eJournals Kodikas/Code 30/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2

Evidenz und evidentia

61
2007
Wolfgang Struck
In einer Mischung aus nüchterner Beobachtung, kritischer Reflexion, religiöser Erbauung und abenteuernder Phantasie steht die von Adam Olearius 1656 publizierte "Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse" an der Schwelle moderner Wissensproduktion. Ihre Vielstimmigkeit, zu der sehr wesentlich auch eine Reihe in die Reiseerzählung integrierter Gedichte Paul Flemings zählt, ist dabei einerseits als Teil der rhetorischen elocutia der diskursiven Textproduktion zu- und damit der 'stoffgenerierenden' Erfahrung nachgeordnet, kann aber andererseits auch als Suche nach einem Erzählstil gewertet werden, der seine Legitimation und sein Ziel sowohl in der evidentia – als eine rhetorisch erzeugten 'als ob'-Gegenwärtigkeit – findet, als auch in einer Augenzeugenschaft des Reisenden und der Evidenz seiner Beobachtungen. Der Raum für dieses Wechselspiel wird erzeugt durch ein digressives, anekdotisches Erzählen.
kod301-20061
Evidenz und evidentia Die Suche nach einem dokumentarischen Stil in Adam Olearius’ Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse (1656) Wolfgang Struck In einer Mischung aus nüchterner Beobachtung, kritischer Reflexion, religiöser Erbauung und abenteuernder Phantasie steht die von Adam Olearius 1656 publizierte Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse an der Schwelle moderner Wissensproduktion. Ihre Vielstimmigkeit, zu der sehr wesentlich auch eine Reihe in die Reiseerzählung integrierter Gedichte Paul Flemings zählt, ist dabei einerseits als Teil der rhetorischen elocutia der diskursiven Textproduktion zu- und damit der ‘stoffgenerierenden’ Erfahrung nachgeordnet, kann aber andererseits auch als Suche nach einem Erzählstil gewertet werden, der seine Legitimation und sein Ziel sowohl in der evidentia - als einer rhetorisch erzeugten ‘als ob’-Gegenwärtigkeit - findet, als auch in einer Augenzeugenschaft des Reisenden und der Evidenz seiner Beobachtungen. Der Raum für dieses Wechselspiel wird erzeugt durch ein digressives, anekdotisches Erzählen. In a mixture of sober observation, critical inquiry, religious devotion and adventurous fantasy, Adam Olearius’ 1656 published Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse verges on the process of modern science. Integrating various forms and modes of representation, not at least a sample of poems by Paul Fleming, it is in search for a narrative style wich is legitimized by and aimed at the rethoric figure of evidentia as well as the evidence created by the eye-witness. The room for this interplay is opened up by digressive anecdotes rather than by straightforward narration. Die 1656 erschienene Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse von Adam Olearius ist nicht nur der Bericht über eine der bemerkenswertesten Fernreisen, die im 17. Jahrhundert von Deutschland aus unternommen wurden, sie ist auch eines der repräsentativsten Bücher des deutschen Barock. Auf 800 großformatigen, mit vielen Kupferstichen reich illustrierten Seiten unternimmt Olearius, Mathematiker, Astronom und Bibliothekar am Hof von Schleswig-Holstein-Gottorf und Sekretär der von diesem Hof organisierten Gesandtschaft, die von 1633 bis 1639 von Schleswig-Holstein über Moskau an den Hof von Isfahan führte, einen Balanceakt zwischen einer prachtvollen Selbstinszenierung, einer realistischen, vielerlei Probleme und Widerstände einschließenden Wegbeschreibung und einer Enzyklopädie tradierten und neu gewonnenen Wissens über die bereisten Länder. Eine Reihe poetischer Texte, unter ihnen mehrere Gedichte des ebenfalls zur Gesandtschaft gehörenden Paul Fleming, erweitert das Spektrum der Darstellungsformen und unterstreicht den Anspruch eines umfassenden Repräsentationsprogramms, das in eindrucksvoller Weise Möglichkeiten und Grenzen barocker Repräsentationskunst demonstriert. 1 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Wolfgang Struck 62 Das Gerüst dieses Programms bildet eine Narration, die im Wesentlichen der Chronologie des Reiseverlaufs folgt. Ihre Bedeutung unterstreicht nicht zuletzt die Umarbeitung, die Olearius vornimmt, als er den erstmals 1647 unter dem Titel Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Rejse […] erschienenen Bericht 1656 erneut herausgibt. Die gegenüber der Erstausgabe erweiterten landeskundlichen Informationen werden jetzt in zwei eigenen, systematisch-deskriptiv gehaltenen Kapiteln zusammengefaßt, die eigentliche Reise dagegen in einer stringenteren Erzählung in vier Abschnitten präsentiert. Auch hier jedoch vermischen sich erzählende, poetische und deskriptive Passagen, so dass die narrative Stringenz in mehr oder weniger ausführlichen Digressionen immer wieder unterlaufen wird. In einer genaueren Bestimmung dieses Verhältnisses von narratio und digressio sehe ich den Beitrag, den eine Lektüre der Vermehrten Newen Beschreibung für die Diskussion um Erzählstile leisten kann. Zunächst lassen sich narrative Ökonomie und ein durch Digression bestimmtes Erzählen einander gegenüberstellen. Was Olearius’ Text interessant macht, ist jedoch in erster Linie, wie das Wechselverhältnis dieser beiden Stile des Erzählens sowohl auf der Makroals auch der Mikroebene der narrativen Organisation für den spezifischen referenziellen Anspruch des Reiseberichts konstitutiv wird. Das Begriffspaar narratio und digressio, das ich für eine Differenzierung grundlegender Modelle des Erzählens vorschlagen möchte, reformuliert und durchkreuzt zugleich das Wechselverhältnis von erfahrenen und dargestellten Wirklichkeiten; ein Verhältnis, das zentral ist für den dokumentarischen Anspruch eines Textes, der seine Legitimation und sein Ziel nicht in der evidentia - als einer rhetorisch erzeugten ‘als ob’-Gegenwärtigkeit - findet, sondern in einer Augenzeugenschaft des Reisenden und der Evidenz seiner Beobachtungen. Olearius selbst thematisiert die Verbindung von digressio und Evidenz, als er eine der in der Tat erklärungsbedürftigsten Digressionen seines Textes dem ‘günstigen Leser’ nahezubringen versucht, nämlich die Einfügung eines Kapitels über die Bewohner Grönlands in den Bericht der Rußland-Reise: Weil ich / günstiger Leser / im vorigen Capitel der Grünländer gedacht / an welchen ich in vielen dingen eine gleichheit mit den Samojeden / und andern Tartern / so vns auff der Reise vorkommen / auch sonst merckwürdige Sachen befunden / als achte ichs nicht gar unbequem zu seyn / allhier eine digression, oder von vnser Reise einen kleinen aufftritt zu nehmen / vnd die Grünländischen Völker in etwas zu betrachten / zumahl weil ich sie selbst gesehen / reden gehöret / vnd mich ihrer Beschaffenheit etlicher massen erkundiget (Olearius 1656: 163) Über den Vergleich spielt Olearius hier Wissen herein, das er als Augenzeuge bestätigen kann (er kann sich auf eine Begegnung mit grönländischen Inuit beziehen, die sich in Schleswig aufgehalten haben), und das auf die Völker vorausdeutet, die ihm in seinem Reisebericht die größten Darstellungsschwierigkeiten bereiten werden: die einen schwer zu repräsentierenden Zwischenbereich zwischen den etablierten Reichen der Russen und Perser einnehmenden Tataren. In diesem Versuch, die Beurteilungskriterien für das Fremde aus eigenem, selbsterworbenem Wissen zu gewinnen, bestätigt sich die grundsätzliche Bedeutung, die Olearius der eigenen Erfahrung zuschreibt. Bereits in der “Vorrede an den günstigen Leser” stellt er ein Paradigma (oder gar Pathos) der Augenzeugenschaft auf, das ihm auch die hinreichende Sicherheit gibt, vom Urteil etablierter literarisch-geographischer Autoritäten abzuweichen und sowohl den “alten” als auch den “newen Scribenten” offen zu widersprechen: Was ich gleichwohl selbst mit meinen Füssen betreten / mit meinen Augen gesehen (welches ob es von andern auch allezeit geschehen / ich sehr in zweiffel ziehe) und also ein anders Evidenz und evidentia 63 erfahren / schewe ich mich nicht zu schreiben / zumahl / weil noch viel lebendige Zeugen / welche mit vns gewesen / vnd vieler Sachen mit wissend / verhanden seynd. (Olearius 1656: Vorrede, o.S.) Allerdings ist das gerade in dem Fall, den Olearius hier als Beispiel für die Überlegenheit des Augenzeugen anführt, eine etwas prekäre Behauptung. Es geht nämlich um seine Korrektur von Form und Lage des Kaspischen Meeres, dessen Längsachse er im Gegensatz zur bisherigen Lehrmeinung (und in Übereinstimmung mit der heutigen Geographie) von Norden nach Süden statt von Osten nach Westen verlaufen läßt, also um etwas, das er gerade nicht mit seinen “Augen gesehen”, sondern nur aus Messungen - eigenen ebenso wie denen persischer und arabischer Seefahrer und Kartographen - erschlossen haben kann. Schon in der Vorrede öffnet sich ein Widerspruch zwischen dem Pathos der Augenzeugenschaft und der Notwendigkeit, auf andere Wissensbestände zu rekurrieren. Die Notwendigkeit, diesen Widerspruch auszuhalten, hat auch etwas mit einer stilistischen Vorentscheidung zu tun, die Olearius auf der gleichen Seite seiner Vorrede programmatisch vertritt, und die ihn zwingen wird, sowohl von der Stringenz seiner Narration als auch vom Paradigma der Augenzeugenzeugenschaft abzuweichen: Es gehöret zwar ein außführlicher Bericht von den Ländern / der Völker Leben und Sitten / Polizeywesen und Religion nicht eigentlich zu einer Reyse Beschreibung. Weil ich aber sehe / dass es andere vor mir mit dabey gezogen / ich auch nicht rathsam funde / darvon ein absonderlich Buch zu schreiben / und also das Hodæporicum sterile und dem Leser / welcher mehr zu wissen begehret / als wie wir von einen Dorff und Stadt zur andern gereiset / unangenehm zu machen / habe ich solches auch mit vermischen wollen. (Olearius 1656: Vorrede, o.S.) Das Argument, mit dem Olearius hier die Umarbeitungen gegenüber der Erstausgabe von 1647 begründet, scheint zwar zunächst stilistische Kriterien auszuklammern, zumindest soweit sie auf einer sprachlichen Ebene liegen. Wenn Olearius mit “Hodæporicum” für seinen deutschsprachigen Text eine Gattungsbezeichnung wählt, die vorwiegend, aber durchaus nicht ausschließlich, im Rahmen lateinsch-humanistischer Reisedichtung gebräuchlich ist, dann spielt er die Differenz zwischen Volkssprache und Latein herunter. Und auch die poetische Dimension ist hier nicht betroffen: als Hodoeporicon können sowohl Versals auch Prosadichtungen bezeichnet werden, und bei Olearius existiert beides nebeneinander, wenn er in seinen Prosa-Bericht eine ganze Reihe von Gedichten integriert, darunter auch zwei längere Texte von Paul Fleming, die für sich selbst als Hodoeporicon gelten können. Was der Sterilität entgegenwirken soll, ist demgegenüber zunächst eine inhaltliche Erweiterung, die der Erzählung, “als wie wir von einen Dorff und Stadt zur andern gereiset”, einen “ausführliche[n] Bericht von den Ländern / der Völker Leben und Sitten / Polizeywesen und Religion” “vermischen” soll. Allerdings betrifft diese ‘Vermischung’ auch den narrativen Stil der Erzählung, jenseits sprachlicher und poetischer Kriterien. Steril erscheint hier eine narrative Ökonomie, in der der mehr oder weniger gradlinige Fortgang der Reise in die Linearität einer finalisierten Narration übersetzt würde. Entgegengesetzt wird dem ein Prinzip der Digression, der Vermischung von Erzählung und Bericht, Chronologie und Achronie, aber auch Dokumentation und Fiktion (eine Differenz, die ebenfalls für das Genre des Hodoeporicon nicht entscheidend ist) 2 . Indem Olearius’ Erzählung vom Reiseweg des Verfassers abweicht, kommen Materialien ins Spiel, deren Evidenz, im Sinne eines durch Autopsie gesicherten Wissens, gerade nicht gegeben ist. Um diese Lücke zu schließen, greift Olearius auf anderweitig verbürgtes Wissen zurück, er scheut sich dabei aber auch nicht, anekdotische und legendhafte Überlieferungen aufzugreifen und so statt einer Geschichte Wolfgang Struck 64 eine Vielzahl von Geschichten zu präsentieren. Geschichten, die von Ereignissen berichten, die Olearius nicht ‘mit eigenen Augen gesehen’ hat, und die in Gegenden führen, die er nicht ‘mit eigenen Füßen betreten’ hat. Und er wählt dafür Präsentationsformen, die sowohl die eigene Imaginationskraft als auch die seiner Rezipienten involvieren. Illustrieren möchte ich das mit einer digressiven Episode aus dem zehnten Kapitel des zweiten Buches, das von der Reise von der Ostseeküste bis Moskau durch Livland und Rußland handelt. Eigentlich soll dieses Kapitel nach einem historisch-ethnologischen Exkurs “Von den Undeutschen oder alten Lieffländischen Einwohnern” (Olearius 1656: 105ff.) nun “wiederumb zu unser Reise” zurückführen. Aber auch hier präsentiert Olearius in erster Linie landeskundliches Wissen, in anekdotischer Form und in Illustrationen zugespitzt. So berichtet er etwa von den Gefahren, die in der Weite der livländisch-russischen Natur von Raubtieren ausgehen. Eigene Erfahrungen kann Olearius hier, anders als im Falle eines Skorpion-Stichs, den er in Persien erleiden wird, nicht vorweisen. Aber die Reise gibt doch den Anlaß und den Ausgangspunkt für die Darstellung. Anfang März 1636, als die Reisenden für einige Zeit in der Stadt Narva festliegen, hören sie von einer Attacke durch einen besonders aggressiven, möglicherweise tollwütigen Wolf, die sich zwei Jahre zuvor ereignet hatte: Im Jahr 1634. den 24. Jenner / ist anderthalb Meilen von der Narva / ein kleiner ohne zweiffel wütender Wolff 12. Russische Bauren / so mit Heu beladenen Schlitten hinter einander hergefahren / begegnet / Dieser hat sich alsbald an den ersten gemachet / ist an ihm hinauff sprungen / hat ihn bey der Kehlen gefasset / und niedergerissen / imgleichen auch den andern. Dem dritten hat er das Fell über den Kopff gezogen / dem vierdten Nase und Backen abgerissen / den fünfften und sechsten auch sehr beschädiget (Olearius 1656: 117f.). Dass Zeit und Ort dieser “grawsamen Geschicht” (relativ) genau benannt werden können, hebt das von Olearius nicht selbst erlebte Geschehen von der Legendenhaftigkeit oraler Tradierung (die bei Olearius immer wieder im Verdacht des Abergläubischen steht) ab und verankert es als einmaliges Ereignis in der sinnlich erfahrbaren Welt. Olearius läßt es dabei aber nicht bewenden, sondern er fügt noch zwei ‘Evidenzen’ an, für die er tatsächlich selbst als Augenzeuge fungieren kann: “Der Balck von diesem Wolffe”, der schließlich überwältigt und getötet werden konnte, “wurde außgestopffet / den Gesandten gezeiget / und wegen der grawsamen Geschicht von denen zur Narve zum Gedächtniß auffgehoben” (Olearius 1656: 118). Ein noch bedeutenderer Zeuge tritt in Gestalt eines der Opfer selbst auf, das die Gottorfer noch vor seinem bald darauf eintretenden Tod (infolge einer verspäteten Tollwut- Infektion? ) “besehen” können: Einen von den beschädigten Russen habe ich mit unserm Doctor zur Narve besuchet und besehen / war im Gesichte und Kopff so jämmerlich zugerichtet / gleich als er nach damahligem Abrisse allhier im Kupfer gesetzt wird. Dieser ist neben den andern allen Beschädigten wütend gestorben (Olearius 1656: 118) Erst hier, in der Begegnung mit dem “beschädigten Russen”, ist Olearius’ Bericht wieder in der Gegenwart seiner Reise und seiner eigenen Erfahrung angelangt, von der er mit der zwei Jahre zurückliegenden “grawsamen Geschicht” abgewichen war. Der besuchte Zeuge wird dabei jedoch ausdrücklich nicht als Quelle der Erzählung benannt; die Gottorfer haben ihn “besehen” und ‘abgerissen’, aber offenbar nicht sprechen können. Das Ergebnis dieser Autopsie findet dann als Kupferstich den Weg in die Vermehrte Newe Beschreibung, so unmittelbar ‘nach dem Leben’, wie es barocker Medientechnik möglich ist, und in der physiologischen Korrektheit zusätzlich belaubigt durch die Anwesenheit des “Doctor” (vgl. Abb. 1). Evidenz und evidentia 65 Abb. 1 Die Sorgfalt, mit der Olearius hier seine Beweismittel präsentiert, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen dem “beschädigten Russen” und der “grawsamen Geschicht” eine Lücke klafft, die das im Stil eines forensisches Dokuments Vorder- und Rückansicht nebeneinander vor neutralem Hintergrund präsentierende Porträt gerade nicht schließen kann. Denn der Ursprung der Verwundung ist den Wunden nicht abzulesen; der geöffnete Kopf gibt den Blick auf die Erfahrung, die darin gespeichert ist, gerade nicht frei. Immerhin sind auch ganz andere Formen der Grausamkeit denkbar, die zu vergleichbaren Beschädigungen führen können; so hat Olearius nur ein Kapitel zuvor ausführlich - und mit einer Abbildung, die an Drastik denen über die Raubtierattacken durchaus nahekommt - über die grausamen körperlichen Strafen berichtet, denen sich die Lettische Bevölkerung unter deutscher Regentschaft im Baltikum unterworfen sieht (Olearius 1656: 105ff.; Abb. 108). Daher bleibt das Porträt des “beschädigten Russen” auch nicht für sich stehen, sondern es bildet nur einen Teil des Bildarrangements, mit dem die ‘grawsame Geschicht’ illustriert wird. Es nimmt den linken unteren Teil des gesamten Stichs ein und wirkt, als sei es wie ein Blatt Papier, dessen eine Ecke zum Betrachter hin hochgebogen ist, vor (bzw. über) eine zweite Abbildung gelegt, die es zu etwa einem Drittel verbirgt. Auf dieser zweiten, ‘hinteren’ Abbildung ist die Wolfsattacke selbst zu sehen. Beide Bilder stehen in einem deutlich akzentuierten stilistischen Kontrast zueinander. Das Porträt erscheint als Zeichnung, als seines lebensweltlichen Raums und seiner Materialität beraubtes Abbild, begrenzt durch die Wolfgang Struck 66 Fläche des Papiers. Nur dieses Papier selbst erscheint, im Gegensatz zur Flächigkeit des Abgebildeten, durch seine hervorgehobene Textur als materielles und, durch die aufgebogene Ecke, sogar als dreidimensionales Objekt. Auf dem dahinter-/ darunterliegenden Bild dagegen ist keine Trägerschicht, kein Medium zu sehen. Dafür ist die dargestellte Welt hier dreidimensional, ein in die Tiefe der Landschaft und des Himmels geöffneter Natur-Raum ohne erkennbare Begrenzung (auch ‘hinter’ dem Porträt-Blatt setzt er sich fort), und ohne Lücken, in denen sich das (Papier-) Medium selbst manifestieren könnte. Statt dessen ist es angefüllt mit realistisch wirkenden Objekten: Menschen, Tiere, mit Heu beladene Schlitten, Bäume, ein Gebirge im Hintergrund, Wolken am Himmel. Natürlicher erscheint dieses Bild auch in seiner Beziehung zur Zeit. Während das Porträt ein atemporales - und damit künstliches - Tableau erzeugt, indem es dasselbe Objekt, den einen Kopf, zweimal, von vorne und von hinten, auf der selben Fläche abbildet, zerlegt das dahinter befindliche Szenarium die verschiedenen Aspekte des Grauens in eine narrative Folge, die dadurch in einem Bildraum zusammengefaßt werden kann, dass sich die Darstellung die Serialität der Ereignisse zunutze macht: Es sind drei Bauern zu sehen, von denen der Wolf einen bereits gerissen und offenbar tot liegengelassen hat, einen anderen, dessen verzweifelte Gegenwehr zu erlahmen scheint, hält er gerade an der Kehle gepackt, während ein dritter sich mit entsetztem Gesicht zur Flucht wendet. Im Unterschied zum ‘vorderen’ Bild geht es hier also nicht um eine Ergänzung, eine visuelle Bestätigung des Berichteten, sondern es wird selbst eine Geschichte erzählt. So könnte es sich zugetragen haben, aber dass es wirklich so war, wird durch den ‘Zeugen’, den ‘beschädigten Russen’, eben nicht bestätigt. Die ‘grawsame Geschicht’ füllt eine Leerstelle nicht nur in der Narration, sondern auch in der Evidenz der Augenzeugenschaft. Diese kann nur das ‘vordere’ Bild beanspruchen, für das Olearius behaupten (und auch noch durch den Doktor bezeugen lassen) kann, den ‘beschädigten Russen’ gleichzeitg ‘besehen’ und ‘abgerissen’ zu haben. Konstruiert wird so eine metonymische Verkettung von Zeugen(schaften), ein medial vermitteltes indexikalisches Zeichen. Bis zum ‘hinteren’ Bild reicht diese Kette jedoch nicht. Während das erste, ‘vordere’, Bild Evidenz beansprucht, dabei aber eine eher karge, den Sinn des Gezeigten verbergende Wirklichkeit zeigt, bedient sich das zweite, ‘hintere’ Bild der Imaginations- und Illusionskraft - innerhalb der dargestellten Situation ist schwerlich ein Beobachter denkbar, der das Geschehen hätte “besehen” und ‘abreißen’ können -, um dem Betrachter ein dynamisches, lebendiges (soweit man das über ein so todesgesättigtes Motiv sagen kann) Geschehen ‘vor Augen zu stellen’. Anders gesagt, es bedient sich der enargetischen Figur der evidentia. Bezogen auf die Gesamtkomposition der Vermehrten Newen Beschreibung ist dabei zu bedenken, dass sich die hier im Text und auch in der Illustration narrativ ausgebreitete ‘grawsame Geschicht’ tatsächlich einem Stillstand verdankt, einem Stillstand der Reise selbst, der erst die Möglichkeit der Recherche eröffnet, und einem Stillstand der Reiseerzählung, die hier eine digressive Abschweifung in die Vergangenheit und in die fremde Lebenswelt ermöglicht. Olearius hätte hier also ein Beispiel geliefert für die Erweiterung des ‘sterilen’ Bericht-Stils - um den Preis einer Darstellung, die ihre eigene Erfahrungsgrundlage zu verlieren droht. Die Illustration geht dabei aber in zwei Aspekten über das hinaus, was auch im Text gesagt wird, und schafft einen Erfahrungsraum anderer Art. Zum einen bleibt sie nicht bei der anekdotischen Geschichte stehen, sondern sie fügt diese in einen metaphysischen Rahmen ein. Der untere Bildrand, soweit er nicht vom Porträt verdeckt wird, ist angefüllt mit nackten Felsen, und daraus erhebt sich, das Bild am rechten Evidenz und evidentia 67 Rand rahmenartig abschließend, ein abgestorbener, blätterloser Baum. Der Tod, der durch den Wolf in Welt der Bauern getragen wird, ist dort also immer schon präsent, repräsentiert durch Objekte, die, an prominenter Stelle im Vordergrund, dem sich scheinbar ins Endlose verlierenden Naturraum eine Grenze setzen, eine räumliche Grenze, die zugleich eine der Zeit ist: jede irdische Geschichte findet ein Ende, das durch den Tod gesetzt ist. Dieser Rahmen gibt zugleich dem restlichen Bild das Darstellungsprinzip vor, denn die reich belaubten Bäume des Mittelgrundes (die zudem eher zu einer anmutigen Gartenanlage passen als zu einem ‘wilden’ Wald) gehören natürlich nicht in die realistische Darstellung einer russischen Winterlandschaft (“24. Jenner”! ), sondern, als Kontrast zum unbelaubten Todesbaum, in die memento mori-Allegorie. Zum anderen verbindet die Illustration die beiden Darstellungsstile miteinander: hinter der kargen Evidenz des nach der Wirklichkeit ‘abgerissenen’ Porträts ver-/ entbirgt sich eine Fülle der Sinnlichkeit und des Sinns. Man kann sich das vordere Blatt als Buchseite vorstellen, die umgeschlagen wird, um - partiell - den Blick auf das Dahinterliegende freizugeben. Was aber kommt dabei zum Vorschein? Eine weitere Buchseite? Die Wirklichkeit? Oder eine andere, ‘tiefere’ Form der Wahrheit? Dass das keine Gegensätze sein müssen, besagt einer der berühmetesten topoi des Barock, der die Welt als das Buch Gottes beschreibt. Olearius selbst hat das an anderer Stelle formuliert, in der Einleitung eines Katalogs für die “Gottorffische Kunst-Kammern”, in der auch eine Fülle von ‘Mitbringseln’ der “Muscowitischen und Persischen Reyse” Aufnahme fand (unter anderem der in Öl konservierte Skorpion, dessen Stich Olearius ein eigenes Evidenz-Erlebnis von den Gefahren der fremden Natur verdankte): Dann er [GOTT der Herr] uns neben seinem geoffenbarten Worte das grosse Wunderbuch der Welt mit den zwey grossen Blättern nemlich Himmel und Erden vorgeschrieben / dass wir darinne studiren / und dadurch etwas grössers erkennen lernen sollen / nemblich / ihn den Schöpfer selbst / seine Majestät und Allmacht. (Olearius 1674: Vorrede, o.S.) Dass es schwierig sein mag, Majestät und Allmacht des Schöpfers ohne weiteres mit dem “beschädigten Russen” und der durch ihn bezeugten “grawsamen Geschicht” zusammenzubringen, ist dabei weniger bedeutsam als die Versicherung, dass sich die göttliche Offenbarung nicht nur auf die Schrift bezieht, sondern auch auf das “Wunderbuch der Welt”, das heißt, dass sie dessen grundsätzliche Lesbarkeit impliziert. Das ändert jedoch nichts an dem prekären (Realitäts-) Status jener Wirklichkeit, die die nur über eine enargetische Rhetorik zu erschließende ‘grawsame Geschicht’ eröffnet. Für ihren Wahrheitsgehalt kann weder der namentlich benennbare, glaubwürdige Zeuge (Olearius selbst, unterstützt durch den “Doctor”) in Anspruch genommen werden, noch ist er allgemein und prinzipiell überall und immer überprüfbar, wie der “Wunderbau des Himmels”, dessen mathematisch rekonstruierbare Ordnung Olearius das Beispiel für die geoffenbarte Wahrheit der Natur bietet. Voraussetzung für ein ‘Studium’ im ‘Wunderbuch der Welt’ ist, dass wir diese Welt “nicht nur mit leiblichen / sondern auch mit gesunden Vernunffts-Augen anschauen und betrachten” (Olearius 1674, Vorrede: o.S.). Was dann von der ‘grawsamen Geschicht’ bleibt, ist jedoch allein die allgemeine Wahrheit des memento mori - eine Erkenntnis, für die man in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges kaum bis nach Rußland hätte reisen müssen. Das ‘Wunderbuch der Welt’ ist offenbar zu groß für das, wovon Olearius berichten möchte, so wie sein eigener Skizzenblock, in dem er das ‘mit leiblichen Augen’ Gesehene ‘abgerissen’ hat, zu klein ist. Man muß nur die Seite der Vermehrten Newen Beschreibung, auf der sich die beschriebene (Doppel-) Illustration befindet, tatsächlich umblättern, dann stößt man auf eine weitere Wolfgang Struck 68 Abb. 2 Illustration, die vor allem den prekären Status eines Berichterstatters ‘vor Augen stellt’, der von etwas zeugen möchte, das weder mit “leiblichen” noch mit “Vernuffts-Augen” zu sehen ist (vgl. Abb. 2). Von seiner Narration her gesehen überläßt sich Olearius hier noch etwas weiter dem digressiven Sog der oral histories und führt eine ganze Reihe von Anekdoten an, die von weniger grausamen als kuriosen - und häufig versöhnlich endenden - Begegnungen mit Bären berichten - bis er sich schließlich selbst das Wort entzieht: Noch viel andere und seltsamere Historien die sich dero örter mit den Bären begeben / wurden uns erzehlet / Wie nemblich ein Baar bey Riga ein Weib in seiner Hölen bey 14. Tagen gehalten / Item wenn sie geschossen / wie sie die Jäger ertapt und tractiret, und wie die wunderlich von ihnen loß gekommen / und dergleichen. Welches / weil es dem Leser / sonderlich denen / so von dergleichen nie gehöret / möchte ungläublich vorkommen / habe ichs in Schriften nicht mit mehren gedencken wollen. (Olearius 1656: XXX) Weder die narrative Stringenz des eigentlichen Reiseberichts setzt hier dem abschweifenden Erzählen eine Grenze, noch die - nicht vollständig gesicherte - Evidenz, sondern die Glaubwürdigkeit für die Rezipienten, die gekoppelt ist an deren Erfahrungsraum, das heißt an ihre Fähigkeit und Bereitwilligkeit, sich der evidentia zu überlassen, sich das Geschehen ‘vor Augen stellen’ zu lassen. Allerdings ist diese Grenze durchlässig. Nicht nur teilt Olearius Schrift ja einiges von dem mit, was er eigentlich auslassen will, auch scheint er hier verschiedene Medien gegeneinander auszuspielen. Dass er “in Schriften” nicht mehr mitteilen will, kann man natürlich zunächst selbstreferentiell auf die vorliegende Schrift, die Vermehrte Evidenz und evidentia 69 Newe Beschreibung beziehen, man kann es aber darüberhinaus auch in Kontrast zum ‘Erzählen’ und ‘Hören’ setzen, zu einer Mündlichkeit also, der offenbar eine höhere Evidenz zugetraut wird - schließlich stellt sich das Glaubwürdigkeitsproblem nicht für die, denen man “erzehlet” hat, sondern nur für die, “so von dergleichen nie gehöret” haben. Vor allem aber kann man das Schreiben in Kontrast setzen zu der Illustration, die dem Betrachter sinnlich ‘vor Augen stellt’, was dem Leser “ungläublich” vorkommen mag. Die Illustration vereinigt mehrere der Erzählungen, im Vordergrund etwa einen Bären, der eine Leiche fortträgt. Von Friedhofsplünderungen handeln zwei Anekdoten, wobei die eine wiederum genaue Orts- und Zeitangaben machen kann, die andere dagegen belegt ist durch eine Augenzeugin, die Olearius zwar nicht persönlich gesprochen, deren guten Leumund er aber bezeugt gefunden hat: Es hat sich vor wenig Jahren zu getragen / dass eine fürnehme desselben Orts wol bekandte Fraw / als sie gereiset / einen Bären angetroffen / welcher eine Leiche in Armen getragen / und das Leichentuch hinter sich her schleppen gehabt / als ihr Pferd vor dem Schlitten diß Spectakkel ansichtig worden / hat es geschnaubet und gewütet / ist mit dem Schlitten außgerissen / und die Fraw nicht ohngefähr über Stock und Stein geführet. (Olearius 1656: XXX) Kein allzu sicherer Beobachtungsposten also, und so zeigt auch die Abbildung den Schlitten rechts im Hintergrund, vom Geschehen abgewandt und gerade im Begriff, den Bildraum zu verlassen. Der zweite Bär, der einen noch lebenden Menschen nach links fortträgt, könnte ebenfalls auf zwei verschiedene Geschichten verweisen, eine von einem Bauern, der durch den heroischen Einsatz seines kleinen Hundes gerettet worden ist (zu sehen am rechten Fuß des Bären), oder auch auf die von einem Bären in seine Höhle entführte Frau. Was aber in keiner der Erzählungen vorkommt, ist der Mensch, der sich auf dem Baum am linken Bildrand befindet. Auffällig ist vor allem die Bewegung, mit der er eine Hand in Richtung der Bären ausstreckt; aber was diese Geste bezweckt, ist ebenso unklar wie die Funktion und Position der Figur überhaupt gegenüber der Diegese. Hat sie sich auf den Baum geflüchtet und versucht nun (vergeblich), dem/ der Entführten ebenfalls nach oben zu helfen? Oder handelt es sich um eine zeigende Geste, einen Hinweis? Wenn ja, für wen - für eine weitere (nicht sichtbare) Person innerhalb der Diegese oder für einen Betrachter des Bildes? Die Haltung der Hand erinnert durchaus an die Geste, mit der ein Schauspieler aus der Rolle und an die Rampe der Bühne tritt, um auf das Bühnen-Tableau zu weisen - in sehr viel zurückhaltenderer, angedeuteter Form findet sie sich auch auf dem Frontispiz der Vermehrten Newen Beschreibung, wo ein russischer und ein persischer Edelmann zwischen sich den Raum öffnen, den Olearius’ Text beschreibt. Signifikant ist weiterhin, dass der Ast, auf den sich das Standbein dieser zwischen Teilnahme und Beobachtung changierenden Figur stützt und der selbst wie ein Pfeil auf die Hand gerichtet ist, abgestorben ist. Es liegt nahe, das wiederum als memento mori zu interpretieren: Der Ast, auf den wir Menschen uns gerettet zu haben glauben, ist immer schon brüchig (und nebenbei: Bären können klettern! ). Diese Interpretation könnte den Bogen zum ungläubigen Leser schlagen und ihm helfen, sich die Bärenhöhle vor Augen zu stellen, sie könnte also der evidentia dienen. Zugleich relativiert sie aber die Evidenz, indem sie die Position des gesicherten Beobachters in Frage stellt. Entweder es droht der Absturz in die Welt der “grawsamen Geschicht”, der Verlust also der gesicherten Beobachterposition, oder diese Geschichte droht sich aufzulösen im großen Wunderbuch der Welt. Mit dem Mann auf dem toten Ast führt Olearius eine Figur ein, deren Status als Beteiligter einerseits und als Zuschauer, Zeuge und Berichterstatter andererseits in keiner Weise klar definiert ist, die aber Wolfgang Struck 70 tatsächlich letztlich alles zugleich sein müßte, um etwas sehen und zeigen zu können, was sich jenseits des Gesichtskreises der “leiblichen” wie der “Vernunfft-Augen” abspielt - eben die spezifische, zwischen Individualität und Allgemeinheit schwankende Wirklichkeit einer grawsamen Geschicht. Den Digressionen läßt sich also eine doppelte Funktion zuschreiben: Sie überführen die auf die individuelle Perspektive des Reisenden beschränkte Erzählung in ein Tableau, sie füllen aber dieses Tableau zugleich wiederum mit Geschichten an, die sich einer vorschnellen Integration in ein prästabiliertes, universelles Wissen entziehen. In dieser Ansammlung heterogener, und keineswegs durch Evidenz gesicherter Daten, sehe ich, stärker als in dem oft für seine Modernität in Anspruch genommenem Beharren auf Augenzeugenschaft, die Originalität von Olearius’ Reisebericht. Die - fremde - Individualität der einzelnen Geschichte ist das Problem, vor das sich Olearius gestellt sieht. Wie sehr er dabei auf die digressio setzt, um ein neues, schwer zu handhabendes Wissen in den Bericht einfließen zu lassen, zeigen die vielen Anekdoten, die vor allem den Persien-Teil des Buches bestimmen. Auch dass insbesondere die islamischen Legenden aus christlicher Perspektive pflichtschuldig als “treffliche alberne Fabeln vnd Handgreiffliche Lügen” (Olearius 1656: 679) abqualifiziert werden, hat Olearius nicht daran gehindert, sie zu jeder sich bietenden Gelegenheit in seinen Bericht aufzunehmen - und das durchaus nicht allein aus protoethnologischem Interesse. Sie stellen nicht nur ein Verfahren dar, den Fluß der Erzählung zu unterbrechen, sondern sie unterlaufen auch die Einheitlichkeit und Souveränität der Erzähler- Perspektive und markieren damit häufig Momente, die im Tableau christlich-abendländischen Wissens nur schwer unterzubringen sind. Aber auch in scheinbar näherliegenden Bereichen dienen digressive Verfahren dazu, problematisches Wissen in den Text zu integrieren. Das möchte ich zeigen an einer ganz anders gearteten ‘grawsamen Geschicht’, die Olearius sehr viel unmittelbarer betrifft. Das sechste Kapitel des zweiten Buches überläßt Olearius vollständig einem fremden Text, nämlich Paul Flemings Carmen Auff Oleariens Rede über deroselben erlittenen Schiffbruche auff Hochland / im Novemb. des 1635. Jahres (Olearius 1656: 81-85). Es handelt sich um ein mit 144 Alexandriner-Versen ziemlich langes, erzählendes Gedicht über eine gefährliche Schiffahrt auf der Ostsee, die für einen Teil der Gesandtschaft die zweite Phase des Unternehmens einleitete. Narrativ gesehen handelt es sich hier wiederum um eine Digression, denn die hier verarbeiteten Ereignisse hat Olearius selbst bereits in den vorangehenden Kapiteln recht ausführlich geschildert. Und im Unterschied zu Fleming kann er sich dabei wiederum auf Augenzeugenschaft berufen, denn er hat, neben den Gesandten selbst, tatsächlich an der Fahrt teilgenommen, während Fleming zu dem zahlenmäßig größeren Teil der Gesandtschaft gehörte, der nach Abschluß der ersten Etappe in Reval geblieben war. Es liegt also nahe, dass es vor allem die poetisch-stilistische Kompetenz - des Dichters Fleming - ist, die Olearius veranlaßt hat, dem eigenen, nüchternen Augenzeugenbericht eine nur auf ‘Hörensagen’ beruhende Verdoppelung an die Seite zu stellen. Tatsächlich verlagert sich mit Flemings Darstellung das Gewicht von der Evidenz auf die evidentia, und das Gedicht bietet dazu ein breites Arsenal poetischer Formen, allegorischer Verdichtungen einzelner Geschehensmomente sowie die narrative Verdichtung in einer spannungsakzentuierenden Dramaturgie auf. Am signifikantesten ist jedoch ein virtuoses Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen, das die reale Differenz von Augen- und Ohrenzeuge kompliziert und unterläuft. Der ‘in medias res’-Anfang bietet ein Musterbeispiel für die in bereits in antiken Rhetoriken empfohlenen Strategien der evidentia, des affektbetonenden Vor-Augen-Stellens: Evidenz und evidentia 71 Mich dünckt, ich höre noch den Zorn der tollen Wellen / Den Grimm der wilden Fluth / dass mir die Ohren gellen. Mir ist, als seh’ ich noch die angereyhte Noth Die Augenblicklich euch gesampten schwur den Todt / In einer langen Quael / durch zweymal sieben Tage. Hilff Gott, was führtet ihr allda für eine Klage! Was vor ein Angstgeschrey! Noch war bei aller Pein Die härtste, dass ihr noch im Leben mußtet seyn. (V. 1-8) Indem hier die Unmittelbarkeit von Sinneswahrnehmungen angesprochen, oder genauer gesagt, überwältigende optische und akustische Reize aufgerufen werden, die einem fast Hören und Sehen vergehen lassen, werden die Rezipienten emotional in das Geschehen involviert; ein Effekt, der dadurch verstärkt wird, dass der expositionslose Beginn sie in eine ähnliche Orientierungslosigkeit stürzt, wie sie die Seefahrer in der nicht enden wollenden Sturmnacht empfunden haben müssen. Der Text macht also gleichzeitig das, wovon er berichtet: er schafft Orientierungslosigkeit, die im weiteren Verlauf ausgiebig als die entscheidende Wirkung des Sturms auf die Gemüter geschildert werden wird. Das betrifft tendentiell auch die etwas unklare Perspektive des Berichtenden: Scheint in den ersten Versen ein Beteiligter in erinnernder Vergegenwärtigung zu sprechen, so nimmt der Wechsel zur zweiten Person Plural im vierten Vers eine Distanzierung vor. Eine Anomalie, auf die ich zurückkommen werde. Mit dem Todeswunsch bricht die Schilderung zunächst ab, und es folgt ein sachlicherer Rückblick, eine nachgeholte Exposition, die einerseits Ort und Zeit konkretisiert, andererseits aber bereits einen übergeordneten, providentiellen Rahmen aufrichtet, in den das Geschehen gestellt wird. Der Bawer hatte schon das WinterFeld bestellet / Der Gärtner für den Frost nach Notdurfft Holz gefället. Die Sonne die verließ nun gleich den Scorpion / Das unglückhaffte Thier. Der abgewandte Mon Zog seine Hörner ein / wie furchtsam anzusehen / Was bey der bösen Nacht euch würde bald geschehen. Der Tag war ohne Tag. Die Nacht war mehr als Nacht / Als die kein edler Stern durchaus nicht liechte macht. Neptun kan keinem gut für seinen Schaden sagen / Der sich in seiner Fluht auff späten Herbst wil wagen. Er selbst ist nicht sein Herr / wenn Eolus sich regt / Und ihm der Wellen Schaum in seine Haare schlägt. Es war zur Abfahrt schon für euch ein böses Zeichen / Zwey Schiffe kunten sich zu weichen nicht vergleichen. (V. 9-22) Im raschen Wechsel über mehrere Isotopieebenen und unterschiedlicher Arten von (Vor-) Zeichen entsteht hier ein Raum düsterer Assoziationen und Vorbedeutungen. Die ‘späte’ Jahreszeit, wo sich die Natur in sich selbst zurückzieht, mit ihr alle den natürlichen Rhythmen folgenden Menschen Schutz und Sicherheit suchen, läßt es nicht nur rein pragmatisch gefährlich erscheinen, sich auf See zu begeben (wegen der Herbststürme), sondern es scheint auch im Widerspruch zur Weltordnung zu stehen und so eine Versuchung des Schicksals darzustellen. Dem entspricht eine negative astrologische Konstellation aus Skorpion und sich verbergendem Mon(d), und schließlich das Unglück bei der Ausfahrt aus dem Hafen, das Wolfgang Struck 72 noch als zeichenhaftes Mißgeschick gedeutet werden kann, aber zugleich den Anfang einer ganzen Kette sich graduell steigernder Katastrophen darstellt. Vom zeichenhaft vergegenwärtigenden memento mori zum real präsenten Tod ist es also nur ein gradueller Übergang. Schließlich ist das Schiff da angelangt, wo das Gedicht begonnen hatte: So trieb das krancke Schiff mit Tieffen gantz beschlossen / Mit Wassern unterschwemmt / mit Wellen übergossen / Des Wetters leichter Ball. Der Grund war unbekandt. […] Es war in aller Pein Nur diß der ärgste Tod / nicht stracks tod können seyn. (V. 49-51; V. 59f.) Hier bricht die Schilderung vom Leid der Seefahrer erneut ab, und der Fokus der Erzählung springt wieder von der 2. zur 1. Person, diesmal aber im Plural: “Wir / die wir unser Heyl noch ferner mit euch wagen / Was traff auch uns für Angst. Was führten wir für Klagen” (V. 61f.). “Wir”, das sind die in Reval zurückgebliebenen Mitglieder der Gesandtschaft, die das immer länger ausbleibende des Schiff in wachsender Sorge erwarten, dabei von einer Vielzahl sich widersprechender Gerüchte verwirrt und beunruhigt werden, bis auch hier ein Grad der Orientierungslosigkeit erreicht ist, der fast dem der Seefahrer entspricht. Damit bricht der Erzählfluß erneut ab, und es verlagert sich wiederum der Fokus. Aus neutraler Perspektive wird eine einsame Insel geschildert: “Es liegt ein hohes Land in Amfitritens Armen / die manches Schiffes sich hier pfleget zu erbarmen” (V. 85f.). ‘Erbarmen’ ist nicht nur das erste versöhnliche, beruhigende Wort im ganzen Gedicht, das eine Wendung des Schicksals andeutet, es wird auch gestützt durch eine ruhige, gelassene Schilderung, die sich Zeit läßt für die Insel, den Fels in der Brandung, der schließlich die Schiffbrüchigen aufnehmen, und, auch wenn sich einen Moment lang der Eindruck aufdrängt, der Ort sei vielleicht gar nicht von dieser Welt, wieder dem Leben zurückgibt. So kann dieser vierte Abschnitt mit der freudigen Vereinigung in Reval enden. Ein letzter Abschnitt nimmt schließlich den providentiellen Argumentationsstrang wieder auf, nun aber unter umgekehrten Vorzeichen: Wer sich solchen Gefahren ausgesetzt und sie glücklich gemeistert hat, darf sich sowohl auf seine eigene Leistungsfähigkeit als auch auf das Wohlwollen Gottes verlassen, oder anders gesagt: Wer sich selbst nicht verloren gibt und auf Gottes Hilfe vertraut, der muß auch vor bösen Zeichen nicht verzweifeln, und das gibt Vertrauen auf die Zukunft: “Das wolgefaste Werk wird bald vollführet seyn”. Das ‘bald’ verweist auf eine neue Raum-Zeit-Konstellation, den Ort des Schreibens: “Hier / da die Wolge sich in so viel Ströhme reist / / Und in die Casper See mit vollen Krügen geust” (V. 135f.). So weit ist man im Oktober 1636 gekommen, nämlich, wie die Unterschrift präzisiert, nach Astrachan, am Anfang des Wolga-Deltas. Begonnen allerdings hatte der Schlußteil mit noch einem weiteren ‘Hier und Jetzt’ und einer anderen Quelle der Rede: Dieß hat mein thewrer Freund mit alles ausgestanden. Dieß alles gibt er hier zu lesen allen Landen / Sein wahrer Zeuge selbst. Hörts / wers nicht lesen kan. Schaw / Teutsche Christenheit / das wird für dich gethan (V. 125-128) Der Hinweis auf die “Teutsche Christenheit” knüpft an ein Abschiedsgedicht an, das Fleming vor der Abreise 1633 in Hamburg hatte drucken lassen, und in dem er die Hoffnung formuliert, der Kontakt mit Persien können zu einem Ende des deutschen Konfessionskrieges Evidenz und evidentia 73 beitragen, da er die Aufmerksamkeit auf den wahren Feind, das osmanische Reich lenken würde. Er schlägt also den Bogen zum Beginn und unterstellten Sinn der Reise (übrigens ohne dass das etwas mit den wahren Zielen der Gesandtschaft zu tun hätte). Weniger klar ist aber das Vorangehende: der “thewre” Freund läßt Olearius assoziieren, aber was heißt, er gibt zu lesen, und wo ist hier? - Die erste Fassung seines Reiseberichts hat Olearius erst 1647 veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt, an dem Fleming längst nicht mehr am Leben war. Zuvor hat Olearius nur eine Rede über den Schiffbruch gehalten, adressiert allein an die Zuhörer auf dem Wolgaschiff. Eben darauf bezieht sich auch der Titel des Gedichts: “Auff Oleariens Rede über deroselben erlittenen Schiffbruche auff Hochland / im Novemb. des 1635. Jahres”. Erst das Gedicht selbst stellt die erste Verschriftlichung des Ereignisses dar; heraus- (und damit zu lesen) gegeben wiederum von Olearius. 3 Sowohl Reden und Schreiben, als auch Ort, Zeit, Subjekt und Objekt dieses Redens und Schreibens sind also auf mehrfache Weise ineinander verschachtelt; und genau das sagt ja auch der Text: “Hörts, wers nicht lesen kann. Schau […]”. ‘Sehen - Hören - Lesen’ gehen in einem gleitenden Prozeß ineinander über, sind ebenso austauschbar wie ihre Subjekte und Objekte, ihre Produzenten und Rezipienten. Nicht nur dem Titel zufolge ist Flemings Carmen eben kein Gedicht über einen Schiffbruch, sondern ein Gedicht über eine Rede, genauer: über die vergegenwärtigende Kraft der Rede. Damit erweist sich auch der scheinbare Perspektivwechsel der ersten Verse als genau kalkuliert: Stimuliert durch die Worte des Redners, hört und sieht das “Ich” tatsächlich - “Mich dünkt ich höre noch […]”. Zwischen die beiden raum-zeitlich bestimmten Ereignisse, die Schiffahrt auf der Ostsee im November 1635 und die Aufzeichnung des Carmen am 3. Oktober 1636 in Astrachan, tritt also ein dritter, durch Olearius’ Rede markierter Raum-Zeit-Punkt. Dass sie zum eigentlichen Gegenstand lyrisch-panegyrischer Vergegenwärtigung wird, gibt einen Hinweis auf ihre Bedeutung im System höfischer Repräsentation. Gehalten am 31., oder wie Olearius ausdrücklich schreibt: am “letzten Julij” 1636 (Olearius 1656: 340), markiert die Rede das Ende einer nun schon drei Jahre währenden Vorbereitungsphase und zugleich den Aufbruch in ein neues, für alle Teilnehmer weitgehend unbekanntes Territorium. Einen Tag zuvor hatte man in Nisen (Nischni-Nowgorod) das eigens für die Gesandtschaft neu gebaute Schiff “Friedrich” bezogen und war zur Fahrt wolgaabwärts aufgebrochen, in ein Territorium, von dem selbst in Rußland sehr unterschiedliche Informationen kursierten. Es gab keine Karten (die erste verläßliche Darstellung vom Unterlauf der Wolga bis zum Kaspischen Meer wird Olearius selbst zeichnen), der russische Lotse war zum letzten Mal vor zehn Jahren auf dem Fluß gefahren, und allerorten war man nachdrücklich vor den Kosacken und tatarischen Völkern gewarnt worden, die sich der zaristischen Herrschaft nicht fügten, von denen man folglich auch nicht annehmen konnte, dass sie dem vom Zaren ausgestellten “Paß” viel Beachtung schenken würden. An diesem letzten Juli nun kehren auch die aus Nisen mitgereisten Bekannten, die der Gesandtschaft noch einen Tag Geleit gegeben hatten, zurück. Man ist also unter sich, und gleichzeit erstmal vollständig vereinigt. Nach der ersten Moskau- Reise war nur ein Teil der Gesandtschaft nach Schleswig zurückgekehrt und war dann, in veränderter Zusammensetzung, auf der katastrophalen Seereise zum zweiten Mal nach Rußland gegangen. Eine zweite Abteilung war währenddessen in Reval einquartiert worden, eine dritte schließlich nach Nisen vorausgegangen, um hier den Schiffbau zu organisieren. Diese Wiedervereinigung mit diesem ‘Baukommando’ war - wie bereits zuvor die der ersten beiden Abteilungen - keineswegs harmonisch abgelaufen: Zunächst habe man, so vermerkt Olearius ohne nähere Details, einen Streit beilegen müssen, “so die Völcker in wärender Zeit des Schiffbawes vnter sich gehabt” (Olearius 1656: 339), dann wurden mehrere Fälle von Wolfgang Struck 74 Korruption aufgedeckt, in die einheimische Handwerker und holsteinische Schiffbauer verwickelt waren, eben jene Schiffer, die nun die seemännische Besatzung des Schiffes bilden, auf deren Fähigkeiten man also angewiese war, die man demzufolge auch nicht allzu nachdrücklich bestrafen konnte. Auch der Beginn der Wolgafahrt selbst war nicht gerade vielversprechend: Am ersten Tag war man bereits nach zwei Werst (knapp zwei Kilometern) auf eine Sandbank aufgelaufen, von der man das Schiff erst “mit grosser Arbeit / bey 4. Stunden” wieder befreien konnte (Olearius 1656: 339); am nächsten Tag mußte man dann nach nur einem Werst wegen starken Regens und sturmartigem Gegenwind vor Anker gehen. Drei Kilometer in zwei Tagen - angesichts von 650 Kilometern, die man noch vor sich sah, stimmt das nicht gerade optimistisch. Das also ist die Situation, in der Olearius seine Rede hält. Allhier wurde auff dem Schiffe die obgedachte Rede / oder Deutsche Oration über vnsere auff der Ost=See außgestandene Gefahr / vnd an Hochland erlittenen Schiffbruch / gehalten / vnd Gott für die gnädige errettung gedancket; Auch das Volk zu fernern in dergleichen vnd andern Fällen / die sich bey vorstehender langwiriger gefährlichen Reise begeben möchten / fest Vertrawen auff Gott / vnd Hertzhafftigkeit angefrischet. Nach gehaltenem Gottesdienste vnd fröliche Music namen vnsere Geleitsleute vnd guten Freunde von vns Abscheid / vnd führen wieder zu rücke. (340f.) Ausdrücklich erscheint die Rede hier als Teil eines gemeinschaftlichen Zeremoniells. Inhaltlich dürfte sie eine ähnliche Botschaft übermittelt haben wie auch Flemings Carmen: schon einmal schienen die Zeichen nicht gut zu stehen, aber aufgrund der constantia, dem heroischen Mut, hat sich doch noch alles zum Guten gewendet. Aber über diese konkrete Exempel-Auslegung hinaus stiftet sie überhaupt erst Gemeinschaft, indem sie durch ihre Vergegenwärtigungsleistung alle teilhaben läßt an einer Erfahrung, die nur einige gemacht haben - allerdins die an der Spitze der internen Hierarchie stehenden. So stellt es Flemings Gedicht dar, das von hier den Bogen zum Gottorfer Hof schlägt: Das edle Holstein lacht, dass diß sein großes Werk so weit nun ist gebracht. Was Kaisern ward versagt, was Päbsten abgeschlagen, was Königen verwehrt, steht uns nun frei zu wagen. Auf, Nordwind, lege dich in unser’ Segel ein, das wolgefaßte Werk wird bald volführet sein! (V. 139-144) “Das edle Holstein lacht”: Das kann sich beziehen sich auf die Feiernden auf dem Schiff “Friedrich” ebenso wie auf dessen Namenspatron, Herzog Friedrich III. Nicht nur dieser Name stellt eine Verbindung zum Hof her, sondern die ganze Gesandtschaft ist organisiert als (verkleinertes) Abbild eines absolutistischen Fürstenhofes. In einem eigenen Kapitel und mit einer vergrößerten Drucktype (wie sie sonst nur gelegentlich den Gedichten zukommt) präsentiert der Reisebericht die vom Herzog erlassene “HoffOrdnung”, die die Gesandten ausdrücklich an die Stelle des Herzogs selbst setzt und ansonsten jedem weiteren Teilnehmer seinen Platz in einer vielfach gestuften Hierarchie zuweist, vom Marschall über den Geheimrat und Sekretarius, den Stallmeister, den Cammerherrn, Leibmedikus, weitere Hof- und Kammerherrn, Hofjunker, Truchsesse, Kammer- und sonstige Pagen bis zu den “Völkern”. Die meisten dieser Titel benennen oder beinhalten keine konkreten Funktionen und haben wenig mit dem zu tun, was ihre Träger tatsächlich zu tun hatten. Ihre Funktion ist es, eine Hierarchie zu stiften, die ein Abbild der Ordnung des Hofes selbst darstellt. Das ist auch der Evidenz und evidentia 75 Grund für die Größe der Gesandtschaft, die über 100 Personen umfaßte, wozu noch nach Bedarf einheimische Schutztruppen und Dienstboten angeworben wurden. Die wenigsten ihrer Angehörigen hatten mit der eigentlichen diplomatischen Mission zu tun, nicht einmal der Geheimrat und Sekretär Oliarius, immerhin in der Hierarchie an vierter Stelle, war bei den entscheidenden Verhandlungen dabei, und er scheint überhaupt nur sehr vage in die politisch-ökonomischen Pläne eingeweiht gewesen zu sein. Fleming war das gar nicht. Ihre vorrangige Funktion besteht darin, zu repräsentieren, nämlich einen Mikrokosmos zu bilden, ein deutsches Fürstentum im Kleinen. So reist also tatsächlich Holstein nach Persien. Das spiegelt auch Olearius’ gebräuchlichste Bezeichnung für diesen Kosmos: er spricht von Comitat, was im klassischen Latein eine Reisegesellschaft bezeichnet, später aber mehr die Bedeutung von ‘Hofstaat’ oder einfach ‘Hof’ annimmt. Die Gesandtschaft ist tatsächlich beides: ein Hof (oder zumindest dessen verkleinertes Abbild) auf Reisen. Innerhalb dieses Kosmos kommt Ereignissen wie Olearius’ Rede oder den Gedichten Flemings nicht nur eine referenzielle Funktion zu, also aufzuzeichnen, was geschehen ist, sondern auch eine performative, fast rituelle Funktion der Gemeinschaftsbildung. Sie demonstrieren damit aber auch dass eine solche Funktion nötig war, das heißt, sie zeugen von den Spannungen innerhalb des Comitats. Der zentrale Antagonismus ist der Gesandtschaft dabei bereits an ihrer Spitze implementiert. Sie wird nämlich von zwei Gesandten geführt, ohne dass deren Hierarchie und spezifische Kompetenzen geklärt wären - für das Abbild eines absolutistischen Hofs eine durchaus nicht selbstverständliche Konstellation. Politisch, aber auch symbolisch, war sie nicht umgehbar, da der Hamburger Kaufmann Brüggemann, der eigentliche Initiator und ökonomische Kopf des Unternehmens, nicht nur für den Gottorfer Hof, sondern für die höfische Welt überhaupt ein Außenseiter war, dem man daher einen Repräsenten dieser Welt an die Seite stellte, den Juristen Crusius (eigentlich Kruse), in Gottorf eine Art Hofjustiziar und damit kalkulierbarer Bestandteil der Hierarchie. Zugleich hatte man mit dieser Konstellation jedoch einen - wiederum symbolischen und politischen - Konfliktherd geschaffen, an dessen Repräsentation sich Olearius’ Reisebericht abarbeitet. Unter anderm geschieht das mit der Aufnahme von Flemings Carmen, das mehr von dieser Realität enthält, als es auf den ersten Blick scheint. So schafft das Wechselspiel von Neptun, dem Gott des Meeres, und Eolus, dem Gott des Windes, in dem Fleming den unglücklichen Beginn der Reise allegoriesiert, nicht nur einen allgemein mythologischen Rahmen, sondern es identifiziert die beiden Götter als zwei antagonistische Kräfte. 4 Eben ein solcher Antagonismus hatte nach Olearius - ‘sachlicher’ - Darstellung das erste Unglück noch im Hafen von Travemünde ausgelöst, nämlich eine unerwartete und auch für erfahrene Schiffer überraschende Gegenbewegung von ablandigem Wind und in den Hafen drückender Meeresströmung. Das mythologische Bild erweist sich also einerseits als tendenziell realistische Überformung nautischer Realität, es erhöht aber zugleich die Zeichenhaftigkeit des Naturgeschehens. Eine stärkere Ungenauigkeit nimmt Fleming in seiner Darstellung des eigentlichen Unglücks in Kauf: “Zwey Schiffe kunten sich zu weichen nicht vergleichen”. Bei Olearius ist von insgesamt drei Schiffen die Rede, wobei aber nur eins in Bewegung ist, also aktiv zur Kollision beiträgt, nämlich das der Gesandtschaft. Flemings Formulierung dagegen, die den Eindruck erweckt, es würden zwei in Fahrt befindliche, und obendrein zu selbst handelnden Subjekten anthropomorphisierte Schiffe kollidieren, läßt sich sehr viel besser auf den Antagonismus der Gesandten - und der durch sie repräsentierten Fraktionen der Gesandtschaft - beziehen. Von einem der beiden wird Olearius gegen Ende seines Berichts (die nautische Metaphorik aufnehmend) sagen, dass Wolfgang Struck 76 Abb. 3 “ihm doch der compas sehr verrücket wurde” (Olearius 1656: 763). Das toposartige Aufrufen von Naturkräften und mythologischen Mächten läßt es also durchaus zu, hinter der geschickten Variation solcher Topiken einen sehr realen Konflikt auszumachen. Auch Olearius präsentiert ein solches (poetisch-emblematisches) Bild, das durch eine eigene Illustration unterstützt wird (vgl. Abb. 3). Die auf die Insel geretteten Schiffbrüchigen hatten sich jeweils unter Führung eines der Gesandten auf zwei kleine Fischerboote verteilt und zum Festland übersetzen lassen. Erst dabei war es, laut Olearius, zur gefährlichsten Situation der ganzen Fahrt gekommen. Ein wie aus dem Nichts auftauchender Wirbelsturm hatte in dreimaligem Anlauf das offene Boot, auf dem sich Brüggemann und Olearius befanden, nahezu zum Kentern gebracht, danach plagte noch ein heftiger Hagelschauer die Besatzung. Währenddessen fuhr das zweite, eigentlich gebrechlichere Boot mit Crusius an Bord wenige hundert Meter entfernt bei mildem Wind und Sonnenschein friedlich dem Ziel entgegen. Dass Fleming sich dieses sinnträchtige Naturereignis - wenn es denn eins war - hat entgehen lassen, kann man wohl vor allem damit erklären, dass es zu eindeutig war, jedenfalls 1636, als Brüggemann noch unbestrittener und auch von Crusius nicht wirksam ausbalancierter Leiter des Unternehmens war. Als Olearius ein Jahrzehnt später seinen Reisebericht veröffentlicht, hat sich das geändert. Brüggemann ist inzwischen als Verantwortlicher für ein ebenso klägliches wie kostspieliges Debakel, in dem das Holsteiner Abenteuer sein Ende gefunden hatte, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die retrospektive Bestätigung dieses fürstlichen Urteils kann also nunmehr gar nicht deutlich genug ausfallen. Olearius bedient sich dazu einer zunehmenden Dämonisierung des ‘aus dem Kompaß laufenden’ Kaufmanns. Damit aber hat er ein fast zu nahe- Evidenz und evidentia 77 liegendes Schema gefunden, sich des schwer greifbaren Außenseiters zu entledigen, der es an die Spitze des comitat geschafft hatte, aus Gründen, die Olearius nicht recht einsehbar waren. Indem er aber - mit Hilfe von Flemings Carmen - noch einmal hinter den letzten Stand zurückgeht, wird auch die fatale Finalität dieser Geschichte in Frage gestellt. Literaturangaben Primärliteratur Fleming, Paul 1646: Teütsche Poemata, hg. v. Adam Olearius, Lübeck: Jauch. Olearius, Adam 1647: Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Rejse / So durch Gelegenheit einer Holsteinischen Legation an den König in Persien geschehen […], Schleswig: zur Glocken. Olearius, Adam 1656/ 1971: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandtschaft an den Russischen Zaar vnd König in Persien geschehen […] Welche Zum andern mahl heraus gibt Adam Olearius Ascanius, der Fürstlichen Regierenden Herrschafft zu Schleßwig Holstein Bibliothecarius vnd HoffMathematicus, Schleswig: Holwein 1656 [Reprint: Tübingen: Niemeyer 1971, Dieter Lohmeier (ed.)]. Olearius, Adam 1666: Gottorffische Kunst-Cammer / Worinnen Allerhand ungemeine Sachen / So theils die Natur / theils künstliche Hände hervor gebracht und bereitet. Vor diesem Aus allen vier Theilen der Welt zusammen getragen. Jetzo beschrieben / Durch Adam Olearium, Bibliothecarium und Antiquarium auff der Fürstl. Residentz Gottorff, Schleswig: Holwein 1666. Olearius, Adam 1674: Gottorffische / Kunst-Kammern / Worinnen / Allerhand ungemeine Sachen / So / theils die Natur / theils künstliche Hände / hervorgebracht und bereitet / Vor diesem / Aus allen vier Theilen der Welt / zusammen getragen / Und / Vor einigen / Jahren beschrieben / Auch mitbehörigen / Kupfern gezieret / Durch / Adam Olearium, Weil Bibliothecarium / und Antiquarium auf der kurfürstl. / Residenz Gottorf / Anjetzo aber übersehen und zum / andern mal gedruckt / Auff Gottfried Schulzens Kosten, [Schleswig] 1674. Sekundärliteratur Brancaforte, Elio Christoph 2004: Visions of Persia. Mapping the Travels of Adam Olearius, Boston/ Ms.: Harvard University Press. Kemper, Hans-Georg 2000: “Denkt, dass in der Barbarei / Alles nicht barbarisch sei! ” Zur ‘Muscowitischen vnd persischen Reise’ von Adam Olearius und Paul Fleming, in: Ertzdorff, Xenja von (ed.): Beschreibung der Welt, Amsterdam/ Atlanta: rodopi (= Chloe. Beihefte zum Daphnis, 31): 315-344. Lohmeier, Dieter 1971: “Nachwort”, in: Adam Olearius: Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse, Dieter Lohmeier (ed.) [Nachdr. d. Ausg. Schleswig 1656], Tübingen: Niemeyer. Strack, Thomas 1994: Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchung zu Adam Olearius - Hans Egede - Gerog Forster, Paderborn: Igel. Herrmann Wiegand: “Hodoeporicon”, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin u.a.: de Gruyter 2000. Anmerkungen 1 Zur allgemeinen Charakteristik und zum historischen Hintergrund von Olearius’ Reisebericht vgl. das Nachwort von Dieter Lohmeier in Olearius (1971) sowie Strack (1994); zu den Gedichten Paul Flemings außerdem: Kemper (2000). Eine grundlegende Studie zu den Illustrationen bietet Brancaforte (2004). 2 Vgl. Wiegand (2000). 3 Vgl. Fleming (1646). 4 Vgl. zu Eolus und Neptun auch das Sonett “Wie Eol, was / Neptun? […]”, Olearius (1656: 365).