eJournals Kodikas/Code 30/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2

Triviale Erzählstile als alternative Kompexitäten

61
2007
Madleen Podewski
Trivialliteratur, so eine verbreitete Ansicht der Forschung, repetiert seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert ein nur begrenztes Spektrum an Schemata und Formen, um damit beim Leser immer wieder dieselben Effekte zu erzeugen. Mit ihr hat sich, so scheint es, ein Literaturkomplex etabliert, der gegenüber literaturgeschichtlichen und anderweitigen Entwicklungen indifferent geblieben ist und dabei einen schnell identifizierbaren Erzählstil ausgebildet hat. Am Beispiel von Hans von Kahlenbergs Roman "Ahasvera", der 1910 von Verlust und Wiedergewinn jüdischer Identität erzählt, sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie der Trivialliteratur ihr historischer Index zurückgewonnen werden kann, indem sie komplex in einem ausdifferenzierten Gesellschafts- und Literatursystem vernetzt wird. Konsequenz ist eine (begrenzte) Pluralisierung historisch positionierter trivialer Erzählstile.
kod301-20079
Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten: Versuch einer historischen Rekonstruktion 1 Madleen Podewski Trivialliteratur, so eine verbreitete Ansicht der Forschung, repetiert seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert ein nur begrenztes Spektrum an Schemata und Formen, um damit beim Leser immer wieder dieselben Effekte zu erzeugen. Mit ihr hat sich, so scheint es, ein Literaturkomplex etabliert, der gegenüber literaturgeschichtlichen und anderweitigen Entwicklungen indifferent geblieben ist und dabei einen schnell identifizierbaren Erzählstil ausgebildet hat. Am Beispiel von Hans von Kahlenbergs Roman Ahasvera, der 1910 von Verlust und Wiedergewinn jüdischer Identität erzählt, sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie der Trivialliteratur ihr historischer Index zurückgewonnen werden kann, indem sie komplex in einem ausdifferenzierten Gesellschafts- und Literatursystem vernetzt wird. Konsequenz ist eine (begrenzte) Pluralisierung historisch positionierter trivialer Erzählstile. If one agrees with mainstream research, popular literature, from its beginning in the 18th century, repeats a very limited spectrum of patterns and forms, producing every time the same reader-effects. At first sight one observes a literary genre indifferent to the trends of literary history or other developments, with a typical style of narrating, quickly and easily identified. This paper makes some suggestions as to how popular literature could be re-embedded in historical contexts by connecting it up to complexly differentiated social and literary systems. The paper will use the example of Hans von Kahlenberg’s novel Ahasvera, which tells the story of Jewish identity lost and than regained. From this examination results a (limited) pluralization of historically marked popular styles of narrating. 1. Historische Komplexität ‘trivialer’ 2 Erzählstile - methodische Vorbemerkungen Trivial-, Unterhaltungs-, Populär- oder Massenliteratur ist, so scheint es, leicht zu identifizieren: Sie erzählt ihre immer gleichen Geschichten auf eine typische und dabei wiederum immer gleiche Art und Weise. Die germanistische Forschung hat - neben Formeln, Schemata und Genres, die die Strukturen der histoire bestimmen (z.B. Zimmermann 1982, Skreb/ Baur 1984, zuletzt Nottelmann 2002) - solche Erzählverfahren auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Analyseverfahren als typisch triviale Erzählstile zu charakterisieren versucht: etwa als Dominanz von Auktorialität und Deskriptivität (Dumont 1986: 1918), als Adjektivredundanz (Waldmann 1977: 29), als Kumulation bestimmter Wortarten (Waldmann 1977: 30) oder als Verknappung der Syntax (Geyer-Ryan 1983: 191). 3 All diese Versuche sind umstritten geblieben, sowohl was einzelne Aspekte betrifft (etwa Donalies 1995) als auch grundsätzlich die Suche nach textspezifischen Kriterien überhaupt (etwa Barsch 1991). Eine der Alternativen zu solchen textbasierten Klassifikationen, die zum Teil auch normativ K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Madleen Podewski 80 ästhetisch werten, stützt sich auf sozialhistorische Kontexte: Definitionen hängen von den “dominierenden Geschmacksträger[n]” (Kreuzer 1967: 185) oder von (historisch variablen) Rezipientenurteilen ab, für die sich dann die empirische Leserforschung interessiert (Barsch 1991). Andererseits plausibilisiert ein Großteil der Trivialliteraturforschung Erzählverfahren im direkten Rekurs auf ihre Wirkungen beim Rezipienten: Schematisierung, Figurengestaltung oder Adjektivwahl sind auf Bedürfnisse von Massenleserschaften ausgerichtet - auf leichte Erfassbarkeit, Unterhaltung, Bestätigung eigener Norm- und Wertvorstellungen oder auf die Kompensation verschiedenster Defizite. Solche Funktionszusammenhänge gelten dabei für Zeiträume ausgesprochen langer Dauer, in den meisten Fällen vom Beginn der Entstehung eines eigenständigen Unterhaltungsliteratursektors im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein: So geht es in einer jüngeren Einführung in die Textsorte etwa um die […] Erarbeitung der für die vorwiegend um Unterhaltungseffekte bemühten Texte typischen Kommunikationsstrategien und ihres zu beobachtenden Zusammenspiels in einem die Tiefenstruktur der Trivial- und Unterhaltungsliteratur bildenden Mechanismus, der seine Gültigkeit in allen ihren Genres und durch historische Veränderungen hindurch nie verliert. (Nusser 2000: 16). Eine solche Perspektive hat missliche Konsequenzen: Ganz ähnlich wie bei den älteren ästhetisch normativen Klassifikationen zeichnet sich hier - trotz der Berücksichtigung pragmatischer Kommunikationszusammenhänge - eine individual- und sozialpsychologisch fundierte Substantialisierung der Kriterien ab, die eine historische Binnendifferenzierung ‘trivialer’ Erzählverfahren erschwert: ‘Trivialliteratur’ erzählt immer wieder das Gleiche auf immer die gleiche Weise, um seit gut 250 Jahren immer gleiche Leserbedürfnisse zu erfüllen. Im Folgenden sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie der ‘Trivialliteratur’ ihr historischer Index zurückgewonnen werden kann. Unabhängig von vermuteten Wirkungseffekten geht es dabei um die Organisationslogik der Texte und ihre Positionierung in einem konkreten literarischen Feld und damit um die Beobachtung der sich aus ihrer spezifischen Textualität ergebenden Funktion und Position im Literatursystem einer historischen Konstellation. Erst von hier aus könnte ein historisches Korpus ‘Trivialliteratur’ gebildet werden, das sich wegen spezifischer Textbzw. Erzähleigenschaften von gleichzeitig präsenten anderen Textkorpora unterscheidet. Dafür sollen einige der Prämissen geltend gemacht werden, die im Umkreis des Projekts einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur (Ort 1992), und zwar mit Bezug auf eine Formgeschichte entwickelt worden sind. Sie laufen bekanntermaßen darauf hinaus, das historische Apriori literarischer Texte nicht als kausalen Einfluss- oder Widerspiegelungseffekt zu fassen, sondern in der Organisationslogik der Texte selbst aufzusuchen. Ins Zentrum rückt dabei “die Untersuchung des historischen Ortes […], an dem die Äußerungen in ihrer Figuration entstehen […], gekoppelt mit den Voraussetzungen (etwa medialer Art), die diese Form der Äußerung möglich gemacht haben” (Fohrmann 2000: 112, Hervorhebung im Original). Vor diesem Hintergrund hat man das Konzept einer “Komplexität als historischer Textur” entwickelt (Frank/ Scherer 2007), in dem das Problemsyndrom ‘Literatur und Wissen’ unmittelbar verknüpft ist mit literatursysteminternen Faktoren, wo Literatur also einerseits nicht als bloßes Dokument außerliterarischer Wissensmengen, andererseits aber auch nicht als wissenslose ästhetische Form aufgefaßt wird. Konsequenz einer solchen Perspektive sind konstellative Lektüren, in denen Literatur in einem historischen Feld einer multifaktoriell ausgerichteten Beobachtung unterzogen wird. Das Komplexitätskonzept ist dabei systemtheoretisch inspiriert: “Die komplexe literarische Form - autonom und struktu- Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 81 rell gekoppelt an das Gesamt ihrer Umwelten - reagiert auf den Differenzierungsstand dieser Umwelten ebenso wie der Formgeschichte selbst” (Frank/ Scherer 2006). Komplexität ist auf diese Weise nicht ausschließlich an literarische Formen der Selbstreferenz, an Artistik, Hermetik oder innovative Strukturen gebunden. Für die hier zu unternehmende literarhistorische Positionierung von ‘Trivialliteratur’ ist dieser Ansatz nun aus mehreren Gründen interessant: Zunächst betreibt dieser Literaturkomplex für einen Großteil der Forschung offensichtliche und rigide Komplexitätsreduktion. Mehr oder weniger explizierte Bezugsgröße ist dabei eine komplexe moderne Welt, der sich ‘triviale’ Texte gewissermaßen nicht stellen, sondern die sie auf ihre einfachen Erzählmuster reduzieren - ein Befund, an den seit den siebziger Jahren forciert auch ideologiekritische Einschätzungen gekoppelt werden (etwa Bürger 1973). Literarische (hier: reduzierte) Komplexität ist dabei relational im nachträglich-reaktiven Bezug auf ein soziales “Außen” bestimmt, in der Manier einer reduktiven Sozialgeschichte der Literatur also. Im Gegensatz dazu ließe sich das Frank/ Scherersche Komplexitätsmodell dahingehend ausformulieren, dass literarische Texte prinzipiell historisch komplex sind, wenn sie in historisch komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschafts- und Literatursystemen entstehen. Sie sind immer eingespannt in ein Netz ausdifferenzierter Literatur- und anderer Systeme - auch in den als realitätsfern kritisierten Traum- und Scheinwelten der ‘Trivialliteratur’, deren Anschlussverweigerungen (wenn sich denn solche bei genauerer Lektüre herausstellen) als spezifische Offerte in einem spezifischen historischen Kontext zu analysieren sind. ,Trivialliteratur’ auf diese Weise als historisch komplexe Textgruppe zu betrachten, bedeutet nicht, ihr in rehabilitierender Absicht Bedeutungsfülle oder Modernität dort nachzuweisen, wo sie bisher übersehen wurde - obwohl sich auch das in Einzelfällen durchaus lohnen kann, wie etwa Nottelmann für Vicki Baums Romane gezeigt hat (Nottelmann 2002). Hier soll es um etwas anderes gehen: Das positionslogisch akzentuierte Komplexitätskonzept interessiert sich nicht für den Grad (mehr oder weniger komplex), sondern für die Art und Weise der Involviertheit von Texten in historische Konstellationen. Das Spektrum, das hier etwa von formalen Innovationen und Traditionalismen über thematische Integration von Wissensbeständen bis hin zu diversen Anschlussverweigerungen möglich ist, könnte dann die Basis liefern für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Literaturen und damit auch für eine textfundierte Charakteristik von ‘trivialer’ Literatur. 2. Zum Beispiel: Hans von Kahlenberg, Ahasvera (1910) Im Folgenden soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie sich ‘triviale’ Erzählverfahren als solche historischen Formen beschreiben lassen, und zwar an Hans von Kahlenbergs (d.i. Helene Keßler) 1910 erschienenem deutsch-jüdischen Roman Ahasvera. Er wird in den meisten der wichtigen deutsch-jüdischen Zeitschriften angezeigt und sehr positiv besprochen; die Figuren werden etwa in Ost und West als “Destillate und Kulminationen des jüdischen Volkes” gelobt (pa. 1911: 1104). Der Text zirkuliert damit einerseits in einem Segment der deutsch-jüdischen Literatur, das funktional auf bestimmte Bedürfnisse seiner Leserschaft ausgerichtet ist und das mit Zeitschriften und Leihbibliotheken als bevorzugter Ort für ‘Trivialliteratur’ gilt. Andererseits lässt sich am Roman ein deskriptiv-veräußerlichter Erzählstil beobachten, der der Forschung als typisch ‘trivial’ und damit als eine der erzählerischen Invarianten dieses Literaturkomplexes gilt. 4 Zudem lässt sich eine gewisse Schematizität vermuten, so dass der Text vorläufig als ‘trivial’ angenommen werden kann. 5 Madleen Podewski 82 Erzählt wird die Geschichte einer Mischehe zwischen dem verarmten preußischen Adligen Philipp von Rechtern und der reichen jüdischen Erbin Adeline Goldstein, aus der zwei Söhne hervorgehen, die die Differenz des Elternpaares nicht tilgen, sondern verstärkend reproduzieren: der Erstgeborene Ulrich entwickelt sich zu einem typischen Adligen mit Herrenambitionen, sein Bruder Wolfgang dagegen zeigt alle Merkmale, die der Text mit dem ‘Jüdischen’ korreliert: Nachdenklichkeit, Weichheit, Unruhe und Müdigkeit, schließlich wird er wegen einer antimilitaristischen Schrift zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und deshalb von Vater und Bruder aus der Familie verstoßen. Seine Mutter aber verlässt am Ende des Romans ihren Mann, um sich zu ihrem Sohn und damit auch zu ihrem Volk zu bekennen. Gegen diesen Selbstfindungsprozess ist die Verfallsgeschichte der adeligen Geschlechter gesetzt: Philipp wird zum physisch derangierten Trinker und Ehebrecher, seine gleichfalls adelige Geliebte verliert Hof und Vermögen und wird zur liebes- und lebensfeindlichen Zynikerin. Mit Mischehe und Rekonversion verhandelt der Text zentrale Probleme, die die zeitgenössischen Debatten um die jüdische Differenz und deren Ort sowohl innerhalb der jüdischen als auch innerhalb der nicht-jüdischen Gesellschaft bestimmen. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein, weil die Erzählstrategien des Romans in diesem Kontext eine spezifische Funktion übernehmen. Zunächst aber ist zu klären, mit welchem Set an erzählerischen Mitteln sich der Text zwischen einer Doppelbeanspruchung bewegt: einerseits jüdische Identität mobil bis zur Taufe zu konzipieren, sie aber gleichzeitig und andererseits für eine Rückkehr identifizierbar zu halten. Zunächst geschieht das im Rahmen des Figurenarsenals und der Figurengestaltung. Die Konstellation der beiden aus der deutsch-jüdischen Ehe hervorgegangenen gegensätzlichen Söhne zeigt, dass die Unterschiede der Eltern nicht in den Nachkommenschaften verwischt oder hybridisiert werden, sondern sich statt dessen sogar verstärken. Die Mischehe wird damit nicht zum Ort der Verschmelzung, sondern zum Generator von Differenz. Ihr entspricht im Text ein zweiteiliges Raster, mit dem zwischen einem ‘jüdischen’ und einem ‘adeligen’ Figurentypus unterschieden wird. Dieses Raster konstituiert sich hauptsächlich in den Beschreibungen physiognomischer oder sonstiger körperlicher Merkmale. Sie werden zu einem Teil auktorial geliefert: So zeigt gleich zu Anfang des Textes Graf Philipp von Rechtern mit seiner “scharfgeschnittenen Adlernase zu hellem Blond des Schnurrbarts und Haares” die “unverkennbare und sehr reine Bildungsform des norddeutschen Aristokraten” (Kahlenberg 1910: 5), Adeline Goldstein dagegen ist “sehr brünett”, zart und dunkel, ihre “einzige Schönheit waren die großen, sanften und traurigen, braunen Augen” (Kahlenberg 1910: 6). Der erste gemeinsame Sohn aus dieser Ehe ist “schön, blond und schlank wie ein junger Gott”, er ist der “deutsche Idealjüngling, blauäugig, blond und hochgewachsen, tadellos von Leib” (Kahlenberg 1910: 232), Wolfgang dagegen ist das “Judenkind” mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen der Mutter, muss Beinschienen tragen, ist nur klein und kümmerlich gewachsen und leidet zudem unter einer Verkrümmung der Wirbelsäule (Kahlenberg 1910: 152). Zum anderen Teil werden die Konzepte ‘deutsch-adeliger’ und ‘jüdischer’ Körpermerkmale auch von den Figuren selbst bestätigt, etwa wenn Wolfgang die Differenzen zwischen sich selbst und seinem Bruder markiert: “Ich weiß, daß sie [die Juden, M.P.] häßlich und arm sind, sie haben keine blonden Haare und blauen Augen wie Utz, so gerade können sie nicht gehen und sind nicht so stark” (Kahlenberg 1910: 167f.). Von der Gegenseite greift Laura von Rechtern, eine Kusine Philipps, diese Korrelation gleichfalls auf: “Sie sah alt und spitz unter ihnen [den Mitgliedern der adeligen Familie Philipps, M.P.] aus, die große Nase trat dann in auffälliger Weise hervor. ‘Mein Gott, wie sie jüdisch aussieht! ’ dachte Laura Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 83 Rechtern” (Kahlenberg 1910: 55). Das duale Körperschema wird in zahlreichen Dialogpassagen um kulturelle Semantiken erweitert. So mehrfach zwischen Adeline und Philipp, die die Differenzen zwischen Adel und Judentum auszuloten versuchen, oder zwischen Adeline und Laura von Rechtern. Die ältlich aussehende Jüdin mit der spitzen langen Nase und die walkürenhaft deutsche blonde Jungfrau messen den Gegensatz zwischen christlich-adeliger, traditionsbewusster Sesshaftigkeit und jüdischer Ruhelosigkeit an einer Stelle etwa folgendermaßen aus: “Warum drängen sie sich überhaupt hier bei uns ein, wo wir sie nicht wollen? Sie haben unsere Äcker nicht bebaut, unsere Bäume nicht gepflanzt, unsere Schlachten nicht geschlagen! […] Selbst ruhelos und landflüchtig, machen sie uns alle zu Wandernden, Irrenden und Obdachlosen. Es ist ein verfluchtes Volk. Überall hin tragen sie ihren Fluch.” Adeline hatte sich müde in den hohen, harten Lehnstuhl zurückgesetzt. “Es ist so, wie du sagst,” antwortete sie matt. “Wir sind verflucht. Wir schleppen einen Fluch mit und bringen Fluch. Was für ein Fluch ist es? Welcher Schuld gilt er? ” (Kahlenberg 1910: 60f.) Wahre jüdische Identität lässt sich in diesem Text jedenfalls an den Körpern erkennen, darüber sind sich auch die erzählten Figuren einig. Sie ist dabei nicht an die Herkunft, sondern - wie Wolfgang und am Ende auch Adeline zeigen - an das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Schicksalsgemeinschaft gebunden. Juden, die diese Bindung aufgegeben haben, zeigen deshalb auch nicht die einschlägigen physiognomischen Merkmale. Das gilt etwa für Adelines Bruder Robert, der als Berliner Lebemann mit durchweg aristokratischen Ambitionen und Manieren solcher Verteilungslogik des Textes entsprechend blond und blauäugig ist. Flankiert wird diese optische Identifizierbarkeit von verschiedenen Versuchen der wechselseitigen Annäherung bis hin zur Differenztilgung. Das geschieht in den zahlreichen Dialogpassagen, die den Text hauptsächlich strukturieren. So etwa in Wolfgangs Rede auf einer Antisemitenversammlung, in der er von seinen Zuhörern fordert, sich der “jüdischen Art” zum eigenen Vorteil anzugleichen: “Wenn die Juden heut im wirtschaftlichen Kampf die Erfolgreicheren sind, wer hindert Sie, es ihnen gleichzutun? ” (Kahlenberg 1910: 266f.) Laura von Rechtern betont in manchen Passagen die Gemeinschaft mit Adeline: “Du gehörst ja zu uns jetzt. Du bist eine Christin” (Kahlenberg 1910: 61); Adeline äußert sich ähnlich: “Du bist eine Frau wie ich und ein Mensch wie ich” (Kahlenberg 1910: 201); Philipp vergleicht Adeline am Ende mit seiner Mutter, ebenso wie die alte Zofe: “Sie sind eine Heilige! Eine heilige Frau wie meine Gräfin! ” (Kahlenberg 1910: 307) Solche Konvergenzen deuten allerdings nicht auf einen kontinuierlichen, von aufklärenden Gesprächen getragenen Annäherungsprozess, sie gelten nur punktuell und verweisen vor allem für die adelig-christliche Seite auf Unsicherheiten im Umgang mit der jüdischen Differenz, die teils in der Religion, teils in physisch-charakterlichen Eigenschaften gesehen wird und insofern im Text manchmal tilgbar, manchmal unhintergehbar erscheint. Die Hauptfigur Adeline verlässt nach Taufe und christlicher Ehe ihren Herkunftsraum. Im christlich-adeligen Kontext auf Nadlitz wird sie - trotz weitestgehender Anpassung an Äußerlichkeiten und Lebensgewohnheiten - nicht heimisch, und ihre Position auf dem Rittergut bleibt für sie selbst durchweg fraglich: Adeline saß wie eine Fremde zwischen den Verwandten, und es handelte sich doch um ihres Sohnes, des Erben, Besitz! War wirklich diese Heimat ein so kostbarer Besitz? […] War sie als Herrin und Mutter in Nadlitz jetzt eine Berechtigte geworden? (Kahlenberg 1910: 116f.) Dieses Fremdheitsgefühl ist aber nicht die Folge der Grenzüberschreitung, es gilt auch für ihr Verhältnis zum Elternhaus, und gegen Ende des Romans bezeichnet sie sich selbst als Madleen Podewski 84 heimatlos. Solche Ortlosigkeit ist im kulturellen Wissen der Zeit - und nicht nur in antisemitischen Diskursen - als typisch jüdische Disposition konnotiert. Der Text greift dieses Konzept auf und bestätigt es einerseits in zahlreichen Figurenreden, andererseits im Titel und im Handlungsverlauf: Am Ende bekennt sich Adeline zu ihrem “Stamm” und zu “Ahasvers Weg”. 6 Diese Korrelation von grundsätzlicher Heimatlosigkeit und jüdischer Identität erlaubt es, die Grenzüberschreitung zum Christentum nicht als prinzipiellen Bruch, sondern als Station einer Rekonversionsgeschichte zu konzipieren: Das Verlassen des Judentums führt bei Adeline wieder zum Judentum zurück, weil der Impuls dazu - neben der Ruhelosigkeit die vielfach betonte “Müdigkeit” - selbst schon ‘jüdisch’ ist. Adeline ist aber nicht nur als Grenzüberschreitungsfigur, sondern in einem noch weiter gehenden Sinne als Krisenfigur entworfen. In einem Ensemble, in dem jede Figur eindeutig eine bestimmte ideologische Position vertritt - etwa Anti- oder Philosemitismus, Rassenbiologie, Vitalismus, Feminismus, christlich-adeliger Traditionalismus, Religiosität - ist sie die einzige, die zweifelt. Das zeigt sich daran, dass sie die durchweg assertorischen Sätze ihrer zahlreichen Gesprächspartner geradezu repetitiv in Frage stellt. Das gilt nicht nur mit Bezug auf die Auseinandersetzungen um Christentum und Adel, sondern ebenso für Bereiche, mit denen der Text zeitgenössische Debatten über soziale und kulturelle Phänomene aufgreift: etwa für frauenemanzipatorische Positionen, über die sie mit ihrer feministisch engagierten Schwester Hertha diskutiert oder für ihre Gespräche mit Daisy von Hohenlaun, einer amerikanischen Jüdin, die in der europäischen Tradition des Adels eine amüsante ästhetische Attrappe sieht und zugleich nach ekstatischen, lebensideologisch inspirierten Formen von Authentizität sucht. Der Zweifel scheint sich dabei nicht nur selektiv auf einzelne Ideologien, sondern auf Positioniertheit überhaupt zu richten und für Adeline in eine grundsätzliche Positionslosigkeit zu führen. Gleichwohl ist Adeline aber auch die einzige Figur, die eine vom Text positiv gewertete Entwicklung zeigt - sie bekennt sich am Ende zu ihrer jüdischen Identität. Diese letztendliche Integration, der Übergang von Zweifel und Distanz zu Gewissheit, ist aber nicht über eine ausgearbeitete Figurenpsychologie motiviert. Statt dessen lassen sich Regularitäten in der Verteilung von Formen der Figurenrede und der Fokalisierung beobachten. Die oben erwähnten Debatten um zeitgenössische Wissenskomplexe sind durchweg in direkter Figurenrede gestaltet, ebenso die zahlreichen Gespräche zwischen dem ‘christlich-adeligen’ und dem ‘jüdischen’ Teil der Familie von Rechtern, in denen einerseits Distanzen ausgemessen, andererseits Annäherungen versucht werden. In diesem Rahmen sind Adelines Zweifel als mündliche Rede konzipiert - was die Positionen ihrer Gesprächspartner betrifft, bevorzugt, was sie selbst betrifft, ausschließlich. So etwa in einer Passage, in der sich Adelines Unsicherheit durch Provokation Lauras am deutlichsten zu erkennen gibt: “‘Und du? Wer bist du überhaupt? ’ ‘Ich versuche es zu erfahren’, sagte Adeline demütig. ‘Ich mag falsch gehen, ich gehe! ’” (Kahlenberg 1910: 121) Diese Dominanz des Dialogischen wird bei Adeline mit Gedankenrede und personaler Perspektivierung durch Innensichten ergänzt. Hier wird allerdings ausnahmslos ein Differenzbewusstsein markiert, das auf die jüdische Identität verweist, zu der sie sich erst am Ende des Romans dezidiert und explizit bekennt. Das gilt zum Beispiel für die Verwunderung über Philipps Lebensauffassungen, die bei ihr “Müdigkeit” hervorrufen - eine Disposition, deren Affinität zu jüdischer Identität sich im Verlauf des Textes herausstellt: “Wie er mit der Vergangenheit zusammenhängt, dachte Adeline. […] Dieser Umstand erregte ihr Staunen, ließ sie die eigene Müdigkeit doppelt spüren” (Kahlenberg 1910: 43). Oder es zeigt sich im massiven Fremdheitsgefühl ihrem ersten Sohn Ulrich gegenüber: “Adeline beobachtete Ulrichs kalte, gesellige Offenheit, die Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 85 ihr fremd und abstoßend blieb. Was von ihr wohnte in ihm? Welchem Urgrund entsproßte solche Art? ” (Kahlenberg 1910: 211) 3.1 ‘Trivialer’ discours: Deskriptivität und Äußerlichkeit Will man einen Begriff der Trivialliteraturforschung hier noch einmal aufgreifen, so zeigt der Roman sehr deutlich eine Tendenz zur “Veräußerlichung”: In der Figurengestaltung dominiert eine Deskriptivität, die sich auf körperlich-physiognomische Merkmale konzentriert und dabei ein duales Beschreibungsraster entwickelt, das unverkennbar zeitgenössische Klischeevorstellungen von blonden Christen und dunkeläugigen Juden aufgreift. Die Handlung verläuft fast ausschließlich über die Wiedergabe direkter Reden, auf Motivationen durch Figurenpsychologie wird weitestgehend verzichtet. Diese “Veräußerlichungs”-Verfahren sind aber textintern funktionalisiert, wie die deutlichen Verteilungsregeln zeigen: was die Figurengestaltung betrifft, in einer Korrelation von Physis und mental-ideologischem Habitus, was die Figurenperspektiven betrifft, in einer Korrelation von Krisenartikulation mit Wiedergabe direkter Rede und Innensichten mit Bestätigungsfiguren. Diese Art der Funktionalisierung lässt sich problemgeschichtlich positionieren und zwar mit Bezug auf die bereits angedeuteten Identitätskrisen des deutschen Judentums (1). Die discours-Verfahren als solche besetzen wiederum eine spezifische Position innerhalb der Formoptionen im literarischen Feld um 1910, der mit der gängigen Entgegensetzung von ‘trivial’ und ‘nicht trivial’ nicht beizukommen ist (2). 3.1.1 Positionsebene I: deutsch-jüdische Identitätskrisen um 1900 Ein Großteil der deutschen Juden ist im Kaiserreich säkularisiert und assimiliert - der Prozess der Emanzipation, der mit dem Ausgang aus dem Ghetto im 18. Jahrhundert begonnen hatte, scheint abgeschlossen. An seinem Ende taucht nun aber auch die Möglichkeit eines gänzlichen Verschwindens des Judentums auf, wie sie etwa Arthur Ruppin in seiner sozialwissenschaftlichen Studie Die Juden der Gegenwart 1904 mit statistischem Belegmaterial erhärtet (Ruppin 1904). Diese Diagnose trifft die weit verbreitete Verunsicherung über Wesen und Zukunft des Judentums im Kern. Vielfältige Versuche zu einer Neuorientierung sind die Folge, und weil die bisher bewährte Konfessionalisierung und Privatisierung des Judentums aus verschiedenen Gründen an Überzeugungskraft verloren haben, sucht man nach anderen Wegen, jüdische Identität zu begründen oder erkennbar zu halten - ohne dabei die Errungenschaften von Emanzipation und Modernisierung aufgeben zu wollen. Sie reichen - wie die Beiträge in der für diese Problematik exemplarischen Kunstwart-Debatte zeigen könnten 7 - von der Forderung nach konsequentem Aufgehen in der deutschen Gesellschaft über das forcierte Bedürfnis nach Selbstorganisation, in dessen Zuge zahlreiche jüdische Vereine und Assoziationen auf allen sozialen Ebenen entstehen (aufgeführt bei Lowenstein 1997), die die jüdisch-jiddische Geschichte und Kultur neu belebende Jüdische Renaissance bis hin zum Zionismus, der die selbstbewusste Separation der jüdischen von der deutschen Kultur und schließlich die Schaffung eines eigenen Staates fordert. Diese Strategien werden zusätzlich durchkreuzt von religiös motivierten Richtungsdebatten und stehen unter dem Einfluss zeitgenössischer Wissensbestände aus Psychiatrie, Psychologie, Medizin, Ethnologie und Soziologie. Entscheidend ist dabei, dass jüdische Identität inzwischen nicht mehr ausschließlich auf die Religion bezogen ist, sondern auf alternative Trägerschaften verteilt werden kann: auf Madleen Podewski 86 Schicksalsgemeinschaften und auf ein kollektives Gedächtnis, das sich nicht nur am religiösen Festkreis orientiert, auf ethische, völkerpsychologisch plausibilisierte Dispositionen, die sich in Kunststilen oder Schreibarten niederschlagen, auf die Rasse, die Verhaltensweisen determiniert oder auf das Blut, mit dem man zum Glied verzweigter Ahnenreihen wird. Der Umgang mit der ‘jüdischen Differenz’ ist im Kaiserreich ein generelles Problem, und wie in der antisemitischen Fraktion etwa Adolf Bartels’ detektivische Bemühungen um die Entlarvung des jüdischen Charakters jüdischer Literatur zeigen (zum Beispiel in Bartels 1903), handelt es sich hier vor allem um eine Unterscheidungskrise: Jüdische Identität ist um 1900 nicht mehr (immer) äußerlich sichtbar, Juden sind weder für Juden noch für Nichtjuden auf den ersten Blick zu erkennen. Und die Juden selbst wissen in den diffusen Zwischenzonen der Assimilation nicht mehr, welche ihrer Lebensgewohnheiten und Charaktereigenschaften noch jüdisch sind. Vor diesem Hintergrund ist in Ahasvera die Konzentration auf Körpermerkmale eine erzählerische Möglichkeit, Differenzen wahrnehmbar zu halten - und zwar bei Adeline und den beiden Söhnen auch unter den Bedingungen der größten denkbaren Grenzüberschreitung. Weil der Text diese Sichtbarkeit mit mentalen Dispositionen korreliert, wird die biologische Herkunft als Marker jüdischer Identität auf der Ebene der Wahrnehmung irrelevant: Nur wer sich jüdisch fühlt, sieht auch jüdisch aus. Maskierungen und Demaskierungen - wie sie etwa für Adelines Bruder Robert denkbar wären - sind in dieser Verteilungslogik des Textes überflüssig. Vermieden werden dabei zudem hybride Figuren: In den Nachkommenschaften der Mischehe mischt sich nichts, statt dessen stimmen bei den beiden gegensätzlichen Brüdern Geist und Körper perfekt zusammen, so dass die Doppeldeutigkeit ihrer Herkunft - daran ändert auch Erziehung nichts - für den Text vollständig getilgt und in zwei Eindeutigkeiten überführt ist. Die Dialoglastigkeit des Romans sorgt dafür, dass auch die entsprechenden Krisenphänomene im Bereich des Wahrnehmbaren verbleiben. Über das “jüdische Problem” werden ausschließlich Gespräche geführt; besonders für Adeline gilt, dass über Irritationen, kritische Zustände und Infragestellungen geredet und nicht gedacht wird. Als kriseninduziertes Phänomen verbleibt die “jüdische Frage” innerhalb der erzählten Welt und auf diese Weise im Bereich des für die Figuren Hörbaren und so gesprächsweise Verhandelbaren, weil sie als solche eindeutig präsentiert und nicht noch durch verborgene Innenzonen der Figuren potenziert oder veruneindeutigt werden. Die beschriebenen discours-Verfahren generieren damit Unterscheidbarkeiten, die der literarisch-erzählerischen Bewältigung der skizzierten akuten Problemkomplexe dienen. 3.1.2 Positionsebene II: Formgeschichte Die beschriebenen discours-Wahlen von Ahasvera sind aber auch formgeschichtlich zu positionieren, und zwar zunächst vor dem Hintergrund der sich konstituierenden literarischen Moderne, die in die gravierenden Veränderungen in Gesellschafts- und Wissenssystemen mit Inhalts- und vor allem Forminnovationen involviert ist, sich dabei mehr oder weniger entschieden von den realistischen Erzählformen des 19. Jahrhunderts abgrenzt und statt dessen auf amimetische Konstruktion bis hin zu den Wortzertrümmerungen der Avantgarden umstellt. Die allgemeinen Wahrnehmungs- und Sichtbarkeitskrisen führen dabei unter anderem in Schreibverfahren, die der Sprache neue, am Bild orientierte Anschauungsbzw. Evidenzqualitäten verschaffen wollen (vgl. dazu Frank 2002 und Pfotenhauer 2005). Ahasvera arbeitet sich, wie gezeigt wurde, an ganz ähnlich gelagerten Problembeständen ab. Vor dem Hintergrund der um 1910 möglich gewordenen Optionen im Symbolsystem ‘Literatur’ Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 87 erzählt der Roman sie aber auf konservative, weil noch realismusaffine Weise: unter Invisibilisierung des Erzählens, in kausal-linearer Motivation der Ereignisse mit einem sinnstiftenden Ende, weitgehend ohne Mehrfachperspektivierungen, ohne modernisierte Figurenpsychologie und mit bestimmten Selektionen der erzählten Welt (Großstadt und soziales Elend etwa sind nur in den Dialogen, nicht als textinterne Realität präsent, die Handlung spielt sich fast ausschließlich auf dem Rittergut oder in geschlossenen Privaträumen ab). Ein solcher realismusaffiner Erzählkonservativsmus ist um 1910 allerdings kein Spezifikum ‘trivialer’ Literatur, wie etwa schon ein nur oberflächlicher Blick in die renommiertesten zeitgenössischen Literatur- und Kulturzeitschriften zeigen könnte. 8 Zudem ist in den Konversationsromanen etwa des späten Fontane oder Schnitzlers Dialoglastigkeit markantes Erzählverfahren eines modernisierten Realismus, der seinen Erzählstatus mehr und mehr zu invisibilisieren sucht und (Wissens-)Perspektiven entlang seinen Gesprächsteilnehmern pluralisiert. Im heterogenen literarischen Feld, das sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausbildet und in dem historische Moderne und entstehende Avantgarden nur einen relativ kleinen Teil besetzen, ist er offensichtlich in verschiedenen Segmenten des literarischen Feldes erfolgreich und vor allem noch immer wertbesetzt. Solche Verteilungen lassen sich mit zweistelligen Rastern wie ‘trivial’/ ‘nicht-trivial’ allerdings nicht angemessen beobachten. Adäquatere Differenzierungen ließen sich hier zum Beispiel im Rekurs auf die Literatur druckende Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft gewinnen, also in Orientierung an jeweils aktuellen Gliederungen von Distributionsprozessen. Das beschriebene Erzählverfahren von Ahasvera könnte seine historischen Konturen von dort aus unter der Perspektive von Teilhabe an und Differenz zu den zeitgenössisch relevanten Erzählprogrammen gewinnen. 3.2 ‘Triviale’ histoire: Erzählschemata Nun sind nicht nur die discours-Verfahren in Ahasvera auf Unterscheidbarkeit ausgerichtet, mit der Rekonversion wird auch auf der Ebene der histoire vom Rückgewinn einer Unterscheidung erzählt. Solche Rückkehrer-Geschichten sind innerhalb der Literatur, die - bevorzugt im Kontext der deutsch-jüdischen Zeitschriften - den Fortbestand des Judentums unter den Bedingungen weitestgehender Assimilation erzählerisch zu bewältigen sucht, ein weit verbreitetes Erzählschema. Auch solche Konventionalisierungen sind historisch zu positionieren. Die Genres und Formeln, die die Trivialliteraturforschung für schematisiertes Erzählen in Anschlag bringt, dürften dafür allerdings nur sehr bedingt geeignet sein. Sie sind, wie das oben angeführte Zitat aus Nusser (2000) deutlich zeigt, in manchen Fällen nahezu archetypisch konzipiert. Historische Veränderungen können hier ebenso wie synchrone Differenzen nur als Variation ein und desselben Grundmusters erfasst werden. Ein solches Schematismuskonzept trägt zudem - weil als exklusive Eigenschaft von ‘Trivialliteratur’ konzipiert - latent substantialistische Züge. Die Reichweite von Schemata ist aber grundsätzlich ebenenabhängig. Für die Beschreibung eines historisch bedingten Konventionalisierungsgrades eines Erzählmusters wird man sich zweckmäßigerweise auf einer Ebene mittlerer Abstraktion bewegen müssen, mit der nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Differenzen zwischen Textkorpora erfasst werden können und wo es dann möglich wird, den Geltungsbereich eines nunmehr stärker konkretisierten Erzählschemas quantitativ zu eruieren. 9 Wenn hier Ereignisstrukturen, Figuren- und Raumsemantiken sowie Figurenkonstellationen stärker ausdifferenziert sind, ließe sich auch klären, in welche Zirkulationsprozesse - etwa zwischen deutsch-jüdischen und liberal-demokratischen Zeitschriften- Madleen Podewski 88 romanen (vgl. dazu Podewski 2006b) - solche Erzählmuster im zeitgenössischen literarischen Feld involviert sind, von dem aus sie wiederum historische Konturen gewinnen. 3. Zusammenfassung: ‘Triviale’ Erzählstile als alternative historische Komplexitäten Ein Literaturkomplex ‘Trivialliteratur’ kann, so lässt sich zusammenfassen, textbasiert beschrieben werden, wenn die von der Forschung immer wieder herausgestellten typischen Merkmale - Nutzung bestimmter konventioneller Erzählverfahren und Schematisierung - innerhalb des Literatursystems einer historischen Konstellation positioniert werden. 10 Das ist (nicht nur) um 1900 ein breit ausdifferenziertes literarisches Feld, in dem avantgardistische, modernistische, populäre und konservative Literaturströmungen koexistieren. Deshalb ist ‘Trivialliteratur’ hier auch nicht oppositiv oder graduell ausschließlich von ‘nicht trivialer’ Literatur abzugrenzen, sondern innerhalb dieses Nebeneinanders zu profilieren, so dass immer auch Zirkulationsprozesse zwischen verschiedenen Literatursegmenten in den Blick kommen können. Eine solche Positionierung führt auf ihre historische Komplexität. Die Differenz zu avancierten Texten ist damit nicht getilgt; ‘Trivialliteratur’ ist unter der hier entwickelten Perspektive weder genauso komplex noch weniger komplex als die ästhetische Avantgarde, sie ist anders komplex. Wenn, wie Frank und Scherer gezeigt haben, die Kleine Prosa der Synthetischen Moderne unter dem Zeichen epistemischer Umbrüche und der Unerzählbarkeit der modernen Welt extrem verdichtete Texturen produziert, die dann gattungs-, publikations-, medien-, wahrnehmungs- und wissensgeschichtlich und gendertheoretisch positioniert werden (Frank/ Scherer 2007), dann erweisen sich diese Texte - ganz ähnlich wie in der Frühen Moderne und in den Avantgarden - hauptsächlich über formale Umstellungen in allgemeine Modernisierungsentwicklungen innerhalb und außerhalb des Literatursystems involviert. Solche Verquickungen sind aber auch mit mimetisch-realistischen Erzählverfahren möglich, wie das in Ahasvera ausgiebig geschieht, wenn dort neben der “jüdischen Frage” Debatten über den ästhetischen Wert moderner Kunst, über lebensphilosophische Ideologien, über die Ambivalenzen der Großstadtmetropole Berlin, über die Frauen- und die soziale Frage geführt werden - gleichfalls im oben beschriebenen dramatischen Modus. Eine komplexe ‘Moderne’ ist also auch in diesem Text durchaus präsent, nur eben anders: in einer konservativen Form, die um 1910 noch weithin geschätzt wird, und in einer konventionalisierten Form, mit der dieses Erzählverfahren als gemeinsames Merkmal einer größeren Gruppe von Texten erkennbar wird, eine Eigenschaft, die für die Kleine Prosa oder sonstige avanciertere Texte wohl so nicht gelten dürfte. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Rede von einem ‘trivialen Erzählstil’ noch einmal präzisieren. Angesichts der methodischen Schwierigkeiten, den Stilbegriff semiotisch zu fundieren - die sich noch vervielfältigen, wenn es um so komplexe Phänomene wie Erzählverfahren geht -, kann hier wohl nur mit einem pragmatisierten Stilbegriff gearbeitet werden, mit dem der text(korpus-)interne Gebrauch bestimmter Formenrepertoires beobachtet wird. Für den Roman Ahasvera wurde gezeigt, dass bestimmte discours-Wahlen - dramatischer Modus und Deskriptivität - einerseits textintern für eine Krisenbewältigungsgeschichte funktionalisiert und andererseits als Erzählverfahren im zeitgenössischen Literatursystem positioniert sind: Komplementär etwa zu den literarisierten Unterscheidungs- und Wahrnehmungskrisen in den Texten der Frühen Moderne hält es an Distinktionen fest, steht Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 89 formgeschichtlich aber auch noch im Bezug zu verschiedenen ‘realistisch’ erzählenden Literaturen. Wie stark dieses Erzählverfahren im Rahmen von Erzählschemata konventionalisiert ist, ob hier möglicherweise schon von einem Kode gesprochen werden kann, mit dem ein bestimmtes Formenrepertoire regelhaft an eine bestimmte histoire gebunden ist, ist allererst an einem genügend umfangreichen Textkorpus zu eruieren. Vermuten lässt sich aber, dass dieser Gebrauch stärker konventionalisiert ist als außerhalb des Sektors ‘Trivialliteratur’. Er wird also für mehr als nur einen Text, aber er wird - im Gegensatz zu den gängigen Thesen der Trivialliteraturforschung - nicht für alle ‘trivialen’ Texte aller Zeiten gelten. Die Rede vom “trivialen Erzählstil” ist deshalb, mitsamt den systematischen Voraussetzungen, auf denen sie ruht, für solche Beobachtungen zu unspezifisch. Auszugehen wäre statt dessen von ‘trivialen’ Erzählstilen: ‘Trivialliteratur’ erzählt nicht immer wieder das Gleiche, sondern begrenzt verschiedene Geschichten auf begrenzt verschiedene Weise. 4. 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Er ist außerdem im Rahmen eines Forschungsprojekts zur deutschjüdischen Zeitschriftenliteratur im Kaiserreich entstanden, das vom Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre gefördert wird, dem an dieser Stelle für die Unterstützung gedankt sei. 2 Der Begriff ‘Trivialliteratur’ ist - wie seine Komplemente Unterhaltungs-, Populär- oder Massenliteratur - nach wie vor umstritten und nicht distinkt bestimmt. Gleichwohl soll er hier weiterhin verwendet werden, mit den einfachen Anführungszeichen sei aber auf den Konstruktcharakter verwiesen. 3 Die Beispiele sind einigermaßen willkürlich gewählt, differenziertere Forschungsberichte finden sich etwa bei Fetzer/ Schönert (1977), Dumont (1986) und jüngst wieder bei Teuscher (1999). 4 Zum Beispiel sieht Dumont (1986: 1918) in der “Deskription als Grundmethode” eine Form typisch trivialen Erzählens, dem “schöpferisch formierende Bestrebungen” mangeln. - Für Geyer-Ryan (1983: 198) verweist die stark dialogisierte Narration zeitgenössischer Heftchenromane auf die einfach rezipierbare Konkretheit, die alle trivialliterarischen Texte prägt. 5 Die Vorläufigkeit der Zuordnung ergibt sich aus der methodisch problematischen Übernahme von Bestimmungskriterien der Trivialliteraturforschung. Denn in letzter Konsequenz führt die vorgeschlagene Historisierung literarischer Texte zu grundsätzlich anderen, weil historisch kontingenten Rasterungen eines literarischen Feldes. Werden hier die Schematizität und Deskriptivität des Romans positionsbzw. differenzlogisch bestimmt, so sind sie nicht mehr als historische Variante einer trivialliterarischen Grundstruktur zu fassen, sondern als emergente und historisch einmalige Textverfahren. Die trotzdem beibehaltene Orientierung an solchen Grundstrukturen ist deshalb nur eine Hilfskonstruktion für einen ersten Zugriff dort, wo die Forschung bisher noch kaum Wege gebahnt hat. 6 Die letzten Sätze des Romans lauten: “‘Ich bin daheim. Und deinen Weg, wohin er führt, gehe ich.’ ‘Aber der nimmt nie ein Ende und führt über jedes Ziel wieder hinaus,’ erklärte er froh. ‘Kennst du den Weg, den unser Stamm geht? Ahasver geht ihn.’ ‘Nimm mich mit dir - auf Ahasvers Weg’” (Kahlenberg 1910: 310). 7 Die Debatte wurde ausgelöst von Moritz Goldsteins im März 1912 in Ferdinand Avenarius’ Zeitschrift Der Kunstwart abgedrucktem Essay Deutsch-jüdischer Parnaß. Goldstein selbst etwa sieht als einzigen Weg aus der “Halbheit, aus dem Zwitterwesen” der deutschen Juden den “Sprung in die hebräische Literatur”, der seiner Generation allerdings nicht mehr möglich sein wird (Goldstein 1912: 290). Den Gegenpol bildet die (gesperrt gedruckte) Ansicht, “Wir sind Deutsche, und wir wollen es bleiben” (Loewenberg 1912: 248). Insgesamt wird auch hier deutlich, dass - ob nun von jüdischer, philo- oder antisemitischer Seite - die “Herstellung klarer Zustände” Hauptanliegen der Argumentation ist (Avenarius 1912: 232, Hervorhebung im Original). - Vgl. zur Debatte insgesamt auch Mittelmann (1986). 8 In der Neuen Rundschau etwa werden neben der naturalistischen Avantgarde in den neunziger Jahren und nach 1900 neben Rilke, Schnitzler oder Mallarme auch Wassermann, Hesse und die Ahasvera-Autorin Helene Keßler gedruckt. 9 Problembezogene Regularitäten wurden etwa für den Kriminalroman (Meyer 1989) oder für eine Reihe von Romanen aus der Gartenlaube und der sozialdemokratischen Neuen Welt (Seybold 1986) erstellt. 10 Über die Publikations- und anderweitigen Distributionsorte dieser Literatur ist damit noch nichts gesagt. Der größte Teil wird sicherlich über massenmediale Institutionen wie etwa Familienzeitschriften, Leihbibliotheken oder den Kolportagebuchhandel zirkulieren. Ein solcher Zusammenhang zwischen Textform und Distributionsmedien, der u.a. zur Begriffsbildung ‘Populäre Lesestoffe’ geführt hat, ist aber nicht substantiell, sondern in bestimmten historischen Literatursystemen nur hochgradig wahrscheinlich. - Zur Doppelbedeutung von ‘Populären Lesestoffen’ als Textsorte und Publikationstyp vgl. Barsch (1991).