Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2
Short Cuts - Great Stories.
61
2007
Martin Nies
Der Artikel analysiert Funktionen fremdmedialer Erzähltechniken in Literatur und Film am Beispiel von Short Cuts – also der alternierenden Montage fragmentierter Erzählsegmente unterschiedlicher Handlungsstränge – einerseits und 'episierendem' Erzählen durch eine extradiegetische Instanz andererseits. In beiden Fällen ist das Problem der Kohärenz und des Sinnzusammenhanges des Erzählten zentral für die Beschaffenheit der textuellen Weltkonstrukte. Ist der Sinnzusammenhang bei der Vermittlung der Geschichte durch eine manifeste Erzählinstanz dem Erzählen inhärent, suggerieren Short Cuts gerade die Negation eines übergeordneten Zusammenhalts. Die vergleichende Analyse von Short-Cuts-Narrationen seit dem 18. Jahrhundert offenbart jedoch subtile Kohärenzstifungsstrategien in den Texten und zeigt, dass ein Stilphänomen im Wandel der Literatur- bzw. Filmsysteme unterschiedliche Bedeutungen transportieren kann.
kod301-20109
Short Cuts - Great Stories Sinnvermittlung in filmischem Erzählen in der Literatur und literarischem Erzählen im Film Martin Nies Der Artikel analysiert Funktionen fremdmedialer Erzähltechniken in Literatur und Film am Beispiel von Short Cuts - also der alternierenden Montage fragmentierter Erzählsegmente unterschiedlicher Handlungsstränge - einerseits und ‘episierendem’ Erzählen durch eine extradiegetische Instanz andererseits. In beiden Fällen ist das Problem der Kohärenz und des Sinnzusammenhanges des Erzählten zentral für die Beschaffenheit der textuellen Weltkonstrukte. Ist der Sinnzusammenhang bei der Vermittlung der Geschichte durch eine manifeste Erzählinstanz dem Erzählen inhärent, suggerieren Short Cuts gerade die Negation eines übergeordneten Zusammenhalts. Die vergleichende Analyse von Short-Cuts-Narrationen seit dem 18. Jahrhundert offenbart jedoch subtile Kohärenzstiftungsstrategien in den Texten und zeigt, dass ein Stilphänomen im Wandel der Literaturbzw. Filmsysteme unterschiedliche Bedeutungen transportieren kann. This article analyses functions of foreign media based narrative techniques in literature and film. Examples of this are on the one hand “short cuts” - this means an alternating montage of fragmented narrative segments of different strands of action - and “epic tales” told by an extradiegetic narrator on the other hand. In both cases the problem of coherence is central to the composition of the textual world. Whereas coherence is inherent in the narration when a manifest narrator tells a story, short cuts suggest the negation of a superordinate coherence. But in fact a comparative analysis of Short-Cuts-stories since the 18th century has shown that there are subtle strategies of bringing about coherence in the texts. Moreover it has become obvious that a style phenomenon can convey different meanings throughout the change of the literature and film systems. Bestimmte Erzählverfahren, die in der Literatur als außergewöhnlich und experimentell erscheinen, können als eher filmtypisch gelten, die narrativen Strukturen einiger Filme referieren dagegen deutlich auf traditionelle literarische bzw. orale Erzählmuster. In beiden Fällen funktionalisiert das jeweilige Medium signifikant Eigenheiten eines fremden Ausgangsmediums, die dort mediale Konstituenten oder konventionalisiert sind und daher als repräsentativ für dieses angesehen werden können, im Zielmedium aber eine zeichenhafte Überstrukturiertheit auf der Ebene des discours bewirken. Sie entsprechen dann nicht mehr einem innerhalb einer gewissen Variationsbreite anzusiedelnden Normalfall der medialen Präsentation einer Geschichte durch den discours, sondern stellen eine fremdreferenzielle Abweichung dar, die die histoire dominiert und zu einem wesentlichen Bedeutungsträger des literarischen bzw. filmischen Textes wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Nies 110 Abgesehen von der Explikation der Besonderheit, des Experimentellen und des Bruchs mit medialen Konventionen, den diese Erzählweisen evozieren, stellt sich die Frage, welche Funktionen sie darüber hinaus im Bedeutungssystem des jeweiligen Textes erfüllen. 1 Die ersten beiden Funktionen lassen sich mit Metafiktionalität und mediale Selbstreflexion bezeichnen: Wenn ein ‘fremder’ Erzählmodus die Geschichte dominiert, wird sie metafiktional gebrochen, verweist selbstreflexiv auf ihre eigene Medialität und ihren Konstruktionscharakter. Eine wesentlichere Funktion dieser Überstrukturierung der histoire durch den discours besteht aber in den darin innewohnenden impliziten Aussagen über ‘Realität’, die ‘Welt’ und über ‘Geschichte’, denn der Modus des jeweils fremden Erzählens bedingt einige fundamentale Voraussetzungen der intratextuellen Realitäts- und Weltkonstrukte. 1. ‘Filmisches’ Erzählen in Literatur und Film: Short Cuts Eine offensichtlich dem Filmischen angenäherte Erzählweise in der Literatur ist die Fragmentierung der Narration durch Short Cuts. Die Bezeichnung dieser spezifischen Art der Strukturierung der histoire durch den discours ist dem programmatischen Titel des gleichnamigen Films von Robert Altman (USA 1993) entlehnt und lässt sich auf die Gesamtheit der literarischen und filmischen Texte übertragen, die sie verwenden. Am Beispiel des Altman-Filmes können aber zunächst einige grundsätzliche Merkmale von Short Cuts skizziert werden. 1.1 Robert Altmans Film S HORT C UTS und Short Cuts im Film Der Film S HORT CUTS kompiliert verschiedene Kurzgeschichten Raymond Carvers als sich parallel nebeneinander entwickelnde Handlungsstränge, die dann sukzessive miteinander verknüpft werden. Es handelt sich also weder um von vornherein eine kohärente Geschichte im Sinne einer Abfolge kausal relationierter Handlungselemente, noch um jeweils in sich abgeschlossene kontinuierlich und sukzessive chronologisch erzählte Handlungseinheiten wie in Episodenfilmen. Während diese in der Regel Variationen über ein Thema (z.B. Taxifahren bei Nacht in Jim Jarmuschs N IGHT ON E ARTH , USA 1991) oder ausgewählte episodische Einblicke in eine kohärente Geschichte darbieten (z.B. einer Person, eines Gegenstandes oder in H OTEL A DLON , Josef von Baky, BRD 1955, beides korreliert als die subjektive Erinnerung eines Ich-Erzählers an bestimmte Ereignisse in der Geschichte des Hotels) fragmentiert die Short-Cuts-Erzählung verschiedene, von einander unabhängige Geschichten bzw. Handlungsstränge in kurze Segmente, die alternierend montiert und an bestimmten Knotenpunkten des Geschehens temporär zusammengeführt werden und sodann weiteres Geschehen kausal motivieren, um eine Handlungskohärenz erst sukzessive entstehen lassen. Die Short-Cuts-Narration kann also nicht von dem erzählten Geschehen unabhängig als reine discours-Strategie betrachtet werden, da sie sich auch durch eine multifokale Geschehenspluralität auf der Ebene der histoire definiert. Damit konstituiert sie von vornherein einen bestimmten Typus von dargestellter Welt: So verweisen die fragmentierten Handlungsstränge prinzipiell auf ein Geschichtsbild, das nicht eine Geschichte präsupponiert, sondern das Nebeneinander vieler individueller Parallelgeschichten. Die Kohärenz einer Gesamthandlung resultiert dann aus Begegnungen der Protagonisten verschiedener Teilerzählungen, d.h. eine gemeinsame Voraussetzung aller Erzählstränge ist ferner eine übergeordnete Kohärenz des Raumes, innerhalb dessen sich die Figuren begegnen können: Das in S HORT C UTS präsentierte Geschehen ist in einem Vorort von Los Angeles situiert und wenn Short Cuts - Great Stories 111 der Abspann die Liste der Darsteller nach der Zugehörigkeit der Figuren zu einem bestimmten Handlungsstrang strukturiert und dieser einen Flurplan des Vorortes unterlegt, suggeriert der Film, dass es ebenso viele parallele Geschichten von den Einwohnern zu erzählen gäbe, wie Grundstücke in der Karte verzeichnet sind. Zu Filmbeginn werden in S HORT C UTS die verschiedenen Stränge und ihr zugehöriges Personal eingeführt, wobei die einzelnen Segmente unter dem gemeinsamen Paradigma ‘Kommen’ und ‘Gehen’ als eine Handlungssequenz inhaltlich zusammengefasst werden können (11: 15). Entsprechend dominieren in der Darstellung Türen, die geöffnet oder geschlossen werden und es finden die ersten Figurenbegegnungen statt. Die Perspektive bleibt hier signifikant auf den Räumen und damit vorausweisend für den Gesamtfilm, bis ein Schnitt einen neuen Raum mit Figuren in einer Ankunfts- oder Absentierungsbewegung präsentiert. Aus derartigen Parallelmontagen unter einem thematischen Paradigma, aus den kausalen Verknüpfungen des Geschehens an bestimmten Knotenpunkten, der grundsätzlichen Raumkohärenz und aus der narrativen Umklammerung der dargestellten Welt auf der Ebene der Ereignisstruktur durch zwei den Gesamtstatus des Raumes und seine Gesellschaft betreffende ‘Naturereignisse’, 2 die in alle Geschichten hineinwirken, ergibt sich wiederum eine übergeordnete Geschichte, nicht der Figuren, sondern des Ortes: (1.) In dem Vorort herrscht eine Ungeziefer-Plage, deren flächendeckende Bekämpfung mit Pestiziden die Bewohner um ihre eigene Vergiftung fürchten lässt. Der Raum ist in der Ausgangssituation also als ein Raum der Heimsuchung und Kontamination durch ‘Schädlinge’ semantisiert, die aber die Normalität der alltäglichen Abläufe nicht beeinträchtigt. Erst die routinierten öffentlichen Gegenmaßnahmen erzeugen eine latente Bedrohung für den gesamten Raum und seine Bewohnbarkeit. Semantisch ist der Raum damit von vornherein als ‘außerhalb der Ordnung geraten’ definiert. (2.) Ein leichtes Erdbeben erschüttert vorübergehend das alltägliche Gleichmaß ohne unmittelbare Schäden zu verursachen. Parallel zu diesem ‘Naturereignis im Zivilisationsraum’ verübt in einem Moment des Kontrollverlustes einer der Protagonisten einen Mord, der unentdeckt und unsanktioniert bleibt, weil man die Tote für das zufällige Opfer eines Erdbebens hält, wie sie in der Region häufig vorkommen und damit dort zum Bereich normaler Erfahrung gehören. Der Mord als das eigentliche Ereignis im Sinne einer hochrangigen Normverletzung wird somit durch die Ordnung des Raumes selbst kaschiert. Diese Ordnung wird allerdings erst aus einer Übersicht über das ganze Geschehen und seine Verknüpfungen sichtbar, über die die implizite Erzählinstanz des Films verfügt, die der Rezipient im Rezeptionsprozess des Filmes sukzessive erlangt und die die Flurkarte des Vorortes im Abspann als abstrakter synchronisierender Plan der gesamten dargestellten Welt semiotisiert. Die Short-Cuts-Erzähltechnik beruht nun ‘formal’ auf zwei wesentlichen Konstituenten der Filmsprache, erstens Schnitt und zweitens Montage, wobei die Fragmentierung des Geschehens und neue Kohärenzstiftung durch die Montage nicht camoufliert ist, um den Erzählakt zu verschleiern, sondern eben als Zeichen und dominantes Strukturprinzip des discours fungiert, das den Erzählvorgang hervorhebt. Daher markieren harte Schnitte in Korrelation mit Raum-, Perspektivwechseln und Wechsel der Handlungsträger deutlich die jeweiligen Segmente. Das heißt, die Short Cuts stellen die Funktionsweise von Film, dessen spezifische Sprache und Syntagmatik zeichenhaft heraus. Als eine filmische Erzählweise - eine Bedeutung tragende Strukturierung und Präsentation von Elementen der histoire auf der Ebene des discours - treten Short Cuts schon 1925 in D IE FREUDLOSE G ASSE (Georg Wilhelm Pabst, D) und 1930 in M ENSCHEN AM S ONNTAG (Robert Siodmak, Billy Wilder, Edgar G. Ulmer, D), als ein international rekurrentes dis- Martin Nies 112 cours-Phänomen aber erst seit den 1990er Jahren auf, z.B. in S MOKE (S MOKE - R AUCHER UNTER SICH , Wayne Wang, USA 1995), S T . P AULI -N ACHT (Sönke Wortmann, D 1999), S ÅNGER FRÅN ANDRA VÅNINGEN (S ONGS FROM THE SECOND F LOOR , Roy Andersson, N/ S/ DK 2000), H UNDSTAGE (Ulrich Seidl, A 2001) und L OVE ACTUALLY (T ATSÄCHLICH …L IEBE , Richard Curtis, GB 2003). Modellbildend hat aber neben Altmans Film vor allem Quentin Tarantinos P ULP F ICTION (USA 1994) gewirkt, der auch die chronologische Abfolge der Segmente auflöst. 1.2 Short Cuts in der Literatur Die Literatur hat dagegen seit der Frühen Moderne immer wieder mit Short Cuts experimentiert; hinlänglich bekannte Beispiele sind Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925), Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Vicky Baums Menschen im Hotel (beide 1929), Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951) und Der Tod in Rom (1954) sowie Alfred Anderschs Die Rote (1960). Ein Beispiel aus der skandinavischen Literatur stellt Edvard Hoems Kjærleikens ferjereiser (1975, dt. Fährfahrten der Liebe) dar, eines aus der deutschen Popliteratur der neunziger Jahre Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997). Zwar ist die Erzähltechnik in diesen literarischen Texten offenbar vom Filmischen beeinflusst und referiert vor allem auf dieses Medium, dennoch treten Short Cuts keineswegs erst mit der Erfindung der Filmmontage in die Literatur ein. Es handelt sich also dabei zwar nicht um eine genuin filmische Erzählweise, aber doch um eine, die nach der Entstehung des Mediums die konstitutiven Merkmale der Filmsprache semiotisiert und funktionalisiert. Eine vorfilmische Funktionalisierung der Montage kurzer Szenen, die unterschiedliche Handlungen verschiedener Protagonisten zum Gegenstand haben, findet sich etwa in der gattungsselbstreferenziellen Komödie Die Soldaten (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz. 3 Das Drama weist zwei differente Handlungsstränge auf, denen jeweils auch nach ihrem Stand unterschiedenes Personal zugeordnet ist, die unterschiedlich lokalisiert, in kurze einzelne Szenen fragmentiert und alternierend montiert sind. Die Handlung motiviert sich aus genau den Szenen, in denen Grenzüberschreitungen von Figuren in den jeweils anderen Strang und somit zwischen den Ständen stattfinden. Einige Szenen des vierten Aktes, die in verschiedenen Räumen spielen und daher einen jeweils neuen Bühnenaufbau erfordern, sind so kurz, dass sie den Anweisungen entsprechend zeitgenössisch kaum realisierbar waren und noch bei den Möglichkeiten gegenwärtiger Bühnentechnik in der Inszenierung einigen Aufwand erfordern: Vierte Szene In Armentieres. Desportes (im Prison, hastig auf- und abgehend, einen Brief in der Hand). Wenn sie mir hierher kommt, ist mein ganzes Glück verdorben - zu Schand und Spott bei allen Kameraden. (Setzt sich und schreibt.) - Mein Vater darf sie auch nicht sehen - Fünfte Szene In Lille. Weseners Haus. Der alte Wesener. Ein Bedienter der Gräfin. Wesener. Marie fortgelaufen -! Ich bin des Todes. (Läuft heraus. Der Bediente folgt ihm.) Short Cuts - Great Stories 113 Sechste Szene Marys Wohnung. Mary. Stolzius, der ganz bleich und verwildert dasteht. Mary. So laßt uns ihr nachsetzen zum tausend Element. Ich bin schuld an allem. Gleich lauf hin und bring Pferde her. Stolzius. Wenn man nur wissen könnte, wohin - Mary. Nach Armentieres. Wo kann sie anders hin sein. (Beide ab.) Siebente Szene Weseners Haus. Frau Wesener und Charlotte in Kappen. Wesener kommt wieder. Wesener. Es ist alles umsonst. Sie ist nirgends ausfindig zu machen. (Schlägt in die Hände.) Gott! - wer weiß, wo sie sich ertränkt hat! Charlotte. Wer weiß aber noch, Papa - Wesener. Nichts. Die Boten der Gräfin sind wiedergekommen, und es ist noch keine halbe Stunde, daß man sie vermißt hat. Zu jedem Tor ist einer herausgeritten, und sie kann doch nicht aus der Welt sein in so kurzer Zeit. Achte Szene In Philippeville. Desportes’ Jäger (einen Brief von seinem Herrn in der Hand). Oh! da kommt mir ja ein schönes Stück Wildpret recht ins Garn hereingelaufen. sie hat meinem Herrn geschrieben, sie würde grad’ nach Philippeville zu ihm kommen, (sieht in den Brief) zu Fuß - o, das arme Kind - ich will dich erfrischen. (Lenz 1993: 46ff.) Hier ist die Raumkohärenz in der jeweiligen Szene noch gewahrt, die Bühnenanweisung der ersten Szene des dritten Aktes verlangt jedoch sogar einen vollständigen Wechsel des Schauplatzes von einem Außenin einen Innenraum innerhalb der Szene: “Der Schauplatz [draußen vor “des Juden Haus”, M.N.] verwandelt sich in das Zimmer des Juden” (Lenz 1993: 27), d.h. es ist an dieser Stelle kein Vorhang mit Pause für einen Bühnenumbau vorgesehen, sondern dieser hätte in der Inszenierung coram publico zu erfolgen und würde damit die mimetische Illusion destruieren und die Theatralität des präsentierten Geschehens offenbaren. Die Funktion dieser Szenen bei Lenz besteht demnach in der Abweichung und zwar als einem signifikanten Bruch mit der aristotelischen Normpoetik. 4 Um das Postulat der Einheit des Ortes zu desavouieren, löst der Text die Einheit der Handlung in verschiedene Stränge auf und markiert in der ersten Szene des dritten Aktes in einer Mise en abyme die Auflösung statischer Raumkohärenz. ‘Short Cuts’ werden also schon in diesem frühen literarischen Beispiel als ein radikaler Bruch mit den Regeln des eigenen Mediums, der in der eigentlichen Unaufführbarkeit des Dramas deutlich akzentuiert ist, funktionalisiert und stellen damit in besonderer Weise die Literarizität des Textes heraus. So wird die aristotelische Mimesis-Konzeption von einem Stück auf der Ebene des discours unterlaufen, das auf der Ebene der histoire eine wirklichkeitsbezogene Zurschaustellung sozialer Missstände zum Gegenstand hat und damit gerade in hohem Maße realitätskompatibel sein will. Die Differenzierung zweier Handlungsstränge ist allerdings Teil dieses Realitätsentwurfes, denn sie manifestiert intratextuell das ständische Weltmodell. Wenn die dargestellten sozialen Missstände aus den Begegnungen von Figuren, die ihrem Stand entsprechend den unterschied- Martin Nies 114 lichen Strängen angehören, resultieren, wird deutlich, dass die Separation auf der Ebene des discours noch mehr ist als ein darstellerisches Mittel mit dem Zweck, mediale Konventionen zu brechen. Sie repräsentiert die Ordnung der Gesellschaft insgesamt als eine statische, in der Grenzüberschreitungen zwischen den Handlungssträngen und damit zwischen den Ständen als eine Bedrohung der Weltordnung semantisiert sind. Die Short Cuts konsolidieren durch die offensichtliche Fragmentierung des unterschiedlichen Geschehens dieses Weltmodell zusätzlich, denn hier wird die Separation in differente Handlungseinheiten als zentrales Strukturmerkmal evident. Der von ihnen erzeugte Bruch mit den Normen zeitgenössischer Dramen lässt sich dagegen nicht auf die Haltung des Textes gegenüber der präsentierten Weltordnung übertragen: Er ist lediglich gattungsbezogen. Das vorfilmische Beispiel des Lenz-Textes macht aber deutlich, dass die Präsentation eines erzählten Geschehens in Short Cuts überhaupt nur medienspezifisch als Bruch interpretiert werden kann, denn z.B. eine filmische Inszenierung der bei einer Bühnenpräsentation so außergewöhnlich erscheinenden zitierten Szenen, wäre dort konventionell und unauffällig, d.h. die poetologische Komponente in der Semantik des Textes könnte der Film nur in einem Aufführungsmitschnitt semiotisieren, der die räumlichen Gesetzmäßigkeiten der Bühne mit thematisiert. 1.3 ‘Formale’ und ‘inhaltliche’ Konstituierung der Segmente Als eine discours-Technik beruhen die Short Cuts mit Schnitt und Montage wesentlich auf syntaktischen Prinzipien der Bedeutungskonstituierung. Die Segmentation der einzelnen Handlungsstränge in Teil-Einheiten geht mit der Kombination von Einheiten anderer Handlungsstränge einher, wobei die Übergänge unterschiedlich gestaltet sein können. Insbesondere in Koeppens Der Tod in Rom und Hoems Kjærleikens ferjereiser lassen sich verschiedene Typen unterscheiden, die deutlich die filmischen Repertoires zitieren. So finden sich harte Schnitte, formal markiert durch Absätze sowie durch das vorhergehende Segment abschließende Satzzeichen. Eine auffälligere Erscheinung sind weiche Schnitte, markiert durch einen Zeilensprung, aber ohne trennendes Satzzeichen: Machtlos war er [Judejahn, M.N.] gegen den Trieb, aber mächtig trieb es ihn zu den Mächtigen, denen er dienen wollte, um im Haus der Macht zu sitzen, teilzuhaben an der Macht und selber mächtig zu werden zufrieden schlummerte Friedrich Wilhelm Pfaffrath mit seiner Frau Anna auf der Reise noch einmal im Ehebett, wenn auch nicht in Umarmung vereint. (Koeppen 1975: 87) Außerdem weist der Koeppen-Text Übergänge auf, die wie filmische Überblendungen funktionieren, z.B. dann, wenn der Beginn eines neuen Segments Wortmaterial des vorausgehenden aufgreift: […] aber sie [Eva, M.N.] schlief fest, traumlos, törichten offenen Mundes, ein wenig röchelnd, ein wenig nach der Haut der aufgekochten Milch riechend, die schlafende zürnende Norne nächtlichen Nachdenkens nächtlichem Nachdenken anheimgegeben, nur von seinem Schnarchen bewegt, schlief Dietrich Wilhelm Pfaffrath im weicheren Bett des Hotels. (Koeppen 1975: 86) Inhaltlich konstitutiv für das von den ‘Schnitten’ begrenzte Segment ist, dass darin jeweils nur eine bestimmte Figur als Reflektorfigur fungiert. Allerdings finden sich auch Fokussierungen einer Figur, die die Grenze zwischen zwei Segmenten überschreiten und auf diese Weise eine Wahrnehmungskontinuität erzeugen. Dies betrifft aber nur die Figur des Sieg- Short Cuts - Great Stories 115 fried, die ohnehin eine Sonderstellung im Text einnimmt, denn während die Erzählinstanz insgesamt zu personalem Erzählen tendiert, tritt Siegfried in einigen Segmenten als Ich- Erzähler hervor. Das folgende Zitat macht deutlich, dass hier der weiche Schnitt einen Wechsel der Erzählinstanz signalisiert, nicht aber der fokussierten Figur und des Bewusstseins, durch das die dargestellte Welt wahrgenommen wird: Er [Siegfried, M.N.] möchte nicht sterben. Er möchte nicht zu Hause sterben. Möchte er hier begraben werden? Am Brunnen steht sein Hotel. Schmal und schief spiegelt sich die alte Fassade im Wasser. Siegfried tritt ein. Er geht durch den Windfang. Allein der alte Mann hinter dem Windfang fror. Er fror an seinem Pult vor dem Schlüsselbrett im zugigen Treppenhaus […] Manchmal unterhielten wir uns, und jetzt als ich heimkam, empfing er mich eifrig. (Koeppen 1975: 62) Erst nach einigen Zeilen der Beschreibung des alten Mannes wird deutlich, dass Siegfried hier nicht nur Wahrnehmungsinstanz, sondern auch der Sprecher ist. Von diesem besonderen Fall, dessen Funktion unten noch zu erläutern ist, abgesehen, gilt aber, dass jeder Schnitt einen Perspektiv- und Fokuswechsel einleitet, so dass die Short Cuts in der Regel mit multiperspektivischer Wahrnehmung von Geschehen und Raum einhergehen. Die einzelnen Segmente stellen demnach perspektivisch und inhaltlich an je verschiedene Handlungsträger gebundene Geschehenseinheiten dar. Diese können von unterschiedlicher Dauer sein, sich ganz oder teilweise zeitlich parallel, temporal diskontinuierlich oder achronologisch zu einander verhalten und können potenziell mehrere Binnensegmente umfassen. Die Unterscheidung der Short Cuts im Sinne von Syntagmen der Narration beruht also zuerst auf einem Kriterium der Einheit des je dargestellten Gegenstandes bzw. Perspektivträgers und damit der histoire. Sie entsprechen nicht per se filmsyntaktischen Einheiten auf der discours-Ebene wie ‘Einstellung’, ‘Szene’ und ‘Sequenz’, können aber durch diese grammatisch realisiert sein. Es ließe sich eine detaillierte Analyse der Zitation filmischer Syntax in literarischen Short-Cuts-Narrationen etwa nach der Systematisierung und Präzisierung der “Großen Syntagmatik” von Metz (1972) durch Möller-Naß (1986) anschließen, mittels derer die Binnensegmente und die Montagearten klassifiziert werden könnten, hier soll der Hinweis genügen, dass die übergeordneten Short-Cuts-Einheiten weder mit dem dort definierten alternierten noch dem deskriptiven Syntagma hinreichend bezeichnet werden können, obwohl die Segmente wie im ersten Fall alternieren und wie im zweiten Fall eine Raumkohärenz etablieren. Bei einem alternierten Syntagma wechseln sich zwar wie in der filmischen Verfolgungsjagd Schauplätze und Personen der Erzählung ab, aber diese stehen in einem kausal-logischem Zusammenhang, was bei den Short Cuts gerade nicht der Fall ist - zumindest bis zu dem Zeitpunkt der Vernetzung der Handlungsstränge. Innerhalb des deskriptiven Syntagmas sind die einzelnen ‘Szenen’ beliebig austauschbar, die Short Cuts dagegen sind narrativ und erfordern auch inhärent Sukzession. Mittels der Multiperspektivität erzielt die Short-Cuts-Narration keineswegs ein beliebiges Nebeneinander lediglich fragmentierter und alternierend angeordneter Episoden. Im Gegenteil lenkt dieses Erzählkonstrukt nur die Aufmerksamkeit auf eine höhere Ebene, die sich aus der Syntagmatik der einzelnen Segmente ergibt, denn die Montage kann als Verfahren der Kombination autonomer paradigmatischer Einstellungen zusätzliche Bedeutungen generieren, indem z.B. kausale, assoziative, Kontinuitäts-Zusammenhänge usw. zwischen den einzelnen Segmenten hergestellt werden. Weitere Möglichkeiten der Kohärenzstiftung und deren Konsequenzen für die Weltmodelle der Texte lassen sich in einem intermedialen Vergleich systematisieren. Martin Nies 116 1.4 Implizites Weltmodell Die Wahl von Short Cuts für die narrative Präsentation des Geschehens in der dargestellten Welt ist Teil des Weltentwurfes eines filmischen oder literarischen Textes. Durch die Fragmentierung und alternierende Parallelmontage von Geschehenseinheiten etabliert der Text eine Erzählhaltung, die wesentliche Aussagen über die Welt und über Geschichte impliziert. Diese sind jedoch ambivalent: Einerseits bezeichnet Fragmentierung eine Brechung von Einheit, Kontinuität und Zusammenhang. In der Kombination mit multiperspektivischem Erzählen ergibt sich so ein postmodernistisches Geschichtsbild von nicht einer Menschheitsgeschichte, sondern von der Parallelität einer Vielzahl gleichzeitiger differenter Geschichten, die entweder völlig unterschiedliche Ereignisse in den Mittelpunkt stellen oder auf unterschiedlichen subjektivierten Perspektiven ein- und desselben Ereignisses beruhen, das dann etwa in jeweils anderen subjektiven Zusammenhängen verschiedene Relevanz und Bedeutung hat. Diese Kompatibilität mit postmodernistischen Weltmodellen mag auch der Grund für die häufige Aktualisierung von Short-Cuts-Narrationen im internationalen Film seit 1990 sein. 5 Andererseits lassen sich die fragmentierten Geschehenssegmente den einzelnen Handlungssträngen zuordnen, in denen wenigstens die jeweiligen Figuren, die als Handlungsund/ oder Perspektivträger fungieren, einen Zusammenhang stiften. Selbst wenn wie im Fall von P ULP F ICTION die logisch-chronologische Ereignisfolge durch den discours umgestellt ist, sind die verschiedenen Geschichten und ihre Zusammenhänge in diesem Sinne handlungslogisch rekonstruierbar. Dennoch bedeuten Short Cuts mehr als ein postmodernistisch doppelbödiges Spiel mit der Erzählweise, indem sie neue Kohärenzen auf anderen Ebenen und übergeordnete Zusammenhänge konstruieren. Hierin manifestiert sich nun ein Widerspruch zu postmodernistischer Ästhetik, weil den Segmenten damit - wenn schon kein metaphysischer - so doch ein übergeordneter gemeinsamer Sinn eingeschrieben wird. So unterscheidet Petersen modernistische von postmodernistischen Texten gerade durch die Tendenz der ersteren, “heterogenisierenden Verfahren stets solche der formalen Reintegration und Homogenisierung” entgegen zu stellen (2003: 301). 6 Exemplarisch verhandelt wird diese Ambivalenz der Erzähltechnik in Koeppens Romantitel Tauben im Gras und dessen textinhärenter Interpretation durch eine der Figuren: Wie Tauben im Gras, sagte Edwin, die Stein zitierend, und so war doch etwas von ihr Geschriebenes bei ihm haftengeblieben, doch dachte er weniger an Tauben im Gras als an Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, wie Tauben im Gras betrachteten gewisse Zivilisationsgeister die Menschen, indem sie sich bemühten, das Sinnlose und scheinbar Zufällige der menschlichen Existenz bloßzustellen, den Menschen frei von Gott zu schildern, um ihn dann frei im Nichts flattern zu lassen, sinnlos, wertlos, frei und von den Schlingen bedroht, dem Metzger preisgegeben, aber stolz auf die eingebildete, zu nichts als Elend führende Freiheit von Gott und göttlicher Herkunft. Und dabei, sagte Edwin, kenne doch schon jede Taube ihren Schlag und sei jeder Vogel in Gottes Hand. Die Priester spitzten die Ohren. Bearbeitete Edwin ihren Acker? War er nichts als ein Laienprediger? (Koeppen 1980: 198) Einerseits lässt sich der Titel Tauben im Gras als existenzialistisch ideologisierte Metaphorisierung der im Text dargestellten Figuren deuten und die Wahl der Short-Cuts-Technik in Korrelation mit Multiperspektivität unterstützt die Vorstellung von den Menschen als mit eingeschränkter Sichtweise herumirrenden “Tauben”, die wechselnd in den Blick genommen werden und sich hier und dort zufällig begegnen, aber wie sinnlos ‘in die Welt geworfen’ erscheinen. Die Auslegung dieser Metapher liegt hier bei einer Figur des Textes, die zum Short Cuts - Great Stories 117 einen deren existenzialistischen Bedeutungsgehalt relativiert, indem sie als Bemühung “gewisse[r] Zivilisationsgeister” ausgewiesen und zugleich durch die Assoziation der wimmelnden Taubenplage Venedigs profaniert wird. Entscheidender aber ist der Umgang des Textes mit der Entgegnung des Interpreten, dass letztlich “Gottes Hand” die Geschicke lenke, scheinbarer Sinnlosigkeit und Zufälligkeit also dennoch ein verborgener metaphysischer Sinn zu Grunde liegt. Denn die anschließende Fokussierung der Priester, deren Deklassierung des Sprechers als “Laienprediger” sowie ein unmittelbar anschließender Vergleich mit einer nationalsozialistischen Rede durch eine andere Figur relativieren wiederum die Gültigkeit von Edwins Aussagen. Die syntagmatische Kontrastierung unterschiedlicher Figurenperspektiven und -meinungen lässt die Frage nach Sinn oder Zufälligkeit von Dasein und Geschichte weiterhin unbeantwortet, aber implizit setzt der Text das entscheidende Zeichen durch den Titel, der jenseits textinhärenter perspektivierter Auslegungen dominant eine Rezeption des Erzählten im Sinne der ursprünglichen Aussage Gertrude Steins nahe legt. Andererseits ist Edwins Rede der Anlass, bei dem fast alle Figuren zusammenfinden, sich die Wege zumindest temporär kreuzen und damit ein Zentrum konstituieren. Stellen aber Redeinhalt und die unterschiedlichen Figurenmeinungen darüber auch das ‘Sinnzentrum’ des Textes dar, so signalisiert dies nur, dass die Unentschiedenheit in der Sinnfrage den Kern der Bedeutung und das zentrale Problem darstellt. Dennoch konstruiert der Text in der Erzählhaltung eine quasi-göttliche Perspektive, die das “Gras” zu überblicken vermag und beansprucht in dem Titel “Tauben im Gras” eine existenzialistische Deutungshoheit für die dargestellte Welt und die Figuren. Für das Weltmodell des jeweiligen Textes ist es demnach von entscheidender Bedeutung, ob und wie er die Fragmentierung durch Short Cuts auf einer höheren Ebene des discours oder im erzählten Geschehen relativiert bzw. auflöst. Die potenziellen Varianten von Kohärenzstiftung sind allerdings nicht spezifisch für die Short-Cuts-Erzählung; sie finden sich auch in episodischem Erzählen, das sukzessive aufeinander folgende und in sich abgeschlossene Handlungseinheiten präsentiert, wie sich an einigen filmischen Beispielen illustrieren lässt: Bereits erwähnt wurden N IGHT ON E ARTH und H OTEL A DLON . Ersterer führt Variationen über ein gemeinsames Thema vor, wobei der Film das Geschehen, das an verschiedenen Orten lokalisiert ist, zusätzlich in einen temporalen Kontext stellt, während zweiterer die Episoden unter der ‘Sichtweise’ einer sich erinnernden Ich-Erzählerfigur, worin die Geschichte des Ortes bis zu seiner Zerstörung im Krieg mit der persönlichen Geschichte des Erzählers verwoben sind, subsumiert. In C AT ’ S E YE (K ATZEN -A UGE , Lewis Teague, USA 1985) verbinden sich die einzelnen, thematisch unterschiedlichen Geschichten durch eine identische Wahrnehmungsinstanz - eine Katze fungiert hier als Perspektivträger. I N JENEN T AGEN (Helmut Käutner, BRD 1947), T HE Y ELLOW R OLLS R OYCE (D ER GELBE R OLLS R OYCE , Anthony Asquith, GB 1964), L E FAVORIS DE LA LUNE (D IE G ÜNSTLINGE DES M ON - DES , Otar Iosseliani, F/ I 1984) oder D E JURK (D AS GEHEIMNISVOLLE K LEID , Alex van Warmerdam, NL 1996) erzählen dagegen die Geschichte einer Sache und ihrer wechselnden Besitzer, wobei der Besitz des Objektes jeweils mit entscheidenden Transformationen im Leben der Protagonisten in einem Zusammenhang steht. Die Texte, die ihre Geschichten durch Short Cuts vermitteln, funktionalisieren die gleichen Kohärenz stiftenden Mittel wie episodische Texte, um letztlich einen Zusammenhang des Erzählten zu reetablieren: eine übergeordnete Erzähl- oder Wahrnehmungsinstanz auf der discours-Ebene, ein in mehreren Episoden oder Handlungssträngen auftretendes Objekt oder eine Figur der dargestellten Welt auf der Ebene der histoire, die Fokussierung auf einen Raum, auf einen bestimmten Zeitabschnitt an einem Ort, oder etwa die alternieren- Martin Nies 118 de Präsentation zeitlich paralleler Ereignisse an verschiedenen Orten. Im Unterschied zu diesen ist aber wie schon in den Beispielen Die Soldaten und Tauben im Gras in allen berücksichtigten filmischen und literarischen Short-Cuts-Erzählungen die Begegnung einzelner Protagonisten aus den verschiedenen Handlungssträngen als Mittel der Kohärenzstiftung rekurrent. Am Beispiel der Reihe L ADYLAND (D 2006), die typische Muster episodischen Erzählens in das Format der TV-Comedy überträgt, lässt sich der Unterschied zwischen den episodischen und Short-Cuts-Erzählformen hinsichtlich der Kohärenz der einzelnen Segmente durch Begegnungen verschiedener Handlungsträger extrapolieren. Präsentiert werden einzelne, in sich abgeschlossene Geschichten über verschiedene Frauenfiguren, allesamt dargestellt von Anke Engelke, die außerdem extradiegetisch als wertende und kommentierende Rahmenerzählerin fungiert und sich direkt an die Zuschauer wendet. Eine Kohärenz der Episoden ergibt sich abgesehen von der Präsentation durch die übergeordnete Erzählinstanz und die Identität der Darstellerin auch in zweierlei Hinsicht durch den Raum: Zum einen tragen sich alle Geschichten in einer durch den Titel der Reihe als “Ladyland” definierten dargestellten Welt zu, d.h. expliziter Gegenstand der Darstellung sind Frauen, und - so impliziert der Titel - ihre spezifische Welt und Weltsicht. Zweitens fungieren in der ersten Folge ein Hotel, in der zweiten eine Tankstelle als räumlicher Rahmen, von dem aus alle Episoden ihren Ausgang nehmen. 7 Diese sind wiederum als Räume des Alltags konzipiert und analog zu S HORT C UTS verdeutlicht diesmal in der Anfangssequenz die Vergrößerung eines räumlichen Details aus einer Übersicht heraus (die Kamera zoomt wie in dem Wissenschaftsfilm P OWERS OF T EN (H OCH Z EHN , Charles & Ray Eames, USA 1977) in rasantem Tempo aus dem Weltall auf die Erde, auf eine Stadt und den in der jeweiligen Folge fokussierten Raum) die Beliebigkeit der Auswahl (suggeriert wird eine Autofokussierung durch einen Satelliten, wobei die über allem stehende und dessen Metaperspektive teilende Erzählinstanz die Zufälligkeit der in den Fokus geratenen Objekte explizit hervorhebt). Entscheidend ist, dass Engelkes Figuren an den narrativen Gelenkstellen zwischen den Episoden auf der discours-Ebene sich in der Hotellobby bzw. dem Tankstellenshop zwar begegnen, aber nicht interagieren; es handelt sich also nicht um Knotenpunkte des Geschehens. Vielmehr passieren die Handlungsträger einander und werden dann von der Erzählinstanz einzeln fokussiert bis deren ‘Geschichte’, die in der Regel einen Erkenntnisund/ oder Transformationsprozess der Figuren zum Gegenstand hat, abgeschlossen ist. Gegen Ende der Folge führt die Erzählerin mit dem Kommentar, “Denken sie daran: Das Ende einer Geschichte ist der Anfang einer neuen”, dann aber ein Alternativgeschehen vor, das zeigt, was sich hätte ereignen können, wenn die Handlungsstränge der Figuren sich gekreuzt hätten und wie sich aus derartigen Knotenpunkten des Geschehens ein fatales, für die Figuren tödliches ‘Gesamtgeschehen’ entwickelt hätte (Folge 1) bzw. der weitere Geschehensverlauf signifikant nun als offen präsentiert wird (Folge 2). In diesen Fällen beginnt eine andere, eine neue gemeinsame Geschichte der Akteure. Wenn nun die Short-Cuts-Erzählung zunächst nebeneinander agierende Figuren an bestimmten Knotenpunkten oder Kreuzungen aufeinander treffen, interagieren lässt und sich daraus das gesamte weitere Geschehen motiviert, dann wird vormals Getrenntes zusammengeführt und die Lebensläufe verbinden sich temporär, so dass sich aus einer übergeordneten Perspektive eine Vernetzung der separaten Einheiten ergibt: Erklärtes Ziel dieser Montage ist eine filmische Multiperspektivität, die sich bemüht paralleles und synchrones Geschehen auf verschiedene, mit bestimmten Akteuren besetzte Erzählstränge zu verteilen, die sich einem Liniennetz vergleichbar, gelegentlich treffen und sich teilweise überschneiden und überlagern, - eine zeitweise Kongruenz -, sich dann wieder verlieren und Short Cuts - Great Stories 119 voneinander entfernen, aber stets in einem virtuos aufgebauten und inszenierten erzähltechnischen Koordinatensystem verbleiben, also kein unkontrolliertes Eigenleben führen, und so zu einer einzigartigen poetischen Textur verwoben werden. (Buchholz 1982: 159) Was Buchholz in Bezug auf Tauben im Gras und Tod in Rom Wesentliches bemerkt, ist eine verallgemeinerbare Tendenz der Short-Cuts-Narrationen zu eben dieser Zusammenführung der Figuren in einem Modell der zufälligen Begegnung, 8 aus dem sich in der Vernetzung sukzessive eine Geschichte im Sinne einer rekonstruierbaren chronologisch-logischen Folge von Ereignissen ergibt. Diese Begegnungen bzw. Vernetzungen können allerdings durch die Texte unterschiedlich bewertet sein. Bei Lenz erhalten sie den Status illegitimer, normverletzender Grenzüberschreitungen, die die Ordnung der dargestellten Welt bedrohen und durch das Geschehen narrativ sanktioniert werden, wenn die Mesalliance zum Tod des adligen Verführers und zum Fall der Bürgerlichen zur Soldatenhure in den Augen der Öffentlichkeit führt. Auch die Filme S HORT C UTS , P ULP F ICTION , S T . P AULI -N ACHT und H UNDSTAGE sowie die erste Folge von L ADYLAND lassen aus den Begegnungen der Figuren unterschiedlicher Handlungsstränge vorwiegend Tod und Verderben resultieren, während L OVE A CTUALLY die fragmentierte Welt in einem unten noch zu beschreibenden Gegenmodell synthetisiert. 1.5 Raumkohärenz und -konzeption Eine weitgehende Raumkohärenz auf der Ebene der histoire ist eine Voraussetzung des Begegnungsmodells. Nur indem sich die Figuren in einem Raum begegnen können, können die verschiedenen Stränge an bestimmten Punkten miteinander verknüpft werden. Häufig sind die Raumkonzeptionen in den Texten statisch, d.h. der Raum bleibt im Unterschied zu den sich entwickelnden Figuren auffällig konstant; Metaereignisse, bei denen sich die Ordnung des Raumes selbst ändert, kommen in den Beispieltexten nicht vor. Auch wenn sich der Schauplatz in Die Soldaten wandelt, ist die Ordnung der dargestellten Welt davon unberührt. In Koeppens Tauben im Gras wird die Stadt als Teil eines sich im Prozess der Veränderung befindlichen Deutschland “an der Nahtstelle, an der Bruchstelle” beschrieben (Koeppen 1980: 210), aber das Geschehen ist in einer Situation vorübergehender Konstanz situiert, die Anfang und Ende des Textes umklammernd als eine “Atempause auf einem Schlachtfeld” (ebd.: 9) und “Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld” (ebd.: 210) bezeichnet ist. Die Nachkriegsgegenwart ist also lediglich als ein Zwischenzustand in einem noch immer im Krieg befindlichen Land semantisiert. In der Semantisierung Roms in Der Tod in Rom sind zwar die historischen Bezüge zentral, doch die Einleitungen zu den beiden Kapiteln des Textes verdeutlichen, dass, wenn auch die Glaubenssysteme und Vorstellungen von der Welt dem Wandel unterliegen (antike Mythologie vs. Christentum vs. neues Heidentum), davon unberührt immer noch dieselbe Sonne über der ewigen Stadt leuchtet (vgl. Koeppen 1975: 91). D.h., dass ‘aus höherer Warte’ der fundamentale Wechsel philosophisch-religiöser Denksysteme in der Welt keine Bedeutung hat, zumal das die erzählte Gegenwart bestimmende vergangene NS-Regime und der Krieg deren Relevanz grundsätzlich in Frage stellen. Auch in Altmans S HORT C UTS ist die in der Ausgangssituation des Geschehens herrschende Plage in der Endsituation nicht getilgt und das Erdbeben bleibt letztlich folgenlos, denn das Opfer ist diesem nur irrtümlich zugeschrieben. Veränderungen vollziehen sich also Martin Nies 120 nur an den Figuren und diese stehen oftmals in direktem Zusammenhang mit ihrem Verhältnis zum Raum: Die Zugehörigkeit einer Figur zu einem Raum, der Neueintritt in den Raum, das Verbleiben darin, das Verlassen oder die Tilgung aus dem Raum, die Raumerfahrung der Protagonisten sowie die Bewegungen der Figuren durch den Raum hindurch und ihre Begegnungen sind die Paradigmen, innerhalb derer Handlung sich semantisch konstituiert. Der Handlungsraum ist signifikant entweder einer, der sich durch Gewöhnlich- und Alltäglichkeit (die Fähr-Orte in Manhattan Transfer und Fährfahrten der Liebe sowie das Hotel in Menschen im Hotel als Durchgangsräume und Räume temporärer Begegnungen, der Vorort in S HORT C UTS als ‘Schlafstadt’) oder durch seine Besonderheit bzw. Außerordentlichkeit auszeichnet (Rom als caput mundi und Stadt vergangener europäischer Kultur in Der Tod in Rom, Venedig in Ein paar Leute suchen das Glück). Im ersten Fall semantisiert der Raum ereignislose Normalität und Durchschnittlichkeit, die durch zufällige Figuren- und Geschehenskonstellationen vorübergehend - denn die Ordnung ändert sich eben nicht grundsätzlich - ereignishaft gestört wird, im zweiten Fall ist die Besonderheit der Handlungsräume in Weltkonstrukten funktionalisiert, die ‘Normalität’ als ein grundsätzliches Problem darstellen (die sinnentleerten Welten der Nachkriegszeit bzw. der entideologisierten Gesellschaft der Nachwendezeit): Rom etwa fungiert hier als Repräsentanz der Welt, Venedig dagegen als Kontrapunkt der Welt. Alfred Anderschs Die Rote funktionalisiert in der Erstfassung von 1960 beide konkurrierenden Raumkonzeptionen. Der Text expliziert die Opposition von einerseits einem außerordentlichen Kunst-Raum ‘Venedig’ und andererseits einem Raum der Normalität und der Arbeit ‘Maestre’. Die Abwendung der Protagonistin von Venedig hin zu dessen der Welt zugewandtem industriellen Vorraum markiert ihre Entscheidung für ein ‘realistisches’ Lebensmodell. Dass diese Raumsemantik zentral für die Textbedeutung ist, wird deutlich, wenn Andersch in der Neufassung von 1972 eben das letzte Kapitel mit der Ansiedelung und Arbeitsaufnahme der Protagonistin in Maestre tilgt und den Text stattdessen mit einem Segment über den Fischer Pierro draußen auf der Lagune ‘offen’ abschließt. 1.6 Kohärenzstiftung durch die Erzählinstanz Die mit den Short Cuts korrelierte Multiperspektivität subjektiviert zunächst das Erzählte auf der Figurenebene. Andererseits experimentieren Tauben im Gras, Der Tod in Rom, Fährfahrten der Liebe und Ein paar Leute suchen das Glück aber nicht nur mit dem Wechsel von Figurenperspektiven, sondern auch mit den Erzählinstanzen, und es fragt sich in diesen Fällen, ob nicht doch ein übergeordneter Sprecher des Gesamttextes sich manifestiert, der aus den Fragmenten subjektiver Welterfahrung eine kohärente Geschichte konstruiert und damit auch der vermeintlichen Zufälligkeit der Begegnungen von Figuren einen Sinn einschreibt - ein Sprecher also, dem die Diegese als Produkt eines bedeutungstragenden Äußerungsaktes zugeschrieben werden muss, nicht eine Instanz wie etwa das literaturwissenschaftliche Hilfskonstrukt des ‘impliziten Autors’, der durch das Arrangement des Gesamttextes immer Sinn und Kohärenz produziert, auch wenn dieses das Fehlen von Sinn und Zusammenhang bedeutet. Für Tod in Rom ist schon früher Siegfried auch als Erzähler des Gesamttextes konstatiert worden, 9 da die personalen und die Ich-Erzählsegmente ähnliche stilistische Merkmale im Sprachmaterial aufweisen und auch in den personal erzählten Segmenten unterschwellige Wertungen der fokussierten Figuren transportiert werden, die denen Siegfrieds entsprechen Short Cuts - Great Stories 121 könnten. Außerdem ließe sich die folgende Stelle, die sich auf die Engel der Engelsbrücke bezieht, als Selbstoffenbarung eines Autor-Ichs lesen, dessen Fantasie das Erzählte kreiert: “Ich war es, der den Himmel mit Engeln und Göttern bevölkerte; der Himmel war von Engeln und Göttern freundlich bewohnt, weil ich es wollte, weil es mir Spaß machte, weil ich es mir vorstellte” (Koeppen 1975: 121). Noch deutlicher wird diese Passage: Wie fern waren sie einander, die hier zu dritt die Nacht erlebten. Siegfried sah Adolf und Laura an. Aber sah er sie? Projizierte er nicht nur sich auf die Gestalten seiner Gefährten? Sie waren Gedanken von ihm, und er freute sich, daß er sie dachte. Es waren freundliche Gedanken. Und sie, sahen sie sich? (Koeppen 1975: 173) Nimmt man die Siegfried-Figur auch als übergeordneten Sprecher des Gesamttextes an, lassen sich also die multiperspektivischen Short Cuts einer “monologische[n] Perspektive” und einer kohärenten Sprechsituation subsumieren (Hielscher 1988 a: 145), dann ist die gesamte dargestellte Welt geistiges Produkt einer “gleichbleibenden Erzählerimago” und der Text etabliert damit einen “gemeinsamen Sinnhorizont” (ebd.: 131 bzw. 133). Zentral für seine Bedeutung ist aber, dass er den Rezipienten über die Existenz dieses Siegfried-Schöpfers einer textinhärenten kohärenten Erzählung ebenso im Unklaren lässt wie die Figuren der dargestellten Welten bei Koeppen auch über die göttliche Existenz verunsichert sind. In der erzählstrategischen Ambiguität hinsichtlich des Problems einer ungesicherten Narratoridentität als Ausdruck einer fundamentalen Verunsicherung über den Sinn des Ganzen manifestiert sich die eigentliche Textaussage. In Edvard Hoems Kjærleikens ferjereiser sind die übergeordnete Erzählhaltung und das Problem der Übersicht und des Zusammenhanges dagegen expliziter Erzählgegenstand: Das Erzählte wird eingangs als Fiktion einer Autorfigur ausgegeben, die in der norwegischen Hauptstadt ‘realistische’ Fragmente aus dem Alltagsleben einiger Figuren ‘erdichtet’, die in einem kleinen Fähr-Ort im Fjordland lokalisiert sind. Autorfigur und Schreibprozess werden wiederum von einer konventionellen auktorialen Erzählinstanz erzählt. Zum Ende des Textes verlässt der fiktive Autor aber seinen Schreibtisch und fährt in den Ort, in dem das intradiegetisch als fiktional gesetzte Geschehen spielt und wo ihm die Figuren seiner Erzählung begegnen. D.h. die Figuren lösen sich - einem Klischee der Literaturproduktion entsprechend - von ihrem Schöpfer. Ihre Existenz, das Geschehen und der Raum werden damit in der Fiktion authentifiziert. Hier findet nicht eine Metalepse einer Erzählerfigur in die Ebene der dargestellten Welt statt, sondern die Metalepse einer ganzen fiktiven Welt in die Ebene intradiegetischer Realität. 10 Diese wiederum kann nun unschwer als künstlerisches Produkt des auktorialen Erzählers zweiter Stufe identifiziert werden, der sich aber zuletzt in Äußerungen wie “der dies schreibt” als identisch mit dem Ich-Erzähler erster Stufe erweist (Hoem 1987: 225). Auf dem Gipfel dieses selbstreferenziellen Spiels verbindet sich zum Textende der Überblick des mit dem Flugzeug wieder zurück nach Oslo reisenden Autor-Ichs über die dargestellte, von ihm erschaffene Welt mit einer Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit: Er schwebt über dem zerrissenen Küstenstreifen und sieht zwischen den anderen Holmen und Inseln, ein kleines Stück Land im Meer, nicht mehr als anderthalb Kilometer lang, voller windzerzauster Baumkrüppel und einen kleinen Weg, der gleichsam mit einer Handbewegung hingeworfen ist. - Es ist nicht wahr, denkt er, daß die Kunst ein Spiegel ist, die Kunst ist eine Art, eine Kugel zu halten, eine Kugel aus Glas, in die ich blicke, sie ist gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit und zuoberst fliegt ein weißes Flugzeug, darunter sehe ich die Küstenlandschaft mit Eikøy und Landøy und Vindøy, Martin Nies 122 und wenn ich mit dem Auge ganz nah dran gehe, kann ich die Fähre am Kai von Ramsvik sehen, ich weiß, daß auf der anderen Seite des Sundes Skogmann wohnt. Dort auf dem Weg geht ein Schatten, vielleicht ein Mensch. Vielleicht Mette Nilsen, die von Haus zu Haus geht (225f.) Der Autor-Erzähler schaut von Außen auf das eigene Weltkonstrukt und ist zugleich Teil desselben. Demgegenüber haben seine Figuren eine Eigenständigkeit erlangt, die am deutlichsten in der Ungewissheit über deren Tun zum Ausdruck kommt. Kjærleikens ferjereiser weitet das Begegnungsmodell auf den intradiegetischen Schöpfer aus, der seinen Figuren begegnet und expliziert die Bedeutung der “Begegnung” als Sinn stiftende und verbindende Struktur, wenn er zuletzt eine der Figuren von Haus zu Haus gehen lässt. 1.7 Profanierung des Short-Cuts-Modells Aus der Manifestation oder Negation eines übergeordneten Sinnzusammenhangs in den Texten Koeppens resultieren unterschiedliche Konstrukte der dargestellten Nachkriegs-Welt. So wie textinhärent existenzialistische vs. religiöse bzw. mythische Weltmodelle diskursiv gegeneinander verhandelt werden, würde die Annahme oder Verwerfung einer sinnstiftenden Instanz über der dargestellten Welt modellhaft die eine oder andere Variante bestätigen. Aber die Texte entziehen sich in diesem Punkt signifikant einer Vereindeutigung. Werden die Short Cuts und in Verbindung damit die Multiperspektivität, das Begegnungsmodell und die Ambiguität hinsichtlich eines übergeordneten Zusammenhanges hier funktionalisiert, um die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der Welt zu problematisieren, aber nicht zu entscheiden, haben die gleichen Textphänomene bei Hoem vor allem die Funktion, metafiktional und selbstreflexiv das Verhältnis künstlerischer Weltkonstrukte zur extratextuellen Wirklichkeit zu thematisieren. Auch dieser Text löst die Ambiguität hinsichtlich dessen, was intradiegetisch als ‘real’ oder ‘fiktional’ gesetzt ist, nicht auf. In Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot wird nun das Short- Cuts-Modell, als das die Korrelation der Textphänomene Short Cuts, Multiperspektivität und Begegnungsmodell auf discours- und histoire-Ebene bezeichnet werden soll, wieder auf die Semiotisierung menschlicher Entfremdung und Vereinzelung reduziert. Das dargestellte Geschehen umfasst den Zeitraum eines Jahres zwischen zwei Geburtstagen der Figur Vera - mit ihrer einsamen Selbstgratulation beginnt und endet der Text. Abgesehen von dieser Exponierung in Ausgangs- und Schlusssituation des Erzählten ist sie gegenüber den anderen Figuren nicht besonders hervorgehoben. Mehrere Figuren treten außerdem das eine Mal als Ich-Erzähler auf, um dann wieder selbst Gegenstand der Erzählung einer auktorialen Erzählinstanz zu werden, die zum Textende hin den Leser in den Äußerungsakt einbezieht und in der beschriebenen Situation des Sterbens einer Figur den Wissenshorizont des Lesers teilt: Aber auch starb. Einen Tag später. In der Mittagssonne. Ohne viel Aufhebens. Die Tiere warteten nicht, bis der letzte Atemzug getan war, legten bereits die ersten Fliegen ihre Brut in die aufgerissenen Augen. Nagte ein Tier an den gut erhaltenen Genitalien, hackten Vögel sich zielstrebig durch die lederne Haut. Gerne hätten wir gewusst, ob Paul diese Schmerzen spürte, ob er noch angewidert sein konnte, voll Ekel sein konnte. Ob er in diesem Moment zutiefst gedemütigt war. Leider werden wir darüber nicht mehr viel erfahren. (Berg 1997: 168f.) Impliziert die Ich-Erzählsituation gewissermaßen eine autobiografische Intention, einen literarischen Äußerungsakt und die auktoriale Erzählsituation eine übergeordnete Sprech- Short Cuts - Great Stories 123 situation außerhalb der dargestellten Welt, so negiert der Text durch keiner erkennbaren Regel folgende Erzählerwechsel eine Kohärenz auf der Ebene des Erzählens. Nur in den Überschriften, wie “Ruth ißt was” (Berg 1997: 86) oder “Nora läuft so rum” (ebd.: 129), die die einzelnen Short Cuts deutlich von einander trennen, manifestiert sich eine Instanz, die die vielstimmigen Erzählakte beiordnet und bezeichnet. Weiche Schnitte oder Überblendungen finden sich hier nicht, dagegen wird das Separierende signifikant betont, wenn ausschließlich harte Schnitte in Kombination mit Seitenumbruch und Überschrift die Segmente markieren. Zwar kreuzen sich auch bei Berg die Wege der Figuren und es werden teilweise temporäre Beziehungen geknüpft, aber das weitere Geschehen führt entweder zur Trennung oder wie schon in der oben zitierten Passage zum Tod der Protagonisten: Acht von Zehn sterben, die meisten von ihnen ähnlich drastisch wie die Figur in dem zitierten Beispiel. Die Raumkohärenz ist in dem Text aufgegeben; die meisten Figuren verlassen auf der Suche nach dem Glück die nicht näher definierte heimatliche Stadt. Der Bruch mit der Raumkohärenz ist durch die Vielzahl der thematisierten Räume (ein Meer, Spanien, Marrakesch, Kalifornien, die Wüste, Hongkong, Venedig) deutlich markiert und bezeichnet die Ziellosigkeit, Desorientierung und Suche der Protagonisten. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass das Modell der zufälligen Begegnungen von Figuren, die hier demselben Herkunftsraum zugeordnet sind, auch außerhalb dessen realisiert ist - doch bedeutet der Text durch die erzählten Tode und Beziehungskatastrophen, dass ein Miteinander nicht lebbar ist, auch wenn man sich in der Fremde trifft. Der von den Koeppen-Texten problematisierte existenzialistische Weltentwurf ist bei Berg status quo - das Räsonnieren über metaphysische Sinnkonstrukte hat sich hier erübrigt - und das selbstreflexive Spiel mit Literarizität bei Hoem profaniert Ein paar Leute suchen das Glück schon vor dem Erzählbeginn, wenn die Autorin mit Danksagung und Kaufappell den Warencharakter des Buches betont: “Danke. Mit jedem gekauften Buch finanzieren Sie einen weiteren Stein meines künftigen Tessiner Hauses. Empfehlen Sie dieses Buch gerne Ihrem großen Bekanntenkreis oder Ihren Eltern” (Berg 1997: 5). Eine nebenstehende Abbildung von Spaten, Spitzhacke, Buch und der Schriftzug “Berg Werk” sowie das darunter positionierte Herz können auch den Textinhalt emblematisch repräsentieren: Er gibt nicht vor, Ausdruck einer ‘höheren Instanz’ zu sein und enthält als Produkt schriftstellerischer ‘Arbeit’ Text-Bruchstücke über eine Sinnstiftung durch Liebe, die aber als Mittel zwischenmenschlicher Bindung versagt. Dennoch macht das Textende, formuliert von der überlebenden Protagonistin, ein resignatives und profanes Sinnangebot für das ‘kleine Glück’: “Worum es geht, ist doch einfach nur, etwas zu lieben. Und wenn es Milchkaffee und Zigaretten sind. Es ist egal, was einer liebt” (Berg 1997: 180). Bezeichnenderweise bezieht sich dieses Sinngebot für die in Ein paar Leute suchen das Glück dargestellte Single-Gesellschaft eben nicht auf die zwischenmenschliche Liebe zu anderen Subjekten, sondern auf den Genuss von Objekten. Außerdem - und gemäß dem von den Popliteraten der 1990er Jahre propagierten Konzept vom Buch als Ware - verweist der Kaufappell der Autorin auf den eigentlichen Sinn des Buches: seinen kommerziellen Erlös. 1.8 Reetablierung eines transzendentalen Signifikats In L OVE A CTUALLY aus dem Jahr 2003 wird das Short-Cuts-Modell in einen Gegenentwurf zu seinen bisher aufgezeigten Funktionen umsemantisiert. Thema des Films sind die ver- Martin Nies 124 schieden gearteten Liebesbeziehungen zwischen den Figuren der dargestellten Welt, ihre Eheschließungen, Ehebrüche, Beziehungskrisen, Trennungen usw. Die Handlung umfasst die Adventszeit bis einschließlich Weihnachten und die vergehende Zeit wird in Einblendungen eines Countdowns der noch verbleibenden Adventswochen bis zum ‘Fest der Liebe’ angezeigt. Der erste der Handlungsstränge thematisiert zu Filmbeginn die Neuaufnahme des Hits Love is all around aus dem Soundtrack des Filmes F OUR W EDDINGS AND A F UNERAL (V IER H OCHZEITEN UND EIN T ODESFALL , Mike Newell, GB 1994; auch hier ist Liebe, wie der Titel signalisiert, das dominante Prinzip). Wenn der gealterte, nunmehr gefällige Popsongs covernde, ehemalige Rockstar in seiner Weihnachtsversion ‘Love’ durch ‘Christmas’ ersetzen soll, aber beim Einspielen immer wieder die Signifikanten vertauscht, wird deutlich, dass auch die mit ‘Christmas’ gemeinte Bedeutung ‘Love’ ist. So wie der Song zum Hit und Comeback des Sängers, wird “Love is all around” darüber hinaus zur zentralen Botschaft und zum expliziten Sinnangebot von L OVE A CTUALLY . Wo bei Berg Liebe auf Unpersönliches reduziert ist und das Short-Cuts-Modell die Fragmentierung der Welt und Separation der Figuren manifestiert, etabliert der Film ein transzendentales Signifikat ‘Liebe’, auf das sich alle Textebenen beziehen. Entsprechend werden zu Weihnachten alle Handlungsstränge mit einer Ausnahme an einem zentralen Ort zusammengeführt: in einem Flughafenterminal bei der Ankunft der Reisenden, die anlässlich des Festes ihre Angehörigen treffen. Verlassen bei Berg die Figuren ihre Heimat, weil sie ‘Glück’ dort nicht finden, so inszeniert der Film eine glückliche Heimkehr in intakte Beziehungen, die alle Altersklassen umfassen, sogar rassische und soziale Grenzen überwinden und zum ‘staatstragenden Prinzip’ werden, wenn sich Figuren verschiedener Hautfarben umarmen und der Premierminister nach einer Dienstreise die proletarische Geliebte begrüßt und das Verhältnis damit öffentlich statuiert. Die oben erwähnte Ausnahme weitet stellvertretend dieses Zusammenfinden in Liebe gewissermaßen weltumspannend noch auf ‘das Fremde’ aus: Einer der Protagonisten hatte sich während eines Südfrankreich-Aufenthaltes in seine portugiesische Haushälterin verliebt, ohne sich mit ihr sprachlich verständigen zu können und macht ihr nun in Portugal einen Heiratsantrag, nachdem inzwischen beide die Sprache des anderen zu sprechen gelernt haben. Trennendes wird hier synthetisiert und in der Schlusseinstellung expliziert der Film die Liebe als einendes Prinzip, das das Fragmentarische auf einer höheren Ebene einem Sinn subsumiert: Von der Fokussierung einzelner sich umarmender Paare oder Familien bei der Flughafenankunft ausgehend fragmentiert sich das Bild sukzessive zu einem Splitscreen mit sich immer weiter vermehrenden Einzeleinstellungen von Liebenden, der die sonst in Short Cuts syntagmatisch montierten Geschehenssegmente synchronisiert, bis zuletzt ein aufleuchtendes Herz sichtbar wird, das synekdochisch für das ganze Bild die zentralen Fragmente umschließt (vgl. Abb. 1). Noch das Design der DVD-Kopie des Films ist diesem sinnstiftenden Prinzip untergeordnet: Auf dem Datenträger ist ein gebrochenes und mehrfach fragmentiertes Herz zu sehen, das die Affektlage der Protagonisten in den einzelnen Handlungssträngen in einer gemeinsamen vorfilmischen Ausgangssituation ‘Liebesunglück’ bezeichnen kann. Wenn dann in der Schlusssituation unter dem einenden Paradigma ‘Liebesglück’ die vielfältigen Konflikte beigelegt sind und das Herz ‘als Ganzes erstrahlt’, wird deutlich, dass die Verpackung des Produktes Film - das Cover zeigt die Verpackung eines Weihnachtsgeschenks -, der Medienträger und der Filminhalt eine Glück versprechende Sinneinheit bilden. Der im Soundtrack dem Filmende unterlegte Beach Boys-Song God only knows mit dem Refrain “God only knows what I feel without you” etabliert dann en passant ‘Gott’ als oberste sinnstiftende und Short Cuts - Great Stories 125 Abb. 1 allwissende Entität und verweist noch einmal auf die in den Wiedersehensszenen glücklich überwundene Defizienzerfahrung der Trennung. Der Film - und nicht die Literatur - überwindet in der Synchronisierung der Segmente durch den Splitscreen die hier negativen Implikationen, die einer fragmentarischen Erzählweise inhärent sind, die das Medium selbst geprägt hat. Medial bedingt ist diese Überwindung aber nur dem Film visuell möglich, denn die syntagmatische literarische Narration kann Gleichzeitigkeit von separaten Geschehens-Einheiten nicht paradigmatisch, sondern nur sukzessive oder summarischberichtend darstellen, nicht aber als Fragment und Einheit zugleich: Die Splitscreen-Präsentation von parallelen Geschehenseinheiten, wie sie durch P ILLOW T ALK (B ETTGEFLÜSTER , Michael Gordon, USA 1959), T HE T HOMAS C ROWN A FFAIR (T HOMAS C ROWN IST NICHT ZU FASSEN , Norman Jewison, USA 1967) und W OODSTOCK - T HREE D AYS OF L OVE AND M USIC (Michael Wadleigh, USA 1969) ‘stilbildend’ wurde, wäre literarisch nur noch als ein tabellarisches Nebeneinander von Geschehenseinheiten realisierbar, das zwar gleichzeitige Geschehensabläufe - wiederum visuell - signalisierte ‘ sich aber dennoch nur sukzessive und nicht synchron rezipieren ließe. 2. Literarisches Erzählen im Film Aus dem Unterschied zwischen einerseits filmtypisch multiperspektivischem Erzählen und andererseits monoperspektiviertem Erzählen lässt sich eine zweite Art des Medienwechsels narrativer Strukturen ableiten, 11 der des Erzählens nach literarischem Vorbild im Film. Fungiert die Kamera als Erzählinstanz, kann sie Wahrnehmungsstandpunkte beliebig wechseln, um die Sichtweise verschiedener Figuren, Geschehen an verschiedenen Orten oder gleichzeitiges Geschehen wiederzugeben - z.B. in Verfolgungsjagden mit Schnitt und Gegenschnitt auf Verfolgten und Verfolger. Reduziert der Film aber seine Mittel auf die Wiedergabe nur einer an eine Figur gebundenen Perspektive, wie im Fall der subjektiven Kamera, die teilweise in der Anfangssequenz von D ARK P ASSAGE (D AS UNBEKANNTE G ESICHT / D IE SCHWARZE N ATTER , Delmer Daves, USA 1947) oder gänzlich in der Binnenerzählung von T HE L ADY IN THE L AKE (D IE D AME IM S EE , Robert Montgomery USA 1947) realisiert ist, schafft er eine Ich-Erzählsituation, in der die Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich aufgehoben ist. Mit der Konstruktion einer Erzählinstanz, die sich als Person manifestiert, erzeugt der Film aber eine literaturtypische Erzählweise - insbesondere, wenn dieser Erzähler auf der extradiegetischen Ebene angesiedelt und die Diegese damit expliziter Gegenstand einer sprachlichen Erzählung ist, die Visualisierung des erzählten Geschehens also illustrierenden oder konterkarierenden Charakter hat. Eine extradiegetische Ebene kann der Film auf zweierlei Weise etablieren: durch einen Erzähler aus dem Off oder durch eine Rahmengeschichte, die sich zur Binnengeschichte als extradiegetisch verhält. Abgesehen davon, dass der Film über mehrere Kodes verfügt, um eine Geschichte zu präsentieren, ist ein wesentlicher Unterschied literarischen und filmischen Martin Nies 126 Erzählens derjenige zwischen einerseits dem expliziten diegetischen Erzählen einer personifizierten narrativen Instanz und andererseits einem scheinbar erzählerlosen mimetisch-szenischen Darstellen. Literatur agiert filmisch, wo sie fragmentierend filmische Syntax zitiert, mit Worten ‘zeigt’, Perspektiven wechselt und den Erzählvorgang wie in einer personalen Erzählsituation camoufliert. 12 Entsprechend bezeichnet Fritz Raddatz die Sprech- und Wahrnehmungsinstanz in Tod in Rom etwa als “Kamera-Auge” (1983: 220). 13 Filme dagegen, die explizit die Erzählung eines personifizierten Erzählers konstruieren und z.B. aus dem Off sprachlich erzählen, funktionalisieren die Konstituenten literarischer bzw. mündlicher Narration. Der Sinn einer derartigen zusätzlichen Vermittlungsebene besteht zum einen darin, die spezifische Relation der Erzählinstanz zum Erzählten zu verhandeln, zum anderen wiederum in der Eröffnung metafiktionaler intermedialer Diskurse. 2.1 Relation Erzähler - Erzähltes Eine Rahmenerzählung im Film kann die Funktion haben, die Außerordentlichkeit des Erzählten als einer ‘großen’ und besonderen Geschichte herauszustellen. Francois Truffauts L A F EMME D ’ À C ÔTÉ (D IE F RAU NEBENAN , F 1981) macht z.B. eine Nebenfigur der Binnengeschichte in einer Rahmengeschichte zur Erzählerin. Zunächst ist fraglich, warum gerade diese die außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählt und sie über entsprechende intime Kenntnisse verfügen sollte. Es gibt jedoch Andeutungen im Film, die ihr eine ebenfalls hoch bewertete Liebe in der Vergangenheit zuschreiben; d.h. die Gemeinsamkeit der Erfahrung einer herausragenden amour passion verbindet Erzählerin und Erzählgegenstand und legitimiert deren Erzählkompetenz. T HE B IG L EBOWSKI (Ethan & Joel Coen, USA 1999) führt zu Filmbeginn einen alten Cowboy als Erzähler ein, der seinen Bericht mit der expliziten Betonung einleitet, das zu Erzählende sei so außergewöhnlich, dass er nichts Neues mehr erleben müsse und nun ohne das Gefühl sterben könne, etwas verpasst zu haben (vgl. 01: 20). In W E W ERE S OLDIERS (W IR WAREN H ELDEN , Randall Wallace, USA 2001) hat der Erzählakt die Funktion einer Geschichtskorrektur bzw. das Ziel, das öffentliche Bild des amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg zu korrigieren und stellt damit eine nachträgliche Legitimation dieses Krieges dar. Dass der Film eine Rahmenerzählung aufweist, die den Literarisierungsprozess des dargestellten Geschehens in Vietnam zum Gegenstand hat, wird zu Filmbeginn durch eine Erzählerstimme aus dem Off angedeutet, die die Authentizität des erzählten Geschehens konstatiert: “Diese Geschichte hat sich im November 1965 tatsächlich zugetragen” (00: 34). Die personale Zuordnung des Erzählaktes findet allerdings erst zum Ende des Filmes statt, wenn der Autor an der Schreibmaschine beim Abschluss der Geschichte gezeigt wird und sich als der Kriegsfotograf Joe aus der Vietnam-Handlung identifizieren lässt. Als Schriftsteller befolgt er eine Forderung seines Vorgesetzten: “Sagen sie der Welt, was diese Männer hier geleistet haben, sagen sie ihr, wie meine Männer starben” (107: 21). Mit der literarischen Verschriftung der Ereignisse in der Rahmengeschichte und der filmischen Erzählung erfüllt sich dieser Auftrag in zweierlei Weise. In der Binnengeschichte schildert W E W ERE S OLDIERS die Entwicklung des Kriegsberichterstatters von einem Fotografen, der mittels der Fotografie “den Menschen zuhause helfen [will], ihn [den Krieg, M.N.] zu verstehen” (73: 13), zu einem Soldaten, der die Kamera gegen das Gewehr eintauscht, und schließlich zu einem Erzähler von amerikanischem Heldentum. Ein zentrales Thema des Films ist demzufolge der Umgang mit ‘Realität’ und das Problem der Vermittlung von ‘Realität’. Die Abwendung von der dokumentarischen Fotografie hin zur Erzählung Short Cuts - Great Stories 127 muss erfolgen, weil das Foto als ‘Momentaufnahme’ nicht den situativen Kontext des Abgebildeten zu vermitteln vermag, während der Erzählakt in der Präsentation einer ‘Geschichte’ Zusammenhänge herstellt, so die Motive einer dokumentierten Handlung erläutern und damit erst eigentlich “Verstehen” ermöglichen kann. Bevor er die Geschichte erzählen darf, muss aber der Kriegsberichterstatter die Neutralität des Beobachters aufgeben und handelnd in das ‘reale’ Kriegsgeschehen initiiert werden: [Ein feindlicher Schuss schmettert dem Fotografen Joe die Kamera aus der Hand.] Sgt.-Major Plumley: “Du kriegst keine Bilder, wenn du da unten liegst, Sunny.” [Plumley drückt ihm ein Gewehr in die Hand.] Joe: “Sir, ich bin aber kein Soldat.” Plumley: “Sunny, hier und jetzt musst du einer sein.” (80: 35) Die Involvierung des Beobachters in das Kriegsgeschehen bedeutet zum einen authentisches Erleben des zu beschreibenden Gegenstandes, was ihn erst als Erzähler legitimiert, 14 zum anderen aber auch, dass er selbst als Soldat für die amerikanische Seite Partei ergreift, sich mit den anderen Soldaten zu einer Kampf- und Leidensgemeinschaft verbündet (“We were soldiers”), und damit gewährleistet ist, dass er die ‘richtige’ Geschichte erzählt. Die filmische Erzählung postuliert nun implizit einen noch höheren Grad an Authentizität in der Vermittlung von der Wirklichkeit des Krieges gegenüber den anderen verhandelten Medien, da sie literarisches ‘Sagen’ und fotografisches ‘Zeigen’ miteinander kombiniert und das später literarisierte Geschehen in actu als intradiegetisch ‘wahr’ präsentiert. 15 Eine andere Funktion extradiegetischen Erzählens, die nicht Nähe zwischen Erzähler und Erzählgegenstand, sondern Distanz vermittelt, besteht darin, das erzählte Geschehen zu ironisieren bzw. umgekehrt kann das visuell präsentierte Geschehen das Erzählen konterkarieren und damit die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz unterwandern. In diesem Fall stehen die auditiv und visuell vermittelten Informationen in einem Widerspruch zueinander und betonen den Erzählvorgang vor allem als einen Akt der Selbstäußerung einer Erzählerperson. Die Ironisierung des Erzählten durch eine auktoriale extradiegetische Erzählinstanz findet sich etwa in C ANNERY R OW (D IE S TRASSE DER Ö LSARDINEN , David S. Ward, USA 1982), einem Film, der zwei Erzählungen von John Steinbeck kompiliert. Woody Allens L OVE AND D EATH (D IE LETZTE N ACHT DES B ORIS G RUSCHENKO , USA 1975) dagegen weist im Off eine Ich-Erzählsituation auf, die die Darstellung der eigenen Person beschönigt: präsentiert sich das erzählende Ich als ein Kriegsheld, wird die Figur der dargestellten Welt als Feigling und Kriegsdienstverweigerer vorgeführt, wobei in der Regel die Erzählung mit Worten als die falsche oder verfälschende erscheint, das visualisierte Geschehen dagegen als ‘authentisch’, d.h. die filmeigentliche (‘objektive’) Präsentation erweist sich als die ‘richtige’, wohingegen die (‘subjektive’) sprachliche als ‘falsch’ entlarvt ist. 2.2 Intermediale Spiele: Filmische Literaturkonstruktionen In T HE L ADY IN THE L AKE werden die literarischen Referenzen explizit herausgestellt. Zu Beginn richtet sich der Protagonist und Ich-Erzähler Philip Marlowe in einer Rahmengeschichte direkt an den Zuschauer und erläutert, dass er neben seinem Beruf als Privatdetektiv eine Detektivgeschichte verfasst hat, die ein Verlag für Groschenromane - “Spezialisten für Blutrünstigkeit” - publiziert (2: 08). Durch diese literarische Nebentätigkeit ergibt sich ein neuer Auftrag, von dem Marlowe zu erzählen beabsichtigt und zwar sukzessive, chronologisch und aus seiner subjektiven Sichtweise mit dem Wissensstand, der jeweils der Situation Martin Nies 128 entspricht: “Sie sehen diesen Fall, wie ich ihn sah, treffen dieselben Menschen, finden dieselben Spuren und lösen ihn vielleicht sogar noch vor mir - aber vielleicht auch nicht” (3: 13). Gegen Ende des Films, noch innerhalb der Binnengeschichte, kündigt Marlowe dann einem Polizisten, der fragt, ob er “die ganze Story” kenne, an, diese nicht zu erzählen, sondern sie aufzuschreiben und ihm einen Durchschlag zukommen zu lassen (97: 10). Auf mehreren Ebenen leugnet der Film spielerisch seine eigene Medialität. Von Erzählen, Schreiben, Literatur ist die Rede: Mündlich erzählen lässt sich die Geschichte nicht, angemessen kann sie intradiegetisch nur in literarischer Form vermittelt werden - entweder wegen ihrer Komplexität, wegen des besonderen Eindrucks, den sie hinterlassen hat, oder weil auch sie nur als eine ‘Schundgeschichte’ für einen Groschenroman eignet. Dennoch suggeriert die Rahmengeschichte eine mündliche Sprechsituation mit direkter Rezipientenansprache. In der Folge wird das Geschehen aber dann dem Adressaten filmisch präsentiert, mit den Augen des Ermittlers gezeigt und auf extradiegetisches Erzählen verzichtet. D.h. letztlich wird diese besondere Geschichte als nur filmisch vermittelbar erwiesen und damit das eigene Medium gegenüber den anderen aufgewertet. Grenzfälle solch selbstreferenzieller metafiktionaler medialer Spiele stellen diejenigen Filme dar, die selbst vorgeben, Literatur zu sein, bzw. bei denen die vorausgesetzte Rezeptionssituation als eine literarische konstruiert wird. Wenn z.B. W HAT ’ S U P D OC ? (I S ’ WAS D OC ? , Peter Bogdanovich, USA 1972) die Credits zu Filmbeginn auf den Seiten eines Buches mit dem Titel “Warner Bros. Pictures” präsentiert, umgeblättert von einer Hand, die sich anhand des getragenen Schmucks als die einer intradiegetischen Figur identifizieren lässt, und das dargestellte Geschehen beginnt, indem von einer Buchillustration einer Reisetasche mit der Unterschrift “Once upon a time, there was a plaid overnight case…” in das entsprechende filmische Bild überblendet wird (2: 40), dann suggeriert der Film ein ‘Eintauchen’ in Literatur, ohne dass allerdings eine weitere bedeutungstragende Funktion dieses intermedialen Spiels erkennbar wäre. Veit Harlans I MMENSEE - E IN DEUTSCHES V OLKSLIED (D 1943) nutzt dagegen eine im Vorspann gezeigte Buchtitelseite, die den Film eindeutig als Literaturverfilmung nach der gleichnamigen Novelle Theodor Storms explizieren soll, zur Autorisierung der im Sinne der NS-Ideologie gedeuteten und umkonstruierten Geschichte, die zugleich durch den Untertitel “Ein deutsches Volkslied” als ein allgemeines, durch Storm und Harlan lediglich medialisiertes ‘Volksgut’ ausgewiesen ist. 16 T HE R OYAL T ENENBAUMS (Wes Anderson, USA 2001) dagegen zeigt zu Beginn ein Buch desselben Titels, das aus einer Bibliothek entliehen (0: 11), dann von einem impliziten Leser rezipiert wird und dessen einzelne Kapitel nach der Einblendung der entsprechenden Buchseite des Kapitelbeginns sukzessive filmisch präsentiert werden (vgl. Abb. 2). Außerdem weist der Film innerhalb der szenisch präsentierten Kapitel im Off eine extradiegetische auktoriale Erzählinstanz auf. Neben dem Spiel mit Fiktionalität und Gattungsreferenzen auf die Familienchronik, hat diese ‘Literarisierung’ der erzählten Geschichte wiederum die Funktion, die Besonderheit des filmischen Erzählgegenstandes und seine ‘epische Größe’ herauszustellen. Wenn die Chronik der Familie einer öffentlichen Bibliothek entliehen wird, handelt es sich dabei ohnehin um ‘institutionalisierte Geschichte’, die dem öffentlichen Gedächtnis eingeschrieben ist. Der Film stellt die Repräsentation des Rezeptionsprozesses eines anonymen Lesers dar, von dem nur die Hände zu sehen sind, wenn er das Buch auf die Bibliothekstheke legt und die filmische Präsentation der Geschichte entspricht damit seiner Imagination - dem ‘inneren Film’ vor dem geistigen Auge - während der Lektüre, wohingegen die auktoriale Erzählinstanz aus dem Off der Erzähler des Buches, der Chronist, ist, der sich im Bewusstsein dieses Lesers als Stimme materialisiert. Short Cuts - Great Stories 129 Abb. 2 Eine Reihe von Filmen semiotisiert im Unterschied dazu eine dargestellte Binnenhandlung als Repräsentation bzw. Produkt eines intradiegetischen Schreibprozesses und behauptet damit die metadiegetisch dargestellte Wirklichkeit als eine literarische im Entstehen. S TAND BY ME (S TAND BY ME - D AS G EHEIMNIS EINES S OMMERS , Rob Reiner, USA 1986) etwa präsentiert eine Rahmengeschichte, in der eine Autorfigur die Erinnerungen an ein besonderes Erlebnis und erste Verlusterfahrungen in der Transitionsphase von der Kindheit zur Jugend verschriftet. Die Binnengeschichte entspricht der Visualisierung des Erinnerungs- und Verschriftungsprozesses. Sie endet mit dem Abschluss des Buches und der Hinwendung des Autors zum Spiel mit den eigenen Kindern in der intradiegetischen ‘Realität’. Den individuellen Erinnerungen an den letzten Sommer der Kindheit ist demnach in der Rahmengeschichte ein Ende mit einem ‘überindividuellen’ Sinnangebot angehängt, das über eine nostalgisierende auf eine pädagogische Auseinandersetzung mit ‘Kindheit’ hinausweist, deren positive und negative Erfahrungen als ‘wertvoll’ für den Individuationsprozess gesetzt sind: Die Rückbesinnung auf das Kindsein definiert die eigene Vaterschaft und führt zur spielerischen Annäherung der Generationen. Auch P AN (Henning Carlsen, N 1995) repräsentiert die filmisch dargestellte Welt als einen Erinnerungsbzw. Imaginationsraum eines Autor-Ichs. Hier wird aber deutlich, dass der Schreibprozess eine therapeutische Funktion für die Autor-Figur hat, die rückblickend Erlebtes ästhetisiert bzw. sich eine ‘Wirklichkeit’ schreibend erst konstruiert, der ‘Realitätsgehalt’ des Erzählten also ein Problem darstellt. Das erlebende Ich bzw. erzählte Ich wird als ein Selbstentwurf des erzählenden Ich als ‘Pan’ und damit als ein mythisierender Sinnstiftungsversuch des eigenen Lebens entlarvt und die filmische Metadiegese damit zu einem ‘Hirngespinst’ eines pathologisierten Subjektes. Die Psychologie des Autor-Ich ist damit eigentlicher Erzählgegenstand. P ROSPERO ’ S B OOKS (P ROSPEROS B ÜCHER , GB/ F/ NL 1991) von Peter Greenaway repräsentiert den Schreib- und Rezeptionsprozess zugleich. Die filmische Figur des Prospero fungiert hier als Autor-Schöpfer, Interpret und Figur des Stückes The Tempest in einer Person, zu Filmbeginn außerdem als Sprecher aller anderen Figuren und im Laufe des Geschehens als ein von dem Schauspieler John Gielgud dargestellter Charakter in einem Schauspiel sowie als Figuration William Shakespeares. 17 Textrezeption, Textkreation und intradiegetisch ‘reale’ Weltkonstruktion lassen sich hier nicht mehr differenzieren - die Realität entsteht aus einem Schreibprozess, der integrativer Teil dieser Realität ist und die sich zugleich selbstreflexiv als Theaterinszenierung nach einem literarischen Text filmisch präsentiert. 3. Short Cuts vs. Great Story Die Funktionen der Short Cuts in Film und Literatur einerseits und extradiegetischer Erzählinstanzen im Film andererseits bestehen neben der Evokation metafiktionaler und selbstreflexiver Diskurse vor allem in der Fragmentierung bzw. Episierung der erzählten Geschichte(n). D.h. die hier aufgezeigten Erzählstrategien ‘filmischen’ Erzählens in der Litera- Martin Nies 130 tur und ‘literarischen’ Erzählens im Film sind auf den ersten Blick Ausdruck oppositioneller Welt- und Geschichtsmodelle: Heben Short Cuts scheinbar das zusammenhanglose Nebeneinander verschiedener Geschichten hervor, negieren übergeordnete sinnstiftende Instanzen und proklamieren eine bruchstückhafte Welt, so manifestieren extradiegetische Erzählinstanzen eine Kohärenz des Erzählten, erzeugen also einen ausdrücklichen Sinnzusammenhang. Dieser kann in der Rückschau eines Ich-Erzählers auf in der Vergangenheit Erlebtes ein autobiografischer sein (S TAND BY ME , L OVE AND D EATH , P AN ), dann ist das Erzählte auch Ausdruck retrospektiver Selbst- und Lebensentwürfe und damit einer textimmanenten Psychologisierung des Erzählten, oder ein biografischer, der die Besonderheit des Lebenslaufes einer oder mehrerer fremder Personen zum Gegenstand hat (T HE R OYAL T ENEN - BAUMS ). Ein analytischer Sinnzusammenhang ergibt sich in der Darstellung der sukzessiven detektivischen Rekonstruktion und Aufklärung rätselhafter Vorgänge in T HE L ADY IN THE L AKE : Hier ist die Kohärenz zwar eine zunächst verborgene, aber da deren Entdeckung Haupterzählgegenstand ist, manifestiert sie sich zum Ende umso deutlicher, womit durch die Tötung des Verbrechers auch noch die Wiederherstellung der Ordnung der dargestellten Welt einhergeht. Unter einer bestimmten historisch-politischen Weltsicht auf den Vietnamkrieg subsumiert W E W ERE S OLDIERS die dargestellten amerikanischen Soldaten und den Erzähler, mit dem Ziel, die öffentliche Wahrnehmung des thematisierten Kriegsereignisses zu korrigieren; der hier etablierte Sinnzusammenhang ist entsprechend ein ideologischer. Darüber hinaus betonen die extradiegetischen Erzählinstanzen in den Filmbeispielen allesamt die Besonderheit der von ihnen erzählten Geschichte: Sie episieren das Erzählte zu einer außerordentlichen, ‘großen Geschichte’, deren Relevanz den Erzählakt erst legitimiert. Dem entgegen erzeugen Short Cuts zunächst den Eindruck von der Beiläufigkeit des Erzählten, als eines zufälligen Geschehens, das vorübergehend in den Fokus gerät. Der Flurplan im Abspann von S HORT C UTS suggeriert die Beliebigkeit der gezeigten Weltausschnitte - ebenso gut hätten Lebensabschnitte anderer Vorortbewohner in den Blick genommen werden können. In der Genese des Short-Cuts-Modells lassen sich unterschiedliche paradigmatische Funktionen der Short Cuts feststellen. Zunächst bezeichnet die fragmentarische Erzählweise soziale Grenzen in der dargestellten Welt: zwischen Adel und Bürgertum in Die Soldaten, zwischen Arm und Reich in D IE FREUDLOSE G ASSE . Bei Koeppen fungiert sie in den 1950er Nachkriegsjahren als Darstellungsmittel konkurrierender philosophischer Weltentwürfe, bei Hoem im Rahmen eines poetologisch-ästhetischen Metadiskurses über das Verhältnis von Literatur und Realität, in Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot wiederum als Semiotisierung unüberwindbarer emotionaler und sozialer Klüfte in einer von Vereinsamung geprägten Singlegesellschaft und in L OVE ACTUALLY als deren Überwindung unter dem einenden Prinzip ‘Liebe’. Wie die Analyse der Beispiele zeigte, neigen aber die meisten Texte, die das Short-Cuts-Modell aktualisieren, dazu, einen übergeordneten Sinnzusammenhang durch verschiedene Methoden der Kohärenzstiftung zu etablieren, der über die Geschehensmotivierung aus den Begegnungen der Figuren hinausgeht. Auf diese Weise ergibt sich - auch als Rekonstruktionsleistung des Rezipienten - wiederum der epische Zusammenhang einer großen Geschichte nun etwa eines Raumes (S HORT C UTS ), einer temporalen Einheit (M ENSCHEN AM S ONNTAG ) oder eines anthropologisierten Affektes bzw. eines ultimativen Wertes, der die als Defizienz erfahrene Separation überwindet, die die Short Cuts ‘bedeuten’ (L OVE ACTUALLY ). Short Cuts - Great Stories 131 Die analysierten fremdreferenziellen discours-Phänomene wurden bisher mit Begriffen wie ‘Erzählstruktur’, ‘Erzähltechnik’ und ‘Erzählweise’ beschrieben, die alle Strukturen des Erzählens umfassen können. Fraglich ist, inwieweit diese in einem terminologisch engeren Sinne je einen spezifisch filmischen bzw. literarischen Erzählstil konturieren. ‘Erzählstil’ bezeichnet eine Korrelation struktureller Merkmale auf der Ebene des discours, die sprachlich-formale Abweichungen von den jeweils medial ‘normalen’ Erzählweisen funktionalisiert, um bestimmte Textbedeutungen zu generieren. 18 D.h. in Abgrenzung zu den vorher genannten Termini handelt es sich um spezifische Formen der Rede auf der lexikalischen und/ oder grammatischen Ebene. Normales Erzählen - also hinsichtlich der Wahl der Mittel zur diskursiven Vermittlung der Geschichte konventionelles und ‘unauffälliges’ Erzählen - wäre noch genauer zu bestimmen, hier muss lediglich pragmatisch ein solcher Normalfall des Erzählens angenommen werden, von dem ex negativo die fremdreferenziellen discours-Mittel als abweichend aufgefasst werden können und empirisch auch aufgefasst werden. Dieser ist historisch variabel und unterliegt dem Wandel der Literatursysteme. 19 Zwar beruhen sowohl die Short-Cuts-Narration in der Literatur als auch die extradiegetischen Erzählsituationen im Film auf der Wahl abweichender gegenüber den jeweils medial ‘normalen’ Erzählweisen. Allerdings ist die Adaption typisch literarischer Sprechbzw. Erzählsituationen und Perspektiven im Film kein stilistisches Phänomen, da es sich dabei nicht um eine Struktur der Rede selbst, sondern um die Konstituierung einer weiteren Vermittlungsebene der Geschichte neben der Kamerahandlung und der dargestellten Handlung vor der Kamera handelt. Die Segmentierung der Narration in Short Cuts stellt dagegen eine Abweichung auf der grammatisch-syntaktischen Ebene des Erzählvorganges dar und manifestiert sich literarisch insbesondere in der sprachlichen Gestaltung der Übergänge zwischen den Segmenten wie bei Koeppen und Hoem als ein eigener Erzählstil, der immer Separation, das Nebeneinander eigenständiger Einheiten semantisiert. Der Grad der Separation ist dabei mittels der sprachlichen Gestaltung der Schnitte als jeweils ‘weicher’ oder ‘harter’ Schnitt skaliert. Von diesem Short-Cuts-Stil wurde das Short-Cuts-Erzählmodell als eine discours und histoire übergreifende Struktur unterschieden, die sowohl die stilistischen Besonderheiten der Rede als auch die implizit oder explizit übergeordnete Erzählsituation, die Multiperspektivität in der Erzählerperspektive und das Modell der Begegnung der Handlungsträger sowie die Geschehensmotivation aus den daraus resultierenden Vernetzungen des Geschehens umfasst. Das Short-Cuts-Modell ist per se nicht mit einer bestimmten inhaltlichen Bedeutung verknüpft, seine Semantik ist kontextuell gebunden an die histoire des jeweiligen Textkonstruktes, aber es tendiert zur Tilgung von Separation: wenigstens durch die Existenz der übergeordneten Sprech- und Wahrnehmungsinstanz, die die Diegese überblickt, die Handlungsträger bzw. Geschehenseinheiten wechselnd fokussiert und die Übergänge in der Rede gestaltet, bis hin zur inhaltlichen Verknüpfung der Segmente durch Parallelisierungen und Korrelationen von Figuren und Handlung im Begegnungsmodell. Sowohl der Short-Cuts-Stil als auch das Short-Cuts-Modell sind nunmehr konventionalisierte Erzählweisen und im kulturellen Wissen als textuelles Formenrepertoire abgespeichert. Die Häufigkeit ihres Auftretens im Film der neunziger Jahre bis in die Gegenwart ist der Dominanz postmodernistischer Ästhetik als einem Oberflächenphänomen geschuldet - zu einem postmodernistischen ‘Bedeutungssystem’ steht aber das Short-Cuts-Modell nicht nur in einem Widerspruch, sondern widerlegt es. Denn in den entsprechenden Filmen wird signifikant sukzessive Kohärenz etabliert. Auch und insbesondere P ULP F ICTION , der wohl populärste Film dieser Dekade, fordert etwa die Rekonstruktion der logisch-chronologischen Martin Nies 132 Ereignisfolge im Rezeptionsprozess, ohne das Bemühen um Wiederherstellung des ‘richtigen’ Zusammenhanges zu enttäuschen: Alle Brüche, die sich durch die Verwendung des Short-Cuts-Stils und die Umstellung der Chronologie auf der Ebene des discours ergeben, lassen sich widerspruchsfrei tilgen und die Handlungselemente sich zu einer konventionellen Pulp-Fiction-Geschichte zusammenfügen. Der Short-Cuts-Stil, der ein zusammenhangloses Nebeneinander ‘bedeutet’, wird durch die Auflösung in einem Short-Cuts-Modell und durch die in der Rekonstruktion offen gelegte ‘eigentliche’ Kohärenz der erzählten Geschichte seiner Bedeutung enthoben. D.h., dass ein ‘Stilmittel’ in der Oberflächenstruktur des sprachlich-syntaktischen Ausdrucks funktionalisiert wird, um deiktisch auf die Tiefenstruktur des Textes und deren ihm antonymische Bedeutung zu verweisen, aber auch auf die Notwendigkeit des analytisch-interpretatorischen Aktes, der die Voraussetzung des Erkennens sehr wohl gegebener Zusammenhänge ist. Denn die als ‘postmodernistisch’ apostrophierten Filme der neunziger Jahre tendieren keineswegs wie etwa die Romane Wolfgang Koeppens hinsichtlich der Sinnfrage zu einer Offenheit der Bedeutung - was eine notwendige Voraussetzung wäre, um von Postmodernismus in Texten überhaupt sprechen zu können -, 20 sondern, indem sie in den erzählten Geschichten Zusammenhang explizit konstruieren, tendieren sie zur Vereindeutigung und Sinnstiftung - ein Verfahren, das sich L OVE A CTUAL - LY am deutlichsten zu Nutze macht bis hin zum Re-Etablieren eines transzendentalen Signifikats im erzählten Geschehen und in einer nur einem visuellen Medium möglichen Inszenierungsweise, wenn das Split-Screen-Herz, das die Vereinigung aller separaten Einheiten unter einem zentralen Sinnangebot bezeichnet, die Leinwand bzw. den Bildschirm illuminiert. Beide Erzählweisen - sowohl die Short-Cuts-Erzählung als auch die Funktionalisierung fremdmedialen (literarischen) Erzählens in Filmen wie T HE L ADY IN THE L AKE , P ROSPERO ’ S B OOKS oder T HE R OYAL T ENENBAUMS verweisen nicht nur selbstreflexiv auf die eigene Medialität, sondern letztlich auf die grundsätzliche Medialität von ‘Geschichte’ und damit auf deren Status als narratives Konstrukt. Beide Varianten neigen schließlich im Auflösen des Fragmentarischen im Epischen zum Erzählen einer großen überindividuellen Geschichte, die die vielen kleinen Geschichten umfasst. 4. Literaturangaben Filmverzeichnis T HE B IG L EBOWSKI , Ethan & Joel Coen, USA 1999 C ANNERY R OW (D IE S TRASSE DER Ö LSARDINEN ), David S. 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Nies (2005 b). 4 Vgl. die Polemik von Lenz in der poetologischen Schrift “Anmerkungen übers Theater” gegen die “so erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten” (Lenz 1987: II 654). 5 Eine Rekonstruktion ‘postmodernistischer Ästhetik’ aus konstitutiven Merkmalen in Literatur und Film findet sich bei Petersen (2003). 6 Zu Strategien der Kohärenzstiftung in einem gemeinhin als ‘postmodernistisch’ rezipierten Filmbeispiel vgl. den Aufsatz von Jan-Oliver Decker in diesem Band. 7 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurden lediglich die ersten beiden Folgen der Reihe gesendet, aber aus der Ankündigung des Senders SAT.1 wird das Konzept deutlich: “Die “LADYLAND”-Kurzgeschichten sind Geschichten aus dem Leben: überraschend, spannend, zum Schmunzeln, haarsträubend, verrückt und manchmal auch tragikomisch. Eben (fast) so, wie sie jeden Tag irgendwo auf der Welt passieren könnten. Die drei Kurzgeschichten haben in jeder “LADYLAND”-Folge immer einen gemeinsamen Ausgangpunkt, der sich wie ein roter Faden durch die Handlungen zieht: in einer Hotellobby, an einer Tankstelle oder z.B. in einem Bürogebäude - dort treffen verschiedene Personen (jeweils verkörpert von Anke Engelke) aufeinander, laufen sich zufällig über den Weg, ohne zu ahnen, was für eine Geschichte der andere hat und wie schicksalhaft ihre zufälligen Begegnungen sein können. Sie geraten in ungewöhnliche, emotionale, witzige und skurrile Situationen, die nicht selten ihr Leben auf den Kopf stellen. Die Zuschauer begleiten die jeweiligen Figuren dann in ihre ganz speziellen Geschichten.” 8 Für z.B. die Erzähl- und Handlungsstruktur in Tauben in Gras hat Friedrich (1993) die besondere Relevanz des Begegnungsmodells herausgearbeitet. 9 Vgl. Hielscher (1988 a: 130f. und 144f.) sowie (1988 b: 98f.). 10 Die Begriffe “Diegese” (= dargestellte Welt der Erzählung), “intradiegetisch” und “extradiegetisch” (= innerhalb bzw. außerhalb der dargestellten Welt) folgen der Terminologie von Gérard Genette (1994). Als “Metalepse” bezeichnet Genette den “Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen” (1994: 167). Gemeint sind alle Grenzüberschreitungen eines Erzählers oder Adressaten in die dargestellte Welt der Erzählung, von Figuren der intradiegetisch dargestellten Welt in die metadiegetische Ebene einer Binnenerzählung sowie Grenzüberschreitungen diegetischer Figuren in die jeweils übergeordnete Ebene des Erzählers (vgl. ebd. 168). Genette spricht diesen ‘eigentlich unmöglichen’ Wechseln von Seins- oder Kommunikationsebenen eine “bizarre Short Cuts - Great Stories 135 Wirkung” zu (ebd.). Zwar scheint es wenig ungewöhnlich, wenn etwa eine Figur intradiegetisch Gegenstand einer narrativen Kommunikationssituation zwischen zwei Figuren ist. Wird aber eine Binnenerzählung als ‘fiktiv’ gekennzeichnet und eine ihr zugehörige, fiktionale Figur tritt in der übergeordneten (fiktiven) Realität der dargestellten Welt als handelnde Person auf oder tritt - wie bei Hoem - ein Erzähler in seine als fiktiv gekennzeichnete erzählte Welt hinein, erzeugt der Text eine fundamentale Verunsicherung über den Gehalt des Erzählten und den Status der dargestellten Welt. Zu metaleptischen Erzählexperimenten in internationalen Texten der Frühen Moderne und deren Konsequenzen für den intradiegetischen Realitätsgehalt des Erzählten vgl. Nies (2006 b). 11 Zum Problem des ‘Media shift’ vgl. Krah (1997) und exemplarisch zum Medienwechsel von einem Pop-Song zu einem narrativen Modell im Film Nies (2005 a). 12 Die missverständlich bezeichnete ‘personale Erzählsituation’ nach Stanzel (1989) kennzeichnet bekanntlich gerade das Fehlen einer sich z.B. in Wertungen und Kommentaren als ‘Person’ manifestierenden Erzählinstanz; es handelt sich dabei um ein scheinbar ‘erzählerloses Erzählen’. 13 Dass diese ihrerseits metaphorische Bezeichnung von Phänomenen, die verschiedenen discours-Ebenen zuzuordnen sind (vgl. Genette 1994: “Wer spricht? ” - “Wer nimmt wahr? ”), nicht nur unpräzise, sondern auch unzutreffend ist, wenn man Siegfried als übergeordnete Erzählinstanz annimmt, bzw. dass die oben angesprochene Ambiguität des Textes damit überhaupt nicht erfasst ist, sei dahingestellt; hier geht es um eine literarische Oberflächenstruktur, die sich filmischen Strukturen weitgehend anzunähern versucht. 14 Die Geschichte von der Überzeugung eines Berichterstatters und seiner Anerkennung der moralischen Notwendigkeit des Krieges von Seiten der USA auf Grund eigener Anschauung und Einmischung verweist auf den US- Propagandafilm T HE G REEN B ERETS (D IE GRÜNEN T EUFEL , Ray Kellog / John Wayne, USA 1968). Vgl. zu diesem Film Petersen (2004: 204ff.). 15 Zur Stellung von W E W ERE S OLDIERS innerhalb des Genres des Kriegsberichterstatterfilms und den darin geführten medialen Diskursen vgl. Nies (2006 a). 16 Vgl. dazu Decker/ Schwarz/ Wünsch (1999). 17 Vgl. dazu Petersen (2001: 95ff.). 18 Weiterführende Definitionen und systematisierende Überlegungen zum Problem des ‘Stilbegriffs’ siehe in diesem Band. 19 Dies zeigt etwa die auffällige Häufigkeit von Rahmen- und Binnenerzählungen im Literatursystem des Realismus, die dort konstitutiver Teil des spezifisch ‘realistischen’ Realitätsmodells sind und die im Literatursystem der Frühen Moderne im Zusammenhang mit nun dominant psychologischem Erzählen von anderen Phänomenen auf der discours-Ebene paradigmatisch abgelöst werden: Z.B. durch eine Tendenz zu Ich-Erzählsituationen und personalem Erzählen gegenüber auktorialem Erzählen, durch die häufige Verwendung erlebter Rede in der Wiedergabe von Figurenrede oder die Vermittlung von Bewusstseinsinhalten von Reflektorfiguren in Form eines stream of conciousness. 20 Vgl. Petersen (2003: 301).
