Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2
"Music makes the world go sound."
61
2007
Ingo Irsigler
Mit Andreas Neumeisters "Gut laut" wird unter sprachanalytischer Perspektivierung ein Text der so genannten Popliteratur in den Fokus der Analyse gestellt, der in seiner Konstruktions- und Erzählweise versucht, die sampling-Technik der elektronischen Musik zu adaptieren. Anhand der Einzeltextanalyse wird gezeigt, dass diese Adaption popmusikalisch konnotierter Formen einen popspezifischen Sprachkode produziert, der sich als funktional für das im Text etablierte Geschichtsbild sowie die Personenkonstruktion erweist. Die Ergebnisse der Textanalyse werden darüber hinaus in den Kontext der Diskussion um die deutsche Popliteratur der 90er Jahre gestellt. Dabei wird insbesondere vorgeführt, dass die in einigen Texten der Popliteratur manifeste spezifische Funktionalisierung popkulturell kodierter Erzählweisen im Allgemeinen sowie die sprachlichen Repräsentationsformen als wesentliche Teilstrukturen der discours-Ebene im Besonderen eine Binnendifferenzierung des Gegenstandsfeldes 'Popliteratur' nahe legt.
kod301-20093
“Music makes the world go sound” Die Adaption popmusikalischer Verfahren in der neueren deutschen Popliteratur am Beispiel von Andreas Neumeisters Gut laut (1998/ 2001) Ingo Irsigler Mit Andreas Neumeisters Gut laut wird unter sprachanalytischer Perspektivierung ein Text der so genannten Popliteratur in den Fokus der Analyse gestellt, der in seiner Konstruktions- und Erzählweise versucht, die sampling-Technik der elektronischen Musik zu adaptieren. Anhand der Einzeltextanalyse wird gezeigt, dass diese Adaption popmusikalisch konnotierter Formen einen popspezifischen Sprachkode produziert, der sich als funktional für das im Text etablierte Geschichtsbild sowie die Personenkonstruktion erweist. Die Ergebnisse der Textanalyse werden darüber hinaus in den Kontext der Diskussion um die deutsche Popliteratur der 90er Jahre gestellt. Dabei wird insbesondere vorgeführt, dass die in einigen Texten der Popliteratur manifeste spezifische Funktionalisierung popkulturell kodierter Erzählweisen im Allgemeinen sowie die sprachlichen Repräsentationsformen als wesentliche Teilstrukturen der discours- Ebene im Besonderen eine Binnendifferenzierung des Gegenstandsfeldes ‘Popliteratur’ nahe legt. My linguistic analysis of Andreas Neumeister’s Gut laut shows that Neumeister adapts the sampling technique familiar from the field of electronic music for a literary narration. He therefore produces a pop-specific language kode with pop-musical connotations that is utilized in the narration and the constellation of protagonists. I am then presenting the findings of my analysis in the context of German pop literature of the 1990s. Because of the use of pop culturespecific narration techniques on the level of discours, I then identify the linguistic representations as a major characteristic of pop literature. Building on those findings, I am attempting a more refined definition of the literary category of pop literature. 1. Betrachtet man das vielfältige Spektrum an literarischen Texten, das seit Beginn der 1990er Jahre in den Feuilletons unter dem Begriff ‘Popliteratur’ verhandelt wurde, so müsste die Definition für Popliteratur “pop is everything” (Diel 2000: 5) lauten. Kaum ein anderer Begriff wurde im Literaturbetrieb der 90er Jahre derartig strapaziert und gleichsam zum Aushängeschild einer jungen deutschen Literatengeneration erhoben, die scheinbar losgelöst vom literarischen Erbe der Nachkriegszeit ihre eigenen generationenspezifischen Themen und Schreibweisen etablierte. Das Phänomen ‘Popliteratur’ avancierte - nicht zuletzt aufgrund der medialen Resonanz im Feuilleton - schon bald zur erfolgreichen Vermarktungs- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ingo Irsigler 94 strategie einer jungen Schriftstellergeneration und bildet seitdem eine feste (kommerzielle) Größe im literarischen Feld der Gegenwartsliteratur. An der Positionierung und Etablierung dieser literarischen Strömung waren Medien, Autoren sowie deren Verlage gleichermaßen beteiligt: Die mediale Inszenierung von Pop- Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Hennig von Lange oder Florian Illies, deren Kultstatus sie zeitweise nicht nur zu Lieblingen des Feuilletons, sondern sogar kurzfristig zum ‘Stamminventar’ der Late-Night-Talk-Shows werden ließ, 1 wurde von den Verlagen massiv genutzt, um ihre Autoren im popkulturellen Buchmarktsegment zu positionieren. 2 Die Grenze zwischen Produkt, Medien-Image der Autoren und Vermarktung löste sich dabei vielfach auf, so dass die Popliteratur innerhalb der Gegenwartskultur ein mediales, von den literarischen Instanzen gelenktes Phänomen darstellt, das diejenigen Romane und Erzählungen beschreibt, die im literarischen Feld als Popliteratur positioniert wurden. 3 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive evoziert das mediale Phänomen ‘Popliteratur’ unweigerlich die Frage nach einer semantischen Begriffsbestimmung, die jenseits des bloß Populären oder kommerziell Erfolgreichen die wesentlichen Merkmale einer popliterarischen Ästhetik definiert. Die Problematik einer solchen Begriffsbestimmung scheint dabei gerade in der spezifischen Korrelation der ‘Textperformance’ mit der inhaltlich-formalen Substanz popliterarischer Texte zu liegen. “Denn im Grunde”, charakterisiert Marcel Diel im Artikel Näherungsweise Pop deren Spezifik, “haben wir es […] mit zwei Phänomen zu tun: zum einen dem Gegenstand der Betrachtung an sich, dem nackten Text; zum anderen seiner kaum von ihm trennbaren Performance, Vermarktung, dem Event Pop” (Diel 2000: 5). Diese Unterscheidung zwischen Textinhalt und Verpackung eröffnet für die wissenschaftliche Debatte zwei zentrale Fragestellungen: So gilt es 1. zu klären, inwieweit sich der Text selbst - beispielsweise mittels seiner paratextuellen Rahmung - als Poptext inszeniert und damit bereits mit Blick auf eine etwaige Käuferschicht auf seine Rezeption Einfluss nimmt 4 und 2. welche gemeinsamen thematischen und formal-ästhetischen Merkmale sich aus den Texten der so genannten Popliteratur abstrahieren lassen, die für die Popliteratur insgesamt als spezifisch zu werten sind und aus denen sich dann eine sinnvolle wissenschaftliche Begriffsdefinition ableiten ließe. 5 Gerade die inhaltlich-formale Bestimmung der Popliteratur erweist sich jedoch aufgrund der Heterogenität der in der wissenschaftlichen Diskussion als Popliteratur verhandelten Texte als äußerst problematisch. Welche Gemeinsamkeiten lassen sich etwa zwischen Benjamin Leberts Debütroman Crazy und Rainald Goetz’ Erzählung Rave rekonstruieren? Was verbindet Alexa Hennig von Langes Roman Relax mit Florian Illies Generation Golf? Lässt sich der Episodenroman Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot überhaupt sinnvoll der Popliteratur zuordnen? 6 Die bisherigen Forschungsergebnisse erlauben nur eine Definition des “kleinsten gemeinsamen Nenner[s] […]: Formale Eingängigkeit, d.h. die Verwendung von einfachen Prosa- und Lyrikformen, von Umgangs- oder Szenesprache; inhaltlich ein affirmatives, also bejahendes Verhältnis zur zunehmend medial geprägten Alltagswelt jugendlicher und jung gebliebener Menschen” sowie die Verwendung “realistische[r] Darstellungsmodi” bei einer gleichzeitig “medial gebrochene[n]” Wirklichkeitsdarstellung werden als die wesentlichen Momente popliterarischer Texte verstanden (Frank 2003: 6f.). Dass derart unscharfe Kriterien die Popliteratur der 90er Jahre nicht hinreichend definieren und von anderen literarischen Strömungen abgrenzen können, dürfte unmittelbar einsichtig sein. Als ein vielversprechendes und weitgehend konsensfähiges Kriterium kann immerhin die thematische und formale Orientierung an den zeitgenössischen, popkulturell geprägten Massenmedien im Allgemeinen und der Popmusik im Besonderen “Music makes the world go sound” 95 gelten, die gerade in den Erzählungen und Romanen der 90er Jahre in zweifacher Hinsicht eine zentrale Stellung einnimmt. Erstens zeigt sich beispielsweise in der Literatur von Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre (Soloalbum), Alexa Hennig von Lange (Relax) oder Rainald Goetz (Rave) eine thematische Dominanz von popmusikalischen Diskursen insofern, als Sozialisation und Lebensstile in hohem Maße vom musikalischen Konsumverhalten der Protagonisten geprägt werden. So geht man davon aus, daß in die Texte der sogenannten Popliteratur grundsätzlich immer die Popkultur, insbesondere die durch die elektronischen Massenmedien vermittelte Musikkultur, als allgegenwärtiger Sozialisationshintergrund der Figuren wie Autoren eingeht. Die Massenmedien und vor allem die musikalischen Unterhaltungsforen, wie Raves, Musikjournalistik, VIVA und MTV, werden so zu konstitutiven Elementen des Erzählens. (Jung 2002 b: 32) Die Massenmedien als wesentliches Referenzsystem bilden jedoch nicht nur einen entscheidenden thematischen Kern des Erzählens, sondern schaffen zweitens “die Möglichkeiten für neue Experimente mit Schreibweisen, die offen für die Erfahrungen sind, die andere Medien bieten” (Höfler 2001: 250). Dass derartige experimentelle Schreibversuche zumindest von einigen Autoren intendiert werden, lässt sich beispielhaft an Thomas Meinecke zeigen, der als ästhetisches Konstruktionsprinzip seiner Texte eine ‘Methode Pop’ zu Grunde legt, die im Wesentlichen darauf abziele, “so zu schreiben wie Pop ist. Wie […] Pop […] funktioniert” (Schumacher 2000: 19). Diese poetologische Vorgabe scheint aber nicht nur Thomas Meineckes Diskursroman Hellblau, sondern auch Rainald Goetz’ Erzählung Rave sowie Andreas Neumeisters Gut laut insofern einzulösen, als diese Texte formal-ästhetische Verfahrensweisen präsentieren, die sich deutlich an der sampling-Technik der elektronischen Musik orientieren und damit versuchen, einen spezifischen Musikstil literarisch zu adaptieren. 7 Das intermediale Formexperiment des samplings prägt - so lautet die Ausgangsthese der folgenden Ausführungen - nicht nur die Konstruktionsweise und die Erzählstruktur dieser Texte, sondern manifestiert sich darüber hinaus in einem charakteristischen, popspezifischen Sprachstil, der in der folgenden Analyse exemplarisch anhand von Andreas Neumeisters Roman Gut laut (1998) 8 näher bestimmt werden soll. Die in der Literaturwissenschaft problematische Kategorie ‘Stil’ 9 wird dabei gemäß ihrer linguistischen Bedeutung als Kategorie der Sprachebene verstanden, als spezifische Selektions-, Kombinations- und Präsentationsform des Sprechers aus den Möglichkeiten eines Sprachsystems. 10 Der Stil eines literarischen Textes definiert sich aufgrund dieser Prämisse über die manifeste Wahl der Sprecher- oder Erzählerinstanz aus verschiedenen ihm prinzipiell zur Verfügung stehenden Alternativen. Die Problematik der textanalytischen Bestimmung des im Text manifesten Stils liegt nun gerade darin, dass die potentiellen Varianten, also die alternativen Wahlmöglichkeiten nicht repräsentiert sind. Insofern können stilistische Phänomene insbesondere dann sinnvoll identifiziert werden, wenn Eigenarten der sprachlichen Gestaltung redundant sind, d.h. sich beständig wiederholen, so dass sie im Kommunikationsprozess vom Rezipienten als abweichend wahrgenommen werden. Gerade popliterarische Texte weisen auf der Textoberfläche häufig sprachliche Merkmale auf, die als alternative Wahl insofern identifizierbar sind, als sie ein System redundanter semantischer oder syntaktischer Präferenzmuster bilden, die - zumindest in quantitativer Hinsicht - vom ‘normalen Sprechen’ signifikant abweichen. Die linguistische Stilanalyse von Andreas Neumeisters Gut laut zielt mit Blick auf eine genauere Bestimmung der literarischen Strömung ‘Popliteratur’ insgesamt auf zweierlei ab: Erstens soll in der folgenden Einzeltextanalyse die Spezifik einer am sampling orientierten Redeweise bestimmt werden, um insgesamt die Frage zu beantworten, ob die Adaption Ingo Irsigler 96 popmusikalisch konnotierter Formen einen charakteristischen, popspezifischen ‘Sprachkode’ produziert, der dann zumindest ein Kriterium für eine sinnvolle Definition und Klassifikation von Popliteratur bilden würde. Zweitens wird zu klären sein, inwiefern die in Neumeisters Text manifeste Selektion aus dem Sprachsystem sowie deren charakteristische Präsentationsform zur Sinnkonstitution des Gesamttextes beiträgt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere nach der spezifischen Funktion des Sprachkodes für das Erzählen und die erzählte Welt insgesamt zu fragen sein, um damit die Bedeutung der Analysekategorie ‘Sprachstil’ als ein wesentliches discours- Element des Textes herauszustellen. Damit könnte sich die linguistische Stilanalyse gerade mit Blick auf diejenigen Texte der Popliteratur, die Verfahren der Popmusik auf eine spezifische Form des Sprechens übertragen, als äußerst produktives Beschreibungsinstrument erweisen, da markante stilistische Unterschiede zu anderen Texten der so genannten Popliteratur zu einer Konkretisierung der literaturwissenschaftlichen Kategorie ‘Popliteratur’ beitragen könnten. Um den Zusammenhang zwischen Sprachstil und Gesamtkonstruktion des Textes deutlich zu machen, soll Neumeisters Gut laut zunächst in seiner grundlegenden, am sampling orientierten Konzeption vorgestellt werden. 2. In Andreas Neumeisters Gut laut wird aus der Ich-Perspektive eines musikbesessenen ‘Kettenhörers’ unter biografischem Blickwinkel “die Geschichte der Popmusikszene seit 1972 nach - oder besser: auf[ge]zeichnet” (Höfler 2001: 254). Eine Handlung, wie die Gattungsbezeichnung ‘Roman’ im Untertitel der Erstausgabe erwarten lässt, gibt es dabei allerdings nicht. 11 Der Text besteht im Wesentlichen aus kurzen Textsequenzen, die die Themen Popgeschichte, Stadtarchitektur, Biografie und die bevorstehende Jahrtausendwende miteinander korrelieren und ineinander verschachteln. Die einzelnen Diskurse werden vom Standpunkt der unmittelbaren Gegenwart Münchens aus reflektiert, von hier aus driftet der Sprecher in die Vergangenheit: Er kombiniert biografisches Material mit Historischem, zitiert popmusikalische Versatzstücke wie Namen, Titel oder Liedzeilen aus 30 Jahren Popgeschichte, um dann erneut in die Jetztzeit zurückzukehren. So werden einzelne Reflexionsstränge zunächst etabliert, nach kurzer Zeit unterbrochen, um dann an späterer Stelle wieder aufgenommen zu werden. Diese thematisch-diskursive Segmentierung des Textes wird durch eine Vielzahl graphologischer Besonderheiten, die die Oberflächenstruktur des Textes bestimmen, angezeigt: Die Textsequenzen werden stetig durch einmontierte, partiell durch Fettdruck exponierte Lexeme, Lexemlisten, syntaktische Einheiten, die teilweise monoton über eine ganze Seite wiederholt werden, oder Leerseiten voneinander getrennt. Diese spezifische Verfahrensweise der Textkonstruktion lässt sich durch den Schlusssatz des Ich- Erzählers “Cd is aus Kassette läuft noch” (Neumeister 2001: 189) sowie durch die graphischen Paratextelemente als Imitation einer Tonbandaufnahme identifizieren, in der die einzelnen Textsegmente gewissermaßen die Tracks einer Mix-Kassette bilden, die insgesamt einen “180seitigen Endlostrack” (Höfler 2001: 255) produzieren. 12 Die Leerzeilen und Leerseiten verweisen dementsprechend auf akustische Leerstellen, die auf der Textebene den folgenden Themenwechsel graphisch markieren. Dieses Verfahren des tapings oder Mixens wird textintern durch die Erzählinstanz thematisiert: “Music makes the world go sound” 97 Kassettenaufnehmen […] ist wie Kreuzworträtsellösen, nur tausendmal toller. Im Idealfall geht am Schluß alles auf. (Roman sagt: Am tollsten ist, wenn die Kassette voll ist und endlich auch das letzte Stück ganz logisch zu allen anderen paßt). (Neumeister 2001: 31) Der Vergleich zwischen dem Kompilieren einer Kassette und dem Lösen eines Kreuzworträtsels suggeriert eine Similarität zwischen musikalischen und textlichen Verfahrensweisen. Zielt das Taping durch die Kombination von einzelnen, unterschiedlichen Musiktiteln letztlich auf die Herstellung eines stimmigen Ganzen ab, so entsteht auch beim Lösen von Kreuzworträtseln durch die spezifische Anordnung semantisch verschiedener Lexeme schließlich ein zumindest optisch logischer Zusammenhang. Und auch der “Endlostrack” des Erzählers soll - wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird - trotz der inkohärenten Erzählweise letztlich ein kohärentes Ganzes bilden, in das die zunächst in temporaler und kausaler Hinsicht heterogenen Diskurse und Reflexionen des Erzählers schließlich in einen stimmigen Ich- und Weltentwurf zusammengeführt werden. 13 In der spezifischen Verknüpfung der zeitlich auseinander liegenden biografischen, kulturellen oder historischen Begebenheiten, erweist sich als zweites popmusikalisches Verfahren, dasjenige des samplings als ein bestimmendes Moment der Textkonstruktion. Der Erzähler in Neumeisters Text fungiert gewissermaßen als Disk-Jockey, denn wie der DJ Tonquellen aus verschiedenen musikalischen Epochen kombiniert, verwendet der “Text- Jockey” (Höfler: 255) in Neumeisters Gut laut kulturelle oder biografische Versatzstücke der Vergangenheit und führt sie in der Gegenwart zusammen. “Plattenauflegen”, so reflektiert der Ich-Erzähler, “ist wie Kassettenaufnehmen, nur hundertmal toller” (Neumeister 2001: 31) und begründet zugleich den entscheidenden Vorteil des Plattenauflegens gegenüber der bloßen Tonbandaufnahme damit, dass verschiedenartiges Material durch den DJ selektiert und gleichzeitig präsentiert werden kann. “Country und Techno gleichzeitig denken. Country und Techno gleichzeitig lieben. […]. Das Johnny Cash Sample auf dem Bionaut-Mix macht seine Sache wirklich gut” (ebd.). Gerade die Möglichkeit der gleichzeitigen Präsentation musikalischer Vergangenheitselemente und populärer Gegenwartsmusik führt im Ergebnis zu einer qualitativ neuen Musik. Das Auflegen von Musik impliziere, so der Ich-Erzähler, immer auch das “[N]eu [E]rfinden” im “[A]uflegen” (ebd.: 11). Genau dieses Verfahren überträgt Neumeisters “Text-Jockey” auf seine eigene Erzählweise, indem er selektiv Versatzstücke verschiedener Zeitebenen in die Gegenwart integriert. Heute kommt mir das Wort Mjunik so unverbraucht vor. Goldrichtig, zum goldrichtigen Zeitpunkt, die erste Hitzewelle des Jahres: heftiger Adrenalinstoß in Richtung helles Grün: Giorgio Moroder’s Sound of Munich Giorgio Moroder’s Early Techno Sound of Munich Giorgio Moroder’s Donna Summer Sound of Munich Giorgio Moroder’s Pre-Techno Disco Sound of Munich Giorgio Moroder’s Late-Seventies Plastic Sound of Munich Vibrationssüchtiges Verlangen nach immer lauterer Musik. Abwechslungssüchtiges Verlangen nach immer wieder neuer Musik. (ebd.) Ausgangspunkt dieser Textpassage bildet die Beschreibung der gegenwärtigen Musikszene Münchens, in die der Erzähler dann mit dem Sample “Giorgio Moroder’s Sound of Munich”, den Sound der späten 70er Jahre in die musikalische Gegenwart einarbeitet. Durch dieses Verfahren, Musikstile aus unterschiedlichen Dekaden zu zitieren und unmittelbar miteinander zu kombinieren, konzipiert sich der Ich-Erzähler als Pop-Chronist, der - wie er geradezu selbstreflexiv sein eigenes Verfahren der Textproduktion thematisiert - Ingo Irsigler 98 jede[n] Musikstil, jede Spielart eines Musikstils […] in aller Welt einzeln auf seine Brauchbarkeit hin überprüft. Mit größtem Geschick, ich meine, mit größter Zielstrebigkeit wird von den Musikbesessenen in aller Welt versucht, das jeweils beste eines Musikstils herauszudestillieren, als Grundlage für die eigene Musik direkt zu samplen, als hoffentlich cleveres Zitat in die eigene Musik einzubauen oder zum festen Bestandteil des eigenen DJ-Repertoirs zu machen, […] zu einem Teil des persönlichen Musikkosmos zu machen. (ebd.: 14) Diesen “persönlichen Musikkosmos” präsentiert der Erzähler dem Leser, indem er beständig Songlisten, Liedfragmente, Künstlerzitate oder Klangbeschreibungen in den Text hinein sampelt. Das Verfahren des samplings beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die Popgeschichte, sondern wird darüber hinaus auch auf andere kulturgeschichtliche Bereiche angewendet. Es erweist sich dabei als strukturell analoges Verfahren, das ausschließlich in der formalen Präsentation variiert wird. Denn während der Erzähler wie beispielsweise im obigen Textzitat mit dem akustisch absenten “Sound of Munich” und damit gleichsam mit der rein virtuellen, “im Kopf gespeicherte[n] Musik” (ebd.: 126) arbeitet, so werden gesellschaftspolitische Bereiche über absente Bilder, die graphisch durch Bildunterschriften repräsentiert werden, in die Sprechgegenwart hineingesampelt. Abb.: Mit Bekanntwerden der Kommune kamen immer häufiger Journalisten oder Redakteure, um über sie zu berichten Abb.: Monika war sehr hübsch und bedeutete eine Attraktion für die Gruppe […] Abb.: Fotoshooting für den Stern Abb.: Uschi und Rainer in der K1 Abb.: Öffentliche Anleitung zum Joint-Drehen Abb.: Die Bombe (ebd.: 46ff.) Die Abbildungen sind “die im Kopf gespeicherten Bilder, die in den Kopf eingescannten Bilder” (ebd.: 126), die als “Bilder aus längst vergangenen Epochen” (ebd.: 132) ständig reproduzierbar und in der Gegenwart als kulturelle Versatzstücke aufgerufen werden können. 14 Die Auflistung solcher mental gespeicherten Bilder zeigt kulturhistorische Zusammenhänge nur noch fragmentarisch, jedoch werden in der Präsentationsform wichtige Entwicklungstendenzen implizit deutlich. So zeigt sich in der Folge der soeben genannten Bildunterschriften die zunehmende Kommerzialisierung der Kommune 1 sowie die aus der 68er Bewegung entstehende Militarisierung hin zur RAF, die als Sample schließlich gut 100 Seiten später nur noch stroboskopförmig in musikalischem Zusammenhang aufblitzt: “RAF für Rote Armee Fraktion / die härteste Band von allen” (ebd.: 175). Elemente der Kulturgeschichte werden auf diese Weise im Stile des Disk-Jockeys als “clevere Zitate” zum festen Bestandteil des eigenen “Text-Jockey”-Repertoires, die beliebig kontextualisiert werden können. Das Diktum von der “Popgeschichte als scheinbar totale[r] Verfügbarkeit” (ebd.: 103), aus der der Erzähler einzelne Bestandteile isoliert und in neue Kontexte stellt, wird damit als gültig für den gesamten Geschichtsprozess behauptet. Dadurch wird eine Geschichtskonzeption erkennbar, die historische Partikel aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen herauslöst und in einen zeitlosen ‘Jetztzeitmix’ integriert. Die sampling-Technik wird dabei insgesamt für eine Geschichtsauffassung funktionalisiert, die unmittelbar mit der bevorstehende Jahrtausendwende zusammenhängt: Es ist eine einzige gewaltige Inventur, in der wir uns befinden, […] in die wir kurz so kurz vor der Zeitmauer zwangsläufig hineingeraten mußten, ein Speicherwahnsinn, in den auch jede “Music makes the world go sound” 99 andere Generation in der gleichen Situation, mit den gleichen technischen Möglichkeiten zwangsläufig hineingeraten wäre. (ebd.: 14) Der Erzähler fungiert in seinem Selbstverständnis als Kulturarchäologe 15 , der im Vorfeld der Jahrtausendwende das gesamte zivilisatorische Material auf seine Tauglichkeit hin überprüft: Längst einem gnadenlosen Speicher- und Aufnahmewahnsinn verfallen, gibt es keinen Weg mehr zurück, die Zeit des gnadenlosen Ausschlachtens […] hat gerade erst richtig begonnen, die Neunziger und mit ihnen alle anderen Jahrzehnte des gerade vergehenden Jahrhunderts ausschlachten, das 20. Jahrhundert und mit ihm alle anderen Jahrhunderte des gerade vergehenden Jahrtausends ausschlachten […], alles auf seine Tauglichkeit hin überprüfen […] wir können uns nicht mit allem belasten […] sichten, alles sichten (ebd.: 176) Die “gewaltige Inventur” zielt letztlich darauf ab, das Brauchbare des “Errungenschaftsjahrhundert[s]” (ebd.) ins neue Jahrtausend hinüber zur retten, während der “Katastrophendreck” (ebd.) beständiger Kriege schlichtweg aus dem Kulturrepertoire aussortiert werden soll: [M]ein Gedächtnis ist ein Sieb / wie hat dieser Dschungelkrieg, wie hat dieser Krieg mit den vielen Hubschraubern gleich wieder geheißen? […] Man kann sich nicht alles merken, irgendwie muss man ja auswählen. Das Gedächtnis als Sieb. (ebd.: 130) Durch das Sammeln, die Selektion und das anschließende Speichern von Informationen wird insgesamt ein Kulturrepertoire erstellt, das in der Gegenwart ständig verfügbar gehalten wird. Dadurch etabliert der Text ein Zeitkonzept, das im Wesentlichen darauf abzielt, die alte Zeitrechnung aufeinander folgender Zeitabschnitte aufzuheben. “Die alte Zeitrechnung ist unterbrochen, […] wir […] erklären die christliche Zeitrechnung bis auf weiteres für ausgesetzt” (ebd.: 15). Das neue Zeitkonzept präsentiert sich als eine endlose Jetztzeit, in der die positiven Errungenschaften der Vergangenheit in der Gegenwart synchronisiert werden. Dadurch soll insgesamt eine neue Welt entstehen, deren Neuentwurf bereits zu Beginn mit geradezu biblischen Worten proklamiert wird: “Am Anfang war die Ultrawelt” (ebd.: 7), und diese Ultrawelt versteht sich im Wesentlichen als eine akustische Erlebniswelt. “Am meisten freue ich mich auf die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts: alles wird anders klingen, was nicht jetzt schon anders klingt” (ebd.: 13). Das Jahr 2000 wird zur ‘Schallgrenze’ erklärt, die die Neuerschaffung der Welt gewissermaßen einläutet. 16 Gut laut präsentiert demnach eine discours-Struktur, die die Konstruktionsweise elektronischer Musik strukturell zu adaptieren versucht, indem Versatzstücke unterschiedlicher Zeitebenen miteinander kombiniert werden. Die sampling-Technik beruht dabei auf den Prinzipien der Synchronisation einerseits und dem Neu-Erfinden durch Kombination andererseits. Sie zeigt sich insofern als funktional für die histoire-Ebene, als sie die Kulturtechnik des neuen Jahrtausends bildet, mittels derer insgesamt ein ‘gesampelter’ Neuentwurf von Welt konstruiert wird, in dem die historischen Epochen zu Gunsten einer geschichtslosen Gegenwart aufgehoben sind. 3. Die Technik des samplings bestimmt jedoch nicht ausschließlich die Makrostruktur des Textes, sondern prägt außerdem die spezifische Redeweise des Erzählers. Das signifikanteste Merkmal der Sprachebene ist die monotone Aneinanderreihung syntaktischer Einheiten, die den Erzählduktus des Textes weitgehend bestimmen. Ingo Irsigler 100 Dabei wird zunächst ein syntaktisches Schema etabliert, das dann im Folgenden unter Beibehaltung der prinzipiellen syntaktischen Struktur variiert wird: Drogensüchtiges Verlangen nach Musik, drogensüchtiges Verlangen nach immer mehr, drogensüchtiges Verlangen nach immer mehr toller Musik, tollwütiges Verlangen nach nicht endender Musik. (ebd.: 10) Das Paradigma “Drogensüchtiges Verlangen nach Musik” bildet innerhalb des Textsegments das erste syntaktische Schema, das direkt im Anschluss durch ein zweites Schema monotoner Fragen abgelöst wird: “Ist es der Geruch von Rauch? Ist es dieser Lagerfeuer- und Matratzengeruch? […] Wann war die Ölkrise, wann war das Sonntagsfahrverbot? ” (ebd.) Dann folgt das dritte Schema: “Am Anfang war der Strom. Am Anfang war das Leben in Höhlen” (ebd.), das mit dem Lexem der Höhle ein semantisches Element aus dem Frageschema aufnimmt. Danach wird ein viertes Schema etabliert, das jeweils mit der syntaktischen Einheit “Bin ich froh” (ebd.: 11) eingeleitet wird, um im Anschluss wieder zum ersten Schema zurückzukehren (“Seltsamkeitssüchtiges Verlangen nach Bernds und Christos’ größenwahnsinniger Musik” (ebd.)). Im Anschluss wird dann erneut das “Bin ich froh”- Schema weitergeführt. Derartige monotone Aneinanderreihungen bilden innerhalb des Erzählens das übergeordnete syntaktische Präferenzmuster und prägen über weite Strecken den Sprachstil des Erzählers. Die sprachliche Norm, die dieser spezifischen Sprachpraxis zu Grunde liegt, lässt sich innerhalb des Textes sowohl aus der Gesamtkonstruktion als auch aus dem dominanten Musikdiskurs als sprachliche Simulation elektronischer Musik identifizieren, dessen leitendes Formprinzip gerade auf der Aneinanderreihung monotoner Beats beruht. Die Variationen innerhalb der einzelnen Grundmuster basieren auf einem Prinzip der Wortbildung, das wiederum deutliche Merkmale des samplings erkennen lässt. Erstellt man beispielsweise eine Liste der im ersten Schema manifesten Variationen, so erhält man eine paradigmatische Reihe der folgenden Komposita und ihrer Flexionsendungen: Drogen-süchtig -es toll-wütig-es Seltsamkeits-süchtig - es Vibrations-süchtig -es Abwechslungs-süchtig -es Die Komposita basieren jeweils auf dem Adjektiv ‘süchtig’ und der Flexionsendung, die aus der spezifischen Stellung in der syntaktischen Einheit resultiert. Das Prinzip der Wortbildung besteht nun darin, das Substantiv des Kompositums beliebig zu substituieren, um dadurch unter anderem auch solche Lexeme zu bilden, die in der Normalsprache nicht vorkommen (z.B. “Seltsamkeitssüchtig”). Neben dem Prinzip grammatikalischer bestimmt ferner die phonetische Äquivalenz die Produktion von Lexemen. So wird beispielsweise das Lexem “drogensüchtiges” durch “tollwütiges” ersetzt, das sich aufgrund seiner Lautstruktur in die paradigmatische Reihe eingliedern lässt. 17 Auf diese Weise wird eine Vielzahl von Lexemen gebildet, die dann wiederum in andere syntaktische Strukturen eingesetzt bzw. eben ‘hinein gesampelt’ werden können. “Tanz- und Bewegungswütige”, heißt es an anderer Stelle, “treffen auf Tanz- und Bewegungssüchtige, treffen auf Tanz- und Bewegungsbesessene” (ebd.: 79). Das Prinzip, nach dem sich solche paradigmatischen Reihen generieren lassen, lässt sich nicht nur textlinguistisch rekonstruieren, sondern wird im Text auch deutlich markiert: Immer wieder können nämlich Textpassagen ausfindig gemacht werden, in denen Komposita in ihre einzelnen Komponen- “Music makes the world go sound” 101 ten zerlegt werden. “Die Nacht, der Flug, das Verbot”, wird beispielsweise eine narrative Sequenz eingeleitet, in der dann eine Vielzahl von Lexemen in den Text eingestreut werden, die alle den Bestandteil ‘Flug’ enthalten: “Flughafen”, “Flugzeug”, “Einflugschneise” oder “Flugbewegung” (ebd.: 16). Dieses Verfahren führt mitunter zu skurrilen Wortreihen. So wird beispielsweise aus dem Lexem “Reichsautobahnbrücke” zunächst “Kraftwerks Autobahn”, danach “Bundesautobahnraststätten” und schließlich “Reichsautobahnraststätten” gebildet (ebd.: 121). Das Sprachsystem wird auf diese Art und Weise als reicher Fundus für Sprachexperimente nutzbar gemacht, das Sprachsampling führt in Analogie zum musikalischen Verfahren zum ‘Neu-Erfinden’ der Sprache beim Sprechen. Neben dem Prinzip des Neu-Erfindens wird auch das Prinzip der Synchronisation, das als wesentliches Konstruktionsmoment der Textstruktur bestimmt werden konnte, sprachlich zum Ausdruck gebracht. In der bereits zitierten Textstelle Giorgio Moroder’s Sound of Munich Giorgio Moroder’s Early Techno Sound of Munich Giorgio Moroder’s Donna Summer Sound of Munich Giorgio Moroder’s Pre-Techno Disco Sound of Munich Giorgio Moroder’s Late-Seventies Plastic Sound of Munich (ebd.: 11) zeigt sich das Verfahren der “cultural archeology”, d.h. der Eingliederung von selektivem Vergangenheitsmaterial in die Gegenwart, auch auf syntaktischer Ebene. Die syntaktische Einheit besteht in ihrem Kern aus der Wendung “Giorgio Moroder’s Sound of Munich”, die im Anschluss stetig um einen weiteren Bestandteil variiert wird. In der spezifischen Präsentationsform des Auflistens wird nun zum einen das Immer-Lauter-Werden, das im Anschluss vom Sprecher explizit thematisiert wird (“Vibrationssüchtiges Verlangen nach immer lauter werdender Musik”), durch die sich beständig steigernde Extension des Paradigmas im Schriftbild graphisch markiert. 18 Daneben ist diese Präsentationsform auch insofern bedeutsam, als sie wiederum eine Reihe paradigmatischer Alternativen herausbildet. Die einzelnen Variationen der Ausgangsstruktur werden dabei zunächst in einer vertikalen Struktur angeordnet, die dann einige Seiten später in die syntagmatische Reihe “Giorgio Moroder’s Late Seventies Pre-Techno Donna Summer Disco Sound of Mjunik” (ebd.: 14) überführt wird. Die grundlegende syntaktische Ausgangsstruktur wird dabei zwar beibehalten, jedoch wird diese durch einzelne, selektive Bestandteile der vertikalen Reihe erweitert. Dadurch wird zum einen die temporale Synchronisation der Soundmodifikationen in der Gegenwart syntaktisch markiert, zum anderen entsteht durch die spezifische Kombination wiederum etwas sprachlich ‘Neues’. Neukombination und Synchronisation auf der Grundlage eines prinzipiell monotonen Sprachrhythmus’, der aus einer Aneinanderreihung analoger syntaktischer Einheiten resultiert, sind damit die Hauptmerkmale des Sprachstils von Neumeisters Erzähler. Der Text kreiert über das sampling einen Sprachstil, der auf der discours-Ebene dasjenige ausdrückt, was auf der histoire-Ebene verhandelt wird: Die gesampelte Sprache korrespondiert mit einem gesampelten Weltentwurf, dessen Zentrum der musikalische Kosmos des Erzählers bildet. Die sprachliche Präsentation verhält sich dabei homolog zur strukturellen Anlage des Gesamttextes, denn genauso wie die thematischen Textelemente mittels der sampling- Technik miteinander verknüpft werden, geht der Erzähler mit dem Sprachmaterial um: Er sammelt, selektiert und kombiniert sprachliche Elemente und fügt sie in feste syntaktische Strukturen ein. Ingo Irsigler 102 Dass diese Erzählweise keine artifizielle Technik im Sinne einer innovativen künstlerischen Position repräsentiert, zeigt sich bereits markant am Erzählrahmen, denn sowohl die grundlegende Konstruktionsweise als auch die Redeweise des Sprechers sind in den fiktionalen Rahmen der Tonbandaufnahme integriert, verweisen also insgesamt auf eine als ‘authentisch’ ausgewiesene Sprechsituation. 19 Darüber hinaus deuten Selbstaussagen des Sprechers darauf hin, dass die sampling-Technik dessen kognitive Struktur prägt, eine Denkstruktur, die deutliche Züge eines maschinellen Computerdenkens trägt: “[M]ein Gedächtnis ist ein Sieb” (ebd.: 130), “speichern oder zwischenspeichern, zwischenspeichern oder Papierkorb? Im Kopf eingescannte Bilder zum Beispiel” (ebd.: 133), “die im Kopf gesamplete Musik […] die im Kopf gespeicherten Bilder zum Beispiel” (ebd.: 126), oder aber die Vermutung des Ich-Erzählers, dass sein Denken “möglicherweise […] längst synchronisiert” sei, dies alles sind Aussagen, die von der Annäherung kognitiver Prozesse an ein “Maschinendenken” zeugen, das auf den hierarchisierten Schritten der Selektion, dem Speichern und der anschließenden Synchronisation von Informationen basiert. Dass diese kognitive Struktur auch den spezifischen Sprachstil des Erzählers prägt, zeigt sich markant an dem maschinellen Prozess der Zerschlagung von Komposita, die jeweils mit der sprachlichen Wendung “Menschmaschine sagt: ” eingeleitet wird: “Menschmaschine sagt: das Hoch, der Druck, die Zone / Menschmaschine sagt: das Wasser, der Schutz, die Polizei” (ebd.: 106). Durch die explizite Kennzeichnung des Fragmentarisierens der Sprache als verbale Ausdrucksform der “Menschmaschine” wird zugleich ein personales Konzept proklamiert, das auf einer grundlegenden Synthese aus Mensch und Maschine basiert und das dem kulturgeschichtlichen Neuanfang ein neues Menschenbild zur Seite stellt. 20 Das sampling bildet demnach insgesamt die kognitive Struktur des Erzählers ab, die deshalb auch dessen Erzählen und damit die discours-Struktur insgesamt maßgebend prägt. Der Sprachstil ist - und dies hat die Analyse deutlich gezeigt - Teil einer discours-Struktur, die sich insgesamt nur vom Paradigma der sampling-Technik aus erschließen lässt. Er lässt sich insofern als popmusikalisch kodiert charakterisieren, als er die wesentlichen Strukturprinzipien elektronischer Musik sprachlich zu adaptieren versucht. Das in der Analyse rekonstruierte Sprachsampling ist dabei der verbale Ausdruck eines spezifischen Personenkonzepts, das in der gesampelten Sprache insgesamt ein neues Denken für das neue Jahrtausend verbalisiert. Der Sprachstil des Erzählers beschreibt demnach eine für den Text wesentliche Teilstruktur der discours-Ebene, die eine signifikante Homologie zu der ihr übergeordneten Gesamtstruktur aufweist - eine Gesamtstruktur, die einen an popmusikalischen Verfahren orientierten ‘Erzählstil’ sichtbar werden lässt, der sich insbesondere als funktional für die im Text etablierte Geschichts- und Personenkonstruktion erweist. Die Analyse von Neumeisters Erzähltext markiert damit deutlich eine grundlegende Problematik des Stilbegriffs: Je weiter man ihn fasst, um das Erzählen in seiner Gesamtheit zu charakterisieren, desto mehr nähert er sich dem discours-Begriff an. Begrenzt man ihn stattdessen auf die Sprachanalyse, so kann er als ein discours-Element insofern sinnvoll von anderen discours-Elementen getrennt werden, als er ausschließlich eine spezifische Sprachbenutzung beschreibt, mittels derer die prinzipielle Erzählweise näher charakterisiert werden kann. “Music makes the world go sound” 103 4. Anhand von Neumeisters Gut laut ließ sich beispielhaft demonstrieren, dass der Sprachstil ein innovatives Moment der Erzählweise darstellt, die sich signifikant an populären Musikstilen orientiert. Über diesen Einzelfall hinaus scheint die Sprachstilanalyse für den wissenschaftlichen Umgang mit Popliteratur insgesamt äußerst produktiv zu sein, wie der Blick auf andere popliterarische Texte zeigt. Besonders markant kann dies an Rainald Goetz’ Erzählung Rave demonstriert werden, in deren Zentrum nämlich die selbstreflexive Fragestellung steht, wie denn “ein Text klingen” müsse, “der von unserem Leben handelt” (Goetz 1998: 32) - einem Leben, das im Wesentlichen über die unmittelbare Teilhabe an der audio-visuellen Erlebniswelt der Ravekultur definiert wird. Goetz’ Erzähler stellt sich diesem Problem: “Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte. […] Man dürfte diese Texte nicht nur rein vom Sinn her nehmen” (ebd.: 32f.) - und genau diese Auflösung des Sinns in reinen Sound prägt insbesondere in denjenigen Textpassagen den Sprachstil des Erzählens, in denen das unmittelbare situative Erleben dargestellt werden soll. 21 So präsentiert sich Rave als “disparate, inkomplette” Aneinanderreihung scheinbar “zusammenhanglose[r] Sequenzen” und “Moment-Protokolle”, deren sprachlicher Stil als “Äquivalent zur Syntax der Musikmaschine” erscheint, “die auch keinen Sinn im hermeneutischen Verständnis hervorbringt. Es geht im Grunde um den ‘Bum-bum-bum des Beats’ [Rainald Goetz, I.I.]” (Höfler 2001: 264f.) und damit - wie der Erzähler erläutert - um den experimentellen Versuch, “die Sprache von ihrer Mitteilungsabsicht” zu befreien, “[d]aß die Schrift nur noch ein autistisches, reines, von der Zeit selbst diktiertes Gekritzel wäre, Atem. Jenseits des Todes” (Goetz 1998: 262). Dass das Sprachexperiment einer vom semantischen Gehalt befreiten Sprachpraxis, die einzig und allein einen spezifischen Sound produziert, letztlich scheitert, räumt der Erzähler im Anschluss an die gerade zitierte Textpassage selbstkritisch ein: “Aber auf dessen Eintreten muß sie dann warten, um Text zu werden. Schade ist das” (ebd.). Noch deutlich artikuliert sich der defizitäre Status der Sprache als Repräsentationsform des unmittelbar Erlebten in der folgenden Textpassage: Es war die Ohne-Worte-Zeit, wo wir uns in allen möglichen Situationen immer nur so komisch anschauten mit großen Augen, den Kopf schüttelten und fast nichts mehr sagen konnten, außer: ohne Wortepfbrutal der Wahnsinnohne Worte, echt Das war sozusagen unser Glücksgedicht. (Goetz 1998: 253) Das “Glücksgedicht” muss, da es keinen erkennbaren Sinn mehr produziert, direkt im Anschluss vom Erzähler erläutert, also mit Sinn aufgefüllt werden: “Gemeint war damit ein Erstaunen, eine Bewunderung für das Überwältigende, Umwerfende […]” (ebd.). Obgleich der Text damit radikal vorführt, dass die auf der histoire-Ebene beschriebene Erlebniswelt letztlich jenseits der sprachlichen Artikulierbarkeit liegt, zeigt sich der Erzähler trotz allem bemüht, sich der von ihm beschriebenen Realität über die discours-Struktur des Textes anzunähern. Sowohl in Goetz’ Erzählung Rave als auch in Neumeisters Gut laut erweisen sich die verwendeten Sprachformen als funktional für eine Erzählweise, die versucht, popkulturell Ingo Irsigler 104 geprägte Erlebniswelten mittels popkulturell kodierter Darstellungsformen zu beschreiben. Diese Erzählweise - so konnte durch die Stilanalyse gezeigt werden - lässt sich als narratives Verfahren näher bestimmen, das kulturelle Realität in einzelnen Fragmente auflöst und die daraus gefertigten, subjektiv adaptierten kulturellen Versatzstücke für ein spezifisches Identitätskonzept der Erzählerfiguren funktionalisiert. Der Sprachstil erweist sich insofern als konstitutiver Bestandteil dieser Erzählweise, als sich das Subjekt gerade mittels Sprache seine eigene kulturelle Umwelt konstruiert. Die Texte der Autoren Neumeister und Goetz grenzen sich gerade in dieser spezifischen Form des Erzählens vom Gros derjenigen Autoren ab, die hauptsächlich wegen ihrer Themen und der performanceartigen Selbstinszenierung unter dem Label ‘Pop-Literatur’ firmieren und die die öffentliche Diskussion über die Strömung bisher dominierten. Als paradigmatischer Fall kann der Erfolgsautor Benjamin von Stuckrad-Barre gelten, der in seinem Debütroman Soloalbum im feuilletonistischen Plauderton eine gängige Adoleszenz-Geschichte erzählt. Zur Popliteratur wird diese Geschichte ausschließlich durch die Relevanz der Popmusik als identitätsstiftendes Konsumgut, mittels dessen eine Abgrenzung des ‘Ichs’ vom ‘Anderen’ erfolgt. 22 Popmusik ist in Barres Roman primär Ausdruck einer oberflächlichen Selbstinszenierung des Protagonisten, erweist sich jedoch für die Form des Erzählens insgesamt als unfunktional. Aus narratologischer Sicht präsentiert sich folglich in den Texten von Goetz und Neumeister eine innovative ‘Sonderform’ der Popliteratur, die deutliche Differenzen zu Autoren wie Stuckrad-Barre, Florian Illies oder Alexa Hennig von Lange erkennen lässt. 23 Aus dieser prinzipiellen Heterogenität der unter dem Label ‘Popliteratur’ verhandelten Texte ergibt sich insgesamt die Notwendigkeit einer Differenzierung des Gegenstandsfeldes, für die die Stilanalyse immerhin ein verlässliches Analyseinstrument bereitstellt. 5. Literaturangaben Primärliteratur Goetz, Rainald 1998: Rave. Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hennig von Lange, Alexa 1999: Relax. Roman, Reinbek bei Hamburg: Rogner & Bernhard. Illies, Florian 2000: Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin: Argon. Meinecke, Thomas 2001: Hellblau. Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neumeister, Andreas 1998: Gut laut. Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neumeister, Andreas 2001: Gut laut. Version 2.0, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Von Stuckrad-Barre, Benjamin 1999: Soloalbum. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Sekundärliteratur Anderegg, Johannes 1995: “Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft”, in: Stickel (ed.) 1995: 115-127. Baßler, Moritz 2002: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: C.H. Beck. Diel, Marcel 2000: “Näherungsweise Pop”, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 1 (2000): 3-7. Frank, Dirk (ed.) 2003: Arbeitstexte für den Unterricht. Popliteratur, Stuttgart: Reclam. Freund, Wieland / Freund, Winfried (ed.) 2001: Der deutsche Roman der Gegenwart, München: Fink. Höfler, Günther A. 2001: “Sampling - das Pop-Paradigma in der Literatur als Epochenphänomen”, in: Jacobsen (ed.) 2001: 249-267. Jacobsen, Dietmar (ed.) 2001: Kontinuität und Wandel, Apokalyptik und Prophetie. Literatur an Jahrhundertschwellen. Berlin/ Frankfurt am Main/ New York: Lang. “Music makes the world go sound” 105 Jung, Thomas (ed.) 2002 a: Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt am Main: Peter Lang (= Osloer Beiträge zur Germanistik, 32). Jung, Thomas 2002 b: “Vom Pop international zur Tristesse Royal. Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit”, in: Jung (ed.) 2002 a: 29-54. Oswald, Georg 2001: “Wann ist Literatur Pop? Eine empirische Antwort”, in: Freund/ Freund (ed.) 2001: 29-43. Sandig, Barbara 1995: “Tendenzen der linguistischen Stilforschung”, in: Stickel (ed.) 1995: 27-61. Schärf, Christian 2001: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz: Roman und Film - zu einer intermedialen Poetik der modernen Literatur, Stuttgart: Steiner. Schuhmacher, Eckhard 2000 a: “Pop, Literatur. Ein Interview mit Thomas Meinecke”, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 1 (2000): 19-20. Schuhmacher, Eckhard 2003 b: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Spillner, Bernd 1995: “Stilsemiotik”, in: Stickel (ed.) 1995: 62-93. Stickel, Gerhard (ed.) 1995: Stilfragen. Berlin/ New York: de Gruyter. Anmerkungen 1 Insbesondere die Harald Schmidt Show bildete ein Forum für die jungen ‘Pop-Autoren’. So zählte Benjamin von Stuckrad-Barre Ende der 90er Jahre nicht nur zu den regelmäßigen Talk-Gästen der Show, sondern darüber hinaus wurde sein Text Klaus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit essen in der Harald Schmidt Show uraufgeführt. Gerade Ende der 90er Jahre wurden junge, populäre Autoren wie Florian Illies, Vladimir Kaminer, Karen Duve, Julia Franck oder Alexa Hennig von Lange (die es im Zeitraum von 1998 bis 2004 auf insgesamt immerhin acht Auftritte brachte) in die Show eingeladen, während die Auftritte arrivierter deutscher Autoren singuläre Ausnahmen bildeten. Im Falle von Benjamin von Stuckrad-Barre setzte der Verlag das hohe symbolische Kapital, das mit dem medialen Image des Entertainers Harald Schmidt verbunden ist, zur Vermarktung des Buches ein. Neben den obligatorischen Zitaten aus prestigeträchtigen Rezensionsorganen wie dem Spiegel oder dem Stern wird als Autorität für die Qualität des Buches eben auch Harald Schmidt mit der Aufforderung “Jugend der Welt - kauf dieses Buch und lies es! ” auf der Buchrückseite zitiert. 2 Der Rowohlt Taschenbuch Verlag bewirbt beispielsweise auch den vierten Roman ihrer Autorin Alexa Hennig von Lange (Woher ich komme, 2002) mit einem Zitat aus der Wochenzeitung Die Zeit, die Hennig von Lange in Bezug auf ihr literarisches Debüt Relax als “Antwort der Literatur auf die Spice Girls” bezeichnete. Obgleich der Roman Woher ich komme in konventioneller Weise die Kindheitserfahrungen einer 30-jährigen Frau thematisiert, sich also weder thematisch noch formal-ästhetisch der Popliteratur zurechnen lässt, wird die Autorin dennoch entsprechend ihres Medienimages weiterhin als ‘Pop-Autorin’ vermarktet. 3 Thomas Jung fasst diese Entwicklung seit Mitte der 90er prägnant zusammen, wenn er konstatiert: “Dem deutschen Literaturbetrieb ist es gelungen, mit seiner neuen, Jugendlichkeit und Erfolg evozierenden Autorengeneration, mit einer konsequenten Marketingstrategie sowie einem nachziehenden Feuilleton […] eine neue Literatur zu etablieren” (Jung 2002 b: 34). 4 Gerade die Zielgruppenspezifik der Popliteratur bildete sich in der wissenschaftlichen Diskussion als ein wesentliches Merkmal popliterarischer Texte heraus (vgl. Jung 2002 b: 47ff.), die unter dem Gesichtspunkt einer für Popliteratur insgesamt spezifischen Form der literarischen Kommunikation noch weiter konkretisiert werden müsste. 5 Obgleich sich eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten unter produktionsästhetischer Perspektive dem Begriff genähert haben, gibt es bisher noch keine übereinstimmende Position, wie denn die wesentlichen Merkmale einer popliterarischen Ästhetik zu bestimmen seien, geschweige denn, welche Texte aufgrund welcher Kriterien nun genau unter dem Label ‘Popliteratur’ rubriziert werden sollen. Den Versuch, die deutsche ‘Popliteratur’ der 90er insgesamt zu charakterisieren, unternehmen u.a. Thomas Jung (Jung 2002 b: 29-53), der ‘Popliteratur’ unter rezeptions- und produktionsästhetischen Gesichtspunkten als Genre bestimmt, Moritz Baßler (Baßler 2002), der in seiner Studie zum Pop-Roman insbesondere das ästhetisch-thematische Verfahren der kulturellen Archivierung in den Blick nimmt, sowie Georg M. Oswalds, der die neuere deutsche Popliteratur als literarische Strömung kennzeichnet, die “versucht, aktuelle kulturelle Entwicklungen in sich aufzunehmen” (Oswald 2001: 29-43, hier: 43). Ingo Irsigler 106 6 Vgl. Baßler 2002: 80ff. Baßler zielt in seiner Analyse zum Pop-Roman insbesondere auf die vom Film entlehnte Erzählweise des Romans ab. “Das dort angewandte Verfahren ist nun allerdings, zumindest in seiner 90er Jahre Variante, nicht literarischer, sondern filmischer Herkunft” (ebd.: 81). Ob die Adaption filmischer Verfahren als hinreichendes Kriterium ausreicht, um den Roman sinnvoll der Popliteratur zuzuordnen, erscheint insofern fraglich, als filmisches Erzählen bereits in der Literatur der Frühen Moderne als Erzähltechnik verwendet wurde. Beispielhaft sei hierbei an Alfred Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1929) verwiesen. (vgl. Schärf 2001). 7 Vgl. Höfler 2001: 249-267. 8 Andreas Neumeisters Gut laut wurde im Jahre 1998 beim Suhrkamp Verlag erstveröffentlicht (Neumeister 1998). Im Folgenden beziehe ich mich auf die zweite Ausgabe aus dem Jahre 2001, die gegenüber der Erstausgabe nur in einigen wenigen Textpassagen leicht modifiziert wurde (Neumeister 2001). 9 Einen ersten Überblick zur Stiltheorie in der Literaturwissenschaft liefert Johannes Anderegg in seinem Aufsatz Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft (Anderegg 1995: 115-127). 10 Vgl. u.a. die Definition Bernd Spillners, der den Begriff ‘Stil’ als “das Resultat aus der Auswahl des Sprechers/ Schreibers aus den konkurrierenden Möglichkeiten des Sprachsystems und der Rekonstruierung durch den textrezipierenden Hörer/ Leser” definiert (Spillner 1995: 69). Einen Überblick zu den wesentlichen Tendenzen der linguistischen Stilforschung gibt u.a. Barbara Sandig (Sandig 1995: 27-61). 11 Günther A. Höfler folgert daraus, dass “Neumeisters Text […] im Untertitel fälschlich” als Roman bezeichnet werde, da er versuche, “narrative Sequenzen” gerade zu vermeiden (Höfler 2001: 254). 12 Dem Text vor und nachgestellt sind graphische Elemente, die in Form und Gestaltung an eine Kassettenhülle erinnern. Der Prozess des “hometaping[s]” wird im Text dann auch selbstreflexiv thematisiert: “Kassetteninhalt festlegen / Kassettenhüllen entwerfen / Kassettentitel erfinden” (Neumeister 2001: 29). Vgl. außerdem Baßler 2002: 150f. 13 Dies rechtfertigt dann auch entgegen der Argumentation Günther Höflers die Gattungsangabe ‘Roman’ im Untertitel der Erstausgabe, lässt sich aus dem Text doch insgesamt ein subjektiv vermittelter, auf Totalität abzielender Weltentwurf rekonstruieren. 14 Die absenten Bilder und Klänge indizieren ein virtuell erfassbares Ganzes, das im Text lediglich als textuelles Fragment repräsentiert wird. In diesem Verfahren entwickelt der Text insofern eine für Popliteratur charakteristische Zielgruppenspezifik, als diese Textfragmente nur von denjenigen Lesern referentialisiert werden können, die über ein entsprechendes kulturelles Wissen verfügen. 15 Der Erzähler bezeichnet sein Verfahren der Archivierung selbst als “Cultural archeology” (Neumeister 2001: 30). Moritz Baßler stellt dieses Verfahren ins Zentrum seiner Analyse Der deutsche Pop-Roman. Vgl. hierbei insbesondere die Bemerkungen Baßlers zu Neumeisters Gut laut (Basler 2002: 148-151). 16 Der Text inszeniert die bevorstehende Jahrtausendwende als einen historisch-kulturellen Nullpunkt. Gut laut unterscheidet sich hierin signifikant von anderen popliterarischen Erzähltexten der 90er Jahre. Während die Mehrzahl der Texte einen Ist-Zustand beschreiben, der sich als grundlegend statisch erweist, verweist die markante Datumsgrenze 2000 gerade auf eine radikale Transformation des Status Quo im neuen Jahrtausend. 17 Neben der äquivalenten Lautstruktur lässt sich darüber hinaus eine semantische Similarität der Lexeme “tollwütig” und “drogensüchtig” nachweisen, verweisen doch beide auf einen psychischen Kontrollverlust der Person. 18 So lässt sich anhand der Textstelle exemplarisch belegen, dass auch die Spezifik der graphischen Repräsentation des Textes insofern bedeutsam ist, als sie versucht, Eigenschaften eines akustischen “Gegenstandes, sekundär typographisch expressiv” abzubilden (Spillner 1995: 78). 19 Das Konzept der Tonbandaufnahme indiziert insofern eine authentische Sprechsituation, als das Sprechen im Verlauf der Aufnahme als prinzipiell unreflektierter Redefluss der Sprecherinstanz ausgewiesen wird. 20 Das Konzept der “Menschmaschine” referiert auf das Album Die Mensch Maschine (1978) der Deutschrockband Kraftwerk, die ihr künstlerisches Schaffen nach eigenen Angaben in die Tradition des deutschen Futurismus des frühen 20. Jahrhunderts gestellt haben. Als prägender Einfluss für das künstlerische Konzept des Albums ist hierbei Fritz Langs Klassiker M ETROPOLIS (1926) zu nennen, dessen Film titelgebend für einen Song des Albums war. Wurde die ‘Menschmaschine’ in Fritz Langs Film allerdings negativ semantisiert, indem die maschinelle Reproduktion des Menschen für manipulative Zwecke missbraucht worden ist, so wird sie bei Kraftwerk als positiver Fortschritt bewertet: Ziel des Maschinenmenschen ist es, die eigene Person zu doppeln, um die prinzipielle Möglichkeit zu eröffnen, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. So wurde das Album Die Mensch Maschine mithilfe angefertigter Roboter-Doubletten der Künstler an zwei Orten gleichzeitig vorgestellt. Dass sich der Erzähler in Gut laut an diesem Konzept der ‘Menschmaschine’ orientiert, zeigt der explizite “Music makes the world go sound” 107 Verweis auf die Band Kraftwerk (vgl. Neumeister 2001: 135) sowie die spezifische Funktionalisierung des Konzeptes für ein “multiple[s]” Personenkonzept, das auf das “strategische Ausbauen von Persönlichkeitsteilen” abzielt (ebd.: 138). 21 Eckhard Schumacher stellt zu Recht fest, dass es dem Erzähler in Rave nicht darum geht, “den Sound der Musik maßstabsgetreu auf den Text zu übertragen”, sondern dass er vielmehr versuche, sich dem Sound der “Geschichten aus dem Nachtleben” anzunähern, um damit das Erleben unmittelbar darzustellen (Schumacher 2003: 150). 22 Mit der Popband Oasis wird beispielsweise eine elitäre ‘Geschmacksnorm’ gebildet, mittels derer sich der Erzähler vom Konsumverhalten seiner Umwelt abgrenzt. 23 In ähnlicher Weise wie die Texte Stuckrad-Barres verhandeln auch Florian Illies’ Generation Golf oder Alexa Hennig von Langes Relax popkulturelle Diskurse und Themen, transportieren diese jedoch ebenfalls nicht über popspezifische Formen.