Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2006
291-3
Topographie und Bewegung - räumliche Wahrnehmung im filmischen Bild
91
2006
Tina Hedwig Kaiser
In Anknüpfung an den Benjaminischen Passagenbegriff sowie den Bild- und Schwellendiskurs nach Deleuze und Agamben geht es hier um die Analyse von Transitraumbildern im Film. Die theoretischen Ansätze fußen dabei auf der Verdichtung von Gedankengängen zu einer conditio humana des Transitorischen, technik- und territorialhistorischen Betrachtungen, französischer Diskursanalyse sowie bildwissenschaftlichen Fragen aufbauend auf die Wiener und Hamburger Schule der Bildwissenschaft. Der Flughafen, die Autobahn, die Bahnanlage – alles vermeintliche kulturelle Dispositive der Moderne seit der industriellen Revolution – sind jene urbanen Ausprägungen, an deren filmischen Repräsentationen sich die Filmtheorie mit wahrnehmungs- und bewegungsphilosophischen Ansätzen verbinden läßt. Arbeitsstichworte sind hier bildwissenschaftliche sowie medienimmanente Figurationen von Geschwindigkeit, Projektion und Planperspektive. Was macht das filmische Bild mit fiktiven wie realen Räumen, wie wirken sie auf uns zurück und wie äußert sich dies alles in der Wahrnehmung und dem Umgang mit dem Sehen bewegter Bildräume? Sind wir mit Anne Friedberg alle schon längst jene Flaneure des mobilized virtual gaze geworden, ist das panoramatische Sehen an seiner Klimax angelangt und was könnte in einer Art Bartlebyscher Verlangsamung dabei mit der Wahrnehmung passieren? Wo lassen sich die Übergänge und Differenzen dieser interfunktionalen Seh- und Sichtweisen verdeutlichen? Welche Bildkategorien könnten hier von Belang sein?
kod291-30217
Topographie und Bewegung - räumliche Wahrnehmung im filmischen Bild Tina Hedwig Kaiser In Anknüpfung an den Benjaminschen Passagenbegriff sowie den Bild- und Schwellendiskurs nach Deleuze und Agamben geht es hier um die Analyse von Transitraumbildern im Film. Die theoretischen Ansätze fußen dabei auf der Verdichtung von Gedankengängen zu einer conditio humana des Transitorischen, technik- und territorialhistorischen Betrachtungen, französischer Diskursanalyse sowie bildwissenschaftlichen Fragen aufbauend auf die Wiener und Hamburger Schule der Bildwissenschaft. Der Flughafen, die Autobahn, die Bahnanlage - alles vermeintliche kulturelle Dispositive der Moderne seit der industriellen Revolution - sind jene urbanen Ausprägungen, an deren filmischen Repräsentationen sich die Filmtheorie mit wahrnehmungs- und bewegungsphilosophischen Ansätzen verbinden läßt. Arbeitsstichworte sind hier bildwissenschaftliche sowie medienimmanente Figurationen von Geschwindigkeit, Projektion und Planperspektive. Was macht das filmische Bild mit fiktiven wie realen Räumen, wie wirken sie auf uns zurück und wie äußert sich dies alles in der Wahrnehmung und dem Umgang mit dem Sehen bewegter Bildräume? Sind wir mit Anne Friedberg alle schon längst jene Flaneure des mobilized virtual gaze geworden, ist das panoramatische Sehen an seiner Klimax angelangt und was könnte in einer Art Bartlebyscher Verlangsamung dabei mit der Wahrnehmung passieren? Wo lassen sich die Übergänge und Differenzen dieser interfunktionalen Seh- und Sichtweisen verdeutlichen? Welche Bildkategorien könnten hier von Belang sein? In connection to notions of the passage by Walter Benjamin as well as to the pictorial and trajectorial discourses of Deleuze and Agamben I want to focus on the cinematic images of transit spaces. The theoretical background is founded on thoughts about transitorical aspects of a conditio humana, technical and territorial history, French discourse analysis as well as questions of picture science building on the Vienna and Hamburgian School of arts sciences. The airport, the motorway, the railway - all cultural dispositifs of the modern since the industrial revolution - are those urban releases on which the cinematic representations can connect film theory with questions of perception and motion philosophy. Notes may lay here on visual and media science questions about perspective, projection and speed. How acts and reacts the cinematic picture with fictional and real spaces, and what does this do to our perception? Is with Anne Friedberg the flaneur of the mobilized virtual gaze already reached, has a panoramatical view come to its climax and what could be the point for a return to less speed? Where are the connections and the trajects to those interfunctional Sehand Sichtweisen? And on which pictorial categories can this be grounded? Wahrnehmungsverschiebungen, Umstrukturierungen, Umwandlungen - derzeit kursieren verschiedenste Beschreibungen für die Auswirkungen und Einflüsse, welche die Technologieentwicklung am Menschen geltend macht. Ganz zu schweigen vom Begriff der Beschleunigung, der sich in seiner ausufernden Benutzung seitens wissenschaftlicher Konstatierungen moderner Phänomene mittlerweile selbst überholt bzw. überschlagen hat. Der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 29 (2006) No. 1 - 3 Gunter Narr Verlag Tübingen Tina Hedwig Kaiser 218 Begriff der Großstadt, des Kinos, des Flaneurs - alles annähernd Paradigmen kulturwissenschaftlicher Untersuchungen moderner Dispositive - hat in den letzten Jahren einen expansiven Einzug in den geisteswissenschaftlichen Diskurs gehalten. Klagen über die Bilderfluten, die seit den Tagen der Entdeckung visueller industrieller Reproduzierbarkeiten in kaum geahntem Maße ansteigen, finden ihren Weg in Symposien und Veröffentlichungen aller Art. ‘Der Bilder Herr werden’ scheint die ebenso alteingesessene wie doch sehr lebendige Floskel auch unserer Tage. Der Besitz der Bilder macht jedoch noch lange keinen ‘Herren’ der Bilder, als ob dieser überhaupt angestrebt wäre, - und die umgekehrte Floskel der Überflutung durch die Bildwelten zeichnet sich gerade heute jeden Tag aufs Neue ab. Es gilt dabei, den stellenweise annähernd paranoiden Diskurs zu entzerren, und dies vor allem auch durch die Zugrundelegung alter Bildkonzepte, die bis heute überdauert haben. Gibt es einen Raumfilm, einen, u.a. auch urbanen, Landschaftsfilm, ähnlich einer Genreausprägung in der Malerei? Meist sind es eher die filmischen Ausnahmen, die den Raum in den Mittelpunkt stellen. Der Grund dafür liegt seit einhundert Jahren auf der Hand: Es ging von Anfang an darum, Bewegung getragen von Handlung zu zeigen und somit Geschichten zu erzählen. Die Handlung hat dabei meist die Räume als Hintergrund, als emotionales Setting und ähnliches genutzt. Der pure Raum im Kino ist selten. Natürlich denkt man an Arbeiten von Antonioni und ähnliche Filme, in denen die Rahmung bewußt für den Raum arbeitet, ihn auch in seinem vermeintlichen Off fixiert, ihn allein betont, aushält und betrachten läßt - jenseits der zielorientierten Handlung im Sinne narrativer Besetzung. Gleichsam gebraucht jedes Landschaftsverständnis eine Rahmengebung, eine medial gegründete Wahrnehmungssicht, die nicht zuletzt bis dato mit dem panoramatischen Sehen der Zugfahrt einherging. Im Film nun gibt es zumindest derartige Bilder innerhalb des untergeordneten Sequenzgenres der Verfolgungsfahrt zu finden, das in den Kameraaufzeichnungen des auch langsameren Reisens und Gehens durch meist städtische Räume einen Vorläufer hat. Der bewegte urbane Landschaftsrahmen als filmisches Sequenzgenre rückt hier folglich ins Zentrum einer Aufmerksamkeit, die kinematographische und bildhistorische Aufzeichnungs- und Wahrnehmungsgrundlagen berührt. Diese andere Seite des narrativen Kinos nun, die der puren Bewegungs- und Geschwindigkeitsabbildung inmitten von dergestalt erzeugten Trajekträumen, birgt ein nicht zu ignorierend großes Potential, um sich mit der transitorischen Rahmung und jener durch sie geschaffenen Raumwahrnehmung des Kinos zu befassen. Der Transitraum und seine Actionsequenz ist dafür das gängigste Beispiel. Die bewegten Bilder des Films haben natürlich oft genug die Orte in den Hintergrund gerückt, die Bewegung also gerade nicht mit dem Raum verbunden bzw. verbinden wollen. Orte, Räume, Landschaften, Horizonte sind erst nach und nach verstärkt in die filmische Produktion eingeflossen und haben angefangen, Genres zu prägen. Man könnte hier an die vielen Horizontlinien der wide-angle-Western denken, an urbane Panoramaaufsichten als establishing shots ungezählter Krimis seit der film noir-Ära, an die phantom rides der Stummfilmjahre. Gerade die puren filmischen Geschwindigkeitsaufnahmen der letzteren waren von Anfang an eine Kinojahrmarktssensation - doch leider werden sie, so ganz ohne Plotanbindung, bis heute unterschätzt. Mit der Deleuzeschen Bildtaxonomie des Bewegungs- und Zeitbildes (Deleuze 1998/ 99) kehrt seit den Neunzigern allerdings ein Potential neuer Analyse- und Betrachtungsweisen des filmischen Rahmens und der filmischen Bildfläche zurück, das sich gerade für die Untersuchung der Fahrtaufnahmen und deren Raumkonstruktionen ausbauen läßt. Fiktional oder nicht-fiktional wird dabei zweitrangiges Unterscheidungskriterium der Bilder. Zumal die Fragen zur Raumwahrnehmung nach filmischen Vorlagen sich auch Topographie und Bewegung 219 außerhalb des Kinos mit einiger Leichtigkeit fortsetzen lassen. Bewegungswahrnehmung und ihr sich gegenseitig beeinflussendes und generierendes Wechselspiel mit der Architektur ist nicht zuletzt Thema aktueller Urbanistik- und Architekturkongresse, wobei kaum ein Architekt zu betonen vergisst, dass er mit einem grundlegend kinematographischen Verständnis an seine Arbeit geht. Lineare raum-zeitliche Elementarverständnisse werden im Film allerdings vielfach durcheinandergebracht und überholt. Die Räume wölben sich in der Laufbildbetrachtung in aufeinandergelagerte einstige und aktuelle filmische Szenerien - Multiperspektiven in unzähligen Varianten folglich. In der Bewegung der Bilder kann das Off als das Nichteinsehbare des Bildrahmens und dergestalt -ortes zudem erst bewußt werden. Der städtische Raum tritt dabei in Wechselwirkung mit der Kamerafahrt und dem Schnitt und prägt dabei den gesamten Film. Die Reihe bzw. Serie des Filmmaterials dehnt sich vertikal in die gefilmten Raumbilder. Synchronisches formt so erst das Diachronische, der lineare Ablauf allein ist nicht mehr Zentrum und hängt dergestalt auch vom Raum ab. Die Filmstrukturen verlagern sich ungewohnt, a-typisch, aber dennoch nicht oberflächlich-experimentell. Darum geht es ja auch gar nicht in diesen Bildern. Es geht immer auch um Repräsentationsfragen von Orten und Oberflächen in Wechselwirkung mit subjektiven Wahrnehmungskonditionen, eben gerade auch in ihrer Arbeit mit dem Off und dem Transitorischen des filmischen Raums. In den nun oft übersehenen, abgewerteten filmischen Raumarbeiten beschleunigter Fahrtaufnahmen werden die Landschaften, ob urban oder rural, zum anderen Handlungsträger. Ihre Ansichten durch die Kamera konstruieren einen neuen Blick auf das Außen, die Umgebungen, die durchstreiften Räume. Nicht nur das: Die Filme haben ihren Motor in verstärktem Maße in der Abbildung dieser Räume und der Bewegung ihrer Protagonisten durch sie hindurch. Das Travelling, als altbekannte Kameraplanfahrt, erreicht hier eine neue Bildgenerierung erst durch das eigene topographische Verhaftetsein. Es handelt sich also um die Betrachtung von Bilderfolgen, in denen die Narrativik vieler Filme hinter einen filmischen Bildfluß an sich zurücktritt, der u.a. die Wechselwirkungen zwischen einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen des Wahrnehmungswandels und der spezifischen Wahrnehmung des einzelnen Rezipienten anschaulich werden läßt. Die Repräsentation von räumlicher Wahrnehmung im Film ist dabei gebunden an neuzeitliche Technologien, die uns seit der Renaissance und Brunelleschis Entwurf zur Bronzetür von Florenz 1402 immer wieder umtreiben. Camera Obscura, Laterna Magica, Panorama und Diorama, Fotografie und Kino sind einige Stationen der Entwicklung dieses Entwurfs perspektivischer Sichtweisen, die im Kino eine äußerste Klimax durch die Möglichkeit der photochemisch erzeugten Bewegungsphotoprojektion erreichen. Der Akzent kann demnach nicht auf der Analyse des einzelnen Filmstills als eines filmimmanenten Standbildes, das nur in bestimmten Anteilen etwas mit dem Film an sich zu tun hat, liegen, sondern der Ablauf ist grundlegend für eine detaillierte Analyse, die kinematographische Stadtsequenzen überhaupt erst in ihrem zeitlichen Fluß angemessen bearbeiten kann. Die Einstellung ist nicht gleich der Einstellung, und ein Linien-, Spur- oder Perspektivenwechsel, auch im Sinne eines objektiven oder subjektiven point of views, während des Travellings als Kameraeinstellung ist entscheidend. Die Filmsemiotik nach den Standbildanalysen Roland Barthes (Barthes 1989 und 1990) muss somit neu gedacht werden. Der Transitraum und insbesondere die Straße sind nun jene urbanen Ausprägungen, an deren filmischen Repräsentationen sich eine Bildtheorie mit wahrnehmungs- und bewegungsphilosophischen Ansätzen verbinden läßt. Arbeitsstichworte sind hier bildwissenschaftliche Tina Hedwig Kaiser 220 Figurationen von Horizontal- und Vertikallinien, Geschwindigkeit und Projektion sowie die Deleuzeschen Begriffe des Zeit- und Bewegungsbildes. Antike Theorien des Sehens seit Euklid und Perspektivtheorien seit der Renaissance treten anhand dieser Bilder in eine neue Auseinandersetzung mit der Bewegung. Was macht das filmische Bild nun mit seinen Räumen und wie wirkt dies auf die Wahrnehmung zurück? Ist, mit Anne Friedberg (Friedberg 1993), schon längst jene Flaneuse du Mall im Sinne des mobilized virtual gaze erreicht, ist das panoramatische Sehen im Film an einer Klimax angelangt und was könnte in einer Art Bartlebyscher Verlangsamung damit passieren? Wo lassen sich die Übergänge und Differenzen dieser interfunktionalen Seh- und Sichtweisen verdeutlichen? Welche Bildkategorien könnten hier von Belang sein? Da die bewegten beschleunigten Bilder des Kinos einer mediumsimmanenten Überwindung der vermeintlich planperspektivischen monokularen Anlage gleichzukommen scheinen, also die potenzierte bildimmanente Schwelle nicht zuletzt im Sinne einer Stilmetapher vorliegt, stellt sich im Anschluss daran eher die Frage nach den Differenzen der Geschwindigkeit und Blickrichtung der Bilderfahrten, u.a. auch in Richtung Entschleunigung und Vornahmen des Gleitens - dementspechend nach dem zwar immer bewegten, aber doch auch unterschiedlich beschleunigten Ablauf urbaner Abbildungsleistungen. Mit Michel de Certeau (Certeau 1988) befinden wir uns hier in einem Landschaftsausschnitt, in welchem wir einem permanenten horizontalen Blickpunktwechsel erlegen sind. Es entsteht ein Zwischenraum, der nicht nur fern sein will, sondern auch nah ist, also da ist - obgleich permanent in Bewegung. Und gleichzeitig erfahren wir das kinematographische Dispositiv neu. In seiner Ausschnitthaftigkeit, in seiner Kadrierung des Raums mitten in der Bewegung unzähliger Raumtransitsequenzen sowie in seiner bildseriellen Aneinanderreihung, seiner Linienarbeit. Für Siegfried Kracauer (Kraucauer 1985) sollte das filmische Bild einst zum Registriermedium der bewegten Welt werden. Die Bewegung schien für ihn die räumliche Tiefe ausnahmslos zu unterstützen. Dass dies zu einseitig gedacht ist, zeigt sich, wenn man die unterschiedlichen Blickwinkel der Kamerafahrten genauer betrachtet. Hier ergibt sich ein Angelpunkt meiner Arbeit: Die Hypothese einer mediumsimmanenten Überholung der zentralperspektivischen Wahrnehmungskonstruktion könnte nur in ganz bestimmten Kamerafahrten zum Tragen kommen. Das Travelling, als Kameraplanfahrt parallel horizontal zur Umgebung, scheint dafür besonders geeignet, im Gegensatz zur Durchfahrt, als Zoom genauso wie als frontale Kamerafahrt in die Tiefe, welche die monokulare Perspektive mit ihrem Ziel im Fluchtpunkt eher zu verdoppeln scheint. Die Bewegung im Film erreicht dabei unterschiedliche Ergebnisse. Die Durchfahrt-Einstellung würde dementsprechend der Durchsicht nahestehen, da es hier offensichtlich auf den Raum vor der Fahrscheibe ankommt. Als Art der Fernsicht erleben wir mit ihr ein Eingesogenwerden in den fluchtenden Raum der Aufnahme. Die Bewegungsaufzeichnung unterstützt dabei die Perspektive, so dass die mediale Ideologie offenkundig ausgereizt wird. Deleuze hat über die Schärfentiefe, als offensichtliche Spielweise der Perspektive, nur am Rande geschrieben. Wichtig ist dabei, dass von der Bildtiefe her gedacht werden muss: eine Tiefe scheint erst einmal gegeben sein zu müssen, um an sie anschließend über eine Schärfe entscheiden zu können. Jede Fernsicht kann sich hieran erst aufbauen. Im Gegensatz dazu entspräche die Parallelfahrt-Einstellung zuerst einmal eher der Kameraarbeit der Aufsicht, hier z.B. als Verdoppelung des seitlichen Fahrtfensterblickes. Wir sehen auf die Scheibenfläche, fahren aber nicht in die Tiefe des Raums, sondern seitlich an ihm vorüber, und nehmen den Raum dergestalt in verschwimmenden Flächeneindrücken Topographie und Bewegung 221 wahr. Eine Nahsicht folglich, die u.a. mit Wolfgang Schivelbusch (Schivelbusch 2000) jenem Verlust der Tiefe im panoramatischen Reisen gleichkommt. Hier wäre die Zentralperspektive mit Hilfe der Bewegung außer Kraft gesetzt und das Medium würde mit seinem immanenten und gedoppelten Flächenverweis seine tatsächlichen Grundlagen offenlegen. Eine Arbeit mit Hilfe der Unschärfe folglich. Doch zu dieser gleich mehr. Als ein weiterer wichtiger Aspekt muss hier der Tempowechsel während der Einstellung angesehen werden. Inwieweit sich hieraus einzelne Bildkategorien ergeben, wird noch zu prüfen sein. Der Begriff des Travellingpanoramierens, als einer Verbindung eben jenes filmischen Travellings mit dem Wahrnehmungsdispositiv des panoramatischen Sehens, könnte hierzu neue Kategorien einer Bildtaxonomie des filmischen Transitraumbildes, als Teilaspekt einer Strukturtheorie der Bildoberfläche, eröffnen. Ein wichtiger Untersuchungspunkt ist dabei nun der Begriff des Diffusen: Ein Unscharfes, ein Dumpf-Farbiges, ein Streulicht, eine verwischte Oberfläche - etwas Konturloses und somit Diffuses ist jenes, welches sich einer einfachen Unterscheidbarkeit im Sinne von Vorder- und Hintergrund entzieht. Überlappungen und Dimensionen - Distanzen - sind nicht leicht oder gar nicht auszumachen. Die Wahrnehmung von Diffusem nähert sich einem Flachigen an. Als ob unsere Raumwahrnehmung plötzlich Bildwahrnehmung würde. Die Fläche ist es dann, welche weitere Dimensionen eröffnet. Die einen oder mehrere Fluchtpunkte birgt und dennoch flach funktioniert. Die bewußtgewordener Bildträger und Fenster zugleich ist: modernistische Aufsicht und neuzeitliche Durchsicht simultan ermöglicht. Impressionismus und Renaissancezeichnung in einem - bewegte Kinobilder von Planfahrten folglich. Das Diffuse ist demzufolge Herberge für Bewegung, sprich: vordergründiger Zeit, allerdings im Bild gründend, und dergestalt immer erst einmal über den Raum definiert. Die Bewegung unserer Augen beim Absuchen einer Bildfläche wird zudem mit einer dem Bild innewohnenden Bewegung verdoppelt. Nach Bergson ist unsere Wirklichkeitswahrnehmung dem Film vergleichbar. Für Gilles Deleuze bleibt sie hier meist jedoch abhängig von der Bewegung, von Aktion und Reaktion, von Ursache-Wirkungs-Abläufen in einem vermeintlich linearen Sinn. Dass sie jedoch nicht nur dies ist, sondern Zeit gerade auch unabhängig von gängigen Bewegungsabfolgen insbesondere auch in Momenten des Stillstands und der Schwebe arbeitet, und hier Vergangenes und Zukünftiges ineinander greifen können, macht gerade den Bildraum des Films spannend. Das Laufbild des Films hat also nicht nur in seinen abgefilmten Bewegungen eine zeitliche Mehrdimensionalität aufzuweisen. Dennoch ist in den vermeintlichen Fahrtaufnahmen eine, für Deleuze vielleicht oberflächlichere, Wischfläche insbesondere dann interessant, wenn man die Motive des Unscharfen und Diffusen eingehender betrachten möchte. Und um einen Vergleich der topographischen Ansichten des Kinos vom urbanen Raum mit einer Kondition des Großstadtwahrnehmens seit Simmel soll es hier nun gehen. Ein erster Blick auf das Dispositiv der Zugfahrt macht zweierlei klar, wenn man vom beschleunigten Sehen sprechen will: zum einen besteht die Möglichkeit, jene Tiefenstaffelung zu sehen, die aufgrund der Geschwindigkeit fortwährend mit dem Blick auf den Vordergrund entrissen wird. Allein der Hintergrund scheint dabei bestenfalls anhaltend anwesend zu sein und gleichzeitig, doch ohne größere Sprünge, zu wandern: Hier ist der panoramatische Blick nach Schivelbusch, Virilio, u.a. anzusiedeln, auch wenn der von ihnen proklamierte Tiefenverlust damit gerade nicht einher geht. Vielmehr funktioniert dieses panoramatische Blickwandern nur mit Hilfe des Durchblicks in die Dimension von Ferne/ Tiefe. Tina Hedwig Kaiser 222 Zum anderen kann aber nun auch mit der Fahrtgeschwindigkeit gesehen werden: Der Blick konzentriert sich dergestalt auf die Fensterscheibe und erfährt die Landschaft im Sinne einer verschwommenen Projektion gerade auf dieser Fläche, eben ohne den Blick in die Tiefe. Die Fahrtaufnahme im Film birgt im Gegensatz dazu meist permanente Schärfe: Schließlich fährt, wie das Wort schon sagt, die Kamera mit - und passt sich der Geschwindigkeit dergestalt an. Die Schärfe wird dabei also abhängig von der Bewegung mitgezogen. Sie verbindet sich mit der Geschwindigkeit und macht so während der Fahrt den Durchblick dennoch möglich. Im Kino wird so der Blick auf die Windschutzscheibe als Fläche eher verunmöglicht. Das diffuse Sehen wird dem Kinorezipienten dergestalt entzogen. Im realen Zugabteil hat er hingegen die Möglichkeit, seine eigene Kamerafahrt zu vollführen. Keine Doppelung der Aufnahmefläche des Kameraobjektivs und der Projektionsfläche der Leinwand/ des Bildschirms ist hier gegeben, sondern nur die erste Übersetzungsstufe von Rahmung mittels Fenster, hier also im Sinne des Kamerablicks allein, findet statt. Die verwischte Aufsicht wird so möglich. Im Kino würde diese eines äußerst angestrengten Augenjonglierens bedürfen. Die Schärfe ist hier meist mitdiktiert. Die monokulare Anlage liefert immer zuallererst sämtliche geometrische Sichten im Sinne von Fluchtpunktkonstruktion und Tiefenstaffelung. Wird das zentralperspektivische Diktat der Kamera also gerade im Kino fester geschrieben denn je? Ist das Diffuse hier verunmöglicht? Und hat folglich sein Dasein allein in einer beschleunigten urbanen Wahrnehmung zu verteidigen? Es scheint so. Das diffuse Bauen hat einen seiner Ursprünge in der philosophischen élan vital-Debatte des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Konzepte rund um Licht, Energie und Bewegung und die Frage nach der Definition von Leben griffen hier ineinander. Der Bewegungsfluß ist demnach bei Bergson Hauptansatzpunkt für die Frage nach unserer Wahrnehmung. Wenn die sich auch nur in der Bewegung, wenn nicht im Gehen, Fahren, etc., dann zumindest in der Bewegung unserer Augen, vollzieht, Architektur und somit Gebäudekonturen im offenen Raum abtastet und verbindet, dann stellt sich die Frage, ob genau in dieser Bewegtheit das Diffuse liegt. Verdeutlicht das diffuse Bauen also eine Variante natürlicher Wahrnehmung, deren Verwandtschaft zum Kino seit Bergson debattiert wird. Die Form des offenen Rahmens, des Cache als bewegten Ausschnitts, könnte zumindest als Übertragungsmodell einer solchen für die Architektur der diffusen Kontur dienen. Das Raumkonstrukt wird nicht mehr als starre Form aufgefasst, sondern Ausgangspunkt ist eine Architektur, die sich selbst als Fließbild versteht. Es geht um Übergänge, offene Enden und nicht festgelegte Ab- und Anschlüsse - eben jene diffusen Konturen der Schwelle schlechthin. Somit wird die festgelegte Tiefenstaffelung des Objektivs in Vorder-, Mittel- und Hintergrund im Sinne von Schärferelationen zugunsten von Unschärferelationen aufgehoben. Alle festgelegte Geometrie ist hier aufgebrochen. Am Beispiel des Zugfahrtparadigmas der Aufsicht zeigt sich zudem, dass es nicht nur um den klaren Rand, um den äußeren Abschluss einer Form und Hülle geht, sondern dass das Diffuse natürlich auch dem Innen bzw. Mittigen innewohnen kann. Hier macht sich dann der Innenraum zum Monumentum, das die Bewegung bereits integriert hat, und erscheint genauso offen und unabgeschlossen wie das Außen. So wie in der verwischten Aufsicht die Distanzgrenzen undefinierbar werden, also Hinter- und Vordergrund nicht mehr unbedingt auszumachen sind, so sind hier Innenraumgrenzen nicht mehr eindeutig zu unterscheiden. Die Raumübergänge sind nicht nur weicher, flüssiger. Der Formstatus, eben auch als Raumstatus, an sich ist in Frage gestellt. Ist somit die diffuse Oberfläche im Sinne eines kinematischen Paradigmas überhaupt aus der Kinosprache übersetzbar auf eine beschleunigte Wahrnehmung heute? Offenbar nur zum Teil. Da im Kino die Schärfe meist beibehalten wird, wie weiter oben bereits angemerkt, ist Topographie und Bewegung 223 die diffuse Kontur hier nur mit dem Momentum des cache, im Sinne eines offenen bewegten Rahmens des Kinobildausschnittes nach André Bazin, zu verbinden. Die innere und äußere diffuse Kontur bleibt allein vergleichbar mit den seitlichen Zugfahrtaufsichten auf Verschwommenes und Angerissenes. So wandern die Fahrtaufnahmen im Bild immer ins tatsächliche Außerhalb bzw. nochmalige Off des Bildes, da sie sich bereits im einfachen Außerhalb hinter der Scheibe befinden, - folglich also in das gedoppelte Off oder den Über-Cache. Dies sind die Fahrtbilder auf konkrete Weise: das erste Off, die Landschaft vor der Scheibe, wird direkt über das Fahrtfenster vermittelt und eingesehen, nicht über spiegelnde Gebäude wie z.B. bei Michelangelo Antonioni in seinem Film La Notte (Kaiser 2002), und potenziert sich währenddessen noch ins gesteigerte Off durch die permanente Fortbewegung im Fahrtausschnitt. Und verlegt dergestalt das Bergsonsche Intervall-Verständnis, das meist einzig auf die Montage und den Schnitt übertragen wurde, ins Innere der Aufnahme: Wo Bergson meinte, die natürliche Bewegung würde im filmischen Bild verloren gehen, kann sie hier gar nicht verloren gehen. Denn sie arbeitet hier gar nicht allein mit dem Bild, sondern genauso mit und in seinem Off während des einzelnen Caches. Sie ist nur in der Verbindung des Bildes mit seinem Unsichtbaren denkbar. Und dies verdeutlicht sie in den vorüberziehenden Oberflächen der Fahrtaufnahmen ganz besonders. Es ist hier das permanente Off einzusehen sowie Offs des Off usf. Zumindest handelt hier das Bild von seinem eigenen Außerhalb, und öffnet sich und der Bewegungsabbildung darüber anders. So macht sich auch die Architektur der diffusen Form zur Anti-Architektur. Sie bestreitet jegliche Perspektivkonstruktion, versucht sich im Sinne einer kubistischen Landschaft selbst noch über jeden Kubismus im Sinne simultaner Blickwechselansichten hinwegzusetzen, gerade indem sie selbst diese Unterscheidbarkeit der simultanen Perspektivkonturen blurred. Das Weiche, Flüssige wird also gesteigert zum Nicht-Raum. Kein Raumempfinden folglich. Ankommen war woanders und der Ort als ein Angebot der Mitte und des Verweilenkönnens wird gar nicht erst denkbar in diesen Nicht-Räumen der diffusen Konturen. Die reale Stadtbefestigung scheint zudem nun endgültig zu schwinden: Wurden die alten Befestigungswälle vieler europäischer Großstädte vormals zu städtischen Gleisanlagen umfunktioniert, so scheinen diese jetzt überflüssig zu werden. Der ‘ehrliche’ Raum, der uns im Alltag die Grundfesten unserer Kultur einsehbar macht, der die Notwendigkeiten von Trassen, nicht verschleiern will und kann, der in der Kultur der Moderne selbst in seiner zweischneidigen Schönheit zu einer Ästhetik gelangt ist, scheint aufgegeben zu werden. Ist der Flughafen unsere neue, fast schon natürliche Ersatzstadt? Übernimmt er die Funktion des screens, des Bildschirms, wie sie einst das Triumphbogentor unserer frühesten Bahnhofsarchitekturen übernommen hatte? Michael Hanekes Kinofilm Wolfzeit zeigt uns gegen Ende eine sehr bezeichnende Einstellung: Der Film erzählt den verzweifelten Versuch einer Mutter (Isabelle Huppert) mit ihren beiden Kindern aus einem vermeintlichen Katastrophengebiet zu entkommen. Es gibt kaum noch Rohstoffreserven, Autos liegen brach, Wasser ist knapp, und so wartet man mit einer Gruppe anderer Flüchtlinge in einem Landbahnhof auf den vielleicht irgendwann einfahrenden Zug. Alles ist ungewiss hier, man wartet und weiß nicht, ob man sich jemals von der Stelle bewegen wird. Dies allein vermag einem nur noch der Zug zu ermöglichen. Der Schluss ist offen, man wird keine Einstellung mit einem herbeieilenden Zug zu sehen bekommen. Nein, das nicht. Aber statt dessen etwas viel Bezeichnenderes, das die vermeintliche moderne conditio humana einer grundlegenden Notwendigkeit von Mobilität, und eben auch in ihren technischen Ausprägungen, auf den Punkt bringt wie keine andere Kameraeinstellung: Wir sehen eine einfache Parallelfahrt an der grünen, durch die Tina Hedwig Kaiser 224 Geschwindigkeit schemenhaft gewordenen Landschaft vorbei. Man muss nicht wissen, ob dieser Blick einer Person zugehörig sein soll, und man braucht auch keinen Zugfensterrahmen zu sehen, der das Bild erklärend kadrieren würde. Nein, denn man hat das einzige Mal in diesem Film die Möglichkeit, eine vorbeifahrende Perspektive ganz für sich, als Kinorezipient, einzunehmen - und man saugt sie förmlich auf. Haneke gibt den großen hoffnungsvollen Schluss, jedoch ohne Zaunpfahl. Die Hoffnung scheint für ihn allein in dieser Möglichkeit zur Sichtbarmachung eines schlichten bewegten Fahrtbildes zu stecken, das sich aller weiteren Narration entzieht. Ein Raumverständnis folglich, dass mit Schivelbusch die industrialisierte Raum-Zeit des Bahnreisens hervorgebracht hat. Wo die barocke Avenue den zentralistischen Blickpunkt in einem repräsentativen Staatsgebäude enden ließ, wird mit den ersten Durchgangsstraßen der fortlaufende Fluchtpunkt in die städtische Planung eingeführt. Die großen Pariser Boulevards Haussmanns machten dies vor, die New Yorker folgten, und werden jeden Fluchtpunkt zunehmend im Horizont aufgehen lassen. 1 Dass auch in Paris der Güterverkehr großgeschrieben wurde, war am Beginn der industriellen Blüte Grund genug, die Stadt für den Verkehrsfluss zu öffnen. Das mittelalterliche Städtebild musste diesem Wandel zum größten Teil weichen. Das geometrische Raumverständnis der Renaissanceperspektive, derer sich die fluchtenden Achsen der neuen Metropolengestaltung bedienen, nimmt anscheinend auch im Städtebild eine antike Tradition wieder auf, zumindest am Beispiel Alexandrias. Letztendlich scheint die Perspektive eine organisierende Vornahme zu sein, die sich dem Menschen insbesondere in seiner urbanen Umgebung erschließt. Und dies im Laufe zunehmender Mobilität nur um so deutlicher. Es beginnt die Zeit der Durchgangsstraßen mit offenen unendlichen Fluchtpunkten in den Raum hinein. Kein Wunder also, wenn Friedrich Kittler (Kittler 2002) davon schreibt, dass spätestens mit den Autobahnen, in Fortfolge der Trassensysteme der Bahn, dieser offene Fluchtpunkt vervollkommnet wurde: “Erst der Autobahnmittelstreifen trennt für immer die zwei Schlangen oder Ströme, die an entgegengesetzten Punkten des Horizonts sich und einander verlieren” (Kittler 2002a: 231). Die Kreuzung, der Querweg, sollen weitestgehend vermieden werden. Es ist kein Zufall, dass im Zuge der Industrialisierung die Reiselust geweckt wird. Wer könnte einem dergestalt zentralperspektivischen Eingesogenwerden in den Raum, wie es uns die Gleisanlagen vorgaukeln, widerstehen? Geschwindigkeit und Geradlinigkeit unterstützen sich im industrialisierten Raum gegenseitig. Überraschend ist nur: Mit dem beschleunigten Blick aus dem Zugfenster geht der Verlust der Tiefendimension des Blickes einher. Der durchreiste Raum wird flach in der Wahrnehmung des Reisenden, aber die Konstruktion des Transportwesens nimmt die perspektivische Vorgabe in sich auf. Das zentralperspektivische Medium, hier der Zug, woanders das Kino, scheint sich selbst immanent in der Unterstützung dieser perspektivischen Vornahme geradezu außer Kraft zu setzen. Dies bestätigt sich auf eine andere Weise ebenso im Teleobjektiv: je mehr die Tiefe erschlossen werden kann, d.h. sichtbarer wird, desto mehr entzieht sie sich. Der zu ihr gehörige photographische Raum, der mit Hilfe des Teleobjektivs erstellt wird, erscheint gestaucht. Die Ebenen werden annähernd zu einer Fläche zusammengezogen. Das Medium dekonstruiert sich selbst, und die Wahrnehmung des Betrachters beginnt ihren Ursprung in der Fläche, ihre Konstruktion aus der Fläche heraus, zu erahnen. Die permanente Blickpunktveränderung während des Reisens, der abstrakten reinen Bewegung mit Hilfe modernster Transporttechnologien, trägt dazu ihr übriges bei. Im Zug befindet man sich nirgendwo, nur dazwischen. Obwohl man die perspektivische, lineare Konstruktion auf allen Ebenen technischer Erfindung realisiert hat, ist man dem Raum nicht näher gekommen. Man ist ihm ferner denn je. Die Stauchung im Teleobjektiv entspricht Topographie und Bewegung 225 dabei der Verwischung der Raumelemente im Vorüberfahren. Der Tiefe verlustig gegangen sozusagen. Bei Schivelbusch können wir zwar noch vom zeitlich geschrumpften Verkehrsraum und einer kondensierten Geographie lesen (Schivelbusch 2000: 36). Das panoramatische Bewusstsein des modernen Menschen scheint dabei jedoch eine unbeabsichtigte Wende gemacht zu haben. Ein Fahrzeug, das eine derartige Umstrukturierung des Sehens bereits in seiner mythologischen Vorgabe in sich trägt, ist jenes sagenhafte Schiff Argo der Argonauten, das unter Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies in der griechischen Mythologie auftaucht. Sein Erbauer ist Argos, nicht zu verwechseln mit dem vieläugigen Argus als mythischem Held des Blicks der Kontrolle. Bezeichnend für die Bedeutungszusammenhänge der Argo, lässt sich in ihrer Ikonologie eine Darstellungsvariante mit einem aufgemalten Auge am Schiffsrumpf finden. Das Auge symbolisiert das sprechende Holz des Schiffes im Sinne seiner seherischen Fähigkeiten. Ein anonymer Künstler des Mantegna-Kreises soll die Zeichnung um 1500 geschaffen haben. Sie befindet sich heute in Budapest im Musée des Beaux-Arts (Lücke 2002: 152). Es ist das Fahrzeug, das sieht, was hier besonders aufstößt. Das sehende Vehikel, das die verschiedensten bewegten Blickmöglichkeiten transportiert, hat hier eine seiner bildlichen Wurzeln. Eine interessante Assoziation bietet sich dabei zur Theorie Paul Virilios 2 , nicht nur, aber auch, hinsichtlich des Lichtbegriffs, des Eigenleuchtens, der Geschwindigkeit und der damit verbundenen beschleunigten Bewegung. In seiner Meta-Geophysik postuliert Virilio einen Wandel der geophysischen Erfahrung im Verlauf eines Erfahrungsverlustes der Bewegung sowohl im Raum als auch in der Zeit. Die aktuellen Echtzeitmedien und ihre Bildschirme beginnen nach Virilio zunehmend, unsere Realraumwahrnehmung auszuschalten. Die Lichtwellengeschwindigkeit, derer sich unsere allgemeine Beschleunigung u.a. mit Hilfe von Cyberspace-Medien immer mehr annähert, schluckt jegliche Bewegungswahrnehmung von Ort zu Ort. Das Dazwischen wird immer mehr bewegter und einziger Ort an sich. Das Kino scheint für eine Gegenbewegung zu dieser Entwicklung geradezu prädestiniert zu sein. Was Deleuze mit seinen Zeit- und Bewegungsbildern im Kino untersucht hatte, das könnte sich in den von unserer Alltagswahrnehmung angeregten Gedankengängen genauso niederschlagen. Deleuze deklinierte dabei das Laufbild des Films als Grundlage unterschiedlichster Gedankenmuster. In der Filmwahrnehmung könnte die alternative Passage als eine Art bildlichen Ortes für im Realraum bereits unterschlagene Wahrnehmungsmöglichkeiten zu suchen sein. Wo in den Pixeln und elektromagnetischen Bildpunkten von TV und Rechner eine am geographischen Raum gemessene Erfahrung verlustig zu gehen scheint - Virilio sieht hierin den Verlust der alten strukturierenden Horizontlinie als Ideallinie -, da ist dies im photographischen monokularen Kameraapparat eine jahrhundertealte Voraussetzung der Abbildung. Selbst mit der zentralperspektivischen Ideologie im Hintergrund ist hier dennoch ein Strukturierungsmuster gegeben, das einstmals vom Menschen für den geographisch-geometrischen Raum als Übersetzungswerkzeug geschaffen wurde. Das Kinobild zehrt insofern noch von seiner photochemischen Indexikalität genauso wie von einer Sehtradition, der die Ferne und Tiefe immer wesentliches Momentum war. Teleskopische Stauchungen waren zwar möglich, doch der Raum war immer noch zu seinem Recht gekommen. Nicht so im TV- Bild nach Virilio: Hier herrscht das stillstehende Flimmern einer horizontlosen, elektrotechnischen Geschwindigkeit vor. Von Bewegung im Raum kann hier selbst rein technikformal nicht mehr gesprochen werden. Sehen braucht Messen, doch die Lichtgeschwindigkeit, als maximale Ausprägung digitaler Geschwindigkeiten bei Virilio, kennt keinen Ortswechsel mehr. Mit dem Verlust der horizontalen Dimension gehen wir somit auch jeglicher Per- Tina Hedwig Kaiser 226 spektive verlustig. Für Virilio läuft hier bereits der perzeptive Glaube an sich Gefahr verloren zu gehen, und sei es nur jener der Zentralperspektive. Das sehende Schiff Argo - jenes Fahrzeug, das genauso als perzeptives Interface funktionieren kann - verlässt die angestammte Tiefendimension. Das Schiff, das unter den Plejaden am Horizont entlangfährt, ein ikonographisches Motiv, das nun mit der Entdeckung der Himmelsscheibe von Nebra erst vor ein paar Jahren seinen Ursprung bis in die Bronzezeit zurückverlegt hat, konnte bis ins moderne Dispositiv des Kinos und der Großstadt sein wahrnehmungsstrukturierendes Potential aufrechterhalten. Das Fahrzeug im Kino spielt dergestalt noch mit der Fläche und Tiefe des filmischen Raums: Die Verfolgungsfahrten des Kinos sind an einem Zentrum des Filmischen genauso wie an einem der grundlegenden Strukturmerkmale unserer Wahrnehmung, zwischen Blick in Bewegung und Bewegung im Blick, angesiedelt. Die Linearität der Tiefenfahrt kann hier aufgebrochen werden, das wandernde Auge ist mehrfach in Bewegung geraten und dennoch horizontgebunden. Folglich erscheint hier erstmals die Planperspektive im Fließen begriffen: eine Idee, wie sie sich vielleicht nicht nur das Barock erhofft hatte. Die Berücksichtigung unseres binokularen Sehens in einem monokularen Bewegungsmedium muss deshalb einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte sein. Dabei hatte sich doch unser gesamtes Territorium im Austausch mit immer neuer Technologie nach Peter Weibel (Weibel 1989: 81-112) transformiert und immer besser erfassbar, im Sinne von messbar, gemacht. Militärtechnik und Stadtbefestigung standen grundlegend im Wechselverhältnis. Machten gestern Kanonen die alten Stadtmauern obsolet, so hat heute die Geschwindigkeitstechnologie die Stadtwege fluchten gemacht. Man erinnert sich an Haussmanns Verkehrsschneisen durch die Pariser Altstadt. Technologie und Perzeption: In der Stadt hat ihre Wahrnehmung diese selbst verändert. Sie wurde mehr und mehr zur Akkumulation von Transitorten, zum flüchtigen Momentum an Stelle von Ortsverbundenheit. Mit Hilfe der Technologie weitete sich somit unsere Wahrnehmung über das sinnlich-fassbare Territorium hinaus. Sie selbst scheint mittlerweile nur immer mehr in die Fluchtpunkte hineinzufluchten. Doch genau an diesem Punkt ist die alte Frage nach dem Realen und unserer Mittel zu seiner Aneignung in einer aktualisierten Variante neu aufgerissen. Wie haben wir all die Jahre mit der Zentralperspektive gearbeitet? Vielleicht erfinden wir gerade ein neues Territorium, ein neues geographisches Verständnis, das sich mit den Laufbildern des Kinos ankündigt? Und ein deterritorialisiertes Raumverständnis mit Deleuze, das auch einen ‘dezentralen’ Blick birgt? Dies könnten dann mediale Varianten jener Heterotopien nach Michel Foucaults Anderen Räumen sein, welche in den filmischen Fahrtbildern transportiert werden. Nichts anderes eben als das Verständnis des uralten Gefährts des Schiffes oder Bootes als bewegter Raum, als Ort ohne Ort, als anhaltendes Zwischenstadium, eine Passage und ein Trajekt genauso wie nach Foucault eben “die Heterotopie schlechthin” (Foucault 1998: 46). So vervielfältigen sich die Bild- und Raumbegriffe während unzähliger kinematographischer Fahrtaufnahmen. Als Bildgenerierungsform stehen sie in der Tradition der römischen Bootsfahrt-Metapher nach Wickhoff (Clausberg 1983: 174) und zeigen sich dergestalt als ein jüngstes Moment des kontinuierenden Stils im anderen Medium. Hier wie dort tritt nicht der ausgezeichnete Augenblick in den Vordergrund, sondern die einzelnen Bilder werden als ununterbrochen gleitende und gleichwertige wahrgenommen. Der nichteuklidische Raum der Fahrt wird erfahrbar. Mit Hans Belting gesprochen, kann so erst “die unstabile Schiffssituation, die dem perspektivischen Gesetz entzogen ist” ermessen werden. 3 Kein Stillstand ist innerhalb dieser Sequenzen in Sicht. Alle hieran anschließenden Diskurse generieren sich erst durch die anhaltende Schwebe- und Schwellensituation. Das Gefährt Topographie und Bewegung 227 selbst ist wiederum der Nicht-Ort, der im permanenten Ortswechsel begriffen ist. Gleichortigkeit und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster treffen hier aufeinander. Bewusstseins- und Sichtbarkeitszustände überlappen sich gegenseitig. Die abgebildete Fahrt vollzieht also eine mediale Umsetzungsmethode, in welcher Sichtweisen rekapituliert werden können. Ein Mittelweg zwischen den Bildkategorien der Durch- und Aufsicht wird dabei möglich. Die Tiefe und Ferne bringt während der Fahrtwahrnehmung verzögerte Zeit zustande, die Nähe zeigt sich im Gegensatz dazu in beschleunigter Zeit. Durch die Bewegung und ihre Kombination mit Ferne- und Nähewahrnehmungen schieben sich mehrere Zeitebenen in ein Bild und schaffen dergestalt ein Schichtensimultanbild: Zeiten und Räume, Tiefe und Fläche sind hier ineinander verwoben, bilden eine neue Einheit. Und eben eine, die immer zuerst einmal auf der permanenten Bewegungsveränderung basiert. Im weitesten Sinne also Ansätze und Pläne zum Verlassen einer Übersicht, die uns seit jeher von der geometrischen Perspektive vorgegaukelt wurde. Unsere Wahrnehmung als optischer, chemischer, zerebraler Montageeffekt kommt hier erstmals besser, d.h. realistischer, zur Geltung als in der statischen Zentralperspektive und ihren sämtlichen kulturellen Ausprägungen: Das Kino hätte uns somit den Weg immanent darüberhinaus gewiesen. Mit El Lissitzkys suprematistischer Nach-Außen-Verlegung, als Außerhalb des Bildrahmens, der Spitze der Sehpyramide als Projektion des Betrachterauges sowie Gilles Deleuzes Konzept des hors-champ, als Verweis auf das Außerhalb der filmischen Kadrierung im Bild selbst, liegt nun hier wie dort die Betonung auf dem asymmetrischen binokularen Sehen einerseits und auf den Möglichkeiten des bewegten Sehens andererseits. Für Richard Sennett wäre dies vermutlich die adäquate Übersetzung seines Konzepts der Consciousness of the Eye (Sennett 1994): Möglichkeiten der Offenheit, der Überraschungen und Selbstpreisgaben im Erfahren von Perspektiven des städtischen Raums, eben als mehrperspektivische Achsen, die immer neue Blickwinkelwechsel bereithalten, nur hier eben auf die Filmebene übersetzt. Folglich auch eine Ausformulierung von Heterospektive nach Karl Clausbergs Neuronaler Kunstgeschichte (Clausberg 1999). Das Travelling als planparallele Kamerafahrt im Kino, das als dessen erste Fahrzeugwerdung (Optik und Kinematik, auch im Gefilmten selbst, in Verschmelzung) verstanden werden kann, hat den Ortswechsel im statischen Körper üben lassen, denn so zeigte die Populärkultur, dass man selbst dann noch bewegt ist: mit den gehend-sehenden Augen. Die Horizontlinie der filmischen urbanen Landschaftsrahmen markiert so den Zwischenraum, den Durchgangsort. Sie stellt somit den Übergang sowie die Grundlage eines jeden Transitraums dar. Sie birgt dabei das breite Feld des unendlichen Fluchtpunkts für alle Vertikallinien. Die abgefilmten Transiträume fächern diese mögliche Tiefenbewegung in unzählige verzeitigte Perspektiven auf, die uns den Blick in die Bildtiefe simultan mit dem Blick auf den Bildträger ermöglichen. Und uns das hors-champ bzw. Off als das Jenseits der Kadrierung innerhalb der Kadrierung des Cache erst eröffnen. Der Film findet hier, in den beschleunigten Fahrten auch des Nichtsehens, des Bildraumes hinter dem Filmbild, erst statt. Und unsere Wahrnehmung all jener beschleunigten, bewegten, verzögerten oder verzerrten Transitraumbilder wird dabei grundlegendes Momentum. Die Nullheit des Wahrnehmungsbildes nach Deleuze kristallisiert hierin alle perspektivischen Ursprünge des kinematographischen Mediums und überwindet sie zugleich. Eine bildimmanente Arbeit über alle Schwellen hinaus, denn auch der Schnitt als ursprüngliche Schwelle bzw. Intervall des Films ist hier im Bildfluß selbst mitgedacht. Tina Hedwig Kaiser 228 Literaturverzeichnis Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1989: Die Helle Kammer. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Certeau, Michel de 1988: Kunst des Handelns. Berlin: Merve Clausberg, Karl 1983: Wiener Schule - Russischer Formalismus - Prager Strukturalismus. Ein komparatistisches Kapitel Kunstwissenschaft. In: Warnke, Martin u.a. (eds.): IDEA - Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle II. Hamburg, Prestel Clausberg, Karl 1999: Neuronale Kunstgeschichte - Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip. Wien/ New York: Springer Deleuze, Gilles 1998: Das Bewegungsbild - Kino 1. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Deleuze, Gilles 1999: Das Zeitbild - Kino 2. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Friedberg, Anne 1993: Window Shopping - Cinema and the Postmodern. Berkeley: University of California Press Foucault, Michel 1998: Andere Räume. In: Gente, Peter u.a. (eds.): Aisthesis. Leipzig: Reclam Kaiser, Tina Hedwig 2002: Filmbilder des Stadtgangs und Stadtraums - La Notte und L’Eclisse von Michelangelo Antonioni. Lüneburg, Universität Lüneburg Kittler, Friedrich 2002: Optische Medien. Berlin: Merve Kittler, Friedrich 2002a: Auto Bahnen. In: Gente, Peter u.a. (eds.): Short Cuts - Friedrich Kittler. Frankfurt/ M.: Zweitausendeins Kracauer, Siegfried 1985: Theorie des Films - Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Schivelbusch, Wolfgang 2000: Geschichte der Eisenbahnreise - Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/ M.: Fischer Sennett, Richard 1994: Civitas - Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt/ Main: Fischer Virilio, Paul 1989: Die Sehmaschine. Berlin: Merve Virilio, Paul 1980: Geschwindigkeit und Politik. Berlin: Merve Virilio, Paul 1995: Der negative Horizont - Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Frankfurt/ M.: Fischer Virilio, Paul 1978: Fahren, fahren, fahren… Berlin: Merve Weibel, Peter 1989: Territorium und Technik. In: Ars Electronica (ed.): Philosophien der neuen Technologie. Berlin: Merve Notes 1 Beachtenswerterweise gab es in der Antike schon einmal derartige Stadtstrukturen: Alexandria unter ihrem Baumeister Krates war als Stadt gänzlich nach dem Reißbrettmuster angelegt. Dieses richtete sich ebenfalls am Transport aus, eben jenem des Wasserleitungsnetzes. Als modernste Stadt des Altertums organisierte die ptolemäische Kultur in ihr eine perfekte Infrastruktur, die auf dem rein funktionalistischen Anliegen der Röhrenverläufe beruhte. Heutige zentrale Verkehrsachsen in Alexandria gehen auf diese Gründungszeit zurück. Nun, als Handelsmetropole des Altertums mit zwei Häfen hatte sie wohl alle Gründe dazu, den Warentransport zudem zu beschleunigen, sie scheint zumindest dergestalt eine der ersten modernen Städte gewesen zu sein. 2 vgl. u.a. Virilio (1978, 1980, 1989, 1995) 3 Hans Belting am 1.2.2006 in seinem Vortrag “Perspektiven des Blicks - die Bildfrage in neuer Sicht” innerhalb der Berliner Thyssen-Vorlesungen “Zur Ikonologie der Gegenwart” an der Humboldt-Universität zu Berlin.
