eJournals Kodikas/Code 30/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2

Einführung

61
2007
Jan-Oliver Decker
Ausgehend von den Problemen einer textsemiotisch fundierten Analyse von Stil in Literatur und Film beinhaltet diese Ausgabe ausgewählte Beiträge der 6. Sektion "Erzählstile in Literatur und Film", geleitet von Jan-Oliver Decker und Hans Krah, des 11. "Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Stil als Zeichen. Funktionen – Brüche – Inszenierungen" (Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, 23. Bis 26. Juni 2005).
kod301-20003
Einführung Jan-Oliver Decker Ausgehend von den Problemen einer textsemiotisch fundierten Analyse von Stil in Literatur und Film beinhaltet diese Ausgabe ausgewählte Beiträge der 6. Sektion “Erzählstile in Literatur und Film”, geleitet von Jan-Oliver Decker und Hans Krah, des 11. “Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Stil als Zeichen. Funktionen - Brüche - Inszenierungen” (Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder, 23. bis 26. Juni 2005). Proceeding from the problems of textbased semiotic analyzises of style in literature and film this issue comprises selected contributions of the 6 th section “Erzählstile in Literatur und Film” - headed by Jan-Oliver Decker and Hans Krah - of the 11 th “Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Stil als Zeichen. Funktionen - Brüche - Inszenierungen” (Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder, 23. to 26. Juni 2005). 1. Vorbemerkung Nicht nur die Bestimmung von Stil-Phänomenen in den unterschiedlichsten soziokulturellen Bereichen, sondern auch ihre wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung sind Gegenstand der verschiedensten humanwissenschaftlichen Disziplinen (Literatur- und Medienwissenschaft, Kunstwissenschaft, Soziologie, um nur einige zu nennen). Mit den Fragen danach, was Stil überhaupt ist, wie man Stil-Phänomene in ihrer Unterschiedlichkeit systematisch erfassen kann und wie Stil-Analysen vorzunehmen sind, beschäftigen sich zahlreiche Abhandlungen und Einzeluntersuchungen, 1 ohne dass sich eine einheitliche Argumentationslinie, gar eine Definition aus semiotischer Sicht auch nur abzeichnen würde (vgl. Nöth 2000: 397ff.). Dementsprechend erheben die folgenden einführenden Anmerkungen weder den Anspruch auf vollständige Erfassung des Problemfeldes, wie sie ebenso keine Definition dessen liefern können, was Stil ist und wie man Stil-Phänomene allgemeingültig im Bereich der Literatur- und Medienwissenschaft analytisch aufbereiten könnte. 2 Vielmehr reflektieren meine Ausführungen die produktive Diskussion des Stil-Begriffes als textanalytische Kategorie in der Sektion “Erzählstile in Literatur und Film” unter Leitung von Hans Krah und mir, die im Rahmen des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik “Stil als Zeichen. Funktionen - Brüche - Inszenierungen” vom 23. bis 26. Juni 2005 an der Viadrina in Frankfurt an der Oder stattgefunden hat. Die vorliegenden Beiträge sind in Auswahl aus den in der Sektion gehaltenen Vorträgen entstanden und haben verschiedene Aspekte der Stil-Analyse aus literatur- und medienwissenschaftlicher Sicht an konkreten Beispielen beleuchtet. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan-Oliver Decker 4 Im Folgenden soll es auf der Basis der hier versammelten Beiträge und der Diskussion, wie sie in der Sektion geführt wurde, vor allem um eine selektive Sicht auf das komplexe Feld der Stil-Analyse gehen, die medienübergreifend für Literatur und Film relevante Leitlinien der Dimensionen und der Tragfähigkeit des Stil-Begriffes konturiert. Gerechtfertigt erscheint dieser medienübergreifende Ansatz, wenn man Literatur und Film als sekundäre semiotische Systeme definiert (vgl. Lotman 1993 4 , Titzmann 2003) und damit ihre wesensmäßige Gemeinsamkeit hervorhebt. Das heißt, Literatur und Film werden jenseits ihrer Medienspezifik als medial konkrete und diskrete Texte aufgefasst, die mittels der an ihrer Konstituierung beteiligten Informationskanäle virtuelle Welten entwerfen, die ausschließlich und nur für sie gelten. Literatur und Film bedienen sich primärer, vorgefertigter semiotischer Systeme (Sprache, Schrift, Musik, ikonische Zeichen etc.), sie konstituieren damit aber sekundäre Bedeutungssysteme, die so nur dem jeweiligen literarischen Text oder Film zukommen. Um es metaphorisch zu formulieren: Literarische und filmische Texte erzählen uns ihre spezifisch gültige, je eigene Welt. Insofern soll im Folgenden trotz des medienübergreifenden Anspruchs auch eine Verengung der Perspektive auf den Stilbegriff in Form des Begriffs ‘Erzählstil’ vorgenommen werden: i) Wenn es so etwas wie Stilphänomene in Texten gibt, dann sind selbstverständlich die Medienspezifika an seiner Konstitution beteiligt. In Abrede steht also nicht, dass verschiedene Medien verschiedene Oberflächenstrukturen erzeugen beziehungsweise aufweisen. ii) Allerdings erzeugen diese Oberflächenstrukturen vor allem und zuerst textspezifische Bedeutungen. Das bedeutet, jedes Element einer Oberflächenstruktur ist zunächst funktional in den Kontext des ihn umgebenden Textes eingebunden, der virtuell eine eigenständige Welt entwirft. iii) So banal diese Feststellung erscheinen mag, so relevant ist sie doch für jede Diskussion von Stil, denn wenn wir über Stil reden, dann reden wir zunächst über die Beschaffenheit von Oberflächenmerkmalen, die wir mehr oder weniger komplex zu einem Strukturmuster zusammenfassen und zu Strukturmustern anderer Texte in Beziehung setzen. Gerade in der Erzählforschung stellen Stilistik und Stilanalyse klassisch-traditionelle Gegenstandsbereiche dar. 3 So werden gerne Oberflächenphänomene von (literarischen und audiovisuellen) Texten isoliert und unabhängig von ihrem Anteil an einer tatsächlichen Bedeutungskonstruktion in den Texten betrachtet. Dies geschieht zum Beispiel, wenn von einem “film noir style” gesprochen wird, der losgelöst von den historischen Kontexten konkreter US-amerikanischer Filme der 40er/ 50er Jahre immer wieder auch auf gegenwärtige Filmproduktionen angewendet wird (ähnlich auch Dogma-Stil, Defa-Stil etc.). Exemplarisch ist dies in der Literaturwissenschaft zu sehen, wenn emphatisch ein Autorenstil postuliert und auf der Folie normativer Urteile kanonisiert wird. iv) Da literarische und filmische Texte als sekundäre semiotische Systeme mittels ihrer Oberflächenstrukturen textspezifische Bedeutungswelten generieren, ist eine textsemiotische Stilanalyse an diese Bedeutungswelten gebunden (vgl. auch Martínez/ Scheffel 1999: 191). Die Konzeption der Kategorie Stil ist damit nicht allein als Beschreibung von rein formalen Elementen tragfähig. Vielmehr muss eine textsemiotische Stilanalyse beispielhafte Kategorien der Beschreibung entwickeln, welche die spezifischen Oberflächenphänomene und Strukturmuster für Bedeutungszusammenhänge in Texten und/ oder in Textkorpora funktionalisieren. Einführung 5 v) Relevante Ebenen für Erzählstile sind in dieser Hinsicht sicherlich: - Rhetorisch-sprachlich und/ oder ikonisch/ kinematographisch fundierte Phänomene, die sich als spezifische Erzähl-, Rede-, Darstellungsweisen bestimmen lassen. - Daten der Erzählsituation im Allgemeinen und der Erzählinstanz im Besonderen. - Modusphänomene (Erzählfilter, Perspektivierung, Fokalisierung, Vermittlung, Pointof-View). - Syntagmatische Dimensionen (Anfang/ Ende, Exposition, Segmentierungen, Wiederholungsstrukturen). - Handlungsverläufe und narrative Muster (Merkmale von Dramaturgie, Plotpoints, Grad der Narration). vi) Semiotische Definitionsbemühungen von Stil können derzeit als noch nicht abgeschlossen gelten. 4 Als Kern der gängigen Definitionen beschreibt Stil eine Wahl zwischen formalen Alternativen bezüglich eines identischen Inhaltes, die möglicherweise auf Konzepten von Abweichung von einer Norm basiert. Zu diskutieren sind allerdings immer noch Intension und Extension des Begriffs. Eine textsemiotisch orientierte Stildefinition sollte damit auf den Verfahren klassischer Erzähltheorie beruhen, discours- Elemente im Bedeutungsgefüge von Texten zu instrumentalisieren. 5 Genau in dieser Hinsicht verstehen sich die hier versammelten Beiträge als Grundlagen zu einer textsemiotisch fundierten Stiltheorie, die detailliert ein Arsenal/ Inventar zur Beschreibung von Stilphänomenen in Literatur und Film in einer semiotischen Ausrichtung entwickeln und überhaupt erst einmal zur Diskussion stellen. 2. Text vs. Kontext: Relationalität und Relativität von Stil Wenn eine Stilaussage getroffen wird (“Der Text weist den Stil x auf ”), dann erfolgt damit eine Referenzialisierung von Textdaten auf Mengen im kulturellen Wissen 6 mit dem Ziel der Vereinheitlichung und Kontextualisierung von Einzelphänomenen zu einem übergeordneten Ganzen. Die Kategorie Stil ist damit also zwar etwas, was sich im Text als Strukturmuster an einer Oberfläche manifestiert, sie geht aber als wahrgenommens Phänomen nicht vollständig im Text auf. Diese kommunikative, im engeren semiotischen Sinne pragmatische Dimension des Stilbegriffes, also die Bedingtheit von Stil durch einen Zeichenbenutzer und einen Zeichendeuter, ist neuerdings mehrfach betont worden (vgl. schon Riffaterre 1973 und Spillner 1995 und 1996). Aus textsemiotischer Sicht ist somit zu fragen, inwiefern die Kategorie Stil eine kontextuelle Kategorie des kulturellen Wissens ist, die von außen an einen konkreten Text herangetragen wird und inwiefern konkrete literarische und filmische Texte selber durch ihre Beschaffenheit die Kategorie Stil als textuelles Phänomen aufweisen und ggf. stilistische Kontexte als bedeutungsrelevant indizieren. Aus der Funktion der Kategorie Stil, Textstrukturen auf Wissensmengen im kulturellen Wissen zu referenzialisieren, folgen grundsätzlich zwei elementare Merkmale von Stil: i) Stil ist ein relationaler Begriff, der Textstrukturen und Kontextwissen zueinander in Beziehung setzt. ii) Stil ist ein relativer Begriff. Die Intension (die kategorialen Merkmale von Stil) und die Extension (die konkreten Textstrukturen, die unter die Kategorie Stil potenziell fallen) des Begriffs sind nicht absolut definierbar, sondern sind abhängig von der Komplexität Jan-Oliver Decker 6 der Strukturen eines Textes (oder Textkorpus), die relational auf Mengen kulturellen Wissens von variabler Komplexität bezogen werden (linguistische Untersuchung des Sprachstils eines konkreten Textes, i.e. Mikrostilistik, im Gegensatz dazu Untersuchungen zu einem Autorenstil, Epochenstil etc., i.e. Makrostilistik) 7 . Zu bestimmen sind also die Grenzen von Stil einerseits hin zum Einzeltext und andererseits hinsichtlich verschieden komplexer Textkorpora. Aus der Relationalität und der Relativität des Stilbegriffes folgen drei weitere Feststellungen: i) Stil ist als Phänomen des kulturellen Wissens ein kulturelles Paradigma, das als relevante Kategorie gedacht werden muss, damit es ein Phänomen ist, das in Texten wahrgenommen wird. ii) Stil ist ein kulturelles Raster (im engeren linguistischen Sinne ein Register, vgl. Hess- Lüttich 1974), also ein Set von im kulturellen Wissen konventionalisierten formalen Merkmalen. iii) Als solches ist Stil ein Redegenstand verschiedener Diskurse wie z.B. des/ der poetischen, ästhetischen, linguistischen, literaturwissenschaftlichen, medienwissenwschaftlichen (Teil-) Diskurse(-s), die Wissensmengen über Stil produzieren; es gibt aber keinen stilistischen Diskurs, das heißt, es gibt keinen festgelegten Redegegenstand und keine festgelegten Regularitäten der Rede über Stil und damit (im Sinne der Diskursdefinition Titzmanns 1989), kein geordnetes System des Denkens und Argumentierens, das Wissen über Stil und Stile produziert. 8 Vielmehr bedingen die Relationalität und Relativität ebenso wie die kulturelle Kontextualität der Kategorie Stil, dass Stilphänomene Gegenstand verschiedenster miteinander mehr oder weniger verbundener Diskurse sind und Stilaussagen damit potenziell auch quer zu den Wissensmengen stehen können, die die Diskurse einer Kultur produzieren. Anders gesagt: Stilaussagen gehen weder vollständig in einem einzelnen Diskurs auf, der sie produziert, noch gibt es einen übergeordneten stilistischen Diskurs, der Stilphänomene umfassend beschreiben und erklären könnte. 3. Historizität: Normativität vs. Wahlmöglichkeit am Beispiel von Goethes 261. Xenie Aus meinen bisherigen Ausführungen sollte klar geworden sein, dass es aufgrund der Bestimmung von Stil als einer relationalen Kontextualisierung einen nur auf einen einzigen Text begrenzten Stil nicht geben kann. Es gibt keinen individuellen Stil eines Textes. 9 Zwar generiert selbstverständlich ein Text mittels seiner Oberflächenstruktur individuelle Textbedeutungen, diese sind dann aber individuelle Kodestrukturen des Textes, bei denen bestimmte Oberflächenmerkmale und Strukturmuster funktional an das von ihnen Bedeutete gebunden sind. Unabhängig davon kann allerdings ein einzelner Text Stil zum thematischen Gegenstand machen, wie beispielsweise in Goethes und Schillers 261. Xenie: Der bunte Styl Die französischen Bonmots besonders, sie nehmen sich herrlich Zwischen dem deutschen Gemisch alberner Albernheit aus. 10 Bekanntermaßen stellen die Xenien Goethes und Schillers von 1796 eine polemische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur, Literaturkritik und Poetik dar. Die oben Einführung 7 zitierte Xenie gehört mit den Xenien 246-285 zur Polemik gegen Friedrich Nicolai, besonders gegen seine Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 (Vgl. Eibl in Goethe 1989: 1171f., allgemein zu den Xenien 1157-1165). Die 261. Xenie wendet sich nun, durch ihre Überschrift expressis verbis, dem Sprachstil von Nicolais Beschreibung zu. Damit wird in der 261. Xenie eine Eigenschaft von einem Text, nämlich der Sprachstil von Nicolais Beschreibung zu einem Thema in einem Text, nämlich der 261. Xenie. Die in der 261. Xenie getroffene Stilaussage über Nicolais Beschreibung lässt sich, folgt man dem Syntagma, in folgende Einzelaussagen zerlegen: Kritisiert wird im Hexameter die Vermischung von deutscher und französischer Sprache, also die Uneinheitlichkeit des primären Sprachkodes. Diese sprachliche Oberflächenebene der Beschreibung wird im folgenden Pentameter auf die Bedeutungen ausgeweitet, die Nicolais Beschreibung produziert. Auch die Bedeutungen, die die Beschreibung konstruiert, werden als uneinheitliches Gemisch kritisiert. Um die Formel “alberner Albernheit” nicht als redundante Tautologie aufzufassen, muss angenommen werden, dass die deutsch formulierten Bedeutungen der Beschreibung sprachlich auf die Weise formuliert werden, dass ihre Irrelevanz sich auch in ihrem Sprachstil reflektiert. Als Uneinheitlichkeit wird damit also weniger eine Differenz zwischen der oberflächlichen Form und dem bedeuteten Inhalt der Beschreibung von der 261. Xenie behauptet. Schließlich drückt sich die Irrelevanz und Mischung des Bedeuteten ja kohärent auf der formalen Oberflächenbene der Beschreibung aus. Vielmehr unterstellt die 261. Xenie, dass die Inkohärenz des Ausgesagten, die sich in der Aussageform der Beschreibung spiegelt, der eigentlich kritikwürdige “bunte Styl” sei. Von besonderer Bedeutung sind nun drei Feststellungen, wenn man den Kontext berücksichtigt, in dem diese Stilkritik an Nicolai geübt wird: i) Die 261. Xenie stellt ihrerseits so etwas wie ein Bonmot dar, nur eben in einer anderen literarischen Form, nämlich einer Annäherung an griechische Distichen. ii) Auch die Xenien erweisen sich gerade nicht als kohärent. Die 261. Xenie bekommt ihre Bedeutung nur auf der Folie der anderen umgebenden Xenien wider Nicolai und diese sind wiederum mit anderen literarisch-programmatischen und literaturkritischen Xenien kombiniert. iii) Die Xenien selbst sind massiv durch eine Vermischung von Fremd- und Selbstreferenzialität gekennzeichnet und sind darüber hinaus auch noch eine Mischung verschiedenster Aussagen über Literatur. Auf dieser Folie bekommt die 261. Xenie damit folgende kontextuelle Bedeutung: Stilkritik an anderer Literatur wird im Textmodell der Xenien geübt, deren formale Eigenheit ebenfalls als Stillage lesbar ist, denn die Xenien drücken nicht nur eine kritische Haltung gegenüber der zeitgenössischen Literatur aus, sondern legen nahe, dass ihnen - literarisch überformt - im Gegensatz zu Nicolai eine kohärente literarisch-poetologische Programmatik zu Grunde liegt, ob sich diese nun faktisch in den Xenien finden lässt oder nicht. Um es vereinfacht zu sagen: Die Xenien üben auf Basis einer postulierten eigenen poetologischen Programmatik Stil- und Literaturkritik. Die Xenien werden damit zu einem Modus von Literaturkritik und zu einer literarisch überformten Darstellunsgweise individueller Poetik auf der Grundlage eines klassischen Formenrepertoires, den Distichen, stilisiert. Die klassizistische Form der 261. Xenie und der Xenien überhaupt steht im Kontrast zur im Hexameter der 261. Xenie geübten Kritik des Sprachstils an Nicolais Beschreibung, deutsch und französisch zu mischen. Anstatt sich wie Nicolai am Französischen als der Sprache der Aufklärung zu orientieren, referieren die Xenien stattdessen auf antike Literaturmodelle. Damit kodieren die Xenien auch, dass sie selber ein frei gewähltes Formenrepertoire darstellen, das zu dem kritisierten Formenrepertoire in Opppsition steht. Die vorgebrachte Kritik hätte man nämlich Jan-Oliver Decker 8 eben auch in anderer, in der Zeit konventionellerer Form äußern können, beispielsweise als Abhandlung über Nicolais Beschreibung. Dass nun die Form der Xenien gewählt und von Schiller und Goethe geradezu zu der innovativen Sprechweise über Literatur erhoben wird, markiert nun deutlich, dass die poetologischen Diskurse der Goethezeit dadurch bestimmt sind, i) dass es keine verbindlichen Regln mehr gibt, ii) dass die poetologische Diskussion in die Literatur selbst verlegt wird (vgl. Krah 2005b) und iii) dabei einerseits die Formenrepertoires und Darstellunsgweisen frei wählbar zu sein scheinen, diesen aber andererseits selbst eine Strategie zu eigen ist, sich zur normativen Form zu erheben, auf deren Folie das formal Andere und Abweichende bewertet wird. Am Beispiel der 261. Xenie zeigt sich damit einerseits die Relationalität und Relativität der Kategorie Stil in der Goethezeit um 1796. Andererseits zeigt die 261. Xenie, dass die Diskussion um die absolute Definition der Kategorie Stil ebenfalls relational und relativ ist. Erinnert sei daran, dass die Stiltheorien um zwei widersprüchliche Theoreme aufgebaut werden: Entweder Stil wird i) als Abweichung von einer Norm oder aber ii) Stil wird als Wahl zwischen zwei alternativen Formenrepertoires begriffen. 11 Die Xenien zeigen nun exemplarisch, dass die gewählte Form substanziell bedeutungstragend ist, um sich von der kritisierten Form abzuheben. Ab dem Moment, wo es keine definitiv gültige Regelpoetik mehr gibt und die antike Rhetorik ihre Verbindlichkeit der Kodierung von Form und Inhalt verliert, mögen die Formenrepertoires zwar frei wählbar sein, wie aber gerade die 261. Xenie im Kontext mit den Xenien insgesamt zeigt, müssen gewählte Formenrepertoires relational zum Kontext und zum historisch gültigen kulturellen Wissen bewertet werden. Gerade wenn es keine normative Verbindlichkeit für die Zuordnung einer Darstellungsweise zu einer Inhaltsebene gibt, zeigen zumindest die Xenien, dass die normative Kraft einer Darstellungsweise kontextuell durch den Zusammenhang von Texten mit Texten behauptet wird: Nur durch historisch und kulturell kontextuell manifeste, konkurrierende Normen von Darstellungsweisen erweisen sich Formenrepertoires als sinnvolle Wahlmöglichkeit, die einerseits die Distinktion von einem historisch gebundenen Stil ermöglichen, andererseits aber die Homogenisierung einer Stillage in Abgrenzung zu anderen erlauben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass gerade nicht aufgrund der Form, sondern allein durch Untersuchung der Produktionsbedingungen der Xenien die Autorschaft einzelner Xenien zweifelsfrei zugeordnet werden kann. Gerade dies demonstriert die Exklusivität des Xenien-Stils, mittels dessen sich die Autoren Goethe und Schiller eine eigenständige kunstrichterliche und eine sich über die zeitgenössische Literatur erhebende literarische Richtung innerhalb der Goethezeit erschaffen. Das Beispiel der 261. Xenie verdeutlicht also, dass eine Stilanalyse immer den kulturellen Horizont eines Stilphänomens in Texten rekonstruieren muss und dass durch die historische Bedingtheit von Stil als eines zeitgebundenen kulturellen Paradigmas in einem wandelbaren kulturellen Wissen die kategorialen Merkmale von Stil eben nicht absolut und ahistorisch verbindlich definiert werden können. 4. Stil als variable Kodestruktur am Beispiel von Queneuas Stilübungen Raymonds Queneaus Stilübungen aus dem Jahr 1947 erzählen in 99 Versionen die immer gleiche Geschichte: Ein junger Mann mit Hut benutzt einen Bus der Linie S. Hier beschimpft er zunächst einen älteren Passagier, um sich dann auf einen frei gewordenen Platz zu setzen. Später befindet er sich am Pariser Bahnhof Saint-Lazare, wo ihm ein Freund mitteilt, dass an seinem Mantel ein Knopf fehlt. Einführung 9 Auffällig an dieser Geschichte ist vor allem, dass hier im narratologischen Sinne keine Geschichte erzählt wird. Das heißt, es wird keine Transformation zwischen zwei Zuständen geschildert. Es liegt im narratologischen Sinne kein Ereignis vor, das eine Geschichte fundiert. 12 Queneaus Stilübungen erzählen auf der Ebene der histoire nur ein immer gleiches Geschehen. Relevant ist dieser Befund deshalb, weil Queneau damit eine kohärente Bedeutung weitgehend ausspart, die durch das Erzählte gestiftet wird: Nicht das, was erzählt wird, sonderen wie etwas erzählt wird, ist vor allem in den Stilübungen bedeutungstragend. Die 99 Varationen des immer gleichen Geschehens sind zwar betreffs dieses Geschehens semantisch redundant, sie sind aber eben gerade nicht in ihrer variierten Darstellungsweise semantisch redundant: Die 99 verschiedenen Darstellungsweisen, die verschiedene Texttypen und Sprechweisen miteinander kombinieren, schaffen jeweils 99 semantisch differenzierte virtuelle Vorstellungsräume und damit eine je eigene topikale Semantik. Beispielsweise entwirft die 46. Stilübung mit dem Titel Gespenstisch eine potenziell fantastische Welt, in der ein Jagdhüter aus historischer Vergangenheit Augenzeuge des modernen Geschehens der Busfahrt wird oder aber die 37. Stilübung mit dem Titel Icke, icke führt einen berlinernden Augenzeugen des Geschehens vor und konturiert damit das Klischee des Berliners mit großer Schnauze, der sich lärmend über seine Umwelt aufregt. 13 Sowohl die 37. als auch die 46. Stilübung konzipieren also zwei ganz unterschiedliche Erzählinstanzen und damit verbunden zwei ganz unterschiedliche Welten, in die das immer gleiche Geschehen eingebunden wird. Dabei sind es gerade die Überschriften, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Darstellungsweisen der einzelnen Stilübungen in Kombination mit ihrer jeweils eigenen topikalen Semantik kontextualisiert werden. Wenn zum Beispiel der Texttyp Komödie aufgerufen wird, dann referiert die dermaßen betitelte 43. Stilübung auf ein kulturelles Wissen über die Gattungstradition. Ganz ähnlich referieren andere Stilübungen beispielsweise auf kulturelles Wissen der Rhetorik, wenn eine rhetorische Figur die Darstellungsweise organisiert, oder aber bestimmte Sprechweisen verweisen auf Gebrauchstexte der Mathematik, Medizin und Philosophie. Gerade an Queneaus Stilübungen wird damit dreierlei deutlich: i) Auch wenn die histoire nur minimal bedeutungstragend ist, weist jedes der gewählten Formenrepertoires eine spezifische Semantik auf. ii) Diese spezifische Semantik manifestiert sich im konkreten Textbeispiel. iii) Gleichzeitig referiert das gewählte Formenrepertoire auf Teilmengen kulturellen Wissens und ist in diesem kulturellen Wissen mit Bedeutungen versehen, die vielleicht nicht konsequent systematisch organisiert sind, aber bestimmte, kontextabhängige semantische Rahmen vorgeben, in denen die konkreten Textbedeutungen eine referenzialisierende Bedeutung entfalten können. Damit ist jede Aussage einer Stildefinition falsifiziert, die von einer semantischen Invarianz von Formenrepertoires sui generis ausgeht, sei es in konkreten Textbeispielen oder sei es in Form der textexternen Kontexte. 14 Somit lässt sich am Beispiel von Queneaus Stilübungen festhalten, dass Stilphänomene als textuell manifeste Strukturmuster der Oberfläche ihre Bedeutung zugleich zwischen der konkreten Textbedeutung und der konventionalisierten Bedeutung im kulturellen Wissen entfalten. Es gibt also sowohl im kulturellen Wissen konventionalisierte Bedeutungen eines Formenrepertoires oder Registers wie auch individuelle Textbedeutungen solcher angewandten Strukturmuster aufzufinden sind. Jede Stilanalyse sollte keine dieser Bedeutungsdimensionen ausschließen. Auf der einen Seite erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, dass Stilanalysen, die aus der Perspektive des kulturellen Wissens und eines angewandten Stils erfolgen, Stil als ein Zeichenrepertoire auffassen, das auf der Folie seiner historisch wandelbar konventionalisierten Bedeutungen durch konkrete Texte variabel kodiert wird. Auf der Jan-Oliver Decker 10 anderen Seite erscheint Stil aus der Perspektive von Stiluntersuchungen, die von den konkreten Textbedeutungen ausgehen, als ein Phänomen, das zusätzliche, kontextuelle Bedeutungen aus dem kulturellen Wissen qua Konnotation in einen Text implementiert, die mit den individuellen Textbedeutungen interagieren und diese variabel zusätzlich kodieren. Wenn z.B. ein Film einen dokumentarischen Stil verwendet (Handkamera, direkte Adressierung der Protagonisten in die Kamera, Authentifizierung des gezeigten Geschehens als faktuales Ereignis etc.), dann ist immer zu fragen, welche Funktion diese Darstellungsweise im konkreten Film hat und welche Kontexte referenzialisiert werden: Werden aus der Perspektive des kulturellen Wissens durch das konkrete Beispiel den im kulturellen Wissen konventionalisierten Bedeutungen des zeitgenössischen dokumentarischen Stils neue Bedeutungen zugewiesen (beispielsweise könnte das vorgeblich Dokumentarische als medial Konstruiertes entlarvt werden) oder wird aus der Perspektive des Textbeispiels der konkrete Film in eine ganz spezifische dokumentarische Tradition eingruppiert? Für die Literatur- und Medienwissenschaft muss deshalb gelten, dass eine Stilanalyse immer die relationale und relative Dimension des Stilbegriffs zu berücksichtigen hat. Wissenschaftlich-präskriptiv hat die Stilanalyse keinen Wert in sich selbst. Stilanalysen haben sich also, um wissenschaftlich sinnvoll zu sein, i) auf dem Fundament wissenschaftstheoretischer Normen der Theorien und Methodologien der Literatur- und Medienwissenschaft zu positionieren, und ii) die Ergebnisse solcher Stilanalysen haben sich den Wissensmengen über Literatur und Film unterzuordnen, beziehungsweise einzugliedern, die solchermaßen wissenschaftlich gewonnen werden. Auch wenn das vorgefundene kulturelle Wissen zu Stilphänomenen möglicherweise quer zu den literatur- und medienwissenschaftlichen Diskursen steht, die Wissen über Literatur und Film produzieren, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass sich Literatur- und Medienwisenschaft auf die undifferenzierten Grundlagen dieses Wissen einlassen sollten. Vielmehr haben Literatur- und Medienwissenschaft zu fragen, welche kontextuellen Bedeutungen Literatur und Film durch Stilphänomene entfalten. Zusammenfassen läßt sich für die Dimensionen einer textsemitoisch fundierten Stilanalyse damit Folgendes: i) Stil ist ein relationaler und relativer Begriff, der auf der Basis von Strukturmustern auf der Textoberfläche von Literatur und Film die Funktion einer Klassenbildung übernimmt, indem Stilphänomene sowohl auf Kontexte und damit auf Bedeutungsmuster im kulturellen Wissen referieren als auch diese Bedeutungen individuell in einer konkreten Textbedeutung verarbeiten. ii) Als solches ist der Stilbegriff historisch zweifach variabel: 1. Stil selber ist als gedachtes relevantes Paradigma, das wahrgenommen und verwendet wird, ebenso historisch gebunden und wandelbar wie auch 2. die Komplexität und die Merkmale von zu Stil(en) zusammengefassten Merkmalsbündeln kulturell-historisch gebunden und wandelbar sind. iii) Da es keinen einheitlichen stilistischen Diskurs gibt und sowohl normative Diskurse (Rhetorik, Poetik, Ästhetik) als auch deskriptive Diskurse (Linguistik, Literatur- und Medienwissenschaft) Wissen über Stile produzieren, ist Stil synchron und diachron abhängig von anderen kulturellen Rastern und anderen kulturellen Wissensmengen. iv) Stil ist damit nur näherungsweise eingrenzbar, wohl aber nicht absolut semiotisch definierbar. Einführung 11 v) Sinnvoll erscheint, den Stilbegriff metaphorisch für einen weichen Kodebegriff zu verwenden, bei dem durch mehr oder weniger im kulturellen Wissen konventionalisierte Zuordnungsrelationen mindestens eine Ausdrucks- und zwei Inhaltsseiten miteinander verbunden werden, nämlich eine individuell konkrete des Textes und eine textübergreifende kulturelle. Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass bestimmte Oberflächenphänomene zusammen mit der Tiefenstruktur zwar eine individuelle Bedeutung in einem Text oder einem Textkorpus konstruieren, dass darüber hinaus die formale Ebene aber sekundär durch Strategien der Redundanz, der Selbstthematisierung der Form etc. auf einen anderen Kontext verweist, sei dieser textkorpusintern oder aber auf ein bestimmtes kulturelles Wissen bezogen (z.B. auch eines, das die Literaturwissenschaft selbst konstruiert). vi) Die Abgrenzung von Kode und Stil ist meines Erachtens die wesentliche Leistung, die eine semiotisch fundierte Stilanalyse erbringen müsste. Wenn Stil-Phänomene Kodestrukturen angenähert sind, die mit einer Oberflächenebene Bedeutungen verbinden, dann hat eine Stilanalyse immer funktional auf dem Hintergrund der faktisch konstruierten Bedeutungszusammenhänge in filmischen und literarischen Texten und auf der Folie des kulturellen Kontextes pragmatisch zu erfolgen. Eine Stilanalyse hat also 1. die Funktion von Teilstrukturen des Textes im konkreten Text selbst, 2. ihre Funktion in komplexeren Textkorpora und 3. ihre Funktion innerhalb des textexternen kulturellen Wissens zu bestimmen. 5. Die Beiträge Ausgangspunkt aller hier versammelten Beiträge sind manifeste Oberflächenphänomene in konkreten Textbeispielen, deren Funktionen im Bedeutungsgefüge individueller Texte und/ oder Textkorpora beschrieben, erklärt und auf ihre Tragfähigkeit für eine Stilanalyse thematisiert werden. Im Folgenden werden die einzelnen Bereiche skizziert, in denen die Verwendung des Stilbegriffes in den Beiträgen diskutiert wird. Alle Beiträge laufen dabei letztlich auf eine Textsortensemantik hinaus. Das heißt, spezifische Oberflächenphänomene von Texten werden daraufhin befragt, inwieweit sie tragfähig zur Identifizierung und Klassifikation textuell konstruierter, historisch variabler Erzählverfahren und/ oder der Konturierung von Teilstrukturen eines Literatursystems oder eines Filmkorpus unter dem Aspekt einer Stilanalyse beitragen könnten. Die Abfolge der Beiträge in diesem Band orientiert sich dabei primär an der Aufeinanderfolge von literatur- und filmwissenschaftlicher Analyse von Stilphänomenen, wobei die Beiträge von Ingo Irsigler (Literatur und Musik) und Martin Nies (Literatur und Film) durch ihren medienübergreifenden Ansatz die Schnittsstelle zwischen Literatur und anderen Medien bilden. Sekundär orientiert sich die Abfolge der Beiträge durch die Komplexität der Kontexte, in denen Stil als Kategorie in und von Texten problematisiert wird. Diese Kontexte sind in den vorliegenden Beiträgen 1. Stil und Erzählmodelle, 2. Stil und Epoche, 3. Stil und Kode, 4. Stil und Medium. Diese Abfolge ist dabei weder als Rangfolge noch als endgültige Klassifikation der relevanten analytischen Kontexte der Stilproblematik in erzählenden literarischen Texten und Filmen zu verstehen. Vielmehr steht die Analyse von Erzählmodellen und ihren möglicherweise für Stil relevanten Implikationen in den meisten Beiträgen im Vordergrund, die dann mit den anderen Kontexten mehr oder weniger ausführlich verknüpft wird. Jan-Oliver Decker 12 Eine erste große Gruppe von Beiträgen (Daniela Langer, Martin Nies, Magdolna Orosz) nähert sich von verschiedenen narratologischen Standpunkten aus Stilfragen. Der Band beginnt mit dem Beitrag von Magdolna Orosz, der grundsätzlich über die Möglichkeit einer Stilanalyse im Rahmen narratologischer Untersuchungen in solchen literarischen Texten reflektiert, in denen Stil selbst thematisch ist. Im Sinne einer klassisch linguistischen Stilanalyse arbeitet Daniela Langer heraus, dass ähnliche bis gleiche Oberflächenphänomene in verschiedenen zeitgleichen Textsystemen unterschiedliche Funktionen bei der Konstruktion semantischer Komplexe (Frauenbilder und textpoetologische Konzeption der zeitgenössischen Biographie) übernehmen können. Daniela Langers Beitrag fasst Stil dabei in einem klassisch linguistischen Sinne als eine Wahl zwischen Alternativen auf der Grundlage lexikalisch-semantisch-grammatikalischer Differenzen im synchronen Sprachsystem oder diachron historischer Zustände eines Sprachsystems auf und untersucht die Funktionalisierung dieser Differenzen auf ihre Interaktion mit den narratologischen Kategorien Stimme und Modus. Sowohl der Beitrag von Magdolna Orosz als auch der Beitrag von Martin Nies widmen sich der Frage, inwieweit literarische und/ oder mediale Textstrukturen mehr oder weniger konventionalisiert zu historisch signifikanten Erzählmodellen zusammengefasst werden könnten, die einen spezifischen ‘Erzählstil’ konturieren. Während die literarischen Texte, die Magdolna Orosz ihrem Beitrag zu Grunde legt, die Wahl zwischen verschiedenen Erzählmodellen explizit und/ oder implizit thematisieren - hier also Kodes der Inszenierung selbstreflexiv thematisch werden, die eine Wahl zwischen verschiedenen Erzählmodellen und/ oder Textsorten simulieren -, konzentriert sich Martin Nies mit seinem Short-Cuts-Erzählmodell auf die intermediale Adaption filmischer und literarischer Erzählverfahren im jeweils anderen Medium. Gerade in diesen beiden Beiträgen wird dabei deutlich, dass unter Stilphänomenen auf der Grundlage von Redundanzen und anderen formalen Strukturen spezifische Inszenierungsstrategien medialer Texte verstanden werden müssen. Diese spezifischen Inszenierungsstrategien in mehr oder weniger umfangreichen Textkorpora müssen dabei im kulturellen Wissen als Formenrepertoire abgespeichert und konventionalisiert sein, auch wenn hier sicherlich von stark variablen und offenen Merkmalsbündeln auszugehen ist. Die zweite große Gruppe der Beiträge (Andreas Blödorn, Jan-Oliver Decker, Ingo Irsigler, Madleen Podewski, Wolfgang Struck) überprüft den Stilbegriff im Hinblick auf den Zusammenhang von Teilstrukturen von literarischen und filmischen Texten mit übergeordneten epochalen und/ oder Genre-/ Gattungsstrukturen. In diesen Beiträgen wird der Begriff Stil eher in einem metaphorischen Sinn zur Beantwortung von Fragen angewendet, inwieweit mit einem Stilbegriff Kodes von Literatursystemen und/ oder Filmkorpora beschreibbar wären. Am deutlichsten arbeitet Andreas Blödorn anhand der deutschen Edgar- Wallace-Serie und ihrer Parodierung heraus, dass diese Serie einen umfassenden Kode aufbaut und wohl eine eigenständige Richtung innerhalb der deutschen Filmserienproduktion der 60er Jahre etabliert. Gerade die Redundanz der Kodes in den Einzelfilmen durch das Prinzip der Serialisierung legt hier nahe, einen nur noch metaphorischen Stilbegriff aufzugeben und von Kodes einer Richtung oder Epoche zu sprechen. Im Falle der “Popliteratur” (Ingo Irsigler) wird nachgewiesen, dass die Einbindung musikalisch konnotierter Formen funktional für eine spezifische Konzeption der Person und ein charakteristisches Geschichtsmodell ist und diese literarische Adaption des musikalischen Mediums einen für die literarische Richtung “Popliteratur” typischen Kode beschreibt. Ebenfalls die in den barocken Textstrukturen angelegte epochenspezifische Wirkungspoetik, die der Beitrag von Wolfgang Struck herausstreicht, ist in diesem Zusammenhang zu verorten. Ganz ähnlich argumentiert Einführung 13 auch der Beitrag von Madleen Podewski in die Richtung, dass innerhalb des Literatursystems “Frühe Moderne” für das Textkorpus als “trivial” bezeichneter Literatur regelhaft bestimmte Bedeutungen im konkreten Text mit einer bestimmten Oberflächenebene verknüpft sind, um damit eine komplementäre Funktion im Literatursystem zu erfüllen: Wo in der kanonisierten Literatur der Frühen Moderne Kategorien entdifferenziert werden, demonstriert die so genannte triviale Literatur eine Differenzierung und Festigung dieser Kategorien. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzte ich in meinem Beitrag über die Anwendbarkeit eines Begriffes “Epochenstil”: Einerseits weist der von mir untersuchte Film einen rekonstruierbaren Kode auf, bei dem Oberfläche und Tiefenstruktur funktional aufeinander bezogen sind, andererseits sind die Oberflächenphänomene des Films textextern in ein kulturelles Wissen eingebunden, das dem verwendeten Formenrepertoire bestimmte Bedeutungen im Rahmen der Postmoderne-Diskussion zuweist. 6. Literaturverzeichnis Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang von 1989: Gedichte 1756-1799, hrsg. v. Karl Eibl, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (= Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I.1). Queneau, Raymond 1994 3 : Stilübungen, Frankfurt a.M.: suhrkamp [zuerst 1947]. Sekundärliteratur Arnold, Heinz Ludwig / Detering, Heinrich (ed.) 1996: Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Bordwell, David / Staiger, Janet / Thompson, Kristin 1985: The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press. Derselbe 1997: “Modelle der Rauminszenierung im zeitgenössischen europäischen Kino”, in: Rost (ed.) 1997: 17-42. Borstnar, Nils / Pabst, Eckhard, / Wulff, Hans-Jürgen 2002: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (= UTB 2362). Decker, Jan-Oliver 2005: Madonna: “Where’s That Girl? ” - Starimage und Erotik im medialen Raum, Kiel: Ludwig (= LiMeS, 3). Dehn, Wilhelm (ed.) 1991: Der Deutschunterricht III (1991): Stil. Ezgräber, Willi / Gauger, Hans-Martin (ed.) 1992: Stilfragen, Tübingen: Gunter Narr Verlag (= ScriptOralia, 38). Genette, Gérard 1998²: Die Erzählung, München: W. Fink (= UTB 8083). Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1974: “Das sprachliche Register. Der register-Begriff in der britischen Linguistik und seine Relevanz für die Angewandte Sprachwissenschaft”, in: Deutsche Sprache 2.4 (1974), 269-286. Krah, Hans 2005a (ed.): Zeitschrift für Semiotik: “Selbstreferenz und literarische Gattung”, Heft 1-2 (2005). Krah, Hans 2005b: “Einführung”, in: Krah 2005a: 3-21. Lotman, Jurij M. 1993 4 [zuerst 1972]: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink (= UTB 103). Martínez, Matías / Scheffel, Michael 1999: Einführung in die Erzähltheorie, München: C.H. Beck. Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart: J.B. Metzler. Posner, Roland / Robering, Klaus / Sebeok, Thomas A. (ed.) 2003: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 13.3., Berlin/ New York: Walter de Gruyter. Riffaterre, Michael 1973: Strukturale Stilistik, München: List (= Taschenbücher der Wissenschaft, Linguistik, 1422). Rost, Andreas (ed.) 1997: Zeit, Schnitt, Raum, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Sowinski, Bernhard 1999 2 : Stilistik: Stiltheorien und Stilanalysen, Weimar: Metzler (= Sammlung Metzler, 263). Spillner, Bernd 1995: “Stilsemiotik”, in Stickel (ed.) 1995: 62-93. Derselbe 1996: “3. Stilistik”, in: Arnold/ Detering (ed.) 1996: 234-256. Stickel, Gerhard (ed.) 1995: Stilfragen, Berlin/ New York: Walter de Gruyter (= Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 1994). Jan-Oliver Decker 14 Titzmann, Michael 1989: “Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung”, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 99 (1989): 47-61. Titzmann, Michael (2003): “Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft”, in: Posner/ Robering/ Sebeok (ed.) 2003: 3028-3103. Verdonk, Peter 2002: Stylistics, Oxford/ New York: Oxford University Press. Anmerkungen 1 Vgl. exemplarisch die versammelten Beiträge in Stickel 1995 und Erzgräber/ Gauger 1992. Dabei kommt vor allem den Beiträgen in Stickel 1995 das Verdienst zu, Stil als analytische Kategorie aus den verschiedensten theoretischen Zugängen fundiert umfassend zu problematisieren und Lösungsvorschläge zu systematisieren. 2 Vgl. zu den literaturwissenschaftlichen Zugängen der Stil-Analyse im Überblick Spillner 1996 und Sowinski 1999 2 , die am umfassendsten in die aktuelle Theoriebildung und Verfahren der Stilanalyse einführen. In der deutschen Medienwissenschaft stellt sich Stil, bis auf einzelne Untersuchungen, aktuell kaum als paradigmatisches Problem, jedenfalls fehlt es in den neueren Abhandlungen zur Medientheorie und in den aktuellen Einführungsbüchern - exemplarisch Borstnar/ Pabst/ Wulff 2002, vgl. Beitrag von A. Blödorn in diesem Band. Dies liegt vielleicht in der Abgrenzung vom Stilbegriff der angloamerikanischen Medienwissenschaft, der - ausgehend von Bordwell/ Thompson/ Staiger 1985 - weitgehend paradigmatische (“classical narrative Hollywood Style”) und genre- und formatspezifische Erzählkonventionen beschreibt. Vgl. zur Konstanz von Bordwells Ansatz einer kontextlosen Stilgeschichte, die kulturelle Funktionen von Film explizit negiert und auf dem Maßstab ästhetischer Kategoriebildung absolut teleologisch argumentiert, nämlich dass formale Veränderungen allein auf technologische Entwicklungen und ästhetische Intentionen von Filmschaffenden zurückzuführen sind, Bordwell 1997. Am Beispiel von Verdonk 2002 lässt sich vermuten, dass die anglo-amerikanische Literaturwissenschaft unter Stilanalyse vor allem konventionalisierte Verfahrensweisen literarischer Kommunikation als solche aufbereitet und analysiert. Einem eher weiten und unproblematisierten Stilbegriff steht die deutsche Literaturwissenschaft als deutlich problembewusster gegenüber. 3 Meines Erachtens weist der Stilbegriff in diesem Zusammenhang eine humanwissenschaftlich diachrone Dimension auf: Gerade die Literaturwissenschaft entwickelt sich historisch vom positivistischen Beschreiben von Oberflächenstrukturen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zur gegenwärtig modernen Textwissenschaft. Dabei entwickelt sich die Literaturwissenschaft vom bloßen Beschreiben kontextenthobener Formen und vom Postulieren außerzeitlicher Universalien hin zu einer historisch-kritischen Kulturwissenschaft. Stil erscheint mir dabei als analytische Kategorie ein Erbe vergangener Zustände des Wissenschaftssystems zu sein, das sukzessive an die durch neue Theoriebildung entstehenden Methodologien angepasst wird. Möglicherweise könnte eine - immer noch zu schreibende - Mentalitätsgeschichte der Literaturwissenschaft dazu beitragen, welche (selbst historischen) Einstellungen und Haltungen der Literaturwisenschaft gegenüber ihrem Gegenstand und ihrer Aufgabe dieses Festhalten am Stilbegriff erfüllt. Die in diesem Zusammenhang relevante Rolle der Fachdidaktik würde m.E. beispielsweise eine Untersuchung des Wissenschaftsverständnisses der Beiträge in Dehn 1991 erhellen können, die sich theoretisch-methodologisch revisionistisch Stil und Stilanalysen nähern, um normative Stilistik im Deutschunterricht zu legitimieren. 4 Vgl. wiederum Nöth 2000: 394-399, ebenso Spillner 1996. 5 Ich verwende den Begriff discours nach Titzmann 2003: 3069f. als Gesamtmenge der Präsentationsstrategien einer dargestellten Welt, der histoire. 6 Vgl. zum Begriff des kulturellen Wissens Titzmann 1989, der als kulturelles Wissen alle für wahr gehaltetenen Aussagen der Mitglieder einer Kultur definiert. Das kulturelle Wissen umfasst nach Titzmann kognitive, affektive und evaluative Normierungen einer Kultur und lässt sich in allgemeines und gruppenspezifisches kulturelles Wissen unterteilen. Das kulturelle Wissen ist hierarchisch geordnet in einem rekonstruierbaren Wissensystem einer Kultur. Das Wissenssystem wird dabei durch Diskurse organisiert, die Titzmann als Systeme des Denkens und Argumentierens definiert, die die Produktion von Wissen steuern und durch einen gemeinsamen Redegegenstand und gemeinsame Regularitäten der Rede definiert sind. 7 Vgl. zur Unterscheidung in Mikrostilistik vs. Makrostilistik Sowinski 1999 2 : 71f. 8 Gerade der Aufbau von Sowinskis 1999 2 Monographie belegt den fehlenden einheitlichen stilistischen Diskurs: Einer ersten Annäherung an Stil und Stilanalysen aus der Perspektive der beteiligten Fachwissenschaften und ihrer spezifischen Diksurse folgen in einem zweiten Schritt pragmatische, Elemente der Einzeldiskurse Einführung 15 synthetisierende Verfahren der Stilanalyse; vgl. zur Absenz einer einheitlichen Stilistik auch Spillner 1996: 236-241. 9 Vgl. Spillner 1996: 243. 10 Zitiert nach Goethe 1989: 524. 11 Vgl. Nöth 2000, Sowinski 1999 2 und Spillner 1995 und 1996. 12 Vgl. zur narratologischen Unterscheidung von discours und histoire Fußnote 5; vgl. zur Unterscheidung von discours vs. histoire auch Martínez-Scheffel 1999: 20-26; vgl. zur narrativen Analyse der histoire auf der Grundlage der Definition eines Ereignisses als Grenzüberschreitung zwischen zwei semantischen Räumen Lotman 1993 und Titzmann 2003: 3075-3084. Vgl. zur narratologischen Analyse des discours Genette 1998 2 . 13 Im französichen Original heißt diese Episode Moi je und wählt das sprachliche Register eines Pariser Arbeiters. Gerade auch die Übersetzung zeigt hier die Bedeutungshaftigkeit von Formenrepertoires als solchen an. In diesem Zusammenhang sei nur auf die Stilproblematik in der Übersetzungswissenschaft hingewiesen, vgl. Spillner 1996: 238 zur komparativen Stilistik. 14 Vgl. in diesem Sinne auch Decker 2005, wo ich am Beispiel der Musikvideos von Madonna nachweise, dass bestimmte Verfahren der Rauminszenierung zu einem für Madonna spezifischen Kode verdichtet werden, der mit oberflächlich variierenden Inszenierungsweisen in Madonnavideos interagiert und auf diese Weise eine konstante Entwicklung des Images von Madonna produziert.