eJournals Kodikas/Code 29/4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2006
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Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision

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2006
Hans W. Giessen
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Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision Über mögliche Gründe und Konsequenzen des aktuellen Epochenwechsels im Genre des Science-Fiction-Films Hans W. Giessen 1. Intro: Krieg als Videospiel? “Krieg sollte nicht sein wie ein Videospiel”, sagt Kampfpilot Ben Gannon (Josh Lucas). Der im Sommer 2005 angelaufene US-amerikanische Science Fiction-Film “Stealth” 1 , in dem Gannon fliegt und schießt und die Welt rettet, zeigt aber genau das: Es ist spannendes Popcorn-Kino, in dem der Krieg wie ein Action-Videogame auf großer Kinoleinwand aussieht. Mehr noch: Die Geschichte deutet Themen an, die ernsthaft und wichtig sind; Themen, die jahrzehntelang die Science Fiction-Literatur und auch viele -Filme geprägt haben: Ist Künstliche Intelligenz Segen oder Fluch? Wohin führt unkontrollierter technischer Fortschritt, zumal, wenn er, was immer wieder (auch in diesem Film) als fast zwangsläufig unterstellt wird, mit menschlichem Größenwahn gekoppelt ist? Diese Fragen sind in “Stealth” aber nicht viel mehr als das Alibi. Die Geschichte handelt von einem Tarnkappenbomber, der nicht von einem Piloten, sondern von einem KI-Computer gesteuert wird. Nach einem simplen Blitzeinschlag gerät er außer Kontrolle. Um nun die Welt vor atomarer Vernichtung zu retten, müssen menschliche Elitepiloten, Gannon und seine Partnerin, den irrintelligenten Flieger-Prototypen in einem eindrucksvollen Showdown zerstören. Die philosophischen und vielleicht heutzutage auch ganz praktischen Fragen verpuffen in einem bombastischen visuellen Feuerwerk. Wenn denn überhaupt beabsichtigt war, sie ernsthaft zu thematisieren. Denn: ganz offensichtlich ist Popcorn-Kino das Ziel des Films, nichts sonst. Das ist völlig legitim und reagiert auf Bedürfnisse, deren Befriedigung Einnahmen erwarten lässt. Und so scheint auch der Satz “Krieg sollte nicht sein wie ein Videospiel” eben allenfalls Alibifunktion zu haben; vermutlich stellt er nur ein selbstverliebtes Spiel am Rande dar, ein Spiel mit der Meta-Ebene, das, vielleicht, bei einigen Zuschauern ein kurzes Lächeln hervorruft. Ein Satz zudem, der zeigt, dass Autor und Regisseur wussten, was sie taten, und selbstbewusst und souverän genug waren, (auch) damit zu spielen. Andererseits ist ein solches Selbstbewusstsein, eine solche Souveränität nur möglich, wenn man mit dem Mainstream tanzt. Es gibt zwar auch die Fälle von Selbstbewusstsein, die aus der Überzeugung resultieren, das Richtige erkannt zu haben, selbst wenn die übrige Welt dies (noch) nicht gemerkt hat - aber dies äußert sich selten so spielerisch, so beiläufig, so lässig, ohne den Zwang, etwas beweisen zu müssen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 29 (2006) No. 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Hans W. Giessen 380 Und in der Tat ist “Stealth” keine Ausnahme. Viele US-amerikanische Science Fiction- Filme der letzten Jahre orientieren sich mehr am Videospiel denn an einer die Zukunft problematisierenden (oder auch feiernden) Reflexion, mehr am Rausch der weitgehend zweckfreien Ballerei denn an einer konsistenten Geschichte. Das Computerspiel übernimmt den SF-Film; “Lara Croft” in Form von Angelina Jolie ist das Emblem dieser Entwicklung 2 . Selbst Steven Spielberg ist in seinem 2005 entstandenen SF-Film “War of the Worlds” 3 fast ausschließlich am Effekt interessiert, kaum an H.G. Wells Parabel auf den Kolonialismus 4 . Weitere willkürlich ausgesuchte Filme aus der jüngeren Vergangenheit, drei weitere Indizien für diesen Eindruck, allesamt aus den letzten Jahren: “Alien vs. Predator” 5 , der aus Ridley Scotts verstörendem “Alien” 6 eine ausgesprochen wirksame Computerspiel-Figur macht; “Timeline” 7 , der Michael Crichtons auf einer durchaus interessanten und vielschichtigen theoretischer Konzeption beruhenden Roman 8 in ein buntes Mittelalter-Computerspiel verwandelt, oder “Butterfly Effect” 9 . Dieser Film übernimmt als handlungstragendes Element gar ein zentrales Element des Computerspiels: der ‘Held’ hat die Fähigkeit, die Vergangenheit zu verändern - wenn es in der ‘Gegenwart’ des Films ein Problem gibt, korrigiert er einen historischen Wendepunkt. Er kann also immer wieder neu ‘starten’, wenn er (oder seine Schulfreundin) im ‘Spiel des Lebens’ zu verlieren droht. Wenn man so will, thematisiert der Film ein entscheidendes Charakteristikum der Videospiele: die Tatsache, dass es dort keine kontinuierlichen Geschichten gibt, dass sie immer wieder gespielt werden können, immer wieder spannend sein müssen, aber - jenseits eines zumeist eher rudimentären ‘Rahmens’ oder eines mehr oder weniger konsistenten Albis - gerade deshalb keinen Kontext, kein Ziel (außer dem Überleben und Siegen) kennen dürfen. Die Fragen dahinter: Würde dies unsere Einstellung zum Leben ändern? Ändern Computerspiele unsere Einstellung zum Leben? all dies thematisiert auch dieser Film nicht, charakteristischerweise. Dazu wäre ja eine Argumentationskette, dazu wäre Reflexion nötig. Was der Film macht, was er leistet: Er spielt mit seiner Idee, ist verfilmtes Computerspiel. Insgesamt: Die Indizien sind vielfältig - die Mehrzahl der SF-Filme der jüngeren Vergangenheit sind verkappte Videospiele. Sicher nicht alle, aber doch immer mehr. Und oft auch visuell sehr interessante, faszinierend verfilmte Videospiele. Filme, die nichts anderes sein wollen. Und die als das, was sie sind, überzeugen. Umgekehrt: Filme, die nicht (nur) auf Effekte zielen, die ernsthaft Geschichten erzählen wollen, die - gerade das war ja wichtig im Genre des Science Fiction - die Gegenwart (und ihre Konsequenzen für die Zukunft) problematisieren, und zwar jenseits simpler Alibis und Cover Stories, solche Filme gibt es zwar auch noch, aber immer seltener. Was könnte der Grund für diese Entwicklung sein? Der folgende Beitrag stellt dazu eine Vermutung an, die über das Genre des Science Fiction hinausreicht. Anhand dieses Genres kann sie aber besonders gut dargestellt werden. Zudem habe ich den Eindruck, dass sie sich in nur wenigen Genres (heutzutage) so deutlich auswirkt wie hier. Aber wenn die folgende Argumentation korrekt sein sollte, gilt sie nicht nur für SF-Filme. 2. Unterschiedliche Epochen und die sie bestimmenden übergreifenden Tendenzen: Abschied von der Phase des SF-Films als ‘dystopische Vision’ Dass Filme (und ganz allgemein Kulturäußerungen) nicht ‘zeitlos gleich’ sind, sondern in Form und Inhalt je nach der Epoche, der sie entstammen, unterschiedlich gestaltet werden, ist ein Gemeinplatz. Auch die Erklärung dieses Sachverhalts wird eigentlich nicht mehr Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 381 bestritten. Es ist einer der Bereiche, in dem heute die materialistische Begründung allgemein akzeptiert wird: Demnach bestimmt das gesellschaftliche Sein das (kulturelle) Bewusstsein: Kulturäußerungen reagieren auf sich verändernde gesellschaftliche Zustände. Diskutiert wird allenfalls (und immerhin), wieso sich gesellschaftliche Zustände ändern, und auch, wie sich dies auf die Aussagen und Form von Kulturprodukten auswirkt, auf ihre Zielsetzung. Dies werden auch zentrale Fragestellung dieses Artikels sein. Sicher gibt es immer wieder Einzelbeispiele, die ‘aus der Reihe tanzen’, wo Neues ausprobiert wird (mit dem Risiko des Scheiterns), die individuelle oder gar autistische Spielereien sind. Als ‘übergreifende Tendenz’ ist die Existenz unterschiedlicher, beschreibbarer kultureller Epochen aber unbestritten. Dies gilt natürlich auch für Science Fiction-Filme. Ich beziehe mich im folgenden auf SF- Filme aus dem angelsächsischen Sprachraum. Der Grund dafür ist, dass diese Filme aufgrund der Vertriebsstrukturen auch in Mitteleuropa weithin bekannt sind und konsumiert werden. Ich gehe davon aus, dass sie hier auch ähnlich rezipiert werden, so dass ihre semantische Wirksamkeit zumindest ähnlich sein muss - dass also die Bedingungen, unter denen sie rezipiert werden, zumindest bezüglich der Möglichkeit, diese Filme zu verstehen, verglichen werden können. Zudem werden im angelsächsischen Sprachraum im Gegensatz zu Mitteleuropa (Deutschland, Frankreich) so viele Science Fiction-Filme produziert, dass es legitim ist, übergreifende Tendenzen herauszuarbeiten. Schon eine oberflächliche Durchsicht verschiedener Film, ihrer Machart und ihrer Themen bestätigt, dass es in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Wandlungen gegeben hat - die mit gesellschaftlichen Wandlungen korrelieren. Besonders auffällig und vielbeschrieben ist der Bruch in den siebziger Jahren. SF-Filme aus den fünfziger bis weit in die siebziger Jahre waren ganz überwiegend optimistisch und fortschrittsgläubig, neue Grenzen wurden von einer Menschheit durchbrochen, die damit Wohlstand und Sicherheit zu fremden Völkern in entfernten Galaxien brachte. Inhaltlich überwogen Weltraumabenteuer und Zeitreisen. - Gemeinhin wird der Bruch im gesellschaftlichen Bereich als Ende einer Zeit beschrieben, die im Rahmen des Wiederaufbaus der westlichen Gesellschaften nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und getragen vom materiellen Wohlstand und Wachstum jener Zeit von utopischen Hoffnungen geprägt war. Zumindest ist die zeitliche Gemeinsamkeit auffällig, die zwischen der Änderung bezüglich Inhalt und Form von SF-Filmen und einer neuen Bewertung gesellschaftlicher Prozesse besteht. Speziell bezogen auf das Genre des Science Fiction bestätigte Frederic Jameson, hier werde besonders auffällig gespiegelt, dass die Gesellschaft die Fähigkeit verloren habe, soziale Utopien zu entwickeln, geschweige denn, für sie einzutreten 10 . Jameson spricht deshalb von dystopischen Visionen. Allgemein kann also festgestellt werden, dass sich SF-Filme seit den siebziger Jahren atmosphärisch wie thematisch verändert haben. Nun sind sie weniger harmonisch, fortschrittsgläubig und vom Glauben an eine ‘gerechte Sache’ durchzogen. Die Themen verlagern sich weg vom Weltraum, hin zur Erde, zu Biotechnologie, Computer und Informationstechnologien. Ich selbst habe versucht, diese Charakteristika und übergreifenden Tendenzen am Beispiel des Films “Strange Days” 11 zu beschreiben 12 . Wenn nun die anfangs gemachten Beobachtungen korrekt sein sollten, findet seit einiger Zeit ein erneuter Wandel statt: vom dystopischen SF-Film der 70er bis 90er Jahre zum verfilmten Computerspiel. Ganz offensichtlich erleben wir einen weiteren Bruch, sind wir schon mitten in einer neue Phase. Was könnte diesen Bruch verursacht haben? Offensichtlich haben sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen seit den späten siebziger Jahren wenig geändert; die materielle Hans W. Giessen 382 Grundlage ist also die gleiche: Der Wiederaufbau der westlichen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg ist abgeschlossen; die seit den späten siebziger Jahren beobachtbaren gesellschaftlichen Problembereiche wie die ‘neue Armut’ existieren verstärkt weiter; vor allem existieren auch viele der Probleme, die mit und durch die Veränderung der Umweltbedingungen erkennbar wurden, verstärkt fort. Was also ist neu seit den neunziger Jahren so neu, dass es den Bruch, der (beispielsweise) im Bereich des SF-Films so einschneidend wirkt, erklären könnte? Meine These, die ich im folgenden zu begründen versuche, lautet: Die Mikroelektronik hat große technischen Schübe ermöglicht und Vieles verändert. Der Verdacht, dass der Durchbruch der Mikroelektronik den beschriebenen Wandel beim SF-Film verursacht hat, wird nicht nur durch die zeitliche Koinzidenz erhärtet. Ein starkes Indiz ist ja gerade, dass die Filme typische Formen des mikroelektronischen Mediums par excellence, des Computers, aufgreifen und adaptieren. - Dennoch: Kann eine neue Technik, ein neues Medium so dramatische Wirksamkeit entfalten, dass es gar zu einem Bruch im Genre und Thema bei wichtigen Kulturäußerungen der westlichen Gesellschaft, etwa beim Science Fiction-Film, kommt? Zu neuen Darstellungsformen, neuen Inhalten - hier: zu Geschichten, die weniger komplex sind als früher, die einem visuellen Feuerwerk gleichen, wo sich aber weniger entwickelt, wo weniger erzählt wird, wo es weniger Reflektion, weniger Argumentation gibt? Kann dies alles die Folge der Mikroelektronik, des Computers sein? 3. Zum Verhältnis von Medium und Inhalt, Struktur und Kultur Ich vermute dies. Zumindest scheint einleuchtend zu sein, dass neue Techniken und Medien (auch) die Art und Weise der Aufbereitung von Themen (ja: die Wahl der Themen selbst) bestimmen. Zum Beispiel: Die mündliche Erzähltradition ist repetitiv und redundant; Bücher dagegen erzählen (in der Regel) stringent, sie sind argumentativ; Filme erzählen ebenfalls stringente Geschichten, lösen sie aber visuell auf, zeigen das, was man sich beim Erzählen selbst vorstellen muss, worauf man dort immer wieder hingewiesen werden muss. - Und es scheint auch akzeptabel, festzuhalten, dass sich medial aufbereitete Themen historisch nicht nur je nach gesellschaftlicher Situation änderten (herrschte Krieg? herrschte Wohlstand? gab es eine Diktatur, gab es Demokratie? wie war das Verhältnis der Geschlechter zueinander geregelt? welche Rolle spielte die Religion? ), sondern auch abhängig vom benutzten (oder benutzbaren, weil vorhandenen) Medium. Auch das widerspricht nicht dem materialistischen Erklärungsansatz, wonach das Sein das Bewusstsein prägt. Bei jedem neuen Medium hat sich in langsamen Erfahrungsprozessen herauskristallisiert, was sich darstellen und ausdrücken lässt. Im Einzelfall sind die Wirkungsmechanismen recht komplex - eine Beschreibung ist also nicht unproblematisch, weil sie möglicherweise einzelne Aspekte überbewertet, anderes übersieht. Aber natürlich bedeutet dies nicht, dass man es nicht versuchen sollte. Die Vorstellung, dass unterschiedliche Medien zu unterschiedlichen Inhalten führen, ist zunächst irritierend. Diese Irritation resultiert aus einer Tradition der Unterbewertung medialer Vermittlung. Das klassische Kommunikationsmodell, das schon auf die antike Rhetorik zurückgeht, beschreibt eine Person, von der die Kommunikation ausgeht - das theoretische Modell, auf das heutzutage in der Regel zurückgegriffen wird, Claude Elwood Shannons und Warren Weavers “mathematische Theorie der Kommunikation” 13 , nennt diesen Ausgangspunkt der Kommunikation den ‘Sender’ -, und die Person, die das Ziel der kommunikativen Bemühungen ist, den ‘Empfänger’. Für die Darstellung des Kommunika- Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 383 tionsprozesses in historischer Zeit genügen diese beiden Elemente; der Kommunikationsprozess erfolgte in der Regel direkt, da (nahezu ausschließlich) mündlich. Unter Umständen benötigen Sender und Empfänger nun aber auch ein Medium, eine ‘Mittelinstanz’ (vom lateinischen medium, das Mittlere), damit die kommunikativen Signale gut vom Sender zum Empfänger kommen können. Ein historisch frühes Beispiel für ein solches ‘Medium’ sind bildhafte Darstellung in steinzeitlichen Höhlen. Bereits der Begriff ‘Medium’ - ‘Mittelinstanz’ macht deutlich, dass damit das ‘Sender’-,Empfänger’-Modell nicht aufgegeben wird. Es handelt sich vielmehr um eine Metapher, die den Ort und die Funktion dieser Instanz im Kommunikationsfluss lokalisiert und bewertet. Es war jedoch stets (selbst den steinzeitlichen Menschen zumindest unbewusst) klar, dass diese mediale Form des Informationstransfers nicht nur untersucht werden muss, weil sie möglicherweise störanfällig ist oder den Umfang, die Sende- und die Empfangsmöglichkeiten der zu übermittelnden Informationen begrenzt. Schön früh hat sich gezeigt, dass die Metapher problematisch sein kann, weil sie nicht nur ‘Mittelinstanz’ ist, sondern auch selbst die Art und den Inhalt der zu übermittelnden Informationen (mit) beeinflussen kann. Ein einfaches Beispiel, das auf Harold A Innis zurückgeht 14 , soll dies verdeutlichen: Wenn der Aufwand, Informationen medial darzustellen, so hoch wie beim Beispiel der steinzeitlichen Höhlenbilder ist, können aktuelle Diskussionen nicht medial geführt werden, denn die entsprechenden Darstellungen benötigten bereits bei der Produktion viel Zeit. Sie lassen sich auch nicht transportieren und sind mithin in ihrer Wirksamkeit auch räumlich beschränkt. Die Inhalte, die zu diesem ‘Medium’ passen, sind deshalb kultischer Natur; sie sind auf Dauerhaftigkeit und in der Folge vor allem auf Traditionserhalt ausgerichtet. Eine Veränderung (etwa als Folge eines gesellschaftlichen Diskurses) ist ja nur schwer möglich. Kunst und generell Inhalte, die medial vermittelt wurden, waren deshalb seit der Steinzeit hauptsächlich sakral. Es ist also einerseits das kognitive Vermögen, mit Medien umzugehen, das den Umgang mit ihnen prägt (also die Kompetenz des Nutzers); andererseits und teilweise in Wechselwirkung damit sind es die Charakteristika der Medien selbst. Beides bestimmt, wozu Medien genutzt werden (können). Beides prägt mithin die inhaltliche Darstellung. Autoren, die bewusst und effizient mit ‘ihrem’ Medium arbeiten wollen, müssen auf beides Rücksicht nehmen. Inzwischen hat der Anteil des medial vermittelten Informationstransfers dramatisch zugenommen, weil sich die Medien selbst verändert haben. Eine mediale Präsentation ist heutzutage wesentlich leichter möglich; erneut kann vermutet werden, dass der veränderte - immer häufigere und selbstverständlichere - Umgang mit medial aufbereiteten Informationen auch Auswirkungen auf die entsprechenden Inhalte, ihre Aufnahme und den Umgang mit ihnen hat. Um das Beispiel fortzuführen: Walter Benjamin hat aus genau diesem Grund darauf hingewiesen, dass traditionellen mediale Darstellungen ein Element immanent war, das er als die ‘Aura eines Kunstwerkes’ bezeichnet hat 15 . Diese ‘Aura’ verflüchtige sich nun; aus diesem Grund werden mediale Informationen seiner Meinung nach zunehmend banal. Benjamin kann als Beispiel für eine Forschungs- und Diskurstraditionen gelten, die ihren Fokus weniger auf die Funktion des Mediums als Verstärker oder Problem beim Übermitteln von Informationen zwischen ‘Sender’ und ‘Empfänger’ richtet, sondern die sich auf die von ihm bestimmten inhaltlichen Determinierungen bezieht. Mehr noch: Indem die Medien die Inhalte bestimmen, verändern sie auch unserer Erfahrungen, unsere Gesellschaft und unser Leben. Auch solche Überlegungen haben bereits eine lange Tradition; einer der wichtigsten antiken Vertreter ist beispielsweise Platon 16 . Hans W. Giessen 384 Die ‘Erfindung’ der Schrift ist ein großer Einschnitt. Natürlich ist unsere Gesellschaft, unser Leben heute ganz anders als in traditionellen Dorfgemeinschaften, und natürlich wirkt sich dies auch auf Kulturäußerungen aus. Die meisten waren mithin noch gar nicht möglich. Natürlich waren auch fast alle Themen, um die Science Fiction-Erzählungen kreisen, buchstäblich undenkbar. Verschiedentlich wurde deshalb darauf hingewiesen, dass das Alte Testament der Bibel ein klassisches Beispiel eines für den mündlichen Vortrag ‘erstellten’ Textes ist 17 : es ist redundant, deskriptiv, hier wird nicht argumentiert, sondern verkündet. Für breite Bevölkerungsschichten war die Tatsache, dass Medien die Kommunikation verändern, erst in der Folge der Erfindung der Druckkunst erfahrbar. Doch bis man dies erkennen konnte, verging erneut viel Zeit - zunächst führte diese Erfindung lediglich dazu, dass die vorhandenen Inhalte gedruckt wurden, eben die Bibel. Erst später wurde die neue Technik für spezifisch neu entwickelte Ausdrucksformen genutzt: Flugblätter erregten zunächst rein schon deshalb Aufsehen, weil sie noch immer etwas Besonderes, Ungewöhnliches waren, plötzlich waren neue Formen der Politik, des ‘öffentlichen Diskurses’ möglich! - Noch länger hat es gedauert, bis die charakteristischen, medienadäquaten Kunstformen entwickelt waren, die zum Medium ‘Buch’ passen; es hat Jahrhunderte von der Erfindung der Buchdruck-Kunst bis zur ersten Blütezeit des Romans im Barock benötigt. Und ähnlich lange hat es gedauert, bis sich der wissenschaftliche Publikationsstil etwa mit dem Kriterien der Überprüfbarkeit herauskristallisiert hatte und zur gesellschaftlichen Dominanz der Wissenschaften (vor anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa dem Militär) geführt hat. Langsam entwickelte sich auch das Zeitungswesen, zunächst in den Handelsstädten der Niederlande und Englands, wo man verlässliche, schnelle und präzise Informationsformen als Grundlage von Wirtschaft und zunehmendem Kapitalverkehr benötigte. So förderte die Drucktechnik mit den Medien Flugblatt, Zeitung und Buch immer schneller neue Gesellschafts- und Wirtschaftsformen. Schien die Drucktechnik also zunächst zur Verstärkung der traditionellreligiösen Lebensform beizutragen (weil man ihre Folgen noch nicht erkennen konnte), wissen wir heute, dass die durch sie ermöglichten, damals ‘neuen’ Medien entscheidend für gesellschaftliche Änderungen waren - sie haben zur Welt geführt, wie sie heute existiert. Alle wichtigen, die Gesellschaft dominierenden Medien verändern die Gesellschaft, weil sie jeweils andere Eigenschaften haben. So habe sich auch das Fernsehen zunächst den vorhandenen Kulturäußerungen zugewandt, vor allem in den Nachrichtensendungen, die sich inhaltlich und formal an den Standards von Zeitungen orientierten, sowie in Literaturverfilmungen - Rückgriffe auf die davor dominanten Medien. Erst nach mehreren Jahrzehnten wurde klar, dass die Talk-Show eine medientypische Sendeformen darstellt: Man hört Gesprächen besser zu, als dass man sie liest; weil man die Gesprächspartner aber gleichzeitig auch sieht, ist es leichter, den Überblick über Personen und Meinungen zu behalten. Man sieht, wie jemand reagiert; man kann sich überlegen, ob man ihn sympathisch findet; man lacht eher über einen Witz mit, wenn man jemanden lachen sieht. 4. Inhalte suchen sich ihre Medien Natürlich haben auch die ‘Neuen Medien’ die Gesellschaft verändert, sie haben beispielsweise neue (globale) wirtschaftliche Produktionsprozesse ermöglicht (und erzwungen). Das Internet, das es gestattet, alle Informationen, aber beispielsweise auch konkrete Geldströme sekundenschnell weltweit verfügbar zu machen, hat unser traditionelles Denken bezüglich wirtschaftlicher und politischer Prozesse obsolet werden lassen. Der umfassende Zugang zum Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 385 kompletten Weltwissen und zu den globalen Diskursen kann sich auch auf politische Institutionen auswirken. So wird ja beispielsweise häufig darüber diskutiert, ob die Ebene, auf der Politik heutzutage stattfinde - die Ebene des Nationalstaats, allenfalls die Ebene eines Verbunds benachbarter Nationalstaaten, wie wir ihn exemplarisch in der EU sehen - insbesondere den ‘Neuen Medien’ und ihren dramatischen Konsequenzen noch angemessen sei. Diskussionen beispielsweise um die Möglichkeiten (und vor allem die Grenzen der Möglichkeiten), die Staaten wie China haben, das Internet und mithin die Informationsflüsse in der Gesellschaft zu kontrollieren, bis hin zu so konkreten Fragestellungen wie die zukünftige Funktion und Durchsetzbarkeit des Urheberrechts deuten an, dass sich traditionelle Regelungsmechanismen und die sie garantierenden gesellschaftlichen Ordnungsfunktionen ändern (müssen) - zumindest: dass neue Probleme entstanden sind, die sich mit herkömmlichen Institutionen nicht lösen lassen. Die ‘Neuen Medien’ erzwingen also erneut neue Institutionen, neue Formen des gesellschaftlichen Umgangs miteinander, neue Formen des Denkens. So kann vermutet werden, dass mit den neuen Publikationsformen auch neue inhaltliche Schwerpunkte entstehen. Welche Publikationsformen sind nun typisch für die ‘Neuen Medien’? Was kann über die Charakteristika des Computers gesagt werden? Bereits in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde deutlich, dass dort Texte ganz anders gelesen werden als in einem Buch oder in einer Zeitschrift. Demzufolge müssen sie auch anders geschrieben und dargestellt werden. Der Grund liegt auch hier ganz eindeutig im Medium selbst: Der Computer-Monitor erschwert den Überblick über längere Texte. Man hat nur den visuellen Überblick über das, was auf der aktuellen Bildschirmseite erscheint. Ist der Text länger als die aktuelle Bildschirmseite, muss man scrollen - das heißt: über den Schieberegler, der sich in der Regel am rechten Bildschirmrand befindet, denjenigen Teil des längeren Gesamttextes auf den Monitor holen, der zunächst nicht zu sehen war. Das scheint zunächst einmal kaum anders zu sein als das Blättern in einem Buch oder in einer Zeitschrift. Während es aber bei einem Buch oder in einer Zeitschrift ein leichtes ist, zurückzublättern oder einen Finger auf dem Inhaltsverzeichnis zu lassen (abgesehen davon, dass es dort auch leichter ist, Randbemerkungen zu schreiben oder Textpassagen zu unterstreichen oder zu markieren), ist dies alles auf dem Computerbildschirm viel schwerer. Tatsächlich haben Experimente und Befragungen ergeben, dass fast alle Computernutzer, die längere Texte lesen, sich auf die aktuelle Bildschirm-Seite konzentrieren, und versuchen, die davorliegenden Seiten - und den Überblick über den bis dahin gelesenen Gesamttext - im Gedächtnis zu behalten. Das genaue Auffinden auf dem Monitor ist ihnen in der Regel zu mühsam, wenn es überhaupt gelingt. Denn allzu häufig wird es unmöglich, mit Hilfe des grauen Rechtecks auf der Schiebeleiste exakt die gewünschte Stelle zu finden - ein Problem, das umso größer wird, je länger der Text ist. Zudem gibt es bei HTML-Dokumenten keine Seitenzahlen, da die Darstellung der Seiten von den Einstellungen des Nutzers abhängt. Geht der Überblick verloren - und je länger der Text ist, desto wahrscheinlicher ist, dass dies passiert -, dann fangen nur wenige Nutzer noch einmal von vorne an, denn nun ist die Lektüre ja mit einem Frustrationserlebnis verbunden. Allerdings: die Tatsache, dass am Computermonitor längere Texte nur selten zuende gelesen werden, hat weitere Gründe, die den Autoren oft nur vage und unbewusst klar sind. Ganz entscheidend ist, dass computergestützte Medien im Vergleich zu Druckwerken physiologische Probleme und Zwänge verursachen. Im Gegensatz zum Druck flimmert das Bild auf dem Monitor. Dieses Problem besteht bei LC-Displays nicht mehr. Dennoch ist die Zeichenauflösung sowohl bei LC-Displays, als auch bei Röhrenmonitoren relativ gering. Physiologische Untersuchungen haben zudem ergeben, dass es beim Betrachten des Hans W. Giessen 386 Computer-Monitors weniger Lidschläge als normalerweise gibt - mit der Folge, dass die Augen weniger oft befeuchtet werden und daher rascher ermüden. Dies verstärkt die bereits genannten, ebenfalls die Augen anstrengenden und ermüdenden Nachteile des Flimmerns beziehungsweise des Reflexionseffekts und der geringeren Zeichenauflösung. Schließlich ist die Körperhaltung nahezu unveränderbar. Der Computer-Monitor kann ja nicht so leicht verschoben werden, wenn die Sitzposition unbequem wird. Gerade beim Lesen verkrampft sich die Körperhaltung ganz besonders, was die Ermüdungseffekte weiter verstärkt. Werden Bilder auf dem Computer-Monitor angesehen, wirkt sich dieses Phänomen nicht ganz so krass aus, denn hier kann man ja mit den Augen ‘spazierengehen’ oder sich auch einmal zurücklehnen. Die Konsequenzen für Autoren sind bedenklich. Die Lesengeschwindigkeit ist ein Viertel bis ein Drittel langsamer als bei Druckwerken, die Behaltensleistung ist deutlich geringer als beim selben Text in der Druckfassung, und es scheint gar so zu sein, dass viele Computernutzer Texte tendenziell regelrecht zu vermeiden suchen. Oft wird deshalb behauptet, dass man von einem traditionellen ‘Lesen’ bei computergestützten Medien gar nicht mehr sprechen könne. Dies betont beispielsweise der amerikanische Informationswissenschaftler Jakob Nielsen 18 . Entweder wird der Text ausgedruckt - oder er wird nur noch ‘überflogen’. Autoren müssen also längere Texte vermeiden. Der Text sollte allenfalls ein einmaliges Scrollen erzwingen; besser noch ist, wenn er ohne Scrollen lesbar ist. Er sollte also nicht länger als eine Seite sein. Es entsteht also die Möglichkeit beziehungsweise Notwendigkeit der Zerlegung der Texte in einzelne Sinn-Schritte beziehungsweise einzelne Module; man spricht deshalb auch davon, dass eine Modularisierung bei multimedialen Texten unumgänglich ist. Dies wiederum bedeutet, dass Argumentationsstränge wesentlich schwerer dargestellt werden können als im Rahmen eines geschriebenen Textes. Schwierig ist es auch, Geschichten in kleinen Modulen zu erzählen. Entwicklungen lassen sich schwer darstellen; hier funktionieren Bücher oder ‘Time Based Media’ wie Filme oder Animationen besser. Auch der frühe Erfolg der Nintendo- und Gameboy-Spiele bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre lässt sich darauf zurückführen, dass man dort stundenlang - aber individuell gestaltbar, mit unterschiedlich langen Pausen, unterschiedlich intensiv - seine Geschicklichkeit und sein Konzentrationsvermögen erproben konnte. Die Spiele waren (erneut) repetitiv, Geschichten gab es keine; es ging darum, vom Himmel fallende Bomben zu zerstören oder auch nur ein Squash-Spiel über eine längere Phase laufen zu lassen. Was dort angelegt war, wurde später mit Konsolen aufgegriffen, immerhin nun mit mehr und immer mehr Kontext, besseren Bildern und Graphiken, aber dennoch immer im Sinne einzelner Aufgaben, keiner Argumentationskette, keiner Erzählung - zumindest keine Erzählung, die wie im Buch oder im Film ein Erinnern an Figuren, Einstellungen, Konstellationen verlangte, die also über einen recht einfachen Erinnerungs- und Reflexionsgrad hinausging. Erst langsam wuchsen beide Medien zusammen, drängten Spiele auch auf den Computer. Dass dies so lange dauerte, lag vor allem daran, dass Konsolen auf graphische Darstellungen spezialisiert waren, während sich computergestützte Medien aus der Tradition des Textes entwickelt hatten. Solange dort der Text dominiert hat und der Arbeitsspeicher beim Personal Computer begrenzt war, hatten beide Medien kaum etwas miteinander zu tun. Ganz ähnlich, wie dies in der Geschichte der Drucktechnik und der Bibel der Fall war, wurden also auch beim Personal Computer zunächst Texte und allgemein die Inhalte vorhandener Medien kopiert beziehungsweise imitiert. Das Internet wurde anfänglich nur genutzt, weil Texte besser erschlossen werden sollten; mehr war - dies ist die technische Seite dieses Aspekts - aufgrund geringer Übertragungs- und geringen Speicherkapazitäten auch nicht Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 387 möglich. Der Grund für die Vernetzung von Computern war, dass dadurch Mails ausgetauscht werden konnten, aber dies war für die Mehrzahl der Nutzer auch die einzige Anwendung. Selbst die Anfänge der Hypertextualität waren ausschließlich textbasiert. Mit Gopher konnten seit den achtziger Jahren Textzeilen mit Informationen zu Dateien übermittelt werden, die gleichzeitig zu diesen Dateien leiteten. Und erst in den neunziger Jahren wurde am Cern in Genf eine Sprache entwickelt, die es ermöglichte, Hyperlinks direkt in Texte einzubauen, die berühmte Hypertext Markup Language (HTML). Erst damit wandelte sich das World Wide Web von einer Verbindung zwischen Computern (mit dem alleinigen Ziel, Dokumente hin und her zu schicken) zu einem Ort, in dem tatsächlich publiziert werden konnte. Aber Publizieren bedeutete auch hier zunächst lediglich, mit Texten zu arbeiten; einzelne Bilder im Gif- oder Jpeg-Format galten bereits als atemberaubende Neuerung. Und erst eine neue Browser-Generation (Mosaic und Netscape ab Mitte der neunziger Jahre) führte zum Durchbruch. Dank dieser Browser und neuer Programme wie Java gibt es inzwischen viele weitere Möglichkeiten, und so ist nun deutlicher zu erkennen, was multimediale Produkte ausmacht und definiert - und sie von anderen Werken unterscheidet. Grundsätzlich gibt es drei Charakteristika: zum einen eben die Multimedialität - Bilder und Texte ergänzen sich, dazu kommen inzwischen auch Animationen, zudem gibt es die Möglichkeit, Audioelemente zu integrieren. Zum zweiten sind Multimedia-Angebote grundsätzlich offen - das heißt, dass man von einem Angebot zum nächsten kommen kann, sich beispielsweise Text aus einem Webangebot markieren und über Drag and Drop in einen eigenen Text integrieren kann, aber beispielsweise auch aus einer Webseite (oder auch eine CD-ROM oder DVD heraus) Mails an die Autoren schicken kann, oder gar zu Datenbanken geleitet wird und dort recherchieren kann. Dies führt bereits zum dritten Charakteristikum, der Interaktivität - die Nutzer haben einen mehr oder weniger weit reichenden Einfluss auf das, was sie sehen oder hören; sie können nicht nur die Darstellung verändern, indem sie beispielsweise die Schriftart oder -größe, in der sie Texte erhalten, selbst festlegen, oder indem sie entscheiden, wie groß die Frames sind, auf denen sie die Inhalte betrachten; sie können gar mehrere Frames gleichzeitig öffnen und je nach Belieben zwischen ihnen hin- und herpendeln; Autoren haben die Möglichkeit, mittels Programmiersprachen wie Java komplexe Reaktionsmöglichkeiten und gar Konstruktionsaufgaben für die Nutzer zu erstellen; schließlich können die Nutzer selbst entscheiden, ob sie einzelnen Hotspots oder Hotwords folgen oder nicht, sie können sich also Bilder in einem neuen Frame vergrößert betrachten, oder sie können direkt auf eine andere, in einer Fußnote zitierte Webseite springen und sind dort möglicherweise mitten in dem Artikel, aus dem ein Zitat stammt, und können von dort weiterklicken in einem fast unendlichen Verweisgefüge - wie es ihnen gefällt. Der Gedanke an die Unendlichkeit dieses Verweisgefüges und die Offenheit der Angebote, wie auch die historische Einmaligkeit, dass Nutzer nun ihre Produkte weitgehend selbst zusammenstellen oder verändern können, hat denn auch bald die Phantasie von Medientheoretikern angesprochen. Aber es hat sich gezeigt, dass nicht alle der in dieser frühen Phase formulierten Thesen eingetroffen sind. So haben beispielsweise Untersuchungen des durchschnittlichen Nutzerverhaltens im Internet ergeben, dass die Nutzer nur relativ selten neue, ihnen bis dato unbekannte Seiten aufsuchen - und wenn, dann eher aufgrund der Empfehlungen ‘realer’ Mitmenschen (Berufskollegen oder Freunde), als durch einen bewussten Umgang mit dem ‘unendlichen Verweisgefüge’. Zudem mussten auch verschiedene Aussagen darüber revidiert werden, was ‘medienadäquat’ sei. Beispielsweise wurden in der frühen Phase des Internet Erfahrungen mit dem Hans W. Giessen 388 adäquaten Einsatz von Texten in computergestützten Publikationen gesammelt. Verschiedene Schriftsteller und Künstler versuchten, sich das Neue Medium anzueignen und seine Gesetze auszuloten. Schnell experimentierten sie mit Hypertext Fiction, die aus erzählerischen Bausteinen bestand, die die Nutzer selbst zusammensetzen mussten, je nach Lust und Laune, in der Regel nach dem Zufallsprinzip - indem sie einen Link ignorierten und den gerade aufgerufenen Text weiterlasen, oder indem sie weitersprangen und einen neuen Link nutzten, um in eine neue Textpassage zu wechseln. Geschichten entwickelten sich nun nicht mehr linear entwickeln, sondern setzten sich individuell, bei jedem Leser, wie ein Mosaik neu zusammen. Offensichtlich sind viele Autoren der Überzeugung, dass das Leben selbst so zufällig sei. Das Neue Medium schien nun die Chance zu bieten, dies auch in der Form aufzugreifen und den Lesern diesen mehr oder weniger zufällig erscheinenden Wechsel konkret vor Augen zu führen, indem es nun auch von ihnen abhing (beziehungsweise von ihrem zufälligen Handeln: davon, ob sie einen Link anklickten oder eben nicht), ob etwas Banales auf etwas Alltägliches folgte - oder etwas Erhabenes. Die Auflösung der Linearität erschien als Chance, neue künstlerische Wege zu gehen. Sehr bald zeigte sich aber, dass die Leser den so experimentierenden Autoren nur sehr bedingt folgen wollten. Dies wurde vor allem mit einem Gefühl der Unsicherheit, des Unwohlseins begründet: die Leser hatten offenbar die Furcht, aufgrund des Zufallsprinzips etwas wichtiges zu versäumen, das die Erzählung weiterführt. Für Inhalte, in denen es eine Abfolge gibt (selbst wenn diese mit Zufälligem begründet wird beziehungsweise auf Zufälligkeiten beruht), ist also ein Medium notwendig, das eine gewisse Linearität reflektiert. Auch unabhängig von Hypertext Fiction ist das ‘unendliche Verweisgefüge’ mitunter problematisch. Viele Links sollen ergänzende Informationen bieten oder direkt zu einem Beleg führen. Die Funktion entspricht also derjenigen der traditionellen ‘Fußnote’, und es scheint zunächst ein zusätzlicher Service zu sein, wenn die Nutzer nun nicht mehr ‘nur’ eine Literaturangabe erhalten, sondern direkt zum zitierten Werk gelangen und dort beispielsweise das Zitat überprüfen können. Wenn die Nutzer aber einem solchen Link folgen, erhalten sie nun nicht nur einen kurzen Ergänzungstext oder Literaturhinweis - tatsächlich verlassen sie den aktuellen, von den Autoren geschaffenen Kontext. Wenn es auf der Seite, zu der der Link führt, weitere Verweisungen gibt, finden sie möglicherweise den Weg zum Ausgangspunkt gar nicht mehr zurück; zumindest leidet die Erinnerung an den exakten inhaltlichen Kontext des ursprünglichen Textes. Insgesamt kann es also schwierig sein, aufeinander aufbauende Entwicklungen oder gar Argumentationsketten mit dem Prinzip der Hypertextualität in Einklang zu bringen. 5. Welche Inhalte suchen sich jetzt den Computer aus? - Die Genres Blog, Chat, Computerspiel Und so herrschte bis weit über die Hälfte der neunziger Jahre (und in manchen Bereichen noch immer) Rätselraten darüber, wie der Computer medienadäquat genutzt werden könne. Zumindest wurde klar, dass vor allem punktuelle Informationen - insbesondere dann, wenn sie graphisch gestaltet und akustisch ergänzt sind - mit Hilfe der ‘Neuen Medien’ gut dargestellt werden können. Immer seltener spielt Text eine Rolle; in Chat-Räumen oder bei Blogs mehr (wobei auch hier Audio- und Videovarianten des Blogs immer häufiger die reine Textform ergänzen oder gar ersetzen); bei Computerspielen ist Text inzwischen weitgehend verschwunden. Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 389 Obwohl aber deutlich ist, dass Inhalte, bei denen Linearität und aufeinander aufbauende Argumentationen von wesentlicher Bedeutung sind, besser über andere Medien vermittelt werden und die computergestützten Angebote hier nur bedingt tauglich sind, sind die computergestützten Medien noch zu jung, um sicher sagen zu können, welche Inhalte am besten durch sie vermittelt werden können. Zumindest ist deutlich, dass lineare Inhalte nicht ideal für Webseiten, CD-ROMs oder DVDs sind; daher werden die ‘alten’ Medien sicherlich auch weiterbestehen. Sicherlich wird es aber auch in Zukunft ‘neue Medien’ mit linearen Inhalten wie etwa mit wissenschaftliche Darstellungen geben, zum Beispiel, weil diese Medien für viele Autoren die billigere und zeitsparendere Variante des Publizierens darstellen - sie rechnen damit, dass interessierte Leser ihre Texte und Tabellen ausdrucken; die Leser übernehmen also die Druckkosten. Natürlich nutzen die Autoren das computergestützten Angebot dann nicht medienadäquat, sondern nur als Kanal, der Inhalte transportiert, die ‘eigentlich’ zu einem anderen Medium gehören. Immerhin kann aber vermutet werden, dass für solche Inhalte auch zukünftig die Printform geeigneter bleiben wird. Die erfolgreichen computergestützten Angebote werden dagegen vermutlich nicht linear gestaltet sein dürfen. Demzufolge sind die charakteristischsten und erfolgreichsten Inhalte die sogenannten Blogs, Internet-Tagebücher, inzwischen in der Regel um Bilder ergänzt, immer aber kurze, emotional dichte Informationshappen, die nur noch selten argumentieren, die vielmehr Momentaufnahmen einfangen und mit Hilfe der vertrauten Kontinuität überwiegend emotionaler Informationen ihre Leserbeziehungsweise Nutzerschaft binden. Die sich auch innerhalb eines begrenzten Zeitraums weiterentwickeln, aber nie die Komplexität eines klassischen Romans oder Spielfilms mit vielen handelnden (dort eben durch Beschreibungen oder die visuelle Darstellung bekannte und wiedererkannte) Personen, mit Verweisen oder Exkursen haben können und dürfen. Ähnlich funktionieren virtuelle Diskussionsräume und vor allem eben Computerspiele - beide werden zudem deswegen geschätzt, weil sie Interaktivität ermöglichen, das weitere Charakteristikum ‘Neuer Medien’. Und so kamen auch mehr und mehr Spiele für den Computer auf den Markt, nicht nur für die Konsole. Die Spiele wurde visuell komplexer; es wurde möglich, Spiele und Spieler miteinander zu vernetzen. Langsam entwickelten sich sogar unterschiedliche Spiele-Genres: Rollenspiele, Strategiespiele, Abenteuerspiele, historische Spiele, Shooter-Spiele. Und langsam wird es auch möglich, die übergreifenden Tendenzen des Computerspiels zu erkennen und zu beschreiben. Intuitiv sind sie den meisten Spielemachern und Spielern bekannt. Auffällig sind auch die Parallelen zu den anderen charakteristischen und erfolgreichen Genres des Computers, dem Blog und dem Chatroom. Stets werden komplexe Kontexte und Entwicklungen vermieden, selbst in den beiden noch immer eher textbasierten Genres des Blogs und des Chats. Selbst Chatrooms, in denen nur Insider verkehren, kreisen immer wieder um sich selbst, entwickeln sich erstaunlich selten weiter (und wenn, dann wird eher ein neuer Chatroom eröffnet, als die Entwicklung im ‘alten’ Kontext voranzutreiben). Wichtig ist eher, dass man nicht mehr als drei Minuten braucht, um ‘drin’ zu sein - bei den genannten computergestützten Medien geht es in der Regel noch schneller. Dies funktioniert nur, weil Komplexität und große lineare Entwicklungen fehlen. Bei Spielen, die käuflich erwerbbar sind, werden durchaus eigene Welten gestaltet. Hier sollte die Punktualität also wieder zurückgenommen sein - wenn ein Nutzer ein Spiel erworben hat, lässt er sich etwas mehr Zeit. Wenn er aber in einer halben Stunde die Struktur und den Kontext nicht verstanden hat, gibt er, in der Regel frustriert und das Spiel nicht weiterempfehlend, auf. Kontext wird im Computerspiel visualisiert, aber eine komplexe Hans W. Giessen 390 Graphik entspricht in der Regel keiner sozialen oder gedanklichen Komplexität, keinem langen Erzählstrang. So geht es zwar bei der Mehrzahl der Computerspiele noch immer um’s Gewinnen, um den Sieg - aber dies ist auch schon alles, was an Linearität übrig geblieben ist. Beim berühmten “Doom” 19 oder bei “Quake” 20 geht es ums permanente Geballere, um sonst nichts. Wenn man aussteigt und einige Zeit oder einige Tage später wieder zurückkommt, kann man umstandslos weiterschießen, der Thrill ist sofort wieder da. Zwar muss man sich bei vielen Action-, Abenteuer- und Strategiespielen Runde um Runde, Ebene um Ebene weiterkämpfen. Aber es bleibt zumeist bei den unterschiedlichen Ebenen, darüber hinaus gibt es nur höchst selten komplexen Handlungsstränge und Verwicklungen. Die meisten Spiele insbesondere aus dem Fantasy-Bereich, ja: fast alle Echtzeit-Spiele reduzieren eine solche rudimentäre Handlungsrichtung auf das nötigste. Es gibt populäre Spiele, bei denen für viele Teilnehmer noch nicht einmal mehr der Kampf mit Drachen oder mit Außerirdischen im Vordergrund steht, sondern einfach das Leben in einer anderen, ungewöhnlichen Umgebung, zufällig und nichtlinear, eine Gegenwelt, die vermutlich gerade auch deswegen so interessant ist, weil sie (sogar im Gegensatz zum ‘richtigen Leben’ mit seinen Karriereplanungen) keine Linearität benötigt. Selbst wenn es um Intrigen, Karriere und Macht geht, wie bei historischen Spielen, die etwa im alten Ägypten angesiedelt sind, steht das Leben in der anderen Welt im Vordergrund. Das ist der Hauptgegensatz zum Krimi, zum historischen Roman und auch zur traditionellen Science Fiction-Story: Bei aller Identifikation mit gewissen Figuren ist beim Computerspiel die andere Welt und ihre Darstellung das Entscheidende, nicht die Geschichte. Dies scheint die Tendenz des Computerspiels zu sein: Die Spielwelten werden immer komplexer, um zum regelmäßigen Aufenthalt einzuladen; die Geschichten werden immer nebensächlicher. Zumindest müssen lange, komplexe Geschichten oder Argumentationsketten vermieden werden. Im Gegenteil soll jeder Nutzer, jeder Spieler seine eigenen Geschichten entstehen lassen, weil gerade dies ihn immer wieder in die jeweilige Spielwelt zurücktreibt. Je komplexer die Visualität der vorgegebenen Spielewelt, desto größer das Bedürfnis nach einer immer umfassenderen Handlungsfreiheit im Rahmen der jeweiligen Welt. Noch einmal: Die Ursache liegt offenbar im Medium, das ein spezifisches Nutzerverhältnis ja nach Sichtweise erzwingt oder ermöglicht. Und ähnlich wie sich ein Roman Thomas Manns nicht nur im Inhalt, sondern in seiner formalen Existenz von den Erzählungen der Märchen oder den ‘Texten’ des Alten Testaments unterscheidet, weisen Computerspiele spezifische, charakteristische Eigenschaften auf, die auf das Medium zurückzuführen sind. Dazu zählt der inhaltliche Komplexitätsverlust. Weil man häufig - und jederzeit schnell - ins Geschehen kommen (sich aber auch beim fünften Mal nicht langweilen) soll, werden Argumente, Entwicklungen, abstrakte Kontexte zugunsten des Prinzips der ergänzenden Variation zurückgenommen. Der einerseits medial ermöglichte, andererseits physiologisch bedingte Vorrang des Visuellen führt zu atemberaubenden Darstellungen, deren Bedeutung aber im Punktuellen liegt und die in der Regel nur begrenzte inhaltliche Funktionen haben. 6. Ausstrahlungs- und Rückwirkungseffekte Es gibt einen weiteren kommunikationswissenschaftlich beschreibbaren Effekt, der parallel zu den bereits geschilderten existiert (wonach ‘neue’ Medien ja zunächst die Inhalte der zuvor dominanten Medien aufgreifen). Dieser zweite Effekt könnte nun auch die neue Phase Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 391 des Science Fiction-Films erklären. Demnach führt die Dominanz eines Medium dazu, dass seine Gestaltungsprinzipien häufig auch auf andere Medien ausstrahlen. Was ist damit gemeint? Ein weiteres historisches Beispiel soll dies verdeutlichen: In der Schriftsprache entwickelte sich im Verlauf mehrere Jahrhunderte ein durchaus medienadäquater Stil, der auf sprachliche Komplexität abgezielte. Als medienadäquat wurde dieser Stil erachtet, weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass man Schriftsprache - im Gegensatz zum gesprochenen Wort - ja jederzeit nachlesen könne. Deshalb ist es möglich, das Bedürfnis nach Redundanz oder gar Einfachheit hinter ästhetische Bedürfnisse zurückzustellen. Das Ergebnis war aber häufig ein Stil, der nur jemandem zugänglich war, der gelernt hatte, mit ihm umzugehen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch viele Autoren überfordert waren. Was beispielsweise bei Thomas Mann klar und spielerisch wirken konnte (die durchschnittliche Satzlänge in seinem Roman “Doktor Faustus” 21 liegt angeblich bei 31 Wörtern), kann bei anderen Autoren überfrachtet, unnötig kompliziert oder gar unverständlich sein. Und noch dramatischer ist, dass dieser Stil - aufgrund der kulturellen und sozialen Bedeutung, die einer elaborierten Schriftsprache innewohnte - auch auf andere ‘Medien’ beziehungsweise mediale Verbreitungsformen ausstrahlte. Beispielsweise orientieren sich viele Universitätsprofessoren (noch heute und selbst und gerade in einer Veranstaltungsform, die ‘Vorlesung’ lautet) eher am Leitmedium ‘Schrift’ denn an einer für die mündliche Präsentation adäquaten Gestaltung - was dort zumeist nicht der Verständlichkeit dient (dass die auch nicht immer angestrebt wird, ist eine andere Sache). Solche Wandlungsprozesse müssen jedoch kein Dauerzustand bleiben. Interessanterweise haben hier die Ausstrahlungseffekte einer Neuentwicklung wiederum zur Änderung geführt, die in jenes ‘Zuviel’, das die Schriftlichkeit gelegentlich mit sich brachte, korrigierend eingreifen. So setzt sich mit dem zögerlichen Bedeutungszuwachs des Journalismus im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts langsam die Einsicht durch, dass dessen stilistische Elemente auch in anderen Texten sinnvoll sein können. In Europa, wo Zeitungen wie die “Times”, die “Frankfurter Allgemeine” oder “Le Monde” stilbildend waren, die sich charakteristischerweise noch eher an der literarischen Tradition orientierten (und wo die Tradition von Zeitungen wie “Bild” nicht eben förderlich zur Stil-Adaption wirkte), ist diese Tendenz erst in den vergangenen Jahrzehnten bemerkbar geworden. Neue Zeitungen wie etwa die “Tageszeitung” oder “Libération” griffen Einflüsse der Populärkultur und des Fernsehens auf und wirkten bald weiter auf andere Qualitätszeitungen. Heute wirken solche stilistische Elemente auch auf Traditionszeitungen zurück, selbst auf die Literatur. Die Sprache wird konkreter, wendet sich deutlich einer anderen Ästhetik zu. So kann zumindest im Deutschen beispielsweise die Tendenz beobachtet werden, dass Kernaussagen der Sätze wieder in Verben ausgedrückt werden und nicht mehr substantivisch, wie in der Wissenschafts- und Verwaltungssprache noch fast das gesamte zwanzigste Jahrhundert hindurch. Heute fallen insbesondere die Ausstrahlungseffekte von Fernsehen und ‘Neuen Medien’ auf die andere Veröffentlichungsarten auf. Beschreibungen auch in langen Romanen werden visueller. Und es gibt Ausstrahlungseffekte der ‘Neuen Medien’, die sich sogar bezüglich der angedeuteten problematischen Entwicklungen des Vortragsstils an Hochschulen bemerkbar machen, denn selbst wissenschaftliche Vorträge werden visueller. Heute sind Power-Point- Präsentationen, die mit Bewegungen und sich aufbauenden Bildern arbeiten, in vielen Fächern bereits Standard. Damit verändert sich aber zumindest die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Vorträge. Sie orientiert sich am - und richtet ihren Aufbau häufig nach dem - visuell Darstellbaren. Auch hier scheint es so zu sein, dass nun eine Fehlentwicklung (mündliche Darstellungen haben sich in den vergangenen Jahrhunderten am Leitmedium ‘Schrift’ Hans W. Giessen 392 orientiert, obwohl dies für Vorträge nicht medienadäquat ist) zurücknommen wird. Oft geht die Entwicklung gar über’s Ziel hinaus, und manchmal kann die Tendenz, Präsentationen auf die Illustrierbarkeit hin auszuarbeiten, gar zu einer Aufweichung durchaus begründeter akademischer Regeln führen. Im schlimmsten Fall werden theoretischere, abstraktere Reflektionen zugunsten der simplen Darstellbarkeit zurückgedrängt. Wie auch immer: Die ‘Ausstrahlungs-’ oder ‘Rückwirkungseffekte’, die dazu führen, dass Charakteristika und Regeln der als modern und zeitgemäß im öffentlichen Bewusstsein dominierenden sogenannten ‘Leitmedien’ auch auf andere Medien angewandt werden, wirken vermutlich auch für bei Computermedien - und beim Spielfilm. Beim Science Fiction- und Fantasy-Film ist es besonders nahe liegend, auf die Verbindung zu den Computermedien zurückzugreifen: Die beiden Genres SF und Fantasy sind beim Computer (neben dem Spiel in einer historisch zurückliegenden Welt) besonders wichtig, weil sie sich eben visuell besonders eindrücklich darstellen lassen. Ein Krimi, wo es weniger auf Visualität und mehr auf Narration ankommt, eignet sich dazu weniger. So stammen die Inhalte der Computermedien und des Science Fiction-Films aus dem selben Umfeld; das stellt noch mehr Nähe her, und natürlich erleichtert dies ‘Ausstrahlungs-’ oder ‘Rückwirkungseffekte’ noch mehr - der Kriminalfilm hat im ‘Leitmedium’ Computerspiel eben nichts oder doch zumindest deutlich weniger, worauf er zurückgreifen könnte. Ich vermute, dass diese ‘Ausstrahlungs-’ oder ‘Rückwirkungseffekte’ bei der Mehrzahl der Produzenten (erneut) mehr oder weniger unbewusst verlaufen. Vermutlich ist die Versuchung, mit Special Effects zu spielen und das Visuelle überzubetonen, einfach zu verlockend - und es gibt offenbar kaum ein Regulativ, da die Machart von Computerspielen ja akzeptiert und erfolgreich ist. Als eins der visuellsten Genres des Spielfilm ist der Bereich SF besonders anfällig für solche ‘Übergriffe’ aus dem anderen Medium, und damit schleichen sich auch immer stärker dessen Charakteristika in den Film ein: das Prinzip der variierenden Redundanz, das der Narration entgegensteht - Geballer statt Geschichten. Zudem gibt es aber noch weitere, kommerzielle Gründe für das Ineinandergreifen von Film und Game, die offen zutage liegen und auch sehr bewusst aufgegriffen werden: Da, wie gesagt, der SF-Film und das Computerspiel inhaltlich und visuell nahe beieinander zu liegen scheinen (im Gegensatz etwa zum Krimi oder zur Beziehungsgeschichte), liegt es nun auch buchstäblich ebenso nahe, ökonomisch erfolgreiche Konzepte und Produkte für beide Medien zu entwerfen. Es gibt also viele erfolgreiche Filme, die später in Videogames umgewandelt wurden, etwa “Star Wars” 22 . Übrigens ist Distanz zwischen beiden Medien so gering, dass es bald auch umgekehrte Beispiele gab; am Bekanntesten war, wie schon erwähnt, der Fall der “Lara Croft” 23 . Das war eine Überraschung für Filmfreunde, als das erste Computerspiel real verfilmt wurde - aufgrund des Wechsels der üblichen Reihenfolge in der Verwertungskette ein revolutionäres Ereignis! Das aber lediglich (noch einmal) die heutige Nähe beider Medien beweist, die sich nun inhaltlich auswirkt, obwohl sie im Medium begründete Ursachen hat. Und Ende 2005 kam sogar eine Filmversion des klassischen Shooter-Spiels “Doom” auf den Markt 24 . Heutzutage werden manche Filme, “Matrix” ist hier ein Beispiel, bewusst so konzipiert und gedreht, dass sie auch als Videogame ‘funktionieren’ - dass ihre Geschichten und Macharten in beiden Medien vergleichbar gut ‘laufen’ 25 . 2005 arbeitete “Herr der Ringe” 26 - Regisseur Peter Jackson gleichzeitig an einem “King Kong” Film für die Universal-Studios und an einem Videospiel zum Thema für die Spielefirma Ubisoft 27 . Computerspiel und SF- Spielfilm erleben heute eine Phase des professionell durchgeführten (weil eben leicht durchführbaren) Cross-Producing. Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 393 7. Weitere Mutmaßungen über den SF-Film der Zukunft Wird dies so bleiben? Und was heißt das für den Science Fiction-Film und seine Zukunft? Ich vermute dies, da die kommerziellen Interessen dafür durchaus stark sind. Vermutlich wird es, solange Filme und Computerspiele existieren, Versuche geben, beide Medien sinnvoll zu ökonomisieren und ein effizientes Cross-Marketing und -Selling zu organisieren. Aus Sicht der Liebhaber der reflektierenden, ernsthaften Science Fiction ist dies jedoch nicht unbedenklich. Wenn die nur auf’s Geballere abzielenden Produkte quantitativ zu sehr dominieren, prägen sie das Image des Genres - dann wird mit dem Begriff ‘Science Fiction’ nur noch futuristische Action assoziiert. Es gibt aber auch Nutzer, Leser und selbst Kinogänger, die keine War Game Junkies sind. Es könnte sein, dass sie sich nun vom Genre des Science Fiction abwenden und nicht mehr in ein Kinoprogramm und vielleicht auch immer seltener in ein Verlagsprogramm blicken, weil der Begriff nun zu einseitig konnotiert ist. Noch Problematischer ist, wenn nachwachsende potentielle Fans mit dem Etikett ‘Science Fiction’ nur noch lautes Spektakel, nicht mehr stilles Staunen verbinden. Dann ist das ganze Bereich des Science Fiction belastet - ebenfalls aus ‘Ausstrahlungseffekten’ heraus, die sich nun anhand des Genres ausbreiten. Dort sind solche Effekte aber dramatisch, weil in Büchern der visuelle Anteil (in der Folge dieser Effekte) zwar immer häufiger und actionreicher beschrieben wird, aber letztlich nur sekundärer Natur sein kann. Im Printmedium wie im Spielfilm stehen ja Geschichten im Vordergrund, hier ist Platz für Narration und Reflektion - dies ist medienadäquat. Gerade dies band viele Leser an entsprechende Romane, Verlage und Verlagsprogramme. Wenn potentielle Leser aufgrund von Imageproblemen und problematischer Priming-Effekte nicht zum Science Fiction-Roman greifen, ist das bedauerlich - und kann langfristig sogar zu einer weiteren Verarmung des Science Fiction-Films wie sogar des Science Fiction-Spiels selbst führen, weil die Basis geschwächt ist, aus der sich neue Ideen entwickeln; Ideen, von denen auch Filme und Spiele profitieren können. Vor allem kann dies aber bedauerlich für interessierte Leser sein, wenn der Druck der beschriebenen Rückwirkungseffekte oder in einem zweiten Schritt ökonomische Zwänge die Auswahl interessanter und spannender Geschichten reduzieren. Im Extremfall kann sich eine Spirale entwickeln, wonach weniger Angebot dazu führt, dass es immer weniger Leser gibt, so dass das Angebot weiter reduziert werden muss… Und am Ende gäbe es nur noch das ‘Buch zum Spiel’. Dennoch glaube ich, dass es sowohl beim Buch, als auch beim Film eine Rückkehr zu medienadäquateren Inhalten geben wird (man kann nur hoffen, dass dies nicht allzu lange dauern wird). Mittelfristig setzten sich die Charakteristika der jeweiligen Medien in der Regel wieder durch. Dies gilt auch für den Science Fiction-Film und seine Geschichten. Man ist im Kino, in einem dunklen Raum, durch fast nichts abgelenkt. Das Rascheln der Popcorntüten hört nach den Vorfilmen und der Werbung in der Regel schnell auf. Man blickt auf die große Leinwand und lässt sich von der Geschichte einfangen. Im Idealfall geht man in ihr auf. Natürlich kann man auch von einem permanenten Feuerwerk fasziniert sein, von visuellem Dauerbombardement. Aber viele Zuschauer lieben ihre Geschichten. Deshalb geben sie Geld an der Kinokasse aus. Dies ist, glaube ich, das Motiv, des ‘klassischen’ Kinogängers - nicht des pubertierenden Jugendlichen (der immerhin ein Großteil des Publikums ausmacht), aber doch eines entscheidenden Publikumssegments. Deshalb glaube ich: Wenn es denn weiterhin Science Fiction-Filme geben sollte, wird die Entwicklung wieder stärker in Richtung ‘Geschichtenerzählen’ gehen. Hans W. Giessen 394 Ob es in Zukunft weiterhin Science Fiction geben wird, ist natürlich keineswegs sicher - im Mittelalter gab es das Genre nicht, und in anderen Kulturkreisen ist es ebenfalls unbekannt. Aber solange wir nicht aufgrund eines dominanten Glaubenssystems zu wissen meinen, wie sich die Zukunft entwickelt, sondern sie als offen und ungewiss und gleichzeitig vielleicht auch als zumindest in Teilen gestaltbar erleben, wird es sicherlich immer wieder das Bedürfnis geben, narrativ auszuloten, wohin wir uns entwickeln. Science Fiction hängt also immer von der Gegenwart ab; und von ihr hängt demnach auch ab, wie die Geschichten des Science Fiction in der Zukunft aussehen werden, ob sie utopisch oder dystopisch sein werden, welchen Charakter sie haben mögen. Wie sich der Science Fiction-Film der Zukunft inhaltlich-thematisch, auch im Grundton (ist er optimistisch? zukunftsgläubig? verzweifelten Charakters? ) entwickeln wird, welche Art von Geschichten er erzählen wird, das kann man heute demnach noch nicht wissen. Das hängt, wie in der Vergangenheit auch, von vielen Entwicklungen ab, die zur zukünftigen Gegenwart (in fünf, zehn, zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren) führen. Und wer hätte umgekehrt beispielsweise noch in den achtziger Jahren ahnen können, dass der Ost-West-Konflikt bedeutungslos wird angesichts neuer Terrorfurcht, neuer Glaubenskriege? Dass sich die Mikroelektronik so schnell entwickeln würde, wie dies geschehen ist, dass es so etwas wie Computerspiele (und mit dieser Bedeutung! ) geben würde? Wie sehr der Computer unser Leben, unser politisches System, unseren Umgang miteinander, manchmal gar die Art unseres Denkens, zumindest die Form des Geschichtenerzählens im Kino verändern würde? Aber dass es den Science Fiction-Film auch weiterhin geben wird (und dass er nicht nur auf Shooter-Filme reduziert sein wird), ist doch sehr wahrscheinlich. Wenn sich unsere Welt weiterhin so schnell und unüberschaubar ändert, wird es (vermutlich) auch weiterhin Publikumssegmente geben, die dies mit Hilfe berührender (also: Konsequenzen erlebbar machender) Geschichten reflektieren möchten. Dies funktioniert lediglich in den beiden Medien Buch und Spielfilm; es ist die publikumsheischende Chance des Kinos, dass es Geschichten erzählen kann. Gibt es ein Computerspiel, dass seinen Nutzer rührt, vor Rührung weinen lässt? Der Kinofilm verlangt, im Gegensatz zum Computerspiel, die Linearität - die Geschichte ist seine medienadäquate Form. Er ermöglicht Reflektion, er ermöglicht Narration. Dies ist eine auf’s Medium, nicht auf die Inhalte bezogene Aussage. Deshalb - und inhaltlich: weil die Welt so ist, wie sie ist - steht zu erwarten, dass im Kino der Zukunft wieder mehr Geschichten über die Zukunft erzählt werden. Ansonsten können wir nur hoffen, dass die Gegenwart der Zukunft angstfreie und optimistische Kino-Geschichten ermöglichen wird. Aber das ist ein anderes Thema. Anmerkungen 1 Stealth, Director: Rob Cohen. USA: Sony Columbia 2005. 2 Lara Croft: Tomb Rider. Director: Simon West. USA: Paramount 2001. 3 War of the Worlds. Director: Steven Spielberg. USA: Paramount 2005. 4 Herbert George Wells, Der Krieg der Welten. Zürich: Diogenes 2005 (Original: The War of the Worlds. London 1898). 5 Alien vs. Predator. Director: Paul W.S. Anderson. USA: 20 th Century Fox 2004. 6 Alien. Director: Ridley Scott. UK: 20 th Century Fox 1979. 7 Timeline. Director: Richard Donner. USA: Paramount 2003. 8 Michael Crichton, Timeline. München: Goldmann 2002 (Original: Timeline, 1999). 9 Butterfly Effect. Directors: Eric Bress, Mackye Gruber. USA: Warner Bros. 2004. Das verfilmte Computerspiel ersetzt die dystopische Vision 395 10 Frederic Jameson, Progress Versus Utopia: Or, Can We Imagine The Future? In: Science Fiction Studies, Vol. 9, No. 2, 1982, 147-158. Ebenso: Frederic Jameson, Postmodernsim, or The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham, N.C. 1991. 11 Strange Days. Director: Kathryn Bigelow. USA: 20 th Century Fox 1995. 12 Hans W. Giessen, Medien der Aufklärung. In: Kodikas/ Code. Ars Semeiotica. Vol. 27, No. 3/ 4, July/ December 2004. 235-254. (236ff., insbesondere 237-244). 13 Claude E. Shannon, Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication. Urbana: The University of Illinois Press 1949. 14 Harold A. Innis, Empires and Communication. Toronto: University of Toronto Press 1950. 15 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 7-64 (Original 1936). 16 insbesondere in seinem Dialog “Phaidros”: Platon, Phaidros oder vom Schönen. In: Platon, Sämtliche Werke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller, Band 4, 1957. (Original: ÐëÜôùí Öáßäñïò). 17 Herbert Marshall McLuhan, Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Dresden: Verlag der Kunst 1996 (Original: Understanding Media. New York 1964). 18 Jakob Nielsen, Jakob Nieslen’s Web Design - Erfolg des Einfachen. München: Markt + Technik Verlag 2000 (Original: Designing Web Usability. Indianapolis 2000). 19 Doom. (Aktuelle Version: Doom 3. Activision 2005. 20 Quake (Aktuelle Version: Quake 4. Activision 2005). 21 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Berlin, Frankfurt: Suhrkamp 1948. 22 Die Filme: Star Wars Episode IV: A New Hope. Screenplay, Director: George Lucas. USA: 20th Century Fox 1977. Star Wars Episode V: The Empire Strikes Back. Story: George Lucas, Story: Leigh Brackett, Lawrence Kasdan, Director: Irvin Kershner, USA: 20th Century Fox 1980. Star Wars Episode VI: Return of the Jedi. Story: George Lucas, Screenplay: Lawrence Kasdan, George Lucas, Director: Richard Marquand, USA: 20th Century Fox 1983. Star Wars Episode I: The Phantom Menace. Screenplay, Director: George Lucas, USA: 20th Century Fox 1999. Star Wars Episode II: Attack of the Clones. Story: George Lucas, Screenplay: George Lucas, Jonathan Hales, Director: George Lucas, USA: 20th Century Fox 2002. Star Wars Episode III: Revenge of the Sith. Screenplay, Director: George Lucas, USA: 20th Century Fox 2005. Aktuelles Spiel: Star Wars Battelfront 2. USA 2005. 23 Lara Croft: Tomb Rider. (Original: UK: Eidos 1995. Aktuelle Version 2006). 24 Doom. Director: Andrzej Bartkowiak USA: Universal 2005. 25 The Matrix. Directors: Andy Wachowski, Larry Wachowski. USA 1999 (Fortsetzungen: The Matrix: Reloaded. Directors: Andy Wachowski, Larry Wachowski. USA 2003; The Matrix: Revolutions. Directors: Andy Wachowski, Larry Wachowski. USA 2003; aktuelles Beispiel für ein entsprechendes Computerspiel: Matrix - The Path of Neo. USA: Atari Xbox). 26 The Lord of the Rings: The Fellowship of the Ring. Director: Peter Jackson. USA / Neuseeland: Warner Bros. 2001; The Lord of the Rings: The Two Towers. Director: Peter Jackson USA / Neuseeland: Warner Bros. 2002; The Lord of the Rings: The Return of the King. Director: Peter Jackson USA / Neuseeland: Warner Bros. 2003. 27 King Kong. Director: Peter Jackson. USA / Neuseeland: Universal 2005; Peter Jackson’s King Kong, Ubisoft 2005.