eJournals Kodikas/Code 29/1-3

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2006
291-3

Schrift als Schrift im Film

91
2006
Florian Krautkrämer
Der Beitrag untersucht verschiedene Erscheinungsformen von Schrift im Film. Der Schwerpunkt liegt dabei auf nachträglich auf das Filmbild eingeblendeten Wörtern und Sätzen. Drei Erscheinungsweisen stehen besonders im Fokus: die Schrift im Titelvorspann und wie in dieser stark standardisierten Form mittels des überwiegend denotativ arbeitenden Schrifteinsatzes so etwas wie Autorenintention formuliert werden kann; Schrift im so genannten Autorenfilm, in dem die Schrift auf dem Bild gegen die Transparenzillusion des Films angeht; und Schrift im Experimentalfilm und ihr Verhältnis zur einer "Bilderschrift". Es wird die These vertreten, dass verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Schrift und Bild im Film das Filmbild in Wirkung und Wahrnehmung jeweils unterschiedlich strukturieren, und die in den Film transformierte Schrift gerade durch ihre große Differenzqualität zu einem spezifisch filmischen Stilmittel wird.
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Schrift als Schrift im Film Florian Krautkrämer Der Beitrag untersucht verschiedene Erscheinungsformen von Schrift im Film. Der Schwerpunkt liegt dabei auf nachträglich auf das Filmbild eingeblendeten Wörtern und Sätzen. Drei Erscheinungsweisen stehen besonders im Fokus: die Schrift im Titelvorspann und wie in dieser stark standardisierten Form mittels des überwiegend denotativ arbeitenden Schrifteinsatzes so etwas wie Autorenintention formuliert werden kann; Schrift im so genannten Autorenfilm, in dem die Schrift auf dem Bild gegen die Transparenzillusion des Films angeht; und Schrift im Experimentalfilm und ihr Verhältnis zur einer “Bilderschrift”. Es wird die These vertreten, dass verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Schrift und Bild im Film das Filmbild in Wirkung und Wahrnehmung jeweils unterschiedlich strukturieren, und die in den Film transformierte Schrift gerade durch ihre große Differenzqualität zu einem spezifisch filmischen Stilmittel wird. The contribution examines the different manifestations of writing in film. The main emphasis is on words and sentences superimposed over the image, in particular three phenomena and the related problems: Writing in the title-sequence as a highly standardized form and its possible relation to authorship; writing in the so called film d’auteur, in which the writing on the picture works against the film’s illusion of transparency and becomes thus a cinematic means; writing in experimental film and its relation to a “writing in images”. The hypothesis is that different uses of writing and image have as a consequence different structures in cinematic effect and perception. In this context it is exactly the difference between writing and film image which provides writing with a specific filmic and pictorial quality. Mit der Definition des Films als Siebte Kunst 1 sollte der Film von den übrigen Künsten abgrenzt und durch seine Eigenständigkeit im Ansehen aufgewertet werden. 2 Film, das war Bewegung, Geste, Anschauung und Spektakel (cf z.B. Pinthus 1983 [1913]: 20). Und in den 20er Jahren betonte Germaine Dulac immer wieder: “Le cinéma est l’art du mouvement et de la lumière [Herv. F.K.]” (Dulac 1994 [1925]: 61). Nicht die der Buchstaben. Diese erschienen zum einen im Filmbild: Indem der Film die Umwelt abbildet, wie sie ist, tauchen diegetische bzw. dokumentarische Schriften in Form von Reklameschildern, Zeitungen, Briefen usw. auf. Diese intermediale Verschiebung im Film stärkt den Realitätseindruck des filmischen Bildes und ist für die Narration kontinuitätserhaltend. 3 Zum anderen tauchte die Schrift (nach Salt 1992: 59 bereits ab 1901) in Form von Zwischentiteln auf. Obwohl auf und nicht im Bild, arbeitet dieser Schrifteinsatz, wie auch der Untertitel, ebenfalls einer gesteigerten Realitätsillusion zu, indem er sich auf das Gezeigte bzw. Gesagte zu Gunsten einer besseren Verständlichkeit bezieht und ihm unterstellt ist. Ein selbständiger, extradiegetischer Schrifteinsatz hingegen war und ist weitgehend tabu, da man vom Film erwartete, überwiegend visuelle Lösungsmöglichkeiten für die Inhaltsvermittlung anzubieten. Schrift im Film wurde und wird oft nur dort akzeptiert, wo sie aus produktionsrechtlichen Gründen unverzichtbar ist oder zum besseren Verständnis des Inhalts beiträgt, da sie sich den Eigenschaften des Mediums Film wie Unmittelbarkeit, Selbst- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 29 (2006) No. 1 - 3 Gunter Narr Verlag Tübingen Florian Krautkrämer 204 Kameraschwenk: aus ciné wird piscine. Le Nouveau Monde, R: Jean-Luc Godard, aus dem Episodenfilm RoGoPaG (I/ F 1964) evidenz, Bildsprache und Transparenz entgegenstellt. 4 Auf dem Papier, einem tragfähigen Untergrund, ist der Buchstabe meist transparent. In der Bilderwelt Film (transparenter Untergrund) greift er genau diese Illusion an, denn die Lettern verdecken nicht nur das Bild oder den Platz, der dem Bild gebührt, 5 sondern verweisen in ihrer direkten Zuschaueradressierung auch auf das Dispositiv, bei der Gestaltung des Bildes ist man ansonsten bemüht, zu suggerieren, dass das ganze Spektakel eben nicht speziell für den Zuschauer hergestellt ist. Aber auch dokumentarische Schriftzüge können extradiegetischen Charakter besitzen und somit direkt auf einen Autor verweisen: Z.B. wenn ein Graffiti im Bildhintergrund scheinbar die Handlung kommentiert oder Godard in “Le Nouveau Monde”, seiner Episode des Kompilationsfilms RoGoPag (I/ F 1964) durch einen Schwenk nach links aus dem Wort ciné das Wort piscine werden lässt. Und bei den Untertiteln sei noch darauf hingewiesen, dass sie ein hohes Maß an technischer Perfektion erfordern, um uns zu suggerieren, den fremdsprachlichen Versionen eines Films scheinbar mühelos folgen zu können. So erinnern weiße Untertitel auf Schnee den Zuschauer/ die Zuschauerin schlagartig an sein/ ihr fremdsprachliches Unvermögen. Und die eindeutige Untertitelung einer im Original akustisch schlecht verständlichen Passage verdeutlicht die privilegierte Situation des OmU-Publikums. 1. Vorspann Der Film wurde schon früh als neue und universelle, als ideogrammatische Sprache und/ oder Schrift aufgefasst, mit der man ein internationales und analphabetisches Publikum zu erreichen hoffte. Die natürliche Logik des Visuellen und seine Eindeutigkeit, die der Film ausstrahlte, veranlasste Kuleshov zu dem Ausspruch: “The shot should act as a sign, as a letter of the alphabet” (Kuleshov [1929] 1974: 62). Dass Zwischentitel dabei nicht visuellen Lösungen vorgezogen werden durften, darüber war man sich weitgehend einig. Ab den zehner Jahren mehrten sich die Stimmen derjenigen, die einen zu häufigen und auffälligen Gebrauch von Zwischentiteln zugunsten der modernistischen Theorie des reinen Mediums kritisierten. Victor Pordes wollten gar jeglichen Buchstaben aus dem Film bannen und forderte 1919 in seinem Buch “Das Lichtspiel: Wesen, Dramaturgie, Regie”, außer der knappen Titel- und Aktenangabe alles andere, also: die Angabe des Autors, des Regisseurs, […], das Personen- und Schauspielverzeichnis aus dem Film selbst in das gedruckte Programm [zu, F.K.] verweisen. Dem Film selbst bleibe womöglich nur die lebendige Handlung. Das erläuternde Beiwerk gehört in den gedruckten Zettel, teilweise in das Plakat. […] Auf dem flimmernden Film selbst wirkt es zugleich starr und störend (Schaudig 2002: 169). Schrift als Schrift im Film 205 Ein idealistischer Wunsch, denn die Industrie sah sich zunehmend gezwungen, immer mehr Namen Beteiligter vor dem Film zu nennen. In das selbe Jahr wie Pordes Forderung fällt auch die Gründung der bekanntesten und bis heute arbeitenden Titelproduktionsfirma “Pacific Title”. Waren die Vorspänne zu Beginn meist nur einige Tafeln lang und der Abspann unüblich, so ließ die die immer wichtiger werdende Vermarktung von Stars, Regisseuren und Autoren, sowie die Organisation der in den Studios Angestellten in Berufsverbänden und Gewerkschaften die Liste der im Film zu nennenden Namen beständig länger werden. In der Folge führte das dazu, dass Title-Designer alles daran setzten, die Titel eben nicht starr und störend, sondern angenehm bewegt zu gestalten, um den Zuschauer am Eintritt in die Fiktion möglichst kurzweilig zu hindern. Animierte Titelsequenzen können Bedeutung durch Gestaltung, Bewegung, Rhythmus, etc. erzeugen. Dabei wird die Schrift entweder klassisch animiert und/ oder mit Zeichnungen kombiniert. Häufig werden die animierten Titel zusätzlich über speziell hierfür gedrehte Sequenzen gelegt, deren sehr ausgearbeitete eigene Ästhetik sich von den folgenden Filmbildern deutlich abgrenzt. Star dieser Art von Titelsequenzen ist Kyle Cooper, der den inzwischen oft imitierten Vorspann von Se7en (David Fincher, USA 1995) gestaltet hat. Nicht ohne Grund geht der Titelsequenz ein Intro voraus, dass diese selbst wie einen Traum einführt: die Kamera fährt auf das Gesicht des einschlafenden Somerset (Morgan Freeman), und an der Stelle, an der man den Traum erwarten würde, der sich im Film ebenfalls oft durch eine auffällige Ästhetik abgrenzt, erscheint: die Titelsequenz. Es ist sehr materialbezogener Traum, der durch Kratzer, Blitzer und Insignien des Filmleaders wie Kreuze und Zahlen auf das Filmmaterial verweist. Die Bilder, über die die Titel gelegt wurden, zeigen nur Großaufnahmen. Alles in allem ein starker Kontrast zu dem ansonsten klassisch gehaltenen Film. 6 Ironischerweise beginnt die Titelsequenz jedoch selbst ganz klassisch: mit der seitlichen Großaufnahme eines aufgeblätterten Buches. Titelsequenzen, die ähnlich einem Videoclip eine sehr ästhetische Mischung aus realem Filmbild, Schrift und Musik sind, bilden ein einheitliches Ganzes, das meist emotional, selten inhaltlich und fast nie ästhetisch den kommenden Film vorbereitet. Indem man die Schrift deutlich mit “filmischen” Mitteln, wie Animation eigentlich unbewegter Gegenstände, Montage, Rhythmus usw., bearbeitet, entschuldigt man sich sozusagen für den Gebrauch der Schrift. Ein materialbezogener Traum: der Titelvorspann aus Se7en (David Fincher, USA 1995; der Titelvorspann ist von Kyle Cooper) Florian Krautkrämer 206 Schleichende Einbrecher und Credits: aus dem Titelvorspann zu Desperate Measures (Barbet Schroeder, USA 1998; der Titelvorspann ist von Robert Dawson) 1.1 Eingeschlichen Selten wird jenen Credits Beachtung zuteil, die (scheinbar) über die ersten Bilder der Diegese gesetzt sind, weil die Schrift in ihrer Flächigkeit das Bild in seiner Tiefe zu stark kontrastiert und teilweise zudeckt. Diese Titelsequenzen gelten dann oft als Negativbeispiel, da der Schrift nicht genügend Aufmerksamkeit durch eine entsprechend aufwändige Gestaltung zu Teil wurde. Grenzt sich die Ästhetik der Titelsequenz nicht klar vom folgenden Film ab, müssen sich die Titel ins Bild “einschleichen”, damit ihre Bedeutung - nämlich Indiz für die Herstellung des Films zu sein 7 - nicht die Fiktion, die die Bilder versprechen, stört. In Desperate Measures (USA 1998) von Barbet Schroeder schleichen die Credits “buchstäblich”. In der knapp fünf Minuten langen Vorspannsequenz sieht man Frank Conner (Andy Garcia) in eine Datenbank einbrechen, um geeignetes Spendermaterial für seinen todkranken Sohn zu finden. Die Szene unterscheidet sich ästhetisch nicht von denen des nachfolgenden Films, ist allerdings viel ausführlicher gehalten, als ihr Inhalt es rechtfertigen würde. Während der Sequenz sieht man die Titel auf dem Fußboden, an Wänden und Türen entlang fahren, unter, neben oder vor den Protagonisten. Die Titelgestaltung ist zwar recht eindrucksvoll gelöst, die Heimlichkeit, die sie ausdrückt, aber für die folgende Geschichte ohne Belang, da schon bald mit offenen Karten gespielt wird, und das bedeutet für einen Film wie Desperate Measures: Action, Verfolgung und Kampf. Paradoxerweise wird das Verstecken der Schrift im Bild gerade durch ihr Einschleichen zunichte gemacht, da die auffällige Gestaltung dieser Titel die Aufmerksamkeit der Zuschauer eher an sich bindet, als eine unattraktive über das Bild gesetzte Variante. Schrift als Schrift im Film 207 Vermischte Gene, vermischte Medien: aus dem Titelvorspann zu Hulk (Ang Lee, USA 2003; der Titelvorspann ist von Garson Yu) Die Praxis, die Titel in die Tiefe des Bildes zu integrieren, hat seit kurzem auch auf Grund der verbesserten digitalen Möglichkeiten stark zugenommen, wobei sich in der Gestaltung durchaus inhaltliche Bezüge erkennen lassen. So etwa (auf minimaler Basis) in dem amerikanischen Spielfilm Hulk (Ang Lee, USA 2003), in dem die Credits optisch durch an ihnen “vorbei” gezogene Reagenzgläser und ähnliches gebrochen werden. Wie hier Bild und Schrift ineinander konvergieren, sind auch die Gene von Bruce “Hulk” Banner (Eric Bana) ein Hybrid von menschlichen und tierischen Eigenschaften. Eine inhaltsbezogene Interpretation des Vorspanns setzt zudem oft die Kenntnis des Films zumindest in der Zusammenfassung voraus oder erfolgt erst retrospektiv. Die Schrift-Bild- Gestaltung kann aber auch dahingehend produktiv sein, das Publikum auf bestimmte Elemente des Films zu sensibilisieren: Die Eröffnungssequenz von The Day After Tomorrow (Roland Emmerich, USA 2004) zeigt den Flug über ein Eismeer und eine riesige Eisscholle hin zur Forschungsstation von Jack Hall (Dennis Quaid). Die Credits sind im unteren Bilddrittel platziert und fliegen leicht nach hinten geneigt, Plastizität suggerierend, mit. Dabei werfen sie einen Schatten auf das Eis, der sich auf den zahlreichen Unebenheiten genau so bricht, wie sich ein “echter” Schatten brechen würde. Und die Strahlen der tief stehenden Sonne färben die Titel in realistischem Winkel rot. Die Schrift ist im Bild. Das Medium (hier: die Schrift) als Dazwischen, zwischen Natur und dem Publikum, wird im Folgenden fortgeführt: eine Vielzahl der Ereignisse, die durch die plötzlich hereinbrechende neue Eiszeit geschehen, werden dem Zuschauer vermittelt, indem die Protagonisten sie sich im Fernsehen anschauen, ein Gestaltungsmittel, aus dem der Film einen großen Teil seiner Spannung bezieht, da er dadurch auf ganz reale Erfahrungen des Kinopublikums anspielt: sich Naturkatastrophen im Fernsehen anzusehen. 1.2 Zugedeckt Dass auch das “Zudecken” der Bilder im Vorspann durchaus ergiebig sein kann, zeigt das Beispiel The Naked Kiss von Sam Fuller (USA 1964). Nach den ersten drei Titelkarten mit Florian Krautkrämer 208 Doppelte Zuschaueradressierung: aus dem Titelvorspann zu The Naked Kiss (Sam Fuller, USA 1964; der Titelvorspann ist von Pacific Title) Der klassische Vorspann: aus The African Queen (John Huston, USA/ GB 1951) den Production-credits beginnt der Film unvermittelt mit einem Kampf zwischen einer Frau und einem Mann. Die Kamera zeigt dabei das Geschehen jeweils aus der Subjektive der Kämpfenden. Nachdem der Mann bewusstlos geschlagen wurde, tritt die Frau vor einen Spiegel und beginnt sich wieder herzurichten und zu schminken. Dabei nimmt die Kamera die Position des Spiegels ein, so dass die Frau direkt in die Kamera, in das Publikum blickt. Die Titel werden dabei mit einem leichten Schatten über das ganze Bild gesetzt. Der lange und bedrohliche, das Publikum fixierende Blick der Hauptdarstellerin Constance Towers verhindert nachhaltig die Identifikation mit ihr. Er wäre in seiner Länge (zwei Minuten, gesamte Dauer der Vorspannsequenz: viereinhalb Minuten) nur schwer vorstellbar ohne die “Rechtfertigung”, die die Credits dafür bieten. Gleichzeitig wird der Tabubruch des Blicks in die Kamera abgeschwächt, indem diese dominant über dem Bild stehen und nicht etwa dezent am Bildrand platziert werden. Hierdurch fallen allerdings zwei sehr direkte Zuschaueradressierungen zusammen, was die Vermutung zulässt, dass der Film im Folgenden die Perspektive und den Blick Kellys (Constance Towers) aufnimmt, und seine Kritik an der Moral amerikanischer Kleinbürger der 60er Jahre nicht nur an die Personen der Diegese richtet, sondern auch an das Publikum, 8 was Fuller in Interviews durchaus bestätigte. 9 Es gibt zahlreiche Filme, in denen die Credits schnörkellos über die Bilder gesetzt werden, als notwendiges Übel. Fullers Film hingegen zeigt die besondere Bedeutung, die die Verbindung von Schrift und Bildhintergrund im Film entfalten kann. Bei der Betrachtung von Schrift im Film steht immer auch die Betrachtung des Schrifthintergrundes im Vordergrund. Es ist hier eben nicht wie so oft irgendeine Landschaft oder dergleichen, die mit den Titeln zugedeckt wird. Schrift als Schrift im Film 209 2. Extradiegetischer Schrifteinsatz Neben den produktionsrechtlichen Zwängen im Vor- und Abspann ist die Schrift im Film der Diegese ansonsten untergeordnet: Sie übersetzt im Zwischen- und Untertitel und trägt ebenfalls im Zwischentitel oder in eingeblendeten Angaben zu Ort und Zeit zum besseren Verständnis der Handlung bei. Das Erscheinen eines in erster Linie nicht diegetisch motivierten Schrifteinsatzes, von Buchstaben, die unabhängig vom semantischen Feld des Textes oder Bildes erscheinen, ist vor allem bei einigen Regisseuren des Autorenfilms zu finden. Besonders Godard hat in seinen Filmen exzessiv Wörter in Konkurrenz zum Filmbild treten lassen. Er nutzt dabei die Differenzqualität der Schrift, um die Ideologie des Bildes zu kritisieren. Damit reiht sich diese “Technik” in die vielen weiteren Stilmittel seines Werkes ein, die er zum Angriff auf die Transparenzillusion benutzt, z.B. den Jump-cut oder die “falsche” Kadrierung und Belichtung. Godards Einsatz dieser Stilmittel bezeichnet Deleuze als ein “Stottern”: “Nicht im Sprechen zu stottern, sondern in der Sprache selbst. Im Allgemeinen kann man Fremder nur in einer anderen Sprache sein. Hier dagegen geht es darum, Fremder in der eigenen Sprache zu sein” (Deleuze 1993, 58). Godard nutzt den Differenzcharakter der Schrift als Instrument der Filmbildkritik. Gerade unter dem intermedialen Aspekt sehr interessant ist der Beitrag Photos et Cie, der Teil Nr. 3a der von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville realisierten TV-Mini-Serie Six Fois Deux. Sur et sous la communication (F 1976) ist. Hier wird das Format der Zeitung und Illustrierten imitiert, mit dem Ziel, hierfür gleich Verbesserungsvorschläge mitzubringen. Godard und Miéville kritisieren die Politik der Bilder, der Fotografen und Medien, die mit den Fotoreportagen Geld verdienen. Ihrer Meinung nach müsste ein verantwortungsvoller Journalismus die Trennung von Text und Bild aufheben und über die Bilder schreiben. 10 Und in Photos et Cie demonstrieren Godard und Miéville dieses Verfahren, indem sie einzelne Wörter und Sätze über die gezeigten Fotos und Filmausschnitte schreiben. Die Worte werden mittels eines Telestrators auf das Filmbild gebracht, d.h. man sieht die Wörter handschriftlich über dem Bild entstehen. Zudem funktioniert der Telestrator wie ein Wunderblock, über ein und demselben Bild können die Wörter einfach wieder weggelöscht und neue geschrieben werden. Relativ am Anfang der Episode steht das Foto einer öffentlichen Hinrichtung im Pakistan- Krieg, für das der Fotograf mit einem Preis ausgezeichnet worden ist. Man sieht darauf, wie Photos et Cie, R: Jean-Luc Godard & Anne-Marie Miéville, aus der TV-Mini-Serie Six Fois Deux. Sur et sous la communication (F 1976) Florian Krautkrämer 210 mehrere Soldaten, umringt von einer großen Menschenmenge mit Bajonetten auf Gefangene einstechen. Das Foto bleibt circa 10 Minuten bildschirmfüllend stehen, während aus dem Off der Fotograf relativ sachlich über seine Arbeit spricht. Inhaltlich geht es Godard/ Miéville, wie auch in anderen Filmen von Godard, um den Aspekt der Arbeit. Sie stellen die Arbeit der Soldaten der Arbeit des Fotografen gegenüber und ziehen dadurch die Parallele, dass beide aufgrund des Todes der Gefangenen bezahlt werden. Formal versuchen sie, im Fernsehen das Format der Illustrierten oder Zeitung nachzuahmen: sie lassen das Foto ungewöhnlich lange stehen, so lange, dass man beim ersten Sehen nicht mehr sagen könnte, ob es für den Rest der Folge stehen bleibt oder irgendwann wechselt. Damit verweisen sie auf einen grundlegenden Unterschied von Fotografie (und Print im Allgemeinen) zu Film/ Video: die Zeitlichkeit. Gegen Ende dieser Sequenz verdeutlichen sie außerdem, dass die Arbeit des Fotoredakteurs der der Montage im Film ähnlich ist: Der Fotograf spricht davon, dass die Leser sich wahrscheinlich sein Foto ansehen, betroffen sind und dann auf die nächste Seite zu Brigitte Bardot blättern. Und Godard/ Miéville schneiden an diese Stelle für einige Sekunden das Foto von drei fast nackten Models. Ein gesprochener Kommentar ist nicht mit einem gedruckten Text zu einem Foto zu vergleichen. Das Konzept des Schreibens über den Bildern 11 wird auf das Format des Fernsehens/ Films übertragen, indem nicht der ganze Kommentar des Fotografen über das Bild gescrollt wird, sondern nur einzelne Worte über das Bild geschrieben werden. Dabei ist die Schrift in Gestaltung und Positionierung recht einfach gehalten. Die Worte erscheinen in der Godard-typischen Handschrift, die eben die Arbeit, das Individuelle und den Akt des Schreibens betonen soll. Godard schreibt über die Bilder, “um uns zu helfen, sie zu hören” (Silverman/ Farocki 1998: 142). Zeigte man zehn Minuten lang nur das Foto mit dem Kommentar im Off, wäre zu befürchten, dass sich beim Zuschauer/ bei der Zuschauerin eine Art “Tunnelblick” einstellte, so dass sich aufgrund des gleich bleibenden Bildes das Interesse schnell auf den Kommentar konzentrieren würde. Es ist hier die Schrift, die die Aufmerksamkeit am Bild festigt und sozusagen als Klebstoff immer wieder Bild und Ton zusammenbringt, indem sie den Kommentar wortwörtlich auf das Bild bezieht: der Zynismus, der entsteht, wenn der Fotograf von der Unerträglichkeit der Hitze und der besten Belichtungsdauer redet, während man das Bild der Ermordeten sieht, wird zusätzlich gesteigert, wenn Godard Wörter wie “tranquille” aus dem Kommentar herausgreift und auf das Bild bezieht. Einzelne Wörter werden zudem an unterschiedlichen Orten platziert, so die Wörter “faible”, und “moi” jeweils direkt über einem am Boden liegenden Opfer. Und wie eine Beschwörungsformel schreibt Godard das Wort “photo” immer wieder über das Bild (7 mal bei 44 insgesamt ausgeschriebenen Wörtern). Aber noch etwas wird deutlich: Denn bei der filmischen Präsentation von Godards Vorschlag für einen besseren Journalismus filmen er und Miéville nicht ein Foto ab, auf das geschrieben wurde, was durchaus ein Merkmal Godardscher Filmpraxis der späten 60er und der 70er Jahre ist. Schrift, die nachträglich auf ein Foto aufgetragen wird, kann das darunter liegende Bild kritisieren oder bedrohen, sie macht eine zusätzliche Ebene auf, die dem Betrachter sozusagen eine “manipulierende” Hand verdeutlicht, die im so genannten “objektiven” Nachrichtenstil allzu oft übersehen wird. Das einfache Abfilmen einer auf solche Art beschrifteten Fotografie würde dieses dekonstruktivistische Element zum Verschwinden bringen, da das Foto und die zweite Schicht der Schrift auf ihm zusammenschmölzen zu der Hintergrundebene des Abbilds im Film. Um den Effekt der Mehrschichtigkeit zu bekommen, muss analog zum Beispiel mit dem beschrifteten Foto, die Schrift nachträglich auf den Film Schrift als Schrift im Film 211 oder das Video aufgetragen werden. Im Beispiel von Godard/ Miéville passiert dies ganz deutlich, da man sieht, wie die Wörter in handgeschriebener Schreibschrift entstehen. Der digitale Film hat mehr noch als sein analoger Vorgänger die Möglichkeiten, Bilder in schier unendlichen Schichtungen übereinander zu häufen und zu bewegen. Die einzelnen Bildtypen mit unterschiedlichen Wirkungen und räumlichen Tiefenillusionen können dabei zu verschiedenen Ebenen auf dem Film/ Video werden. Ein zum Bild und/ oder Ton konträr verlaufender Schriftzug vermag sich dabei aufgrund seiner direkten enunziativen und ansprechenden Form meist in der vordersten Ebene ansiedeln und die darunter liegenden Schichten auf eine Hintergrundebene reduzieren. Gerade im Film, wo man darauf achtet, dass es eben nicht so erscheint, als wäre das Geschehen nur für die Kamera, also das Kinopublikum, entstanden, hebt sich Schrift, die sich dezidiert an jede/ n Zuschauer/ in wendet, dadurch deutlich von den anderen Elementen ab. Im dargelegten Beispiel von Godard/ Miéville wiederholt der Schriftzug die Worte des Kommentars, wird aber trotzdem aufgrund des Konzepts zu einem bildkritischen Stilmittel. In den neueren Arbeiten Peter Greenaways dagegen - insbesondere in seinem neuesten Zyklus The Tulse Luper Suitcase (GB u.a. 2003/ 04) - geben die über das Bild geblendeten Schriftzüge zwar auch meist die auf der Tonspur gesprochenen Worte wieder, fügen sich aber ganz anders als in Photos et Cie ästhetisch in die Bilderkompositionen ein. Greenaway behandelt die Schriftzüge in seinen multi-layer-Filmen meist als zusätzliches kompositorisches Bildelement, das trotz des Raumes, den es auf der Leinwand und zwischen den anderen Bildern und Effekten einnimmt, gar nicht unbedingt gelesen werden soll (und auch nicht wird, da sie keine zusätzlichen inhaltlichen Informationen enthalten). Die Schrift wird somit zu einem rein ästhetischen Stilmittel, zu einer weiteren Ebene, letztendlich zum Bild. Der Vergleich der Arbeitsweisen Greenaways und Godards und die Beobachtungen des Naked-Kiss-Vorspanns legen die Vermutung nahe, die Schrift im Film störend oder irritierend einzusetzen und ihr nicht den Schrift-Charakter zu nehmen, soll sie als inhaltlich relevantes Stilmittel oder im Sinne einer Artikulation der Autorenintention genutzt werden. 3. Experimentelle Schriftfilme Die hier vorgestellten Überlegungen richten sich auf einen ganz bestimmten Aspekt des filmischen Stilmittels Schrift: eine inhaltliche Artikulation, die nicht durch Worte oder typographisch formulierte Inhalte, sondern durch die Verknüpfung der beiden Zeichensysteme Bild und Schrift entsteht. Die Darstellung des hoch standardisierten Vorspanns, in dem der für die Narration relevante inhaltliche Wert der Worte gegen Null geht, hat dies gezeigt. Die Wahrnehmung der Schrift als Medium hat mit Irritation zu tun. Im Bilduniversum Film auftauchende Schrift bricht die filmische Transparenzillusion in dem Maße, in dem sie auch auf sich selbst verweist, also weder Bild noch Substitut für fehlende Tonspur oder Synchronisierung ist. Der Grad der Irritation bemisst sich nach der Differenz zwischen Schrift und Schrifthintergrund. Aber welche Rolle nimmt die Schrift im Experimentalfilm ein, wo das Bildmaterial selbst schon den Sehgewohnheiten entgegen wirkt? Die Beispiele für eine Auseinandersetzung der Medien Bild und Schrift im Film sind in diesem Bereich rar. 12 Die am weitesten verbreitete Haltung der Schrift im Film gegenüber war und ist hier teilweise immer noch von den eingangs kurz skizzierten medienimmanenten Definitionen der Avantgarde Florian Krautkrämer 212 geprägt. Deutlich schlägt sich diese Ansicht in den Werken von Stan Brakhage und Peter Kubelka nieder, die ihre Namen und den Titel des Films meist nur einige Kader lang in das Filmmaterial einritzten und es somit auch signierten. 13 Da der Experimentalfilm eher als ein Bestandteil der Bildenden Kunst gesehen wird, als dass er ein filmisches Genre darstellt, setzte man sich auch auf der Basis des Bildes mit den übrigen Filmformen auseinander, anstatt mit Schrifteinsatz zu experimentieren. Erst in der Videokunst seit den 60er Jahren haben Mischungen von Schrift und Bild stark zugenommen. 14 Oft handelt es sich dabei um Schrift, die sich nicht selten wie ein Teppich über das Bild legt, es zerschneidet und durch die konzeptionelle Anordnung doch nicht inhaltlich rezipierbar ist. Hinzu kommt bei diesem “Genre” der sehr zeichenbetonte Umgang mit dem Filmbild. Hier herrscht oft noch die Idee einer Bilder- und Tonschrift vor, bei der die einzelnen Zeichen gedeutet werden müssen, damit der Gesamtzusammenhang erschlossen werden kann. Schrift, die dann noch über diese Bilder gesetzt wird, tritt mit den Bildern in Konkurrenz. Obwohl sie sich nicht ästhetisch einfügt, also nicht zum Bild wird, agiert sie mit der “Bilderschrift” parallel und nicht hierarchisch strukturierend, so dass man sich bei der Betrachtung dazu gezwungen fühlt, zwischen den beiden Ebenen zu wählen. Ein frühes, nicht ganz ironieloses Beispiel ist Marcel Broodthaers Installation Le Corbeau et le renard (Belgien 1967). Sie besteht aus einer Schachtel, in der sich eine Filmspule, eine bedruckte Leinwand sowie einzelne, mit Schrift bedruckte Bilder befinden. Wie man diese Gegenstände anordnet und gebraucht, bleibt dem Besitzer/ Kurator selbst überlassen, Broodthaers hat dezidiert keine Anleitung beigelegt, da das Expanded Cinema, dem diese Installation zuzurechnen ist, eine Bewegung war, die es nicht mehr als gegeben ansah, dass sich die Leinwand vorne, der Projektor hinten und in der Mitte das “passive” Publikum befand. Wenn man die Gegenstände nun aber ihrer gewöhnlichen Lesart gemäß benutzt, wird man den Film auf die Leinwand projizieren und die Bilder daneben an der Wand befestigen. Dabei wird ein Film als Loop (da es eine Installation ist) auf eine mit Worten bedruckte Leinwand projiziert. Die Bilder in dem Film auf bedruckter Leinwand: Le Corbeau et le Renard, Installation von Marcel Broodthaers (Belgien 1967) Schrift als Schrift im Film 213 Film scheinen inhaltlich sehr aufgeladen, einzelne Objekte sind zu sehen, u.a. auch das Foto von René Magritte. Die Montage greift dabei nicht als ordnendes Prinzip ein, sondern arrangiert die Bilder quasi nebeneinander. Zudem gibt es auf und hinter den Objekten - also mit ihnen abphotographiert - aber auch auf dem Film selbst Schrift zu sehen, die sich typographisch nicht von der auf der Leinwand unterscheidet. Alle Textfragmente beziehen sich auf zwei Texte von Broodthaers, wovon sich der eine auf die Fabel von La Fontaine bezieht, und der andere typographische Beschreibungen wiedergibt. Beide Texte bleiben aber bruchstückhaft. 15 Die Schnittfolge ist sehr schnell, so dass Gegenstände, Worte und einzelne Buchstaben zwar erkennbar bleiben, aber in der räumlichen Anordnung nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden sind. Ob die Schrift mit den Gegenständen abgefilmt oder nachträglich hinzugefügt wurde, ob sie also dokumentarischen oder auktorialen Charakters ist, kann oft nicht eindeutig bestimmt werden. Zusammen mit der bedruckten Leinwand entsteht der Effekt, dass man aufgrund des Loops und der permanenten Präsenz des Filmbildes nicht mehr unterscheiden kann zwischen Schrift im Bild, auf dem Bild und unter dem Bild, also auf der Leinwand. Das Auge, das darauf giert, sich durch die Textfragmente den Sinn des Films zu erschließen, springt zwischen den (mindestens) drei Ebenen der Installation hin und her, ohne Bild, Schrift und Leinwand wirklich voneinander unterscheiden zu können. Ziel der Installation war für Broodthaers, seine Gedichte in eine Art Gedicht-Kunstwerk zu transformieren, was für ihn nur durch eine vollständige Schrift-Bild-Vermischung geschehen kann: J’ai repris le texte de La Fontaine et je l’ai transformé en ce que j’appelle une écriture personnelle (poésie). Devant la typographie de ce texte, j’ai placé des objets quotidiens (bottes, téléphone, bouteille de lait) dont la destination est d’entrer dans un rapport étroit avec les caractères imprimés. C’est un essai pour nier autant que possible le sens du mot comme celui de l’image. Le tournage terminé, je me suis aperçu que la projection sur l’écran normal, c’est-à-dire la simple toile blanche, ne reflétait pas exactement l’image que je voulais composer. L’objet restait trop extérieur au texte. Il fallait pour intégrer texte et objet que l’écran soit impressionné par les mêmes caractères typographiques que ceux du film. Mon film est un rebus qu’il faut avoir le désir de déchiffrer. C’est un exercice de lecture. (Broodthaers 1997: 59) Der Beginn der “Leseübung” ist der Aufbau der Installation, das Arrangieren der Zeichen, was nichts anderes als Lesen ist. Aber die Grenzen dieser Zeichen werden bei der eigentlichen Leseübung dermaßen ausgedehnt, dass sie ineinander fallen. Durch den “Versuch, sowohl Bild als auch Wort so wenig wie möglich Sinn zuzugestehen,” gibt es nur noch Schichten in der vordersten Ebene, selbst die Leinwand fällt als integrierende Hintergrundebene aus. 16 Das die Schichten strukturierende Prinzip der Schrift im Film wird hier unterlaufen. Dieses ist ihr nur zu eigen, wenn das Filmbild als Bild, und die Filmschrift als Schrift gesehen werden (können). Eine zeichenbetonte Untersuchung der Schrift im Film kommt zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um mehr als bloß die Abbildung eines Zeichensystems in einem anderen handelt. Der Einsatz der Schrift als Schrift kann unabhängig von ihrem originären Inhalt den Film in Wirkung und Wahrnehmung neu strukturieren. Großes Potenzial liegt dabei sicherlich im Brechen der Transparenzillusion des Mediums Film, weshalb die Schrift als filmfremdes Element abgelehnt worden ist und wird. Auch im Vergleich zu anderen Variationen auf das Dispositiv Film zu verweisen, wie der Blick in die Kamera oder das Zeigen des Apparates, werden die Möglichkeiten dieses intermedialen Gefüges deutlich. Es ändert sich nicht nur das Florian Krautkrämer 214 transferierte Medium Schrift, sondern eben auch die Hierarchie der einzelnen Komponenten und die Rezeption des Films. Das paradoxe Resultat ist, dass gerade das, was als filmfremd an der Schrift bezeichnet wird, den Schrifteinsatz zu einem filmischen und nicht bloß ästhetischen Stilmittel werden lässt. Literatur Broodthaers, Marcel 1997: Cinéma, (Katalog, Fundació Antoni Tàpies and Leopold en Zonen (eds.)), Barcelona: Fundació Antoni Tàpies Canudo, Ricciotto 2003: L’Usine aux Images, Paris: Seguier Deleuze, Gilles 1993: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Dulac, Germaine 1994: Ecrits sur le Cinéma (1919-1937). In: Hillairet, P. (ed.), Paris: Paris Expérimental Egoyan, Atom & Ian Belfour 2004: Subtitles. 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Vom filmischen zum elektronischen ‘Schreiben mit Licht’ oder ‘L’image menacée par l’écriture et sauvée par l’image même’.” In: Wetzel, Michael und Wolf, Herta (eds.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München: Fink, 213-234 Pinthus, Kurt [1913] 1983: Das Kinobuch, Frankfurt/ M.: Fischer Salt, Barry 1992: Film Style and Technology: History and Analysis, London: Starword Schaudig, Michael 2002: “,Flying Logos in Typosphere’ Eine kleine Phänomenologie des graphischen Titeldesigns filmischer Credits” in: Hans-Edwin Friedrich / Uli Jung (eds): Schrift und Bild im Film, Bielefeld: Aisthesis 2002, 163-184 Server, Lee 1994: Sam Fuller. Film is a Battleground, Jefferson: McFarland Silverman, Kaja und Farocki, Harun 1998: Von Godard sprechen. Berlin: Vorwerk 8 Schröter, Jens 1998: “Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs” in: montage/ av, 7/ 2/ 1998: 129-154 Wehde, Susanne 2000: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen: Niemeyer Notes 1 Nämlich 1911 von Ricciotto Canudo: “Il Manifesto delle Sette Arte” übersetzt in Canudo (2003). 2 Siehe auch: Lindsay 1916: 159: “It is a principle of criticism, the world over, that the distinctions between the arts must be clearly marked, even by those who afterwards mix those arts.” 3 Interessanterweise hat der Kameramann Hans Fromm im Berlinale-Interview erzählt, er hätte in Christian Petzolds Film Gespenster (2005) versucht, eine konzentrierte Atmosphäre zu schaffen und dabei vor allem darauf geachtet, dass keine Schrift im Hintergrund auftaucht. 4 Das gilt nicht für das Fernsehen, wo Programmankündigungen und Gewinnspiele am oberen und unteren Rand des Bildes entlang flimmern, der lange Zeit den Schwarzen Balken vorbehalten war. Die Transparenzillusion des Fernsehens ist in diesem Fall der Flow, der damit aufrechterhalten werden soll. (Der Flow ist das, was das Schrift als Schrift im Film 215 Fernsehen insgesamt ist: Ein großer Text, der in Programmzeitschriften strukturiert zu schein scheint, und in dem die TV-Anstalten versuchen, ein eigenes Flowing zu erreichen, indem sie versuchen, die Sendungen aufeinander abzustimmen.) 5 In einer Zeitschrift beispielsweise kann über die Bilder geschrieben werden, wohingegen man im Film nicht nicht über die Bilder schreiben kann. Es gibt dort in der Erwartungshaltung der Zuschauer nicht den Platz, der für die Schrift reserviert wäre wie in der Zeitung, man schreibt immer über die Leinwand, das Filmbild, auch wenn es gerade schwarz ist. 6 Auch inhaltlich: laut Kyle Cooper wollte man mit dem Vorspann das Innenleben des Serienkillers visualisieren - der Film erzählt aber konsequent aus der Perspektive der Ermittler. Für eine ausführlichere Interpretation des Vorspanns siehe auch: Krautkrämer (2006) 7 Und Aussage über den an dieser Stelle besonders durchschimmernden Produktionsprozess, der Rest der Vor- Schrift (cf. Flusser 1992: 120), die die Produktion des Films, vom ersten Exposé bis hin zum Drehbuch und den Verträgen, motiviert hat und sich noch über die Bilder gerettet hat. 8 Kelly (Constance Towers), eine ehemalige Prostituierte, versucht in einer Kleinstadt ein neues Leben anzufangen und arbeitet als Krankenschwester in einem Heim für körperlich behinderte Kinder. Als sie herausfindet, dass der Mann, der sie heiraten möchte und der ein sehr angesehener Bürger ist, Kinder missbraucht, erschlägt sie ihn im Affekt. Als die Einwohner von ihrer Vergangenheit erfahren, möchte ihr jedoch niemand Glauben schenken, obwohl sie bis dahin ein recht gutes Ansehen in der Kleinstadt genoss. 9 “What interested me was the type of mentality found in many small towns in the United States. And the people they look up to and the people they look down at.” In der Vorspannsequenz blickt die Prostituierte auf das Publikum herunter! Fuller weiter: “And I have one of those local heroes who’s the son of the mayor or the bank president and he’s rich and a war hero, and they don’t know that the sonofabitch is a child molester. The man they all look up to is the lowest of the low. And the one they despise, the hooker, is above him. They’re hypocrites. And I have a speech in there at the end where she tells them what they are, she rubs it in so they know it. And the theater owners wanted this speech out. They said, ‘You don’t need that speech.’ I said, ‘I think I do.’ They said, ‘We’re not going to be able to go all out for this picture with that speech in there. People aren’t going to want to hear this speech, because it’s about them’” (Server 1994, 48). In keiner der heute noch erhältlichen Versionen des Films ist diese Rede am Schluss noch zu finden, ihre Funktion hat aber der Vorspann übernommen. 10 “[Der Journalist, F.K.] hätte die Möglichkeit, und sogar eher als das Kino, das sich die journalistische Arbeit und die Fernseharbeit nutzbar machen müsste, Schrift und Fotografie zu mischen, und zwar so, wie es mit den Händen leicht zu machen ist. Denn ein Layout macht man mit den Händen. Die Seite ist der Kader, und wenn man sie umwendet, entsteht ein Gefühl von Zeit. Aber das ist so nie gemacht worden. (Godard 1984, 305). 11 In ästhetisch möglichst großer Differenz über das Bild zu schreiben, bezeichnet auch Godards Prinzip der Montage, die stellenweise eine Art filmischer Collage ist. 12 Als frühes Beispiel ist hier Anémic Cinéma von Marcel Duchamp (F 1925) zu nennen. Erst im strukturellen Film seit den 60er Jahren gab es Positionen, die sich eingehender mit der Thematik künstlerisch auseinandersetzten, z.B. Morgan Fisher, Joyce Wieland und Hollis Frampton. 13 Interessant hierzu ist Flussers etymologische Herleitung des Wortes Schreiben auf die ursprüngliche Bedeutung ritzen und reißen. “[…] wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder” (Flusser 1992, 17). 14 Zum Beispiel Videos von Peter Weibel und Gary Hill. Inzwischen können künstlerische Schriftvideos durchaus als kleines “Sub-genre” bezeichnet werden. (Vergleiche auch die Ausstellung des zkm zum Thema: “video/ text”, 04.2005) Dass der strukturelle Film in etwa zur selben Zeit begann, mit Schrift zu experimentieren, zeigt, dass es sich dabei um eine nicht ausschließlich durch das neue Medium inspirierte künstlerische Entwicklung handelt. 15 Die Textfragmente sind zwei von Broodthaers unabhängig von der Installation verfasste Gedichte, “Le Corbeau et le renard” und “Le D est plus grand que le T”, beide von 1967. “Le Corbeau et le Renard”: “[…] LE COR- BEAU ET LE RENARD ÉTAIENT DE CARACTÈRES IMPRIMÉS, LE SYSTÈME D. […] IL Y AVAIT UN CHIEN VERT, UN CHIEN ROUGE, UN CHIEN BLANC, UN CHIEN NOIR ET BLEU, DE CARACTÈRE IMPRIMÉ. JE ME SOUVIENS D’EUX, MAIS À PEINE. LE RENARD SONNE. LE CORBEAU SONNE.” “Le D est plus grand que le T”: “LE D EST PLUS GRAND QUE LE T. TOUS LES D DOIVENT AVOIR LA MÊME LONGUEUR. LE JAMBAGE ET L’OVALE ONT LA MÊME PENTE COMME DANS A. […]” 16 Für Broodthaers ist “Le Corbeau et le Renard” auch kein Film: “On a special screen - in photographic canvas - the book becomes a film, the film becomes a painting (the screen). It is on an image (which summarises the film) that all the film’s images are projected. This is not a film.” (Broodthaers 1997: S. 52)