwar als solche wiederzuerkennen, nicht jedoch deren Lage in einer Wohnung, einem Gebäude oder einer Stadt. Der authentische Eindruck entsteht nicht durch die Möglichkeit der Verortung, sondern durch die wiedererkennbaren alltäglichen und damit vertrauten räumlichen Strukturen. Ähnlich wie bei Niedrig und Kuhnt wird der räumliche Kontext zugunsten der reinen Handlung vernachlässigt, wobei sich dabei die Motive durchaus unterscheiden: Das Geständnis bebildert in den Videosequenzen augenscheinlich eine subjektive Erinnerung. Dabei sind Raumstrukturen für das Verständnis der Handlung nachrangig. 6.2 Zeitliche Dimension Wiederum im Unterschied zum Daily Talk und als Vorteil einer komplett gescripteten Dramaturgie lässt sich der Live-Charakter, das Hier-und-Heute der Sendung mittels Rück- Der ‘Videostil’ im Fernsehen 199 blenden beliebig in die Vergangenheit erweitern. Im vorliegenden Fall erstreckt sich die diegetische Erzählzeit über 14 Monate. Die betrachtete Sequenz markiert ein Ereignis, (Beginn der Affäre zwischen Nina und Roland) das vier Monate vor dem eigentlichen Geständnis im Studio geschehen ist. Anders als bei Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln, verläuft die Chronologie der Ereignisse weder linear, noch werden präzise zeitliche Angaben gemacht. Oftmals ist eine zeitliche Einordnung in die Handlungschronologie nur durch wiederholtes Sehen der Sequenzen möglich. Die Erinnerungsfragmente der Beteiligten sind insofern zeitlich eingeordnet als sie Handlungen nachträglich im Sinne eines “früher/ später” oder “vorher/ nachher” motivieren sollen. Anders als in Niedrig und Kuhnt trägt die zeitliche Dimension des Videostils im vorliegenden Beispiel nicht zu einer Authentifizierung, etwa im Sinne dokumentarischer Exaktheit, bei. 6.3 Ästhetische Dimension Anders als in den voran gegangenen Beispielen steht hier nicht so sehr eine dokumentarische Ästhetik im Vordergrund als vielmehr eine klassische szenische Machart, die allerdings aufgrund des verwendeten DV-Formats optisch stark an das “Homevideo” erinnert. Trotzdem weist der Videostil in dieser Sendung Ähnlichkeiten mit den anderen Beispielen auf. Die meiste Zeit wird auch hier die Handkamera und wenig zusätzliches Licht verwendet, was das Konzept der “versteckten Kamera” evoziert, die selbst bei intimen Ereignissen, z.B. der Verführung Rolands, dokumentierend und als Zeugin anwesend ist. Auch in diesem Format findet sich eine Verengung des Blicks auf das unmittelbare Handlungsumfeld, so dass eine räumliche Orientierung nur eingeschränkt möglich ist, auch wenn Räume durchaus Wiedererkennungsfaktoren aufweisen. Das Geständnis weist neben den Ähnlichkeiten auch Besonderheiten auf: die Berichte der Beteiligten im Studio werden an passender Stelle mit der Videosequenz unterschnitten, so dass die ersten Sekunden davon quasi mit einem Off-Kommentar der jeweiligen Erzählerin ausgestattet sind. Dann wird der Originalton aus der Sequenz bis zu dessen Ende übernommen. Wie im TV-Drama oder in der Vorabend-Serie wird außerdem dramatisierende Musik eingesetzt. Diese Strategien vermitteln den Eindruck einer subjektiven Schilderung, eines Erinnerungsfragments, zu dem die TV-Zuschauer durch die Sendung Zugang erlangen. Die Interaktion zwischen Nina und Roland in der Videosequenz wird im Schuß- Gegenschuß-Verfahren aufgelöst. Eine Technik, die Vorbereitung sowie räumliche und technische Arrangements erfordert. Anders als in der Büro-Sequenz der Sendung Britt wird hier weniger das journalistische Interview zitiert, sondern vielmehr die szenische Emotionalität, die durch die Montage von Nah- oder Großaufnahmen der ProtagonistInnen wie in einer Soap-Opera entstehen soll. Nichtsdestoweniger werden die Erinnerungsfragmente als das Sichtbarmachen einer authentischen Innenperspektive der Figuren inszeniert, die Ereignisse allerdings nicht protokollieren oder dokumentieren, sondern überhaupt erst zugänglich machen sollen. 7. Zusammenfassung: Der Videostil als funktionales Darstellungsmittel Der Videostil im kommerziellen Tagesprogramm erfüllt für die betrachteten Genres explizite Funktionen im Rahmen der jeweiligen Narration. Anhand der Beispiele lässt sich zunächst Nicole Labitzke 200 konstatieren, dass sie durch ihren bedeutungstragenden Einsatz in der syntagmatischen Struktur der Sendung Gelegenheit bieten, die räumliche und zeitliche Ebene der Erzählung über den Studiorahmen hinaus zu erweitern. Dabei wird von diesem Potential in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht: in der Sendung Richterin Barbara Salesch beispielsweise dient die Videosequenz als glaubhaftes intradiegetisches Beweis-Dokument, das durch seine stilistischen Qualitäten auch für das TV-Publikum authentisch und ungestellt wirken soll. Die Erzählung erhält durch das Dokument seine entscheidende diskursive Wendung, der Konflikt wird gelöst. Der Einsatz des Videostils als authentifizierende Maßnahme im Daily Talk ist ein neues Phänomen. In der Sendung Britt - der Talk um Eins dient die Videosequenz der Qualifizierung des Formats als Ganzes. Durch das “Recherchegespräch” am Anfang der Sendung wird suggeriert, dass die Sendung, insbesondere die Moderatorin, journalistisch seriös arbeitet. Das Problem wird von Britt durch Fragen identifiziert (ungeklärte Vaterschaft) und in der Sendung ein paar Tage später mittels eines Vaterschaftstests gelöst. Die Ausweitung der stilistischen Darstellungsmittel untermauert den Anspruch des Daily Talk: das Format Britt will als dienstleistende Institution Lebenshilfe geben. Das Zeigen der Arbeitsmethoden im Vorfeld einer Sendung soll in diesem Sinne die Glaubwürdigkeit der Institution stärken, die sich scheinbar nicht länger auf die dramatisierenden Elemente innerhalb des Studiorahmens, wie etwa Publikumsbeteiligung und Typencasting, verlassen will. Ermittler-Soaps wie Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln leben von der authentifizierenden Kraft ihrer “realen” HauptdarstellerInnen. Eine weitere Strategie, beim Publikum einen authentischen Seheindruck zu erzeugen, ist der Videostil der Außenszenen. Extradiegetische Informationen zu Ort und Zeit der Handlung, die als Text für das Publikum eingeblendet werden sowie die bewusst gewählte “Footage-Qualität” der Videosequenzen sollen deren dokumentarischen und protokollarischen Charakter unterstreichen. Das Geständnis, die sogenannte “Real-Life-Show”, nutzt die Videosequenzen in anderer Weise als andere Genres. Obwohl es in manchen Episoden der Sendung durchaus Zitate der versteckten Reportage-Kamera gibt, die Ereignisse unbemerkt dokumentiert, findet im betrachteten Beispiel keine Authentifizierung der Videosequenzen statt. Insbesondere die zeitliche und die ästhetische Dimension des Videostils sind hier nicht spezifisch genug ausgeprägt, so dass man vermuten muss, dass die Videosequenzen eine andere Strategie verfolgen. Das Format ähnelt viel eher einer Soap-Opera, in der die Videosequenzen dazu dienen, die Innenperspektive der Figuren zu simulieren. Für alle Genres gilt jedoch: Die Ausweitung der Raum- und Zeitdimension durch die Videosequenzen bringt einen performativen Zugewinn. Die Laiendarsteller der Gerichts-, Ermittler- oder Real-Life-Shows sind nicht ausschließlich auf die Wirkung ihres “freien Rollenspiels” (Meier 2003: 14) angewiesen. Durch die Videosequenzen werden ihre Handlungen mit Sinn und Motivation angereichert. 8. Videostil und Wahrnehmungsmodus Die Anwendung des Videostils mit seinen räumlichen, zeitlichen und ästhetischen Ausprägungen dient in den meisten Sendungen des kommerziellen Tagesprogramms zur Authentifizierung fiktionaler Inhalte. Diese Strategie führt zur Bildung hybrider neuer Formen, in denen die traditionell getrennten Systeme “Fiction” und “Faction” zunehmend vermischt werden. Authentifizierung ist dabei ein Mittel zur Steuerung der Wahrnehmung. Es soll der Der ‘Videostil’ im Fernsehen 201 Eindruck realitätsnaher Darstellung erzeugt werden, auch wenn es sich in der Regel um fiktionale Erzählungen handelt. Hausmanninger (vgl. 2002: 8) ist völlig zu Recht der Ansicht, dass die Muster fiktionalisierender Realitätsinterpretation nicht deutlich genug durchschaubar, sondern eher opak gemacht werden. Der Blick sowohl auf Fiktionalisierung als auch auf Realität werde damit tendenziell verstellt. Hallenberger (vgl. 2004: 179) spricht in diesem Zusammenhang von der Entwicklung einer neuen Art der “Realness”, d.h. es handele sich bei den aktuellen Reality- Formaten weder um traditionelle Fiktionen noch um traditionelle non-fiktionale Formen. Einerseits seien traditionelle Fiktionen im deutschen Fernsehen in einer prekären Situation, da sie vor allem aus Kostengründen von non-fiktionalen Formaten abgelöst werden. Andererseits finde die Fiktionalisierung auf dem Umweg über das Reality-TV wieder ihren Weg ins Programm. Man kann diesen Ansatz noch um die These erweitern, dass die Fiktionalisierung des Reality-TV mit non-fiktionalen Stilmitteln, insbesondere durch den Einsatz des Videostils stattfindet. Anhand der behandelten Beispiele konnte gezeigt werden, dass sich die Videosequenzen in ihrer bildlichen Auflösung deutlich von den Studioteilen absetzen. Es werden Stilmittel verwendet, die dem Journalismus bzw. dem Dokumentarfilm entlehnt sind: Der Einsatz der mobilen Handkamera, die Arbeit mit natürlichem Licht, Unschärfen und Reißschwenks legen die Vermutung nahe, dass man sich von diesen Stilmitteln einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit bzw. Authentizität verspricht. Insbesondere bei Sendungen wie Niedrig und Kuhnt - Kommissare ermitteln, bei denen eine strenge Chronologie eingehalten und durch Textinserts indiziert wird, spricht der Einsatz des Videostils für einen authentischen Anspruch. Der Darstellungsmodus des Authentischen, der hier adressiert wird, behauptet analog zum journalistischen System eine Realität, die über das Medium hinaus geht (vgl. Hallenberger 2004: 173). Selbst wenn am Ende der Sendung Richterin Barbara Salesch darauf hingewiesen wird, dass die Fälle frei erfunden sind, so wird doch behauptet, dass sich eine Gerichtsverhandlung genau so abspielen könnte. Den Zuschauern ist die Unterhaltung wichtiger als die Authentizität. Ich konnte das eigentlich nicht glauben. Aber in den gescripteten Sendungen kann man besser dramaturgische Akzente setzen. Die Unberechenbarkeit, das Unvorhersehbare, der Faktor Mensch, genau das, was den Nachmittagstalk ausmacht, kann im Quotenkrieg gegen Formate, die Echtes vorgeben, aber fiktiv gestaltet werden, nicht bestehen (Arabella Kiesbauer zit. nach Niggemeier 2004: 38). Die Daily Talkshow von Arabella Kiesbauer wurde 2004 zugunsten von Das Geständnis eingestellt. Man muss annehmen, dass der Einsatz des Videostils zur Erzeugung eines authentischen Eindrucks für das Publikum anschlussfähiger ist als eine Diskussionssendung mit offenem Ende. Das gilt scheinbar auch dann, wenn es sich um leicht identifizierbare “Authentizitätsfiktionen” (Schicha 2000: 82) handelt. Diese Auflösung mag eine attraktive, weil beruhigende Wirkung auf das Publikum haben, gleichzeitig werden dabei komplexe soziale Prozesse auf eindimensionale Zusammenhänge reduziert. Im Fall von Britt deckt auf wird beispielsweise suggeriert, dass die Beziehungsordnung zwischen dem ehemaligen Paar Nicole und Patrick und deren Kind dann wieder hergestellt ist, wenn die Vaterschaft auf biologischem Weg geklärt wurde. Nicole Labitzke 202 Literatur (in Auswahl) Borstnar, Nils, Eckhard Papst & Hans Jürgen Wulff 2002: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK Brinker, Klaus 2001: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin: Erich Schmidt Hallenberger, Gerd 2004: “TV Fiction In A Reality TV Age”, in: Studies in Communication Sciences 4/ 1, 169-181 Hattendorf, Manfred 1999: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz: UVK Hickethier, Knut 2001: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart, Weimar: Metzler Karstens, Eric & Jens Schütte 1999: Firma Fernsehen. Wie Sender arbeiten. Alles über Politik, Recht, Organisation, Markt, Werbung, Programm und Produktion, Reinbek: Rowohlt Meier, Oliver 2003: “Im Namen des Publikums. Gerichtssendungen zwischen Authentizität und Fiktionalität”, in: medienheft, 31.03.2003, 1-17 Niggemeier, Stefan 2004: “Fernsehen. Die falsche Realität vom Fließband”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.2004, Nr. 119, 38 Paus-Haase, Ingrid, Uwe Hasebrink, Uwe Mattusch et al. 1999: Talkshows im Alltag von Jugendlichen: der tägliche Balanceakt zwischen Orientierung, Amüsement und Ablehnung, Opladen: Leske + Budrich Renner, Karl N. 2003: Die Ausdruckssubstanz des Fernsehens (unveröffentl. Manuskript), Mainz Renner, Karl N. 2005: “Der Dokumentarfilm”, in: Schleicher & Urban (eds.) Filme machen. Technik, Gestaltung, Kunst, Frankfurt: Zweitausendeins. 333-371 Sanders, Willy 1996: Gutes Deutsch - besseres Deutsch. Praktische Stillehre der deutschen Gegenwartssprache, 3., aktualisierte und überarbeitete Neuauflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Schicha, Christian 2000: “‘Leb so, wie du dich fühlst? ’ Zur Authentizitätsfiktion bei ‘Big Brother’”, in: Weber, Frank (ed.) Big Brother - Inszenierte Banalität zur Prime Time, Münster: Lit, 77-94 Schleicher, Harald & Alexander Urban 2005: “Kamera”, in: Schleicher & Urban (eds.) Filme machen. Technik, Gestaltung, Kunst, Frankfurt: Zweitausendeins, 12-68 o.V. 2005: http: / / www.prosieben.de/ show_comedy/ gestaendnis/ infos/ , 15.10.2005 o.V. 2005: http: / / www.sat1.de/ comedy_show/ niedrigundkuhnt/ , 15.10.2005 Notes 1 Hier steht lediglich die pragmatische Funktion des Videostils im Vordergrund. Es soll dabei nicht ausgeschlossen werden, dass sich derartige Stile, gerade im technischen Medium Fernsehen, auch aufgrund ökonomischer und technischer Bedingtheiten (weiter-)entwickeln. 2 Das Geständnis befindet sich seit dem Sendestart am 30.08.2004 auf dem ehemaligen Sendeplatz der täglichen Talkshow Arabella, in der bereits Vorläufer der heutigen Inszenierungsstragien existierten, z.B. die “Schattenwand” (vgl. Niggemeier 2004).
