eJournals Kodikas/Code 30/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2

'Stil' und/als Einrichtung der erzählten Welt: Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff

61
2007
Magdolna Orosz
Der Begriff 'Stil' scheint in der Narratologie der letzten Jahrzehnte keine zentrale Kategorie gewesen zu sein: Es wird zwar von den Eigenarten des Erzählens bei verschiedenen Autoren oder in verschiedenen Epochen und "Richtungen" gesprochen, es ist aber nicht unproblematisch, diese mit dem Stilbegriff eindeutig beschreiben zu wollen. Die Frage, was den 'Stil' eines Werkes, eines Autors usw. ausmacht, auf welchen Ebenen des Erzählens oder eben in der erzählten Welt Stilkategorien zu finden wären, ließe sich womöglich erst nach komplexen systematischen Untersuchungen beantworten. Der Beitrag stellt die Frage, ob 'Stil' durch Diskurserscheinungen zu fassen ist und versucht in einer ersten Annäherung von der Analyse der Einrichtung der erzählten fiktiven Welt (z.B. Raumstrukturen, Figurenkonstellationen, Konflikte) ausgehend Merkmale zu finden, die für eine umfassendere Stilanalyse nützlich gemacht werden könnten. Auf Grund einiger Textanalysen werden zeichenhafte strukturelle Eigenschaften beschrieben, die z.B. die Erkennbarkeit von Autoren, parodistische oder andersartige "Transponierungen" sowie (hier nicht behandelte) mediale Transfermöglichkeiten bestimmen, um dadurch zu Rückschlüssen in Bezug auf den untersuchten Begriff gelangen zu können.
kod301-20017
‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff 1 Magdolna Orosz (Budapest) Der Begriff ‘Stil’ scheint in der Narratologie der letzten Jahrzehnte keine zentrale Kategorie gewesen zu sein: Es wird zwar von den Eigenarten des Erzählens bei verschiedenen Autoren oder in verschiedenen Epochen und “Richtungen” gesprochen, es ist aber nicht unproblematisch, diese mit dem Stilbegriff eindeutig beschreiben zu wollen. Die Frage, was den ‘Stil’ eines Werkes, eines Autors usw. ausmacht, auf welchen Ebenen des Erzählens oder eben in der erzählten Welt Stilkategorien zu finden wären, ließe sich womöglich erst nach komplexen systematischen Untersuchungen beantworten. Der Beitrag stellt die Frage, ob ‘Stil’ durch Diskurserscheinungen zu fassen ist und versucht in einer ersten Annäherung von der Analyse der Einrichtung der erzählten fiktiven Welt (z.B. Raumstrukturen, Figurenkonstellationen, Konflikte) ausgehend Merkmale zu finden, die für eine umfassendere Stilanalyse nützlich gemacht werden könnten. Auf Grund einiger Textanalysen werden zeichenhafte strukturelle Eigenschaften beschrieben, die z.B. die Erkennbarkeit von Autoren, parodistische oder andersartige “Transponierungen” sowie (hier nicht behandelte) mediale Transfermöglichkeiten bestimmen, um dadurch zu Rückschlüssen in Bezug auf den untersuchten Begriff gelangen zu können. The concept of ‘style’ was in the narratology of the last decades not really important: although some characteristics of narration in the work of some authors, epochs or literary movements were discussed, it is not evident to describe them with different and traditionally accepted categories of style. The problem of the ‘style’ of a text, of an author or of a more or less vaste corpus of texts could be dealed with on the basis of a complex and systematical analysis. The paper poses the question if ‘style’can be apprehended through features of narrative discourse (or even of language phenomena), and, starting with a general analysis of the narrated fictional world (e.g. space structures, figural constellations, conflicts, etc.), it makes an attempt to find out some traits/ elements which could be used in the description of the characteristics of narrative worlds. On the basis of three literary texts, some structural features will be described which could lead to postulate some (textual or even here not discussed medial) “transpositions” demonstrating the necessity of a deeper situating of the concept, as style phenomena are extensively determined by the construction of narrative world. 1. Stilbegriff und Narratologie Der Begriff ‘Stil’ ist in der Literaturwissenschaft ein vielfach gebrauchter und, von den Analyseaspekten und den theoretischen Postulaten der jeweiligen Annäherungsweise abhängig, verschiedenartig und nicht eindeutig definierter Terminus, der zugleich auch Gegenstand einer eigenständigen Disziplin, der Stilistik ist, die, mit der Linguistik, der Ästhetik und K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Magdolna Orosz 18 der Rhetorik enge Beziehungen unterhaltend, zugleich disziplinübergreifende Probleme aufwirft und behandelt. Es ergeben sich je nach theoretischen Konzeptionen verschiedene Definitionsschwierigkeiten: ‘Stil’ wird allgemein als von den unterschiedlichen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten Gebrauch machende Gestaltung von sprachlichen/ literarischen Texten oft nicht nur als ein deskriptiv-analytischer Terminus verwendet, sondern auch mit normativen Kategorien verbunden und durch an und für sich schwer bestimmbare Abweichungen von einer (sprachlichen und/ oder rhetorischen und/ oder literarischen und/ oder ästhetischen) Norm zu bestimmen versucht, deren Grundlage das “Stilprinzip der Angemessenheit” (Plett 1991: 102) wäre. Demnach werden diverse Stilarten (Stillagen, Stilebenen oder Stilschichten) unterschieden, die nach “Intention, Thematik und Situation der Rede” gewählt und “durch einen festen Kreis von Stilkategorien” (Plett 1991: 102) bestimmt werden. Die Nähe einer solchen Behandlung von ‘Stil’ zu rhetorischen Kategorien ist, wie dies auch aus der Einteilung der “genera elocutionis” bei Lausberg hervorgeht (Lausberg 1990: 154) 2 , offensichtlich. Dabei spielen, obwohl Poetiken längst nicht mehr präskriptiv formuliert werden, normative Wertvorstellungen in der Beschreibung von Stileigenschaften von Texten, besonders in der Literaturkritik, weiterhin eine große Rolle, unabhängig davon, ob ‘Stil’ als besondere sprachliche Ausgestaltung, als Abweichung von einer bestimmten Norm, als (individuelle) Auswahl aus Alternativen oder “als das Resultat aus der Auswahl des Autors aus den konkurrierenden Möglichkeiten des Sprachsystems und der Rekonstituierung durch den textrezipierenden Leser/ Hörer” (Spillner 1996: 246) verstanden wird. 3 Die Festlegung verschiedener Stilebenen oder Stillagen variiert in einer großen Breite und zeigt unsichere und verschiedenartige Einteilungskategorien auf. Obwohl, der klassischen Rhetorik folgend, ein gehobener, ein mittlerer (alltäglicher, ungeschmückter) und ein niedriger Stil aus den verschiedensten Gruppierungen und detaillierten Differenzierungen bis heute allgemein hervorgeht (vgl. Plett 1991: 103f.), ist die Zuordnung verschiedener Stilelemente oder Stillagen ziemlich variabel und teilweise unsicher, zumal in kritisch-bewertenden Schriften oft auch individuell geprägte Begriffsverwendungen anzutreffen sind. So kann man in der Beurteilung literarischer Prosatexte 4 , vor allem die sprachliche Ausformulierung betreffend, u.a. über komischen, ironischen, sarkastischen, naiven, gewählten, spannenden, ausgeschmückten, lebendigen/ lebhaften, ruhigen, lakonischen, intellektuellen, dramatischen, theatralischen, straffen, geschwätzigen, schwerfälligen, leichtfüßigen, pointenreichen, vulgären, einfühlsamen, gefühlvollen, bildhaften, ausmalenden, andeutenden, märchenhaften, flachen, lakonischen, ungewöhnlichen, gegebenenfalls aber auch über linearen, filmischen oder sogar über Ich-Erzählstil wie über auktorialen Erzählstil lesen. Diese letzteren lassen sich dagegen auf andere Texteigenschaften und Textebenen beziehen als die vorigen: Sie verweisen auf eine gewisse Einrichtung der erzählten Welt bzw. ihre Vermittlung, die in einer narratologischen Analyse im Vordergrund stehen, 5 da ihre Eigenarten vielfältig auf alle Elemente und Ebenen der Textstruktur von Erzähltexten auswirken. Dementsprechend verdient die Untersuchung der Frage, inwiefern traditionelle Stilkategorien mit narratologischen Analysekategorien verbunden werden können, eine besondere Aufmerksamkeit, zumal narratologische Annäherungen eine komplexe Analyse von erzählter Geschichte und Erzähldiskurs, wenn auch mit jeweils anderen Akzentsetzungen, anstreben. Der Begriff ‘(Erzähl)stil’ kann dabei doppelt verwendet werden: Einerseits bezeichnet er “[i]m Sinne von ‘Sprachstil’ eine Eigenschaft der Darstellungsebene von Erzählungen” (Martinez/ Scheffel 1999: 191), d.h. die sprachliche Gestaltung/ Formulierung des Erzähltextes bzw. (mit einer gewissen terminologischen Unsicherheit) sogar “Darstellungsverfahren” (Martinez/ Scheffel 1999: 25), 6 andererseits werden damit, als ein Bündel von Erscheinungen, ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 19 die mit bestimmten Eigenarten des Erzähldiskurses, d.h. mit dem Verhältnis von explizit und implizit Thematisiertem, thematischem Vordergrund und unthematischem Hintergrund (Martinez/ Scheffel 1999: 132f.), d.h. unter anderem mit Perspektivierungen, Erzählerdispositionen verbunden sind, umfassende Phänomene des Erzähldiskurses benannt, die die Einrichtung der erzählten Welt kennzeichnen. Die Analyse der Einrichtung der erzählten fiktiven Welt, d.h ihrer Raumstrukturen, Figurenkonstellationen, Konflikte, rückt damit auch in den Skopus einer Analyse, die Stilkategorien aufzudecken und zu situieren bestrebt ist, um Merkmale bzw. Anhaltspunkte zu finden, die für eine Stilanalyse narrativer Texte nützlich gemacht werden könnten. 2. Stil, Stillagen und die Einrichtung der erzählten Welt Die gegenseitige Bedingtheit von erzählter Geschichte und Erzähldiskurs ist eine heutzutage selbstverständliche Voraussetzung einer narratologischen Analyse, die erzählte Welt wird sowieso erst durch eine erzählerische Vermittlung zugänglich. Dass die Art und Weise dieser Vermittlung eine entscheidende Rolle spielt, wird oft auch in Erzähltexten selbst thematisiert, wobei diese Thematisierung eben die Wahl der Elemente der erzählten Welt betrifft und somit die “Bauregeln” ihrer Einrichtung betont hervorhebt und erkennen läßt. Die Bemerkungen des fiktiven Erzählers über seine eigene Erzähltätigkeit (in meiner Terminologie: die Erzählerinterventionen) werfen häufig solche Fragen auf. In Thackerays Roman Jahrmarkt der Eitelkeit mischt sich der fiktive Erzähler immer wieder in seine erzählte Geschichte ein und bespricht verschiedene Themen, wobei er auch oft bestimmte Züge der von ihm erzählten Geschichte, ihrer Figuren, ihrer Konflikte, der Wahl der Schauplätze präsentiert und damit auch seine eigene erzählerische Tätigkeit diskutiert (diese Erzählerinterventionen gehören somit überwiegend zur Kategorie der die syntaktisch-semantischen Relationen bzw. die literarischen Konventionen und die Schreibtätigkeit thematisierenden Erzählerinterventionen) 7 . An einer Stelle werden der aktuelle Stand der erzählten Geschichte und die Frage ihrer Weiterführung aufgeworfen und die dem Erzähler zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten aufgezählt, wobei mit der Aufzählung der “vornehmen”, der “romantischen” und der “burlesken Art” zuerst die dem Erzähler potenziell zur Verfügung stehenden rhetorischen Stillagen thematisiert werden (die “romantische” könnte dabei eine zwischen der “hohen” und der “niedrigen” situierbare Stillage bezeichnen) 8 : Ich spiele eine reichlich sanfte Melodie, ich weiß (wenngleich einige erschütternde Kapitel im Anzuge sind). Indes möge ein nachsichtiger Leser sich vergegenwärtigen, dass wir es im Augenblick nur mit der Familie eines Börsenmaklers am Russel Square zu tun haben, die spazierengeht, ißt und trinkt, liebt und plaudert, wie man es so macht im gewöhnlichen Leben, ohne dass etwa wunderbare oder leidenschaftliche schwere Zwischenfälle das Wachsen ihrer Liebe bekundeten. Wir sind jetzt so weit gediehen: Osborne, verliebt in Amelia, hat seinen alten Freund zum Essen und nach Vauxhall eingeladen. Josef Sedley ist in Rebekka verliebt. Wird er sie heiraten? Diese große Frage soll uns hier beschäftigen. Wir hätten den Gegenstand auch auf die vornehme, die romantische oder die burleske Art behandeln können. (Thackeray 1975: 66, Hervorhebungen M.O.) Danach werden die konkreten Wahlmöglichkeiten bzw. die Konsequenzen einer bestimmten Wahl besprochen: 9 Magdolna Orosz 20 (1) die “vornehme Art”: Angenommen, wir hätten die gleichen Abenteuer an den Grosvenor Square verlegt, hätten gewisse Leute dann nicht zugehört? Wenn etwa Lord Josef Sedley sich verliebt und der Marquis Osborne Lady Amelia den Hof gemacht hätte mit voller Zustimmung des Herzogs, ihres hochgeborenen Vaters? (2) die “burleske Art”: Statt in die Höhen der vornehmen Welt hätten wir die Szene aber auch in die Niederungen verlegen und erzählen können, was sich in Mrs. Sedleys Küche tat, da der schwarze Sambo ein Auge auf die Köchin geworfen hatte (was auch stimmte), wie er sich ihretwegen mit dem Kutscher prügelte, wie der Küchenjunge mit einer gestohlenen kalten Hammelkeule erwischt wurde und Miss Sedleys neue Kammerjungfer ohne Wachslicht nicht zu Bett gehen wollte. Mit solchen ergötzlichen Bildern hätte man das vergnügteste Gelächter erwecken können. Sie würden allgemein für “Szenen aus dem Leben” gelten. (3) die “romantische Art”: Wenn wir uns statt dessen dem Erschrecklichen zugewandt und den Schatz der neuen Jungfer zum Gewohnheitsverbrecher gemacht hätten, der mit seinen Spießgesellen in das Haus einbricht, den schwarzen Sambo zu Füßen seines Herrn hinmordet, Amelia im Nachtgewand entführt und vor dem dritten Band nicht wieder losläßt, wir hätten eine spannende Geschichte zusammengebracht, deren feurige Kapitel der Leser atemlos durchfliegt. (Thackeray 1975: 66f., Hervorhebungen M.O.) Die lang ausholende Textstelle vereinigt alle drei Typen von Erzählerinterventionen: Eingangs werden literarische Stilmöglichkeiten und die Folgen einer Wahl für die erzählte Welt besprochen (Thematisierung von Gattungs- und Schreibkonventionen), am Ende wird die Textstelle als literarischer Text (selbstreflexive Thematisierung des Textes als Literatur) bzw. ihre Stellung innerhalb des Textes (Thematisierung syntaktisch-semantischer Relationen) kenntlich gemacht, und zuletzt wird noch eine (scheinbare) Referenz auf die außertextuelle Welt des Lesers eingeführt. Die komplexe Erzählerintervention führt auch die Konsequenzen für die erzählte Welt aus: Von der Wahl abhängig verändert sich zwar nicht die “Kerngeschichte”, d.h. die Tiefenstruktur der Ereignisse (es bleiben “die gleichen Abenteuer”, in denen man “spazierengeht, ißt und trinkt, liebt und plaudert, wie man es so macht im gewöhnlichen Leben”), wohl aber die Zusammensetzung des Figurenpersonals und ihrer Eigenschaften, damit verbunden die Art der Ereignisse sowie die Raumgestaltung. Eine “vornehme” Erzählung verlangt nach Lords, Marquis und Ladys mit “edler” Liebe sowie nach “Grosvenor Square”, die “niedrige” dagegen wird in die Unterschicht und somit in “Mrs. Sedleys Küche” mit den entsprechenden Figuren (Köchin, Kutscher, Küchenjunge, Kammerjungfer) und ihrer handgreiflichen eifersüchtigen Liebesgeschichte verlegt. Eine eventuelle Abenteuergeschichte (also die “romantische”) erfordert Einbrecher, Mord, Entführung und ein entsprechend schnelles Tempo der Ereignisse. Die statt all deren zu erzählende “hausbackene Geschichte” ist ebenfalls keine romantische, sie wird in die mittlere Schicht, in die Familie eines Börsenmaklers sowie - zumindest im eben referierten Kapitel - nur nach Russell Square als Wohnsitz der Figuren und in der aktuellen Episode nach Vauxhall als Zeichen für bürgerliche Vergnügung verlegt: Auf solche romantische Erzählungen dürfen meine Leser indessen nicht hoffen. Sie sollen sich mit einer guten, hausbackenen Geschichte zufriedengeben, mit einem Kapitel über Vauxhall, das fast zu kurz ist, um den Namen Kapitel zu verdienen, und doch ist es eins, sogar ein sehr wichtiges. Hat nicht jeder in seinem Leben solch kleine, scheinbar nichtige Kapitel, die doch den ganzen Ausgang der Geschichte ändern? (Thackeray 1975: 66f., Hervorhebungen M.O.) Die Erwägung der Wahlmöglichkeiten und die Entscheidung des fiktiven Erzählers für die eine oder andere Variante kommt auch bei anderen Autoren oft vor und erfüllt ähnliche Funktionen. So diskutiert der Erzähler in E.T.A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann die ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 21 Frage des passenden Anfangs der zu erzählenden Geschichte (wohlgemerkt: nachdem der Leser die drei Briefe, die die Vorgeschichte und ihre Bewertung durch die Figuren enthalten, schon mitgeteilt bekommen hatte): Das Wunderbare, Seltsame davon erfüllte meine ganze Seele, aber eben deshalb und weil ich dich, o mein Leser! gleich geneigt machen mußte, Wunderliches zu ertragen, welches nichts geringes ist, quälte ich mich ab, Nathanaels Geschichte, bedeutend - originell, ergreifend, anzufangen: »Es war einmal« - der schönste Anfang jeder Erzählung, zu nüchtern! - »In der kleinen Provinzial-Stadt S. lebte« - etwas besser, wenigstens ausholend zum Klimax. - Oder gleich medias in res: »Scher’ Er sich zum Teufel, rief, Wut und Entsetzen im wilden Blick, der Student Nathanael, als der Wetterglashändler Giuseppe Coppola« - Das hatte ich in der Tat schon aufgeschrieben, als ich in dem wilden Blick des Studenten Nathanael etwas possierliches zu verspüren glaubte; die Geschichte ist aber gar nicht spaßhaft. Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindesten etwas von dem Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln schien. Ich beschloß gar nicht anzufangen. (Hoffmann 1985: 26f., Hervorhebungen M.O.) Hier, wie aus der Passage hervorgeht, wechseln allerdings nicht das Personal und die zu erzählenden Ereignisse, sondern eben ihre potenzielle Präsentation ab: sie reicht von “[zu] nüchtern” bis “bedeutend”, “originell”, “ergreifend”, “medias in res”, wobei die verschiedenen Möglichkeiten eben als nicht zur Geschichte passend empfunden werden, da sie “gar nicht spaßhaft” ist und deshalb quasi “unvermittelt”, d.h. nur durch die schon mitgeteilten Briefe präsentiert werden soll, was einem Verzicht auf jedweden traditionellen Erzählanfang gleichkommt: “Ich beschloß gar nicht anzufangen”. Fieldings fiktiver Erzähler unterscheidet in Tom Jones zwei grundlegende Arten der Wiedergabe von Ereignissen, die des Historikers und die des Erzählers und will seine Geschichte literarisch gestalten: 10 Obwohl wir dieses unser Werk mit Recht “Geschichte” betitelt haben und nicht “Leben und Taten”, oder “Verteidigung des Lebens und der Meinungen”, wie es der Mode mehr entspricht: so sind wir dennoch gesonnen, eher dem Gebrauch jener Schriftsteller zu folgen, deren Geschäft es ist, die umwälzenden Ereignisse der Länder darzulegen, als es dem mühseligen und bändereichen Geschichtsschreiber nachzumachen, der sich, um die Regelmäßigkeit seiner Chronika beizubehalten, verpflichtet fühlt, ebensoviel Papier mit der ausführlichen Schilderung von Monaten und Jahren zu beschreiben, in denen nichts Merkwürdiges vorgefallen ist, wie er zu jenen wichtigen Zeitläufen braucht, in denen sich die größten Auftritte auf der Bühne des Lebens abgespielt haben. […] Nun ist es unsre Absicht, in den folgenden Blättern einer jener ganz entgegengesetzten Methode zu folgen. Wenn sich ein außerordentlicher Auftritt darbietet (und wir glauben, dass dies oft der Fall sein wird), so werden wir weder Mühe noch Papier sparen, um ihn unserm Leser in vollem Umfang vor Augen zu führen: sollten aber ganze Jahre hingehen, ohne etwas hervorzubringen, was seiner Aufmerksamkeit wert wäre, so soll uns eine Lücke in unserer Geschichte keinen Kummer machen, sondern wir werden forteilen zu Dingen von Wichtigkeit und solche Zeitperioden überhaupt nicht beachten. (Fielding 1966: 61f., Hervorhebungen M.O.) Die Methode der zeitlichen Gestaltung der erzählten Geschichte wird hier ausdrücklich thematisiert, indem der Erzähler verspricht, in der literarischen Erzählung zeitraffend vorzugehen und nur bei einigen Knotenpunkten der ablaufenden Ereignisse stehenzubleiben, wodurch eine Gewichtung der Ereignisse für die Geschichte, also eine Art “Selektionsregel” der erzählten Welt angedeutet wird. Die Charakterisierung, die Eigenschaften und die Rolle der Figuren können (wiederum in Erzählerinterventionen eingebettet) auch explizit gemacht werden, wobei zugleich auf die Magdolna Orosz 22 potenzielle Beurteilung des gewählten Erzählverfahrens durch die Kritik selbstreflexiv angespielt wird: Wenn Figuren aus dem Stande einer relativen und metaphorischen Heiligkeit wieder - sei’s nur so vorübergehend - zu uns gewöhnlichen Menschen herabsinken und unter uns wandeln, so geraten sie dabei sehr leicht neuerlich in des Schriftstellers aufgestellte Netze: in diesen zappeln jetzt plötzlich zwei dick und fett gewordene alte trojanische Pferdchen. Sachte! Wir wollen sie bald wieder befreien; vorher aber doch ein bissel anschauen; wir wollen sehen, wie sie’s treiben. […] Die Kritik wird mit Recht sagen, dem Autor sei es nicht gelungen, diese beiden Figuren “schärfer zu profilieren und von einander abzuheben”. Nicht nur nicht gelungen; er hat es gar nicht einmal versucht! Hat sich was mit ‘profilieren’ bei diesen Menschern! Von allem Anfang an hab’ ich sie miteinander verwechselt, und nie gewußt, wie eine einzeln ausschaut, sondern immer nur, wie beide zusammen. (Doderer 1994: 293, Hervorhebungen M.O.) Als Ergebnis solcher Überlegungen kann sich die eine oder andere Figur als überflüssig für die Geschichte erweisen, und sogar diese Tatsache läßt sich ausdrücklich in einer die syntaktisch-semantischen Eigenschaften der erzählten Geschichte reflektierenden Erzählerintervention thematisieren: Goethe schreibt einmal an Schiller: “Die Poesie ist doch eingentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet.” Uns aber, soweit da von Poesie noch die Rede sein kann, geht, angesichts der beiden harmlosen Idiotinnen, die Pathologie und jegliches Pathos überhaupt aus; und worauf sollten wir dann gründen? Solche Figuren kann man nur aus der Komposition hinauswerfen, weil der Grad ihrer Simplizität unerträglich geworden ist und jedweder Kunst Hohn spricht (und ihrer durchaus nicht mehr bedarf). (Doderer 1994: 99f., Hervorhebungen M.O.) Die Beispiele ließen sich fortsetzen: Die Tatsache, dass sie aus Texten verschiedener Autoren und verschiedener Epochen stammen, läßt vermuten, dass es sich hier um eine allgemeine Reflexionsmöglichkeit literarischer Erzähltexte handelt, die aber nicht unbedingt in allen Texten wahrnehmbar präsent sein muß. Der fiktive Erzähler meldet sich tatsächlich nicht immer zu Wort, sondern nur in den sogenannten “auktorialen” Formen, obwohl eine fiktive Erzählinstanz zur Kommunikationsstruktur aller Erzählung gehört, wenn er sich auch nicht immer explizit zu Wort meldet. Die Postulierung eines fiktiven Erzählers ist eine notwendige Voraussetzung für alle Arten des Erzählens, so auch im sog. unpersönlichen Erzählen. 11 Die Art und Weise der Einrichtung der erzählten Welt gehört in den Wirkungsbereich des fiktiven Erzählers, und dieser Einrichtung, dieser Konstruktion kommt eine grundlegende Bedeutung zu. 12 Die Beschaffenheit der Einrichtung der erzählten Welt ist, wie dies aus den Beispielen hervorgegangen sein mag, unter bestimmten Bedingungen wählbar, und die Wahl wirkt auf die Geschichte, ihre Präsentation und die Ausgestaltung des Textes als Erzähltext, sowie auf seinen ‘Stil’ aus. 3. Die Einrichtung der erzählten Welt als fiktive ‘mögliche Welt’/ Textwelt Die erzählte Welt wird, wie dies die Textbeispiele gezeigt haben mögen, nach bestimmten Regelmäßigkeiten aufgebaut. Die in der Textwelt erzählte ‘Geschichte’ kann als eine fiktive ‘mögliche Welt’ betrachtet werden, die als “narrative Welt” als grundlegender Begriff der narrativen Theorie funktioniert, wie es von Doležel behauptet wird: ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 23 Fictional semantics does not deny that the story is the defining feature of narrative but moves to the foreground the macrostructural conditions of story generation: stories happen, are enacted in certain kinds of possible worlds. The basic concept of narratology ist not ‘story’, but ‘narrative world’, defined within a typology of possible worlds (Doležel 1998: 31). 13 Auf Grund von Textanalysen lassen sich narrative mögliche Welten (erzählte Textwelten) weiter untergliedern in verschiedene Weltsegmente, die miteinander unterschiedliche Beziehungen unterhalten und je nach Autor, Epoche oder Gattung unterschiedlich strukturiert (sowie nach einer gründlichen Analyse erschlossen und beschrieben) werden können. 14 Die erarbeitete Textweltstruktur ist eine abstrakte semantische Struktur narrativer Texte, die mit Hilfe des für die narrative/ literarische Analyse adaptierten Begriffs der ‘möglichen Welt’ beschrieben werden kann: Sie entspricht in etwa der Ebene der ‘Geschichte’ in der strukturalen Erzähltheorie. Narrative Texte können im allgemeinen als ein “Universum” einer bestimmten Menge von “möglichen Welten” betrachtet werden (vgl. Kahn 1973: 7). Eine ‘mögliche Welt’ läßt sich, ausgehend von modelltheoretischen Überlegungen, auffassen als “eine Menge von Sachverhalten, die logisch konsistent ist und in dem Sinn vollständig, dass für jede Tatsache in unserer Welt sie selbst oder ihre Negation in dieser Menge enthalten ist” (Kutschera 1976: 23), in literarischen Texten mit der Einschränkung jedoch, dass eine narrative ‘mögliche Welt’ in diesem Sinne nicht notwendig vollständig ist, sondern sie muß nur die im Universum des gegebenen Textes notwendigen Sachverhalte enthalten. 15 Weiterhin läßt sich eine gewisse “Inhomogenität” von solchen ‘möglichen Welten’ feststellen, indem ein literarischer (narrativer) Text in mehrere ‘mögliche Welten’/ ‘Weltsegmente’ gegliedert werden kann, die voneinander abweichende, gegebenenfalls sogar einander entgegengesetzte Aussagen enthalten können, die aber durch die makrostrukturelle Ordnung des gesamten Textes integriert werden können/ sollen (Doležel 1989: 234). Ontologisch gesehen sind die ‘möglichen Welten’ eines literarischen Textes keine “realen” Entitäten, sondern Ergebnisse einer (text)konstruierenden Tätigkeit (Doležel 1989: 235). Gegenüber der konkurrierenden Ansicht von David Lewis, die zu ontologischen Problemen führen kann 16 , behauptet die “konstruktivistische” Auffassung von Nicholas Rescher, dass ‘mögliche Welten’ nicht wirklich existierende Entitäten, sondern nur mentale Konstrukte sind (Rescher 1975: 169) 17 , und dass diese ‘möglichen Welten’ aus den Individuen und ihren Eigenschaften ausgehend schrittweise aufgebaut (=konstruiert) werden (Rescher 1975: 199f.). Eine ähnliche Auffassung vertritt Eco, der ‘mögliche Welten’ in Anlehnung an Rescher auf folgende Weise definiert: “Eine Welt als solche besteht aus einer Gesamtheit von Individuen, die mit Eigenschaften ausgestattet sind. Da einige dieser Eigenschaften oder Prädikate Handlungen sind, kann eine mögliche Welt auch als Ablauf von Ereignissen angesehen werden” (Eco 1990: 162ff.). 18 Die Individuen werden durch ihre Eigenschaften, bzw. durch die sie beschreibenden Aussagen bestimmt; die Menge der zu einem Individuum gehörenden Aussagen beschreibt seine ‘mögliche Welt’. Durch die Beziehungen der individuellen ‘möglichen Welten’ (z.B. Opposition, Dominanz, Zugänglichkeit) können auch die verschiedenen Ebenen der abstrakten semantischen Struktur literarischer narrativer Texte beschrieben sowie die Regeln des Aufbaus erzählter Textwelten angegeben werden. Als zur Textweltstruktur gehörend, aber auf einer anderen Ebene situiert kann die “Welt” des fiktiven Erzählers bzw. der fiktiven Erzählinstanz betrachtet werden (damit sind die verschiedenen Elemente und Verfahren der Ebene des narrativen Diskurses verbunden). 19 Der Aufbau literarischer narrativer Welten folgt bestimmten Regelmäßigkeiten, die aus dem Text selbst (und allein aus dem Text 20 ) erschlossen werden können. Wie schon erwähnt, Magdolna Orosz 24 sind erzählte mögliche Welten mentale Konstrukte und daher fiktional 21 sowie nicht im logischen Sinne vollständig, sondern, wie es auch aus Reschers Position folgt, sie enthalten nur die für die erzählte Geschichte notwendigen Aussagen, die die fiktive erzählte Welt “regulieren”. Es handelt sich um Regelmäßigkeiten, die die Auswahl bestimmter Elemente, Räume der fiktiven Geschichte, Ereignisse, mögliche Konflikte, Eigenschaften der Figuren, Motivationen, Intentionalität und narrative Modalitäten 22 sowie die durch die Kombination unterschiedlicher Momente erlaubten Verknüpfungen als eine Art “Makroeinschränkungen” 23 festlegen: “In der Epik wird die Beschränkung durch die zugrundeliegende Welt gegeben. Das ist keine Frage des Realismus (obwohl es sogar den Realismus erklärt): Man kann sich auch eine ganz irreale Welt errichten, in der die Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuß geweckt werden, aber auch diese rein phantastische und ‘bloß mögliche’ Welt muß nach Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind […]. Wie es dann weitergeht, sagt uns die einmal geschaffene Welt” (Eco 1986: 33 und 36). Die Regeln schreiben vor, wie die erzählte Welt sein kann/ darf, um kohärent und konsistent zu sein: Wenn diese nicht respektiert werden, entsteht eine inkonsistente, disparate Welt, die nur dann erlaubt wäre, wenn die Disparatheit zu den Formationsregeln der Einrichtung der erzählten Welt gehört, wenn z.B. ambivalente, ironisch gefärbte, parodistische Welten entstehen sollten. 24 4. Narrative Transpositionen In den am Anfang meiner Ausführungen angegebenen Textbeispielen handelt es sich um die Diskussion von alternativen Einrichtungsmöglichkeiten erzählter Welten, die auf der selbstreflexiven Ebene thematisiert werden (und damit gehört die Selbstreflexion in diesen Fällen zur Präsentation der erzählten Welt). Es wird dadurch innerhalb narrativer Texte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die erzählte Welt unterschiedlich konstruiert werden kann und dass unterschiedliche Transpositionen hinsichtlich der konkreten Gestaltung denkbar sind: Wenn z.B. die Eigenschaften der Figuren verändert werden, können unterschiedliche Varianten eines Geschichtstyps oder eines Erzählmodells entstehen, wie das aus den Untersuchungen zum “romantischen”, “biedermeierlichen” oder “realistischen” Erzählen hervorgeht. 25 Auf diese Weise kann aus der Übertragung des Erzählmodells “Lebensgeschichte” in unterschiedlich aufgebaute erzählte Welten (z.B. durch die Darstellung einer Lebensphase oder des ganzen Lebens, eines Ausnahmeindividuums 26 oder eines oder mehreren Durchschnittindiviuums/ -individuen 27 ) und in unterschiedlich perspektivierte narrative Präsentationsweisen (fiktive literarische) Biographie oder Autobiographie, Bildungsgeschichte oder (durch Multiplizierung) gegebenenfalls Familiengeschichte resultieren. Im Folgenden sollten einige besondere Fälle untersucht werden, in denen solche Transpositionen innerhalb der erzählten Welt erfolgen, wodurch eigenartige narrative Texte zustandekommen, in denen jeweils andere Regelmäßigkeiten feststellbar sind, in denen aber die vor allem durch das Figurenpersonal erfolgenden Veränderungen im Erzähldiskurs mitreflektiert werden, wodurch auch Rückschlüsse auf die Alternativen narrativer Präsentation (und somit bestimmter stilistischer Phänomene) gezogen werden können. Es wurden hier bewußt nicht intermediale Transpositionen wie Verfilmung, visuelle Verarbeitung usw. gewählt, sondern solche, in denen die “Übertragungen” innerhalb des erzählten Textes erfolgen. Außer Acht gelassen werden auch solche Werke, deren verschiedene Fassungen Unterschiede in der Erzählstruktur aufweisen (wie z.B. Gottfried Kellers Der grüne Heinrich), weil die Transposition nicht innerhalb des gleichen Textes als Strukturierungsprinzip ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 25 funktioniert. Eine künftige erweiterte Untersuchung könnte natürlich historische und mediale Transpositionen ebenfalls erfassen. 4.1 Verwilderte Identitäten und ihre narrative Festlegung Der frühromantische Roman von Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter, entspricht in vielem der frühromantischen Konzeption des Romans, wie dies Friedrich Schlegel im Brief über den Roman nachdrücklich postuliert: der Roman als “ein romantisches Buch” (Schlegel 1967: 335) vertritt keine konkrete Gattung (dies würde ihrer Vereinseitigung gleichkommen), sondern ist jedes Werk, das “einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt” (Schlegel 1967: 333). Brentanos Roman behandelt den gewünschten “sentimentalen Stoff” durch die Darstellung der emotionalen Verwicklungen seiner Figuren und tut dies in einer “fantastischen”, d.h. die unterschiedlichsten Elemente zusammenführenden, aber ihre Disparatheit nicht versteckenden Form: Der Untertitel gibt nicht nur eine einfache Gattungsbezeichnung, nämlich “Roman” an, sondern kündigt diesen gleich als “verwilderten” (Ein verwilderter Roman) an. Er zerfällt in zwei unterschiedliche und in mancher Hinsicht einander entgegengesetzte Teile: Der erste Teil nimmt die Form eines Briefromans an, in dem mehrere Briefschreiber einander schreiben 28 , diese Briefe sind aber undatiert, und sie machen dadurch die Chronologie der Ereignisse unsicher. Im zweiten Teil geht es um eine Lebensgeschichte, um die vom “unberufenen Geschichtsschreiber” (Brentano 1963: 232) Maria zu schreibende Biographie, die die (Fortsetzung der) Lebensgeschichte von Godwi (und mit den Vorgeschichten und der Schilderung der Figurenvernetzungen eigentlich seine Familiengeschichte) enthalten sollte. Damit stehen die beiden Teile schon rein formal einander gegenüber: eine sich aus Briefen, d.h. aus unterschiedlichen Perspektiven herauskristallisierende Geschichte auf der einen Seite, durch einen Biographen, d.h. aus einer “einheitlichen” Perspektive zu schreibende Biographie auf der anderen. Der erste Teil bildet chronologisch eine Vorgeschichte zum zweiten und ist von der Vielfalt der Figuren sowie von ihren schwer festlegbaren Identitäten und ihren undurchschaubaren Beziehungen zueinander bestimmt. Der zweite Teil hingegen ist geleitet von einer Rekonstruktion der Ereignisse, ihrer Chronologie, der interpersonalen Beziehungen und der individuellen Identitäten der Figuren und wird - im Gegensatz zur (angeblich) spontanen Selbstäußerungen der Briefe - durch die Diskussion und die Reflexion dieser Beziehungen und Identitäten bestimmt: Während der erste Teil vom “Finden oder doch wenigstens […] Suchen seiner selbst” (Behler 1995: 574) handelt, beschreibt der zweite die Suche nach der narrativen Formgebung für die eben aus der reflektiven Diskussion hervorgehenden Identitäten bzw. für den dadurch entstehenden Roman. Trotz dieser Unterschiede und der sich daraus ergebenden formalen Disparatheit des Textes gibt es verbindende Momente, indem die Spontaneität der Briefe im ersten Teil durch eine bereits vorhandene und zugegebene ordnende Tätigkeit des Autors Maria unterlaufen wird: Mein lieber Maria, dies ist ein Briefwechsel zwischen sehr edlen und interessanten Menschen, er enthält auch einen Theil meiner Lebensgeschichte; […] Zu gleicher Zeit bitte ich [d.h. Karl Römer] Sie den Versuch zu machen, diese Briefe nach dem Faden, den ich Ihnen geben will, zu reihen, und hie und da zu ändern, damit mehr Einheit hinein kömmt. (Brentano 1963: 225) Magdolna Orosz 26 Auf der anderen Seite bestimmt den zweiten Teil auch der Versuch, die zu schreibende Biographie zu ordnen, die Verhältnisse zu durchschauen, den Faden zu finden, um damit aus dem Chaos “eine gebildete Wildniß” (Brentano 1963: 290) entstehen zu lassen, durchaus im Sinne der romantischen Ästhetik: “Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann” (Schlegel 1967: 263), denn “[…] das Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern” (Novalis 1969: 227). Das Chaos und seine Ordnung werden somit zur Konstruktionsregel des Textes, einerseits auf der thematischen Ebene, indem die Verwilderung, das Chaos der Gefühle, der Liebe, der Familienverhältnisse stark akzentuiert werden, durch ihre “Wildniß” sollte der Weg zur eigenen Identität führen. Andererseits ist diese Regel auch auf der Ebene des Erzählens zu beobachten, indem aus der formalen Verwilderung der disparaten Teile, Gattungen und Perspektiven ein geordnetes Werk/ Buch resultieren sollte. Diese Anstrengung bringt aber weitere Probleme mit sich: Der Autor Maria bespricht mit seiner Figur Godwi die Schwierigkeiten und die Möglichkeiten seiner erzählerischen Tätigkeit, indem die Figur seinem Erzähler behilflich sein will: “Ja, erwiderte er [Godwi], wir wollen den zweiten Band mit einander machen” (Brentano 1963: 306), und so liefert Godwi das zum Erzählen nötige Material (d.h. seine eigene [Familien]geschichte) mit seinen Ratschlägen zur Gestaltung: Er nahm mehrere Papiere aus dem Schreibpulte, und sagte: diese Papiere enthalten die Geschichte meines Vaters in Bruchstücken, wie auch die meiner Mutter, und das Meiste der Jugendgeschichte des Alten und Molly’s, von Cordelien nichts, auch von mir nichts; aus allem diesem nun müssen Sie ihren zweiten Band zusammenschreiben und mir vorlesen, von den Nebenpersonen des ersten Bandes dürfen Sie nicht viel sagen, weil sie bald abtraten. Das Uebrige meines Lebens, bis jetzt, will ich ihnen dann erzählen. […] Ich dankte ihm für seine Güte, und versprach ihm es so gut zu machen, als ich könnte; dann las er mir hintereinander die Aufsätze vor, und ich bildete daraus, was die Leser nun hören werden. (Brenano 1963: 308f.) 29 Auf diese Weise wird die Grenze zwischen Erzähler und Figur metaleptisch überschritten, ihre Rollen vermengen und vertauschen sich zeitweilig, und am Ende geht dieses Hin und Her sogar so weit, dass der Erzähler Maria stirbt 30 , sein Tod wird dann von seiner Figur Godwi berichtet. Die Probleme von Figur und Erzähler, Identität und Autorschaft werden mehrfach verschränkt und spielerisch durchkreuzt: Die Disparatheit 31 und die dagegen aufkommende kommentierende Ordnungssuche werden auf allen Ebenen zum bestimmenden (Stil-)Prinzip von Brentanos Roman. 4.2 Autobiographie versus Biographie und ihre parodistische Verschränkung In E.T.A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern zerfällt der Text eingestandenermaßen in zwei Teile: in die Autobiographie des Katers und in die Biographie des Kapellmeisters Kreisler. Die zwei Teile sollen zwei unabhängige Geschichten erzählen, die miteinander nur durch das zufällige Zusammentreffen im Buch und als Buch in Berührung kommen. Sie sind einander entgegengesetzt durch ihre Gattung als Autobiographie und Biographie, sowie im Personal, indem hier die Tierwelt (Murrs Familie und Freunde) und die menschliche Welt einander gegenüberstehen, aber auch durch die Hauptfiguren, da auf der einen Seite der schriftstellernde dilettante Kater, auf der anderen der geniale Musiker im Zentrum der erzählten Ereignisse steht. Die Opposition der Linearität und der Nicht-Linearität der erzählten Geschichten stellt die beiden Teile auch einander gegenüber: ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 27 Murrs Lebensgeschichte wird in ihrem zeitlichen Nacheinander erzählt, wogegen die Chronologie von Kreislers Lebensgeschichte nicht rekonstruierbar ist, wie der fiktive Biograph die Unmöglichkeit der “schöne[n] chronologische[n] Ordnung” (Hoffmann 1992: 58), des zusammenhängenden Geschichtenerzählens beklagt. Die Chronologie wird hier tatsächlich “unordentlich”: Der erste Kreisler-Teil ist chronologisch gesehen der erste der Kreisler- Geschichte, der letzte der Kreisler-Teile geht dem ersten zeitlich eigentlich vor, und zwischen den so umgetauschten Teilen entspricht die Anordnung der einzelnen Teile auch nicht der zeitlichen Abfolge, ihre Rekonstruktion ist offenbar unmöglich. 32 Auf diese Weise stehen die Vollständigkeit bzw. der Fragment-Charakter des Erzählten ebenfalls in Opposition miteinander. Trotz aller Unterschiede gibt es Merkmale des Textes bzw. der Textteile, die die Gegensätze verbinden: Ob Autobiographie oder Biographe, in beiden Teilen geht es um ‘Lebensgeschichte’, und die Figuren von Murr und Kreisler versuchen beide, sich als Künstler zu behaupten, obwohl sie sehr unterschiedliche Konzeptionen von Kunst vertreten, indem der Kater als Vertreter des Epigonentums, Kreisler als Vertreter der “reinen”, romantischen und wahren Kunst erscheint, so dass ihre künstlerische “Programme” sich ironisch “kreuzen”: Murrs Werke sind realisiert und werden von der Figur als vollständig angesehen, wofür seine Autobiographie das beste Beispiel wäre: Es ist nehmlich wohl höchst merkwürdig und lehrreich, wenn ein großer Geist in einer Autobiographie über alles, was sich mit ihm in seiner Jugend begab, sollte es auch noch so unbedeutend scheinen, <sich> recht umständlich ausläßt. Kann aber auch wohl einem hohen Genius jemals unbedeutendes begegnen? (Hoffmann 1992: 38) 33 Die musikalischen Kompositionen von Kreisler existieren demgegenüber nur in seiner Vorstellung oder, da sie seine Ansprüche auf Vollständigkeit im Sinne des romantischen Kunstwerks nicht erfüllen, sie werden sogar vernichtet: Irgendwo heißt es vom Kapellmeister Johannes Kreisler, dass seine Freunde es nicht dahin hätten bringen können, dass er eine Komposition aufgeschrieben und sei dies wirklich einmal geschehen, so habe er doch das Werk, so viel Freude er auch über das Gelingen geäußert, gleich nachher ins Feuer geworfen. (Hoffmann 1992: 302) 34 Einige Momente der vielfältigen intertextuellen Bezugnahmen tragen auch zur Verbindung beider Teile bei. Es gibt aufeinander referierende Teile zwischen Murr- und Kreisler-Teilen: 35 Episoden und Situationen wie z.B. Murrs Errettung vor dem Tode, die zweimal erzählt wird, einerseits von Murr selbst, der den Vorgang beschreibt und zugleich einen prahlerischen Selbstkommentar hinzufügt: Aufs neue, aber sanfter als vorher, faßten mich zwei Hände und legten mich auf ein warmes weiches Lager. Immer besser und besser wurde mir zu Mute und ich begann mein inneres Wohlbehagen zu äußern, […]. So ging ich mit Riesenschritten vorwärts in der Bildung für die Welt. (Hoffmann 1992: 21) Andererseits - und dadurch entsteht das ironische Gegenstück zu Murrs Selbsteinschätzung - berichtet Meister Abraham Kreisler im Kreisler-Teil, einen jungen Kater gerettet und großgezogen zu haben, “[…] dem es nur noch an der höhern Bildung fehlt, […]” (Hoffmann 1992: 35). Wendungen kommen auch in den Murr- und Kreisler-Teilen vor, die auf andere Hoffmann-Texte verweisen: Murr erwähnt “das höhere Leben der Poesie”, das seine Werke “[…] in der Brust manches jungen geist- und gemütreichen Katers […] entzünden” (Hoffmann 1992: 38) und vollzieht damit eine Umkehrung der Inspiration von Anselmus bzw. Magdolna Orosz 28 durch die Transponierung in die Tierwelt ihre Parodie. Der schreibende Murr lernt auch u.a. von Knigge bzw. aus Büchern im allgemeinen und wird teilweise zu einem Widerpart der sowieso ironisch-parodistisch charakterisierten Figur des Lebensweisheit als Buchweisheit erfahrenden Tusmann in der Brautwahl; außerdem weisen die Titel seiner später geschriebenen Werke bzw. ihre Gattungswahl 36 auf gewisse modische Schreibkonventionen parodierend hin, und die Beschreibung der Qualitäten dieser Schriften läßt den Murr-Diskurs zur parodistischen Umkehrung romantischer Überschwenglichkeit werden: Genies werden den genialen Kater in seinen ersten Werken leicht erraten, und über die Tiefe, über die Fülle des Geistes, wie er zuerst aus unversiegbarer Quelle aussprudelte, erstaunen, ja ganz außer sich geraten. (Hoffmann 1992: 44) Der ganze Roman bildet einen exemplarischen Fall von auf sich selbst bezogener Intertextualität: Das Ineinander, d.h. Inter-Textualität von zwei Texten bildet das wichtigste Strukturprinzip des Werkes, es ist ein Palimpsest sowohl im konkreten als auch im übertragenen Sinne, denn Murr verwendet die Makulaturblätter der aus “Begier, wissenschaftliche[m] Heißhunger […] in kleine Stücke zerrissen[en]” (Hoffmann 1992: 40) Kreisler-Biographie zum Schreiben des eigenen Buches, aber auch der Biograph der Kreisler- Biographie arbeitet einer “Quelle”, d.h. einer anderen, nicht vollständigen Schrift nach 37 und bringt ein Palimpsest im übertragenen Sinne zustande. Es entsteht somit ein “Buch im Buch” 38 und durch den dekonstruktiven Umgang mit dem (Kunst)zitat zugleich auch die Dekonstruktion des “Buches im Buch” - Kater Murr wird dadurch zum “intertextuellen Buch an sich” und zum Beispiel für die Unmöglichkeit authentischen Künstlertums, autonomer Persönlichkeitsentfaltung und der zuverlässigen Rekonstruierbarkeit von (Lebens)geschichte. 4.3 Proliferierende Vaterfiguren: Familiengeschichte wird “Weltgeschichte” Die zwei romantischen Romane, die die Schwierigkeiten und die Hoffnungslosigkeit der (auto)biographischen Festhaltung von Lebensgeschichte artikulieren, folgen dem Konstruktionsprinzip der Verbindung disparater Teile. Der umfangreiche Familienroman von Péter Esterházy, Harmonia Caelestis, besteht ebenfalls aus zwei unterschiedlichen und divergierenden Teilen: Das erste Buch enthält 371 “Numerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy”, das zweite Buch wird als “Bekenntnisse einer Familie Esterházy” betitelt, es spielt damit verschiedene architextuelle Muster (große Bekentnisse der Weltliteratur) herein, die zugleich auch autobiographische Momente enthalten. Die numerierten Sätze des ersten Buches, die durch die Betonung ihres Satz-Charakters von vornherein eine gewisse Fragmentierung suggerieren, kreisen um “meinen Vater”, der aber eigentlich nicht eine einzige Figur ist, sondern die männlichen Mitglieder der jahrhundertealten Familie der Esterházys unter einem Namen vereinigend bezeichnet. Die Sätze springen in der Zeit und der Geschichte sowie zwischen den Personen herum, damit zerfällt dieser Teil formal in fragmentartige Abschnitte, wogegen die lineare Numerierung eine strenge Ordnung anzudeuten scheint und implizit an das “geordnete Chaos” romantischer Fragmentsammlungen hinweist. Der Gegensatz löst sich gerade durch die Bezeichnung “mein Vater/ Meinvater” auf: Sie umfaßt alle Figuren, die die lange Geschichte der Familie kennzeichneten, darunter “eine der vielseitigsten Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte und Kultur des 17. Jahrhunderts” (Esterházy 2001: 8), sowie Heeresführer, Politiker, bis hin zu den näheren Familienmitgliedern (Vater, Großvater) des Erzählers. Die Figur des Vaters wird dadurch schillernd und nicht zu festigen: ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 29 Mein Vater, mal Erbe eines prächtigen Vermögens, mal bereits dessen Besitzer oder, scherzhaft gesagt, dessen Gefangener, und mal, ganz im Gegenteil, gegen die Verelendung kämpfend, mit der Ohnmacht des tief gefallenen Menschen. (Esterházy 2001: 292) Der Gegensatz von erlebtem Leben und der Fixierung der Lebensgeschichte artikuliert sich auch in den numerierten Sätzen, er impliziert die Rolle eines Erzählers, der die Aufzeichnung der Lebens- und Familiengeschichte und ihre aus den chronologisch zerfallenden Momenten erfolgende Ordnung auf sich nimmt, und der im zweiten Teil diese Funktion dann ausdrücklich reflektiert. Der gemeinsame Name vereinigt jedoch die unterschiedlichen Vaterfiguren, nivelliert sie auf eine eigenartige Weise, läßt sie auf einer symbolisch-metaphorischen Ebene ineinanderfließen und weist gleichzeitig auch auf die Fragwürdigkeit des individuellen Namens, der Namengebung hin: Hier folgt der Name meines Vaters! - Dieser Name steht für einen Traum; den ungarischen Traum vom verschwenderischen reichen Mann, dem mit beiden Händen im Geldbeutel wühlenden Herrn…, vom Patron, der die Geldscheine wie das Getreide einfährt und Gold und Silber scheffelt, eine Gestalt fast wie aus einem Volksmärchen. Der reiche Ungar… In der Phantasie der Ungarn bedeutete der Name meines Vaters all das, was das Leben schon auf Erden zum Himmelreich machen kann… (Esterházy 2001: 9) Die numerierten Sätze greifen Ereignisse, Momente, Gestalten nicht nur der Familiengeschichte der Esterházys, sondern - was ohne sie auch undenkbar ist - auch der ungarischen sowie europäischen Geschichte auf, im (in Kapitel und in numerierte Teilkapitel geteilten) zweiten Buch wird dann eine Art Familiengeschichte erzählt, in die die ältere Vergangenheit ab und zu hereinbricht, die aber vor allem auf das 20. Jahrhundert fokussiert wird, in dem die geschichtlichen Ereignisse, die verschiedene “Meinvater” mitunter aktiv mitgestaltet haben, hauptsächlich aus der persönlichen Perspektive des Erzählers oder zumindest von ihm vermittelt, teilweise kommentiert und reflektiert, und dadurch auch aus einer verfremdenden, ironischen Sicht gesehen werden, die die Absurdität des 20. Jahrhunderts, ihre vernichtenden Folgen für das Individuum, für die Familie und eigentlich das ganze Land andeutet. Die Familiengeschichte, die in diesem Buch, chronologisch und perspektivisch ebenfalls hin und her springend, erzählt wird, umfaßt die Generation des Großvaters, des Vaters und des Erzählers selbst, sie reicht vom Ersten Weltkrieg bis zur jüngsten Vergangenheit und erzählt den durch die geschichtlichen Ereignisse herbeigeführten “Verfall einer Familie (Esterházy)”, den Verfall der Formen und der Worte, den “Verfall aller Werte” - den Verlust der Vergangenheit, der Vergangenheit der Person, der Familie und des Landes, der erst recht den richtigen Verfall bedeutet: Der wahre Moment der Einsamkeit war nicht, als er auf dem Melonenfeld stand, ein Bauer unter Bauern, erschrockenen Blicks in die Kamera schauend, sondern dieser jetzige. Wie dem Land, so blieb auch ihm nichts anderes mehr als das Jetzt, und an diese Einsamkeit war er in keiner Weise gewöhnt, an diese historische Einsamkeit, die sich aber listigerweise auf seine Person bezog, der Herrgott hatte sie ihm auf den Leib geschneidert, und wenn er in diese Einsamkeit hineinblickte, in den Spiegel des alles aufzehrenden Jetzt, zeigte dieser Spiegel lediglich einen Mann um die Vierzig, einen geborenen Jemand, der nirgends war, nirgends angekommen war, den es gar nicht gibt, oder doch, aber wozu. (Esterházy 2001: 900) Der Erzähler schreibt im zweiten Buch mit der Heraufbeschwörung der ironisch gebrochenen Momente der historischen (Familien)geschichte gegen die Aufgabe und die Tilgung der Vergangenheit an, er schreibt gegen die (kollektive) Amnesie an, um zumindest durch Worte Magdolna Orosz 30 - deren Überfluß und Sinnlosigkeit am Ende doch alles überdeckt - das Gedächtnis und damit die Existenz zurückzuerobern, denn “Dasein heißt, sich eine Vergangenheit zu basteln” (Esterházy 2001: 467). Dieses “Basteln” gehört fest zum Text: Nicht nur die Vergangenheit muß aus den ins Gedächtnis zurückgeholten Elementen geschaffen werden, sondern auch die Person, das Individuum, das Ich, dessen Verlust Rechnung zu tragen ist, denn die in den von den ineinander übergehenden “Meinvater”-Figuren berichtenden Sätzen aufscheinenden konturlosen Gestalten sind doch Elemente des Puzzle-Spiels der zerfallenen Geschichte und des zerfallenen Individuums, und die Familiengeschichte erzählt ebenfalls das Zerbrechen der großformatigen Persönlichkeit, indem die Erzählerstimme, als “Teil der Strategie des unaufhörlichen Aufbauens und Abbauens, des Auftauchens und Verschwindens, der Konturierung und der Verflüssigung” (Thomka 2001: 114), selbst zum Repräsentanten der unmöglichen Fixierung wird. Die beiden Teile sind vielfach ineinandergeschachtelt, von der Wiederaufnahme und figuralen oder ereignishaften Verschiebung bestimmter Momente bis zur sprachlichen Formulierung oder intertextuellen Anlehnung, die in den beiden Teilen eventuell anderen Figuren oder Bezügen zugeordnet werden, baut sich der Text (der Roman) auf und dekonstruiert das Konstruktionsprinzip des Vergangenheitsschaffens, indem diese Vergangenheit gleich auch fiktionalisiert wird. 39 5. ‘Erzählstil’: Zum Nutzen und Nachteil eines Begriffs Die drei analysierten Texte sind beispielhaft: Ein früh- und ein spätromantischer Roman, die beide die romantische Dekonstruktion narrativer Erzählmuster verwirklichen und dadurch auf die Konstruktion von Erzählwelten als Resultat erzählerischer Überlegungen über die Wahl bestimmter Konstruktionsregeln und ihrer Folgen hinweisen, sowie ein postmoderner Roman, der seine Konstruktionsregeln ebenfalls offenlegt und das Erzählen als Vergangenheitskonstruktion durch die Sprache (Benennung, Fiktionalisierung, intertextuelle Bezugnahmen) in den Mittelpunkt stellt. In allen drei Werken wird die Disparatheit sozusagen zum wichtigsten Konstruktionsprinzip, das die unterschiedlichen Teile spiegelverkehrt aufeinander beziehen und miteinander verbinden läßt. In Brentanos Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter bestehen die Oppositionen der zwei Romanteile in der Wahl der Gattung (Brief[roman] vs. Biographie/ Familiengeschichte), in den Identitätsproblemen der Figuren (schwer festlegbare Identitäten vs. Festlegung[sversuch] der Identität), in der erzählten Geschichte ([familiäre] Vorgeschichte vs. Lebensgeschichte der Figur), im Erzähldiskurs (ohne Chronologie präsentiert vs. Rekonstruktion einer Chronologie sowie figurale Multiperspektivität vs. Erzählerperspektive). Verbindende Momente (in beiden Teilen auftretende Figuren, thematische Wiederholungen, sowie Eigenarten des Erzähldiskurses, d.h. die thematisierte ordnende Tätigkeit des Erzählers und die Reflexion der ersten Teils im zweiten) lassen die beiden Teile aufeinander beziehen und machen die ordnende Kommentierung des Briefromanteils durch den zweiten zum einigenden Konstruktionsprinzip des Romans. In Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern sind die Oppositionen in der Gattungswahl (Autobiographie vs. Biographie), im Handlungsraum der erzählten Welt (Tierwelt vs. menschliche Welt), in den Eigenschaften der Figuren (schriftstellernder dilettanter Kater vs. genialer Musiker), in der dargestellten Geschichte (Vollständigkeit vs. Fragmentierung der Lebenswege) und im Erzähldiskurs (Linearität vs. Nicht-Linearität) zu ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 31 entdecken. Zugleich aber sind die beiden Teile durch die verbindenden Momente, nämlich dass beide eine “Lebensgeschichte” erzählen, die Figuren mit der selben Problematik (Künstlertum, künstlerisches Schaffen) konfrontieren, zumindest teilweise identische Figuren und sich wiederholende Handlungsmomente motivisch auftreten lassen und von selbstreferierenden intertextuellen Bezugnahmen durchwoben sind, stark aufeinander bezogen. Das die zwei auseinanderfallenden Romanteile zusammenfügende Konstruktionsverfahren besteht in der kontrastierenden Verschränkung der erzählten Welten, die ihren parodistischen Charakter bedingt. In Péter Esterházys Harmonia caelestis streben die beiden Teile durch Oppositionen der Gattung ([scheinbar] unabhängige numerierte Sätze vs. in Kapitel/ Unterkapitel gegliederter Roman), der figuralen Besetzung (Meinvater/ mein Vater vs. individualisierte Vaterfiguren), der Zeitverhältnisse der erzählten Welt (nicht chronologisch vs. chronologisch, aber diskontinuierlich) und der erzählerischen Präsentation (vielfache Perspektivierungen vs. Ich- Erzähler) ebenfalls auseinander, sie werden jedoch durch Momente der erzählten Welt (Wiederholung von Väter/ Vater-Figuren, von historischen Ereignissen in beiden Teilen) und des Erzähldiskurses (das “Basteln” von Vergangenheit als Erzählerreflexion, intertextuellen Wiederholungen) durch das Konstruktionsverfahren der selbstreflexiven narrativen Fokussierung der auseinanderstrebenden figuralen Gegebenheiten des ersten Buches gleichermaßen miteinander verkettet. Die Analysen mögen gezeigt haben, dass die Verwendung des Begriffs ‘Stil’ bzw. ‘Erzählstil’ komplexe Erscheinungen ins Spiel bringt, die nicht leicht auf eine Formel zu bringen wären. Es handelt sich hier um eine Interdependenz der Einrichtung/ der Konstruktion der erzählten Welt und ihrer Präsentation im Erzähldiskurs, die durch sehr unterschiedliche Faktoren bestimmt wird, wobei der im eher traditionellen Sinne verstandene Erzählstil als Sprachstil ihre Komplexität allein nicht zu ergreifen vermag, sondern als Resultante des Zusammenspiels der genannten Faktoren zu betrachten wäre. Das könnte auch dazu führen, dass der Stilbegriff im Sinne von ‘Erzählstil’ entweder für sprachliche (Oberflächen)phänomene vorbehalten bleibt oder sogar verabschiedet wird, denn für die Beschreibung der Komplexität und vielfältiger Aufeinanderbezogenheit der Elemente und Ebenen von narrativen Texten bedarf es eines weit ausdifferenzierten und genau definierten Begriffs- und Analyseapparates, das begriffliche Unklarheiten und Ungeklärtheiten nicht erlaubt. Die literarhistorisch unterschiedlich situierten Beispieltexte zeigen einerseits, dass für eine generelle Problemerfassung des Stilbegriffes unterschiedliche Texte ohne Berücksichtigung ihrer historisch bedingten Differenzen herangezogen werden können, um die Brauchbarkeit narratologischer Begrifflichkeiten prüfen zu können. In einem weiteren Schritt (und stillschweigend habe ich es auch getan) sind die literarhistorisch-ästhetisch relevanten Divergenzen der Erzählmodelle zu berücksichtigen, was aber erst auf Grund erarbeiteter theoretischer Modelle (und zugleich als ihre funktionale Überprüfung) zu leisten wäre. Literaturangaben Primärtexte Brentano, Clemens 1963: Werke, Bd. 2: Godwi. Friedhelm Kemp (ed.). München: Hanser. Doderer, Heimito von 1994: Die Wasserfälle von Slunj, München: dtv. Esterházy, Péter 2001: Harmonia caelestis, aus dem Ungarischen von Terézia Mora, Berlin: Berlin Verlag. Magdolna Orosz 32 Fielding, Henry 1966: Die Geschichte des Tom Jones, deutsch von Roland U. und Annemarie Pestalozzi unter Benutzung der Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode aus den Jahren 1786 bis 1788, München: Carl Hanser. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 1985: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. 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Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik im Juni 2005 in Frankfurt/ Oder. 2 Lausberg unterscheidet unter den “genera elocutionis” in Bezug auf den “ornatus” drei Stilebenen, das “genus humile”, das “genus medium” und das “genus sublime”, denen jeweils bestimmte Gattungen als Anwendungsbereiche entsprechen. 3 Viele stilistische und rhetorische Definitionsversuche sind m.E. durch eine gewisse Zirkularität und Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet (‘Stil’ selbst wird meistens indirekt durch verschiedene Stilebenen und Stilschichten umrissen, und normative Vorstellungen vom “angemessenen Stil” sind auch zahlreich anzufinden). Für eine kurze zusammenfassende Darstellung der Stil- und Stilistikkonzeptionen vgl. Spillner (1996: 241ff.). Da Magdolna Orosz 34 ich mich im weiteren auf Fragen der narrativen Gestaltung erzählter Welten konzentriere und den allgemeinen Stilbegriff nicht zu klären versuche, verzichte ich auf eine eingehende Diskussion der unterschiedlichen Begriffsverständnisse, wobei ich eher für eine Definition unter Berücksichtigung des Kommunikationsprozesses (für eine “integrative Stiltheorie”, vgl. Spillner (1996: 246)) votieren würde. 4 Da die folgenden Bezeichnungen (in literarischen Kritiken oder auch in Handbüchern und Lexika) ziemlich oft verwendet werden, verzichte ich hier auf eine detaillierte bibliographische Darstellung. 5 Kategorien der [narrativen] Komposition und des Stils werden in unterschiedlichen Analysen miteinander vermengt, vgl. z.B. Schneider (1998) für eine Verbindung von ‘Kompositionsverfahren’ und ‘Erzählstil’. 6 Hier werden “Erzählsituation oder Sprachstil” als Beispiele für Darstellungsverfahren des Erzählens (d.h. des Erzähldiskurses) als gleichrangige Kategorien erwähnt, obwohl m.E. der Sprachstil vielfältig durch Elemente und die Anordnung der ‘Geschichte’ bedingt wird. 7 Zur Kategorisierung der “Erzählerinterventionen” vgl. Orosz (1984), sowie Orosz (2001: 146-157). Demnach gibt es davon drei Typen, die eine scheinbare Referenzrelation (Wirklichkeitsrelation) etablierenden, die syntaktisch-semantischen Eigenschaften und Verhältnisse thematisierenden und die literarische Konventionen und die Schreibtätigkeit/ Autorschaft thematisierenden selbstreflexiven Erzählerinterventionen. Zum Thema ‘Selbstreflexivität’ vgl auch Scheffel (1997). 8 Der Erzähler hebt bestimmte Züge und Gattungen der romantischen Literatur hervor (‘abenteuerlich’, ‘spannend’, ‘dunkle Seite des Menschen hervorrufend’ usw.), so dass dadurch zugleich auch eine gewisse ironische Einstellung zur “Scheuerromantik” suggeriert wird. 9 Die Zuordnung der einzelnen Varianten ist aus dem Text offensichtlich, ich habe sie durch die Nummerierung nur zu veranschaulichen versucht. 10 Damit werden hier die Frage der Narrativität von Historiographie (vgl. dazu White (1990), sowie Fulda (1996)) und die Unterschiede von Geschichtsschreibung und literarischer Erzählung in der narrativen Präsentation angedeutet. 11 Ich teile diesbezüglich Ryans Meinung, die behauptet, “the concept of narrator is logically necessary of all fictions, but has no psychological foundation in the impersonal one”, vgl. Ryan (1981: 517). 12 Die Fragen der Verhältnisse zwischen Autor und fiktivem Erzähler, die Relativierung und die Verschiebung der Grenzen zwischen Autorschaft und Erzählertum sowie ihre Thematisierung werden hier, da sie nicht zum Kern meiner Ausführungen gehören, nicht weiter ausgeführt. 13 Es geht hier eigentlich um eine (Um)interpretation des Begriffs ‘Geschichte’ (‘story’) im Rahmen der möglichen Welt-Theorie, die zugleich auch die Kompatibilität dieser Begriffe beweist. 14 Bei E.T.A. Hoffmann kann z.B. eine eigenartige Variante der in verschiedenen erzähltheoretischen Überlegungen als allgemein und grundlegend angenommenen ‘elementaren narrativen Struktur’ (Gleichgewicht- Auflösung-Wiederherstellung) festgestellt werden. Das Schema wiederholt sich in den Texten von Hoffmann in einer zusammengesetzteren Form: die Anfangssituation läßt gleich eine grundsätzliche Gespaltenheit der erzählten Welt und der Figuren erkennen, die sich auf alle Elemente der Struktur erstreckt. Hoffmanns grundlegende Erzählstruktur besteht in der verschiedenartigen Ausgestaltung von Ambivalenzen, deren eine Variante in den Märchen und märchenhaften Geschichten, die andere in seinen anderen Erzähltexten wie Schauer- und Kriminalgeschichte, Künstlergeschichte usw. aufzufinden wäre (zu einer eingehenden Darstellung vgl. Orosz (2001)). 15 Vgl. darüber Kanyó (1980: 28) und Doležel (1989: 232). 16 Vgl. Lewis (1979). Ryan stellt darüber fest, “[t]hough it takes its point of departure in an intuitive view of possibility, Lewis’s account leads to a counterintuitive view of actuality” (Ryan 1991: 18). 17 Vgl. dazu auch Ryan (1991: 19f.). 18 Vgl. dazu auch noch Eco 1995: 75ff. Eine zusammenfassende Übersicht über die Anwendbarkeit und die Charakteristika von ‘möglichen Welten’ in der Literaturtheorie gibt Ronen (vgl. Ronen 1994), sowie (von Ronen unabhängig) Orosz 1996. 19 Auf die Frage der logiktheoretischen Hintergründe sowie der narratologischen Fragestellungen hinsichtlich einer solchen Betrachtungsweise soll hier nicht näher eingegangen werden. Für eine mögliche Variante der Behandlung des Erzähldiskurses im Rahmen einer modallogischen Konzeption vgl. Szabó (2003). Ansätze zur Einbeziehung der abstrakten Erzähler- und Leserposition in die mögliche-Welt-Struktur von Erzähltexten sind zu finden auch in Orosz 1984. Für eine detaillierte Analyse des Erzähldiskurses auf Grund der möglichen Welt- Konzeption, also für eine Erweiterung des Modells auch unter Einbeziehung von Diskursphänomenen und Intertextualität vgl. Orosz (2001). ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 35 20 Die intertextuellen Bezugnahmen sowie kulturelle Momente können natürlich außerhalb des Textes verweisen, in der Analyse werden aber eben ihre Funktionen in der Textstruktur untersucht und erschlossen. 21 Das schließt eine gewisse “Pseudorealität” von Fiktion bzw. fiktiven Figuren für den in die fiktive erzählte Welt “eingestiegenen” Erzähler aus, vgl. dazu Ryan (1991: 21ff.). 22 Vgl. dazu Doležel (1998: 113ff.). 23 “Such worlds [i.e. literary possible worlds] are sets of semantically diversified domains integrated into a structural whole by the formative macroconstraints” (Doležel 1989: 233f.). 24 Auf diese Weise ist die Ambivalenz eine strukturbestimmtende Eigenschaft der Textwelten E.T.A. Hoffmanns (vgl. dazu Orosz 2001). 25 Zu den Eigenarten des Erzählens bzw. der “dargestellten Welt” in unterschiedlichen Epochen der deutschen Literatur (und zugleich zum Definitionsversuch des ‘Epochenstils’ bzw. ‘Gattungsstils’) vgl. u.a. Titzmann (1989), (2000), (2002b) und Wünsch (1989), (2002). 26 In der Postulierung der Grundsätze der frühromantischen Ästhetik setzt Friedrich Schlegel eben das Ausnahmeindividuum als Zentrum des Romans: “Mancher der vortrefflichsten Romane ist ein Kompendium, eine Enzyclopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums; […].” (Schlegel 1967: 156). 27 Zu den Veränderungen der goethezeitlichen ‘Initiationsgeschichte’/ Bildungsgeschichte im Biedermeier, wo eben die in den goethezeitlichen Texten postulierte/ angestrebte Autonomie der Person fragwürdig wird, vgl. Wünsch 2002: 271ff. Dass die Autonomie des Subjekts in der Goethezeit auch vielfach als gefährdet empfunden wurde, geht aus den unten zu analysierenden Romanen von Brentano und Hoffmann klar hervor, es wird aber in diesen Texten zumindest die Utopie einer solchen Autonomie artikuliert (vgl. dazu auch Orosz 2001: 218ff.). 28 Als berühmtes Beispiel dieser Form des “multipersonalen” Briefromans wäre Choderlos de Laclos’ Werk Les Liaisons dangereuses zu nennen. 29 Darauf folgt die “Geschichte der Mutter Godwi’s und ihrer Schwester” als “Zweyter Theil. Neunzehntes Kapitel”. 30 Das wäre durchaus ein romantischer “Tod des Autors”, der damit der romantischen Konzeption von Autorschaft als intellektueller Tätigkeit genialischen Individuums, des Garants des einmaligen Werks zuwiderläuft und zugleich ihre im Sinne der romantischen Ironie durchaus begründeten Aufhebung postuliert. 31 Dieser Zug wird bei Strohschneider-Kohrs besonders und eher im negativen Sinne hervorgehoben, indem “bei Brentano der enthusiastische Hochflug der Empfindsamkeit und der stimmungszerstörende Witz jeweils isoliert und verschärft gegeneinander gestellt [werden]. Gerade der Schluß, das Ende des ‘verwilderten Romans’ wird bei Brentano zu einer schrill nachwirkenden, fast zynisch negierenden Destruktion des ganzen Buches gewendet” (Strohschneider-Kohrs 2002: 342). 32 Die Klagen des Biographen weisen auch darauf hin, dass die Kreisler-Biographie schon vor ihrer “De(kon)struktion” nicht vollständig gewesen sein mag. Zugleich übt der Biographie-Erzähler auch eine ordnende Tätigkeit aus, indem er bestimmte geheime Zusammenhänge der Geschichte ahnen läßt, die er aber vor dem Leser sorgfältig versteckt, und auch nichts darüber verrät, ob er tatsächlich etwas weiß, was er nur nicht mitteilt, oder letzten Endes er selbst nichts darüber weiß, was er nur scheinbar geheimhält. 33 Die intertextuellen Bezugnahmen der Kater-Autobiographie lassen sie u.a. als eine Parodie auf Goethes Dichtung und Wahrheit erkennen, wodurch die Möglichkeit der Lebensgeschichte angezweifelt und ihre Authentizität vielfach als Selbstinszenierung demaskiert wird. 34 Die unmögliche Bestrebung realisiert sich für Kreisler erst im Traum (des Heiligentages in der Abtei Kanzheim), der die unbeendete, aber sich vervollständigende Partitur als Lösung, als Aufhebung des Gegensatzes zwischen Schaffensprozeß und Produkt des Schaffens suggeriert. 35 Neumann stellt diesbezüglich auch fest, “das Murr- und das Kreisler-Buch beziehen sich in vielfachen Spiegelungen aufeinander” (Neumann 1991: 283), und Keil weist auch einen gewissen “glatten Übergang” auf den “Nahtstellen zwischen Murr- und Kreislerepisoden” nach (Keil: 1985: 45 und 43). 36 Solche sind: ein “philosophisch sentimental didaktische[r] Roman”, “ein politisches Werk” und eine Tragödie, die “hätte […] unzähliche mal mit dem lärmendsten Beifall gegeben werden können” (Hoffmann 1992: 44). 37 Beim Erzählen einiger Episoden oder Details beruft sich der Biograph auf seine Quelle: “[…] der Hisporiograph des Irenäusschen Hauses, dem ich dies nachschreibe, behauptet, […]” (Hoffmann 1992: 49); die Tatsache des Nachschreibens wirft ebenfalls die Frage von Authentizität und Autorschaft auf, die von dieser Seite her auch problematisiert wird. Mit der Erwähnung von Historiographie (wenn auch eines fiktiven Fürstenhauses) wird auch die Frage der ‘Geschichte’ und ihrer Erzählbarkeit implizit hereingespielt. 38 Eilert betrachtet das “Buch im Buch” als einen Sonderfall des “Kunstzitats”, das wiederum eine besondere Form von Intertextualität bedeutet. Beim “Buch im Buch” geht es vor allem darum, dass “das fremde literarische Werk Magdolna Orosz 36 als real existierender Gegenstand eingeführt wird” (Eilert 1991: 30). Bei Murr handelt es sich eben darum, das “fremde literarische Werk als real existierende[n] Gegenstand” zu zerstören und als Gegenstand in seiner Materialität zu anderen Zwecken zu verwenden. 39 Auf diese Weise werden die verschiedenen Gattungskonventionen zwar hereingebracht, aber zugleich auch auf mehrfache Weise destabilisiert. Vgl. dazu Szirák (2001: 95).