Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2
Innovativer Stil - konservative Ideologie
61
2007
Jan-Oliver Decker
Michel Gondry erzählt mit dem Film ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (VERGISSMEINNICHT, USA 2004) eine Geschichte, in der ein Wert universeller, natürlicher Liebe mit dem Wert des Sich-selbst-Erzählens verbunden wird. Beide Werte stiften die Identität der Person und stehen damit in Opposition zu den filmischen Erzählverfahren an der Textoberfläche (Intertextualität, narrative Kurzschlüsse, mise-en-abyme-Strukturen), die massiv die Textoberfläche, aber nicht den Sinn der erzählten Geschichte dekonstruieren. VERGISSMEINNICHT repräsentiert damit das Phänomen eines Textes in einem 'postmodernen Stil', stellt aber strukturell keinen postmodernen Text dar. Ausgehend von diesem Befund wird abschließend eine Definition von Stil zur Diskussion gestellt, die auf der Kombination der beiden Kodebegriffe i) Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen Ausdruck und Inhalt und ii) Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen zwei Zeichenrepertoires beruht.
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Innovativer Stil - konservative Ideologie Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘Postmoderne’ am Beispiel von Michel Gondrys E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND Jan-Oliver Decker Michel Gondry erzählt mit dem Film E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (V ERGISS - MEINNICHT , USA 2004) eine Geschichte, in der ein Wert universeller, natürlicher Liebe mit dem Wert des Sich-selbst-Erzählens verbunden wird. Beide Werte stiften die Identität der Person und stehen damit in Opposition zu den filmischen Erzählverfahren an der Textoberfläche (Intertextualität, narrative Kurzschlüsse, mise-en-abyme-Strukturen), die massiv die Textoberfläche, aber nicht den Sinn der erzählten Geschichte dekonstruieren. V ERGISSMEINNICHT repräsentiert damit das Phänomen eines Textes in einem ‘postmodernen Stil’, stellt aber strukturell keinen postmodernen Text dar. Ausgehend von diesem Befund wird abschließend eine Definition von Stil zur Diskussion gestellt, die auf der Kombination der beiden Kodebegriffe i) Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen Ausdruck und Inhalt und ii) Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen zwei Zeichenrepertoires beruht. With E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (USA 2004) director Michel Gondry tells a story, in which the value of a universal and natural love is related to the value of narrating oneself. Both values constitute the identity of the person and stand in opposition to the style of narration in this movie, which is applied on the surface of the text (intertextuality, narrative metalepsis, mise-en-abyme-structures). This style of narration deconstructs the surface of the text, while the deeper significance of the text maintains. According to that fact, E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND represents a special phenomenon: Although it features a typical ‘postmodern style’, it is - from a structural point of view - not a postmodern text. Starting from this observation, this article advances a definition of style, which is based on a combination of both terms and defintions of ‘code’: i) code understood as a rule of assignment between expression and content; ii) code understood as a rule of assignment between two different repertoires of signs. 1. Narrativität vs. Selbstreflexivität in Gondrys Musikvideos Der französische Regisseur Michel Gondry inszeniert seit Ende der 80er Jahre zunächst vor allem Musikvideos für Stars wie Björk, Kylie Minogue, die Rolling Stones und andere. Sein Werk als Musikvideoregisseur zeichnet sich dabei besonders dadurch aus, dass er mit Selbstreflexivität, Zirkularität und Serialität auf der Oberflächenebene spielt. Narrative Strukturen sind in den Videos Gondrys dabei in der Regel nur als achronologisch präsentierte Fragmente rekonstruierbar. So ist im Video S UGAR W ATER der Band Cibo Matto der Bildschirm durch Split-Screen- Verfahren in zwei Hälften geteilt. In der einen Bildhälfte verläuft das Geschehen um eine K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan-Oliver Decker 154 junge Frau linear chronologisch vorwärts; in der anderen Bildhälfte dagegen um eine zweite junge Frau chronologisch rückwärts. Obwohl nun die beiden Bildhälften chronologisch entgegengesetzt verlaufen, stellt die Bildmitte eine Art Spiegelachse dar: Was im rechten Teil des Bildschirms geschieht, geschieht analog auch im linken. In der Mitte des Videos treffen nun die vorwärts und die rückwärts laufende Zeitlinie in einem Unfallgeschehen zusammen, um ab diesen Zeitpunkt die chronologische Richtung jeweils umzukehren: Das Syntagma, das im Split-Screen vorher chronologisch vorwärts lief, läuft ab jetzt chronologisch rückwärts und vice versa. 1 Damit wird ein chronologischer Kreislauf impliziert, der in unendlicher Wiederholung das immer gleiche Geschehen selbstreflexiv in einer prinzipiell endlosen Tautologie perpetuiert. Das Video konzipiert eine Art Zeitschleife um den zentralen Unfall, bei der durch die Schuld der einen Frau die andere Frau zu Tode kommt. Das Video S UGAR W ATER verdeutlicht damit in besonderem Maße die Opposition von Selbstreflexivität und Narrativität: Entweder ein Syntagma ist narrativ, das heißt, es wird zwischen einer Ausgangssituation (a: Beide Frauen leben) und einer Endsituation (b: Eine Frau ist tot) durch eine Transformation (T: Die eine Frau verursacht einen Unfall und damit den Tod der anderen Frau) unterschieden (a vs. b), oder aber ein Syntagma ist selbstreflexiv und damit nicht narrativ, das heißt, ein Geschehen vermittelt nicht zwischen zwei unterschiedenen Zuständen in einer Ausgangs- und Endsituation, sondern wiederholt sich unendlich und verweist auf das immergleiche Geschehen (T = T: Die eine Frau wird durch die Schuld der anderen Frau getötet, die eine Frau wird durch die Schuld der anderen Frau getötet usw.) Das grundsätzliche Thema von Gondrys Videoclip-Schaffen, das sich hier ablesen lässt, ist das Austarieren von Narrativität und selbstreflexiver Tautologie durch das Prinzip der Potenzierung, 2 also der gestuften Wiederholung in Form der Multiplikation von Bildern und Motiven sowohl im Filmbild selbst als auch durch die Wiederholung von Einstellungsfolgen. Eindrucksvoll wird dies auch in Gondrys Video zu C OME I NTO M Y W ORLD von Kylie Minogue auf den Punkt gebracht: In einer einzigen Einstellung schreitet Kylie Minogue immer wieder einen räumlichen Kreislauf ab, wobei mit Beginn des neuen Kreislaufs Varianten des immergleichen Verhaltens von Kylie Minogue in alle simultan wieder ablaufenden vorherigen Kreisläufe einkopiert werden. Am Ende tanzen sechs immer gleiche und in Variation immer gleich handelnde Kylies durch eine eigene, ganz spezielle, mediale und tautologische, außerzeitliche Welt. Gondry hat durch das ständige formale Experimentieren mit Serialität, Zirkularität und Selbstbezüglichgkeit schnell einen Kultstatus als “postmoderner” Videokünstler erreicht. Gondry wird mittlerweile als “Auteur” der Musikvideoszene vermarktet, dessen Videoclip- Schaffen im Jahr 2003 in der DVD-Reihe D IRECTOR ’ S S ERIES als Sammlung erschienen ist. Seinem typischen Erzählstil der Musikvideos ist Gondry auch als Filmregisseur in seiner ersten großen Hollywood-Spielfilm-Produktion für “Focus Films” treu geblieben. In dem 2004 von Gondry gedrehten Film E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (V ERGISS - MEINNICHT ) zeichnet sich die Oberflächenebene durch eine massive Durchbrechung klassischer Erzählverfahren des konventionellen narrative-hollywood-styles 3 aus: 1. Der Film enthält mehrere, ineinander verschachtelte Erzählebenen, deren Grenzen immer wieder von Figuren überschritten werden. Der Film macht also seine Gemachtheit als mediales Artefakt transparent und verweist selbstreflexiv auf sich als audiovisuelles Medium. 2. Der Film konzipiert Figuren, die sich innerhalb der Diegese bewusst sind, dass sie sich nur in einer aus virtuellen Bildern konstruierten Welt befinden. 3. Der Film problematisiert generell die Konstitution der Identität der Person durch die Vorgänge des Erinnerns und Erzählens, die Innovativer Stil - konservative Ideologie 155 innerhalb der Diegese als medialisiert gekennzeichnet werden. Damit legt der Film eine Konzeption der Person und ihrer Identität nahe, die nur aus medialen Versatzstücken und damit aus vorkodierten Zeichenkomplexen besteht. 4. Zusätzlich werden intertextuelle Verweise auf Personen der Literatur- und Geistesgeschichte wie Alexander Pope und Nietzsche, aber auch auf die Populärkultur eingestreut. Selbstreflexivität, Intertextualität, die Thematisierung der Medialität des Bildes und die Konstitution und Dekonstruktion personaler Identität durch Erinnern und Erzählen legen nahe, dass es sich bei V ERGISSMEINNICHT um einen typisch postmodernen Film handelt. 4 Dementsprechend hatte der Film auch nicht nur bei einem jungen, intellektuellen Großstadtpublikum Erfolg, sondern wurde außerdem im Februar 2005 mit einem Oscar für das beste Originaldrehbuch von Charlie Kaufman ausgezeichnet. Mit V ERGISSMEINNICHT scheint Gondry der Sprung vom Videoclip-Regisseur in die junge Regiegeneration Hollywoods gelungen zu sein. In den folgenden Ausführungen möchte ich nun skizzieren, dass V ERGISSMEINNICHT jedoch nur den Anschein eines postmodernen Textes auf der Oberfläche seines discours erzeugt. Dem Film fehlen nämlich zwei entscheidende Kennzeichen, die strukturell einen postmodernen Text auszeichnen: 5 1. Dem Film fehlt die grundsätzliche Bedeutungsoffenheit eines postmodernen Textes. 2. Damit verbunden fehlt dem Film die Konzeption eines postmodernen Zeichenbegriffes, bei dem die Zeichen nur auf sich selbst als gemachte Zeichen verweisen, zwischen denen eindeutige Bedeutungen fluktuieren, ständig verschoben werden und auf diese Weise den Text als rein mediales Artefakt ohne originären Ursprung und individuelle Bedeutung konzipieren. Wesentliches Kennzeichen eines postmodernen Textes ist die Dekonstruktion von Sinn und die Bedeutung, dass es keinen definitiven Sinn in den im Text arrangierten Zeichen gibt. Im Gegensatz zu diesen strukturellen Merkmalen eines postmodernen Textes vermittelt der Film aber eine eindeutige Botschaft: Gerade hinter und jenseits aller Medialität von Erinnerung und ihrer selbstreflexiven Vergegenwärtigung propagiert der Film die eine, außerzeitliche und universell gültige Liebe zu dem einen optimalen Partner als Identität der Person. Meine These ist also, dass der Film V ERGISSMEINNICHT eine Art postmodernen Epochenstil wie ein Kleid an der Oberfläche vorführt, der Körper und die Substanz des Films aber konventionelle und konservative Werte und Normen konzipiert. Der Film wäre damit strukturell in keiner Weise postmodern. Demzufolge will ich im Folgenden zunächst die histoire, die erzählte Geschichte, von V ERGISSMEINNICHT rekonstruieren und die vom Film vermittelten, eindeutigen, ideologisch konservativen und nicht nur aus der trivialen Film- und Literaturgeschichte altbekannten Werte und Normen in den Bereichen der Person und der Liebeskonzeption darstellen. In einem nächsten Schritt wird dann ausgeführt, wie der discours, die Textoberfläche, mit Hilfe selbstreflexiver Strategien den Eindruck einer prinzipiellen Medialität von Identität und Person und damit den Anschein der Bedeutungsoffenheit und Relativität der im Filmbild vermittelten Bedeutungen aufbaut. Die Ausführungen zum discours sollen dazu dienen, Überlegungen zu einem rein an der Oberfläche vorhandenen postmodernen Epochenstil und seiner kulturellen Funktion anzuschließen. Abschließend wird eine Definition von ‘Stil’ vorgeschlagen, die auf dem semiotischen Kodebegriff beruht. Jan-Oliver Decker 156 2. Handlungsabriss Der Film V ERGISSMEINNICHT spielt in New York und erzählt die Liebesgeschichte von Joel Barish (Jim Carrey) und Clementine Kruczynski (Kate Winslet). Beide sind absolut gegensätzliche Charaktere: Joel ist introvertiert, schüchtern, äußerlich unauffällig und Tagebuchschreiber. Die Buchhändlerin Clementine ist dagegen extrovertiert, impulsiv und äußerlich bunt und exaltiert. Beide sind seit zwei Jahren ein Paar und haben sich im Badeort Montauk auf Long Island kennen und lieben gelernt. Im Laufe der Beziehung kommt es zu den üblichen Routineerscheinungen in Beziehungen, die dazu führen, dass sich die Leidenschaft zwischen beiden abschleift. Schließlich führt die Gegensätzlichkeit der Charaktere ungefähr eine Woche vor dem Valentinstag 2004 zu einem beleidigenden Streit. Es kommt zum Ende der Beziehung. Clementine verlässt Joel und lässt ihn durch Dr. Howard Merzwiak, Gründer und Betreiber der Firma Lacuna Inc., per maschineller Gehirnmanipulation aus ihrem Gedächtnis löschen. Einer von Merzwiaks Mitarbeitern, der junge Patrick (Elijah Wood), verliebt sich beim Löschvorgang in Clementine und beide gehen eine Affäre ein, ohne dass Clementine weiß, wer Patrick ist, noch dass er bei der Löschung von Joel aus ihrem Gedächtnis dabei war. Joel leidet in der Folge nicht nur unter der Trennung, sondern vor allem auch darunter, dass Clementine ihn aus ihrem Gedächtnis ausradiert hat und er deshalb die Beziehung nicht mehr retten kann. Joel beschließt nun, Clementine ebenfalls von Dr. Merzwiaks Firma am 13. Februar 2004, einen Tag vor dem Valentinstag, aus seinem Gehirn löschen zu lassen. Während des Löschvorgangs besinnt sich Joel jedoch und will Clementine im Gedächtnis behalten. Innerlich versucht er sich gegen die Löschung zu stemmen und seine Erinnerungen an Clementine unter anderen Erinnerungen zu verstecken. Auch bei Clementine ist die Gedächtnislöschung nicht ohne Folgen geblieben. Sie reist, ohne zu wissen warum, in der gleichen Nacht mit Patrick an die Orte ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Joel, findet jedoch dort nicht den erhofften Frieden. Patricks Versuche mit Hilfe der bei Lacuna kartierten Erinnerungen von Joel Clementine fester an sich zu binden, scheitern zunehmend. Beide reisen zurück nach New York. Clementine fühlt, dass sie sich als Person mit einer konturierten Identität auflöst. Währenddessen kommt es zu Komplikationen beim Löschvorgang von Clementine aus Joels Gedächtnis, weil Joel sich innerlich gegen die Auslöschung Clementines aus seiner Erinnerung wehrt. 6 Der Techniker Stan und die Empfangsdame von Lacuna Inc. Mary müssen Dr. Merzwiak zu Hilfe holen. Merzwiak gelingt schließlich die komplette Löschung Clementines aus Joels Gedächtnis. Kurz bevor die Löschung komplett ist, hat Joel jedoch eine innere Verbindung zu Clementine. Joel und Clementine beschließen, einen neuen Schluss ihres ersten Kennenlernens zu imaginieren und sich nach der Löschung von Clementine aus Joels Gedächtnis in Montauk wieder zu treffen. Unmittelbar nach dem Löschvorgang bei Joel gesteht die Sprechstundenhilfe Mary Dr. Merzwiak ihre Liebe. Im Verlauf dieses Liebesgeständnisses kommt heraus, dass der verheiratete Merzwiak mit seiner Sprechstundenhilfe Mary schon mal ein Verhältnis gehabt hat und Mary selbst dem Löschverfahren unterzogen worden ist. Am nächsten Tag, dem Valentinstag 2004, verlässt Mary Lacuna Inc. und schickt den Patienten von Dr. Merzwiak aus ethischen Gründen ihre Akten, damit diese um die verlorenen Teile ihrer Person wissen. 7 Am Morgen des Valentinstages will Joel wie gewöhnlich mit dem Zug zur Arbeit fahren, folgt jedoch einem inneren, unbewussten Impuls und fährt an den Strand von Montauk, an dem er und Clementine sich vor zwei Jahren kennen gelernt haben. Am Strand von Montauk Innovativer Stil - konservative Ideologie 157 Abb. 1 trifft Joel Clementine, beide lernen sich wieder kennen, als ob es das erste Mal ist, und verlieben sich wieder ineinander. Obwohl beide schließlich durch Marys Indiskretion ihre Akten bekommen und erfahren, wie verächtlich sie am Ende ihrer ersten Beziehung übereinander gedacht haben, beschließen sie einen Neuanfang. Am Ende des Films wird also der Ausgangszustand, die Beziehung von Joel und Clementine, wieder hergestellt. Die Löschung der Erinnerung an den jeweils anderen erweist sich zwar als faktisch, die Liebe zwischen Joel und Clementine ist jedoch unauslöschbar. 3. Semantische Räume und Leitdifferenzen Aus diesem Handlungsabriss wird deutlich, dass die entscheidende Leitdifferenz des Films diejenige zwischen Person vs. Umwelt und damit grundsätzlich zwischen innen vs. außen, zwischen personenintern vs. personenextern ist. Der Film inszeniert dabei Joels Inneres als filmisch vermittelten Erinnerungsraum, in dem sich Joel bewegt und zugleich seine Erinnerung durchlebt und diese auch reflektieren kann. Damit ergeben sich für die Person folgende Bedeutungsräume (vgl. Abb. 1): Einem Inneren der Person steht ein Äußeres, eine Umwelt, gegenüber. Die maschinelle, technisch apparative Gehirnmanipulation stellt nun einen Angriff der Außenwelt auf das Innere der Person dar, den die Person zunächst erfolglos abzuwehren versucht. Gerade im Gegensatz zum körperlich physikalischen, technisch apparativen Verfahren der Erinnerungslöschung erweist sich jedoch ein Teil des Inneren der Person, nämlich die Liebe Joels und Clementines, als resistent gegen den Löschvorgang (vgl. Abb. 2). Da diese Liebe damit in Opposition zur technisch-apparativen Gedächtnislöschung steht, bekommt die Liebe zwischen Joel und Clementine das Kennzeichen, natürlich zu sein. Auch wenn die Erinnerung im Film mit dem Gehirn ein biologisch-materielles Substrat hat und außerdem die Gehirnstrukturen die Erinnerungsstrukturen der Person direkt beeinflussen, gilt dies eben nicht für die Liebe. Liebe basiert im Film gerade nicht auf einer biologischen, körperlich-materiellen Grundlage, denn sonst könnte sie den technologisch grundierten Löschvorgang nicht überstehen. Liebe erweist sich in V ERGISSMEINNICHT damit als im wörtlichen Sinne metaphysische, universelle Größe in der Person. Die Liebe zwischen Joel und Clementine ist der unangreifbare Kern ihrer Person. Dass dies nicht nur für Joel und Clementine gilt, zeigt sich beispielhaft an der Parallelhandlung um Dr. Merzwiak und seine Sprechstundenhilfe Mary. Auch wenn die Liebesbeziehung zwischen beiden aus Marys Gedächtnis getilgt worden ist, verliebt sie sich, ähnlich wie im Falle Joels und Clementines, erneut in Merzwiak. Darüber hinaus wird die vom Film als metaphysisch konzipierte Liebe als natürliche Größe durch die im Film abgebildeten topographischen Räume semantisiert, indem die Opposition Technologie der Gedächtnislöschung vs. natürliche Liebe mit der Opposition Stadt vs. Land korreliert ist (vgl. Abb. 3): In der Stadt lassen die New Yorker sich das Ge- Jan-Oliver Decker 158 Abb. 2 Abb. 3 dächtnis zum Teil immer wieder und aus nichtigen Anlässen löschen (z.B. dreimal in einem Monat oder weil der Hund verstorben ist). In der Stadt gelingt Patrick die Aufnahme einer Beziehung zu Clementine, indem er sie ohne ihr Wissen mit der Hilfe von Joels Erinnerungen manipuliert. Dagegen ist die Beziehung zwischen Joel und Clementine mit Naturräumen wie dem Strand von Montauk und dem Charles-River bei Boston verbunden. Der Film baut diese Opposition von Stadt/ Technologie vs. Land/ natürliche Liebe in seinem Verlauf aus: Weil Liebe eine natürliche, unangreifbare Größe in der Person ist, scheitert Patrick am Charles-River, als er versucht, in der Maske aus Joels geraubter Identität Clementine enger an sich zu binden. Und als Clementine, nachdem sie mit Patrick am Charles-River war, nach der Gedächtnistilgung erneut mit Joel an den Innovativer Stil - konservative Ideologie 159 Charles-River fährt, stellt sich zwischen beiden der alte Zauber und die alte Magie ihrer Liebe erneut ein. Auch dass Joel droht, in der Stadt von einem LKW überfahren zu werden, was der Film ständig wiederholt, ist in diesem Kontext zu situieren: In der Stadt droht der technisch-maschinelle Angriff auf die Person, der ihr Leben und somit ihre personelle Integrität bedroht. Liebe ist aber nicht nur eine natürliche, sondern eine auch im spirituellen Sinne metaphysische, magische Größe: Während sich Joel Clementine aus seiner Erinnerung entfernen lässt, fühlt Clementine eine Auflösung ihrer Person. Der Film argumentiert hier implizit, dass der endgültige Verlust der Liebe von Joel und Clementine aus beider Gedächtnis die Integrität Clementines noch weiter auflöst, obwohl ihre Erinnerung an Joel schon komplett eliminiert ist. Wenn sich auch Joel nicht mehr an ihre Liebe erinnert, dann, so die Logik des Films, schreitet der Identitätsverlust Clementines voran und relativiert und desavouiert damit auch die durch Manipulation entstandene, neue Liebesbeziehung zu Patrick. Außerdem entsteht im Umfeld dieser drohenden Auflösung Clementines eine innere Verbindung zwischen ihm und Clementine in Joels Inneren. Als Joel beginnt, sich gegen die Löschung seiner Liebe zu Clementine zu wehren, kann Clementine im Rahmen dieser inneren Verbindung zwischen beiden als eigenständige Person agieren und Joel Ratschläge und Tipps geben, wie er ihre endgültige Löschung verhindern kann. Schließlich kann Clementine in Folge dieser mentalen Verbindung Joel in seinem Inneren trotz der Unausweichlichkeit der Gedächtnistilgung zuflüstern, dass sich beide am Strand von Montauk suchen und wieder finden sollen. Tatsächlich treffen sich beide dann unmittelbar am nächsten Tag wieder, am Valentinstag als Tag des Gedenkens an den Liebespartner, und nehmen ihre Beziehung als zunächst ungewussten Neuanfang auf, der im Ergebnis Joel und Clementine dann aber nur als Erneuerung der alten Beziehung bewusst (gemacht) wird. Gerade durch diese metaphysische, spirituelle Verbindung zwischen Joel und Clementine wird deutlich, dass die Liebe zum Partner als unangreifbarer und natürlicher, emotionaler Kern der Person hermetisch von den Einflüssen einer materiell determinierten, großstädtischen und medizinisch-technologisch höchst modernen Welt abgegrenzt wird. Im Endeffekt erzählt uns der Film V ERGISSMEINNICHT also zunächst die Geschichte einer Entdifferenzierung (vgl. Abb. 4). Die Grenze zwischen der Person und der Umwelt ist durchlässig in Richtung der Person geworden. Die Umwelt kann in die Person technologisch eingreifen. Person und Welt lassen sich nicht mehr klar voneinander abgrenzen, die Person wird entdifferenziert. Dieser Prozess der Entdifferenzierung der Person wird dabei auf der Ebene der Handlungsmotivation der Figuren oppositionell und konträr mit einem Wunsch nach Selbstbehauptung und Autonomie verbunden. Weil Clementine ihre Autonomie als Person behalten will und weil die Beziehung beide unglücklich gemacht hat, trennen sie sich und berufen sich auf sich selbst. Beide lassen die Erinnerung an die Beziehung löschen, damit die Erinnerung an den jeweils anderen die Person nicht dominiert und ihr weiteres Leiden verursacht. Zunächst erzählt der Film also die Geschichte einer Emanzipation der Liebespartner voneinander. Zuerst behaupten Joel und Clementine einen Anspruch und einen Wunsch auf Autonomie. Dieser Autonomiewunsch erweist sich im Verlauf der Handlung aber als fataler Fehler, weil gerade durch die maschinelle Gedächtnistilgung die Grenze zwischen der Person und ihrer Umwelt aufgelöst und die Person damit amorph wird. Durch den Wunsch nach Emanzipation voneinander verlieren die Liebespartner ihre Identität und damit jedwede Möglichkeit einer unabhängigen, autonomen Verwirklichung. Im Ergebnis erweist sich schließlich, dass gar nicht ein autonomes Ich und Selbst, sondern die Liebe zum jeweils Anderen das eigentliche Selbst und der Kern der Person ist. Jan-Oliver Decker 160 Abb. 4 Im Film hat die Person kein anderes Selbst als ihre Liebe und den Wunsch nach einem gemeinsamen, geteilten Leben mit dem Anderen. Damit führt uns der Film den Prozess einer gesteigerten Differenzierung von Person und Umwelt vor (vgl. Abb.4): Die Grenze zwischen Person und Umwelt ist zwar auf der Grundlage des Gehirns materiell-biologisch durchlässig, aber das eigentliche Selbst der Person, die Liebe, ist unangreifbar in der Person als metaphysische und natürliche Größe von der Umwelt hermetisch abgeriegelt. In der Ausgangssituation erscheint uns die Beziehung zwischen Joel und Clementine noch als brüchig. Während des Löschvorgangs erscheint die Grenze zwischen Person und Umwelt aufgehoben. Am Ende ist jedoch weder die Grenze zwischen dem eigentlichen Kern der Person und ihrer Umwelt, noch die versuchte Grenzziehung zwischen den Liebespartnern Joel und Clementine sowie ihrer Umwelt eine durchlässige, sondern eine um das Liebespaar scharf gezogene und abgeriegelte Grenze. Der Film führt uns also nicht die Geschichte einer Entdifferenzierung, sondern vielmehr die Geschichte einer verschärften Differenzierung vor, bei der zum Beispiel aus US-amerikanischen Familienserien altbekannte Muster und Modelle von Liebe und Person und der Liebe zu dem einen optimalen Partner als Identität der Person wieder aufgebrüht werden. 8 Wie konservativ die Liebeskonzeption des Filmes ist, soll noch anhand zweier kleiner Details aus der histoire untermauert werden: 1. Der Streit zwischen Joel und Clementine, der zum Ende der Beziehung führt, beruht darauf, dass Clementine sich ein Baby wünscht, Joel sie aber aufgrund ihres extrovertierten Charakters nicht für eine gute Mutter hält. Oberflächlich wird hier die Gegensätzlichkeit der Protagonisten inszeniert. Unterschwellig vermittelt Innovativer Stil - konservative Ideologie 161 der Film aber auf der Folie seiner Liebes- und Personenkonzeption, dass Clementine sich von Joel trennt, weil er den natürlichen, metaphysischen und unangreifbaren Charakter der Liebe zwischen beiden leugnet und mit dem Kind die natürliche Folge einer natürlichen Liebesbeziehung abwehrt. 2. Am Ende, als Joel und Clementine erkennen, dass sie sich gegen die Löschung der Erinnerung nicht stemmen können, beschließen sie, die letzte Erinnerung, die noch verblieben ist, gemeinsam zu genießen. Beide verzichten auf ihre Erinnerung. Diese Bereitschaft zum Opfern der Liebe und damit (in der Logik des Films) zum Selbstopfer geht mit einem unerschütterlichen Vertrauen und Glauben einher, dass beide trotz fehlender Erinnerung sich am Ende doch als Paar wieder finden werden und die Liebe durch die Gedächtnistilgung unangreifbar ist. Der Glaube an die metaphysische Qualität der Liebe wird dabei zur Vorbedingung, dass die Liebe zwischen Joel und Clementine metaphysisch ist, wie das Ende des Films dann auch evident vorführt. Am Ende des Films wird also die Beziehung aus der Ausgangssituation des Films nicht einfach nur wieder hergestellt, sondern auf einer höheren Ebene zirkulär wieder hergestellt. Die Krise der Beziehung ermöglicht ein Wachsen der Beziehung; die Beziehung wird am Ende auf eine höhere Seinsstufe transzendiert. 4. Erzählverfahren: sekundäre Semiotisierung der histoire durch den discours Diesem letztlich einfachen narrativen Verlaufsschema und diesen konservativen Werten und Normen im Bereich der Liebeskonzeption und der Person in der histoire des Films steht die Präsentation dieser Geschichte durch den discours diametral gegenüber. So konservativ sich die histoire des Films herausstellt, so innovativ sind im Gegensatz dazu die Erzählverfahren, die diese Geschichte vorführen. Der discours des Films wird prinzipiell durch drei Merkmale gekennzeichnet: 1. Die histoire wird fragmentarisiert. 2. Die histoire-Fragmente werden achronologisch miteinander kombiniert. 3. Dabei werden histoire-Fragmente auf die Art und Weise miteinander kombiniert, dass motivisch similare Fragmente entweder i) chronologisch gegenläufige Handlungen miteinander unmittelbar kontrastieren 9 oder aber ii) Symmetrien zwischen unterschiedlichen Zeitabschnitten hergestellt werden. Daraus ergibt sich auf der Oberfläche des discours das Prinzip der motivischen Wiederholung oder Spiegelung 10 , das sekundär die histoire-Fragmente miteinander verbindet. Unabhängig von der Präsentation der histoire durch den verfremdenden und dekonstruierenden discours ist die histoire eindeutig rekonstruierbar. Jedes Filmstück hat eine primäre Bedeutung auf der Ebene der erzählten Geschichte, die unabhängig von ihrer sekundären Präsentation auf der Textoberfläche rekonstruierbar ist. Das heißt, dass zusätzlich zur primären Ebene der histoire im Film auf der Ebene der Textoberfläche eine zweite, sekundäre Ordnung vorliegt, die den Prinzipien der Fragmentierung, Wiederholung, der Serialisierung und der Spiegelung verpflichtet ist. Neben einem primären referenziellen Bezug der Filmbilder auf die histoire schaffen die Präsentationsstrategien des discours eine sekundäre Semiotisierung der Filmbilder, die eine ganz eigene Ordnung über der primär referenziellen Bedeutung der Einstellungsfolgen aufbaut. 11 Im Ergebnis bedeutet das, dass die Gliederung des Filmmaterials auf der Ebene des discours einer zweiten Gliederung in Form eines rekonstruierbaren Kodes vorliegt. Jan-Oliver Decker 162 Abb. 5 5. Narrative Grenzüberschreitung: Metalepsen als Strukturmerkmal des discours Wesentlich wird diese sekundäre Semiotisierung im discours dabei durch die Erzählsituation und die Verschachtelung der Erzählebenen des Films geschaffen (vgl. Abb. 5). Der Film beginnt nach der Löschung von Joels Gedächtnis am Valentinstag nur mit einem Titel der Produktionsfirma “Focus Films”. Nach diesem Produktionstitel wird gezeigt, wie Joel, anstatt mit dem Zug zur Arbeit zu fahren, im letzten Moment in den Zug nach Montauk springt und dort Clementine das zweite Mal kennen lernt. Der Zuschauer erfährt zu diesem Zeitpunkt im filmischen Syntagma jedoch nicht, dass der Film fast von seinem Ende her, also proleptisch 12 , beginnt. Der Film beginnt auf der visuellen Ebene konsequent mit einem externen Point-of-view, der auditiv mit einem subjektiven Voice-over von Joels innerer Stimme unterlegt ist. Als Erzählinstanz erster Stufe behauptet der Film zu Beginn also zunächst die Kombination einer Opposition: In der Genetteschen Terminologie haben wir im fiktionsinternen Kommunikationssystem auf der Erzählebene erster Stufe visuell eine unbestimmte extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz, die auditiv mit Joels Stimme als extradiegetisch-homodiegetischer Erzählinstanz verbunden wird. 13 Nachdem Joel und Clementine zum Ende des ersten Segments nicht nur am Valentinstag in Montauk waren, sondern auch die Nacht zum nächsten Tag auf dem zugefrorenen Charles-River zugebracht haben, erfolgt eine Abblende. Nach der folgenden Aufblende springt der Film im nächsten Segment analeptisch 14 zunächst unmittelbar in das Geschehen nach der Trennung von Joel und Clementine. Joel fährt heulend mit dem Wagen durch die Stadt. Dazu werden jetzt erstmals alle wichtigen, Innovativer Stil - konservative Ideologie 163 bisher fehlenden Credits wie Schauspielernamen, Regisseur und Filmtitel eingeblendet. V ERGISSMEINNICHT entwickelt damit folgende Grobgliederung: 1. Der Film entwirft eine Rahmen- und eine Binnengeschichte, die jeweils als separate Filme gekennzeichnet werden. 2. Der Rahmen erweist sich als Prolepse, die Binnengeschichte gegenläufig als Analepse. Damit bleibt auf der Ebene der Grobgliederung des Films unentscheidbar, wann denn der eigentliche Erzählzeitpunkt angesiedelt ist, von welchem Zeitpunkt also Analepse und Prolepse als Fixpunkt zu bestimmen sind. 3. Darüber hinaus liegt nach Genette zwischen Rahmen und Binnengeschichte eine narrative Metalepse vor, 15 denn der eröffnende Rahmen präsentiert nur einen Ausschnitt aus dem Ende, das chronologisch der Binnengeschichte nachgeordnet ist. Außerdem wird die Binnengeschichte im Gegensatz zum Rahmen durch die eigentlichen Filmcredits eingeleitet. Die Binnengeschichte wird damit als höherrangige Erzählebene formal und inhaltlich als Erklärung des Rahmens sowieso als hierarchisch höchste Erzählebene gegenüber dem einleitenden Rahmen aufgewertet. Innerhalb der Binnengeschichte wird nun eine weitere Verschachtelung der Erzählebenen ineinander vorgeführt. Die Binnengeschichte präsentiert sich aus einem auditiv und visuell externen Point-of-view. Die Binnengeschichte schafft zunächst die Fiktion, von einer unbestimmten und personell unbesetzten, heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert zu werden. Innerhalb der nächsten Sequenzen lassen sich jedoch einige merkwürdige Anzeichen beobachten: Scheint es zunächst noch so, als würde der Film simultan zum gegenwärtigen Geschehen zwischendurch Joels Erinnerungen an Vergangenes aus seiner nachgeordneten, subjektiven Perspektive präsentieren, kommt in diesem Segment schließlich heraus, dass sich fast die ganze Binnengeschichte, die nach den Hauptcredits beginnt, ausschließlich in Joels Kopf abspielt. Joel ist damit auf einer dritten Erzählebene in diesem Segment nach Genette ein autodiegtischer 16 Erzähler, ein Erzähler, der seine eigene Geschichte erzählt. Ab dieser Stelle im filmischen Syntagma weiß der Zuschauer also, dass er Joels Geschichte mit Clementine folgt, wie sie in Joels Kopf abgespeichert ist. Was zunächst als unmittelbare Handlung erschien, ist also selbst schon Erinnerung, die durch den Löschvorgang ausgelöst wird. 17 Aus dem zunächst der Binnengeschichte zugewiesenen, visuell und auditiv externen Point-of-view zeigt uns der Film allein und ausschließlich die Techniker, die Joels Gedächtnis tilgen und die um sie herum ablaufenden Handlungen in Joels Zimmer. Damit erweist sich an dieser Stelle der Zeitpunkt des Löschvorgangs als der eigentliche Erzählzeitpunkt des Gesamtfilms, von dem aus die histoire des Films zu rekonstruieren ist. Der Film baut die Fiktion auf, dass der Zuschauer die Binnengeschichte simultan zum Löschvorgang betrachtet. Dieser Löschvorgang endet schließlich mit einer Abblende, um dann den Rahmen wieder aufzunehmen. Zunächst wird am Ende des Films gerafft der Anfang des Films, das erste Segment, zusammengeschnitten. Hier fehlt jetzt auditiv das subjektive Voice-over Joels. Das letzte Segment der Grobgliederung wird von einer extradiegetischen-heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert. 6. Technologische Manipulation vs. natürliche Liebe als Ursache von Metalepsen Innerhalb des Löschvorgangs in der Binnengeschichte kommt es nun zu einer erneuten Verschachtelung der Erzählebenen: Vermischt werden hier 1. die autodiegetische Erzählebene (Joel als Erzähler des eigenen Löschvorgangs) und 2. eine übergeordnete, personell unbestimmte Erzählebene. So inszeniert der Film den Moment, in dem Joel sich der Jan-Oliver Decker 164 Löschung seines Gedächtnisses bewusst wird, als Metalepse zwischen ihm als erinnerter Figur in seinem Kopf auf der einen Seite und der Erzählung seiner Gedächtnislöschung durch die Maschine auf der anderen Seite. Zu sehen ist zunächst, wie in Joels Erinnerung Joel und Clementine auf dem Sofa sitzen und beim Fernsehen essen. Joel nimmt nun aus seiner subjektiven Perspektive als zugleich erinnernde und erinnerte Figur wahr, wie Patrick bei diesem Erinnerungs- und Löschvorgang in Joels Küche geht. Das kann Joel jedoch gar nicht sehen, da Joel sich als erinnerte Figur in seinem eigenen Kopf befindet und nichts von der gleichzeitig um ihn herum stattfinden Gedächtnislöschung mitbekommen kann. Der von Joel erinnerte Joel geht nun in die Küche und sucht nach Patrick, den er aber nicht findet. Als er zurückkehrt hört er aus der Richtung seines erinnerten Schreibtischstuhls den Techniker Stan, der mit Patrick redet. Gleichzeitig steht Joel in seiner Erinnerung in seinem Kopf hinter dem Fernseher, in den er und Clementine vorher geschaut haben. Auf dem Fernsehschirm ist aber kein Fernsehbild zu sehen, sondern Clementine, die essend auf dem Sofa sitzt. Kurz darauf ist dann im Fernseher, hinter dem Joel steht schließlich nicht mehr Clementine, sondern derjenige Blick auf Joel zu sehen, der eigentlich vom Fernseher verstellt wird. Während Joels Kopf oberhalb des Fernsehers zu sehen ist, setzt das Fernsehbild den fehlenden und sich simultan mit Joels Kopf bewegenden Torso des von ihm selbst erinnerten Joels fort. Es kommt in dieser Sequenz also zu zwei miteinander kombinierten Metalepsen: 1. Es liegt eine Metalepse zwischen der von Joel erinnerten Geschichte (autodiegetische Vergangenheit) und der Geschichte vor, in die eingebettet er diese Geschichte erinnert (die Binnengeschichte des Löschvorganges). Es handelt sich, aus Joels subjektiver Perspektive, die uns die Filmbilder zeigen, um eine Metalepse auf einer höheren Erzählebene. Die Metalepse erfolgt zwischen der hierarchisch übergeordneten Erzählebene der Binnengeschichte und der hierarchisch nachgelagerten Erzählebene in Joels Kopf. Die Grenze zwischen der Erzählebene in Joels Kopf und zwischen der Erzählebene außerhalb seines Kopfes wird überschritten. Joel nimmt die Techniker wahr, die gerade dabei sind, sein Gehirn zu manipulieren. 2. Gleichzeitig liegt zusätzlich eine zweite Metalepse zwischen der von Joel erinnerten Geschichte und der potenziell auf dem Fernseher in diese Erinnerungsgeschichte eingebetteten Geschichte vor. Als Erzählinstanz ist der Fernseher in Joels Erinnerung eine hierarchisch nachgeordnete Erzählinstanz. Die Grenze zwischen der Welt, in der Joel sich in seinem Kopf befindet, und der Welt im Fernseher in dieser Welt wird überschritten. Joel und mit ihm der Zuschauer begreifen nun ab diesem Moment im Verlauf der Binnengeschichte, dass Joel sich in seinem Kopf befindet und dass er nur eine Figur ist, die virtuell durch sein nurmehr in der Erinnerung erzähltes Leben mit Clementine läuft und das Durchleben der Erinnerung ein Merkmal des Löschvorganges der Erinnerung ist. Als Joel beim Durchleben einer erotischen Erinnerung mit Clementine schließlich begreift, dass er sie wirklich liebt und dass ihre gemeinsame Intimität den Kern seiner Person ausmacht, versucht er sich gegen das Löschverfahren zu wenden. Im Zuge dieses mentalen Widerstandes gegen den Löschvorgang hat dabei die folgende Erinnerung eine zentrale Funktion im Filmganzen. Bei dieser Erinnerung liegen Joel und Clementine während einer erotischen Interaktion unter einer Decke und sind von der Außenwelt vollständig abgeschirmt. Der Point-of-view semantisiert durch das Schuss-Gegenschuss-Verfahren, dass alle Einstellungen wechselseitig subjektive Perspektiven von Joel beziehungsweise Clementine sind. In dieser Sequenz wird durch die Abschottung von jeglicher Außenwelt (den vollständig subjektiven Point-of-view und verbal durch das wechselseitige Liebesgeständnis und Clementines Bitte an Joel, sie Innovativer Stil - konservative Ideologie 165 niemals zu verlassen) deutlich akzentuiert, dass der Kern der Person sowohl für Joel als auch für Clementine jeweils die Liebe zum anderen Partner ist. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Sequenz, dass Clementine Joel von ihrer Identität als Kind erzählt und sich damit ihm gegenüber öffnet und Einblick in ihre Person gewährt. Diesen verbal gegebenen Einblick in Clementines Persönlichkeit setzt der Film aber auch visuell um. Zuerst wird eine Fotografie der 8-jährigen Clementine in Ganzgroßaufnahme eingeschnitten, während sie deiktischdemonstrativ Joel dieses Bild annonciert: “Da! Da bin ich acht Jahre alt.” Der Zuschauer sieht also mit den Augen Joels auf dieses Kinderfoto von Clementine. Unmittelbar darauf folgt als weiteres Insert die Detailaufnahme aus dem Gesicht einer Baby-Puppe, über die Clementine spricht. Die Puppe hatte in ihrer Kindheit die Rolle einer Stellvertreterin ihrer Person, auf die sie alle Eigenschaften projiziert hat, die sie an sich selbst nicht mochte. Die Puppe als Abbild der Person und fast magisches Artefakt der Projektion negativ bewerteter Persönlichkeitsmerkmale kann nun eigentlich nur Clementine sehen. Es handelt sich um eine ihrer ganz individuellen Erinnerungen. Durch das Einschneiden der Detailaufnahme des Puppengesichtes in den ansonsten subjektiven Point-of-view zwischen Joel und Clementine baut diese Sequenz dabei aber die Bedeutung auf, dass nicht nur der Filmzuschauer eine Kindheitserinnerung im Kopf von Clementine unmittelbar anschauen kann, sondern dass Joel, in dessen Kopf die Erinnerung an diese erotische Situation mit Clementine unter der Decke angesiedelt ist, ebenfalls damals und jetzt im Moment des Erinnerns an diese vergangene Situation unmittelbar und direkt wörtlich einen Einblick in Clementines ganz individuelle und subjektive Erinnerung hat. Der Zuschauer sieht durch die Montage plötzlich, wie Joel sich in Clementines Erinnerung bewegt und mit ihren Augen auf ihre Vergangenheit als Kind und auf ihre Puppe sieht. Damit liegt eine neue, entscheidende Art der Metalepse vor, denn Joel kann sich als unmittelbar Erblickender innerhalb der von Clementine abhängigen Erzählung ihrer Kindheit bewegen. Joel sieht direkt in seiner erinnerten Erinnerung in die Erinnerung der Erzählinstanz Clementine und damit in eine von ihr abhängige, nachgeordnete Erzählebene. Genau diesen Einblick Joels in das Innere der Liebespartnerin baut der Film dann im weiteren Verlauf als mentale (Liebes-)Verbindung zwischen Joel und Clementine aus. Joels innere Clementine emanzipiert sich in seiner Erinnerung schließlich zu einer selbständig agierenden Person in seinem Inneren. Gerade hier an dieser Stelle macht der Film durch die Verschachtelung der Erzählebenen deutlich, dass die Liebe von Joel und Clementine als universelle Konstante außerhalb des maschinell manipulierbaren Gedächtnisses behauptet wird. Der Film unterscheidet also innerhalb des gleichen narrativen Verfahrens - nämlich dem narrativen Kurzschluss zwischen der Ebene, auf der erzählt wird, und der Ebene, von der erzählt wird - zwei grundsätzlich differente Formen der Metalepse in der Diegese: Die maschinell durch die Gehirnmanipulation erfolgenden Metalepsen verdeutlichen den Löschvorgang der Erinnerung an die geliebte Person. Dagegen verdeutlicht die nicht maschinell, sondern in der Liebessituation als natürlich bewertete Metalepse zwischen Joel und Clementine unter der Decke die ultimative Verschmelzung der beiden Liebespartner zu einer Person, bei der der Liebespartner und damit die Liebe zum Liebespartner der jeweilige Kern der Person ist, der sich nicht aus der Person tilgen lässt. Man kann in der Logik des Films zwar die Erinnerung an die geliebte Person technologisch löschen, nicht jedoch die Liebe zur geliebten Person, die natürlicherweise zu einer Verschmelzung beider Identitäten führt und durch die Metalepse bei der Erinnerungssituation unter der Decke abgebildet wird. Der Emanzipationsprozess Clementines in Joels Innerem wird dann im Film abgeschlossen, als Joel sich an ihren gemeinsamen Aufenthalt am Charles-River erinnert. Ab jetzt Jan-Oliver Decker 166 agiert Clementine mit Joel und schlägt vor, die Erinnerung an sie in anderen Erinnerungen, vornehmlich aus der Kindheit, zu verstecken. Dadurch wird - und das ist ganz entscheidend - die Intimität zwischen beiden erhöht: Joel, der Clementine nie etwas aus seinem Leben erzählt hat, lässt sie jetzt in Ecken seiner Person blicken, die sie bisher nicht kannte. Diese Öffnung Joels ist es dann schließlich, die fast am Ende des Films in der allerersten Erinnerung an Clementine dazu führt, dass er sich für sie entscheidet und sie sich für ihn und dass sich am Ende der Beziehung und des Löschvorganges das Paar erneut konstituiert. Erzählen und vor allem das Sich-selbst-Erzählen und das ‘Sich-dem-Partner-als-Teil-desselbst-Erzählen’ ist also im Film die wichtigste Tätigkeit überhaupt. Gleichgültig also, wie die Erzählebenen formal hierarchisiert sind: die subjektive Erzählposition Joels ist semantisch die wichtigste, auch wenn sie formal nicht die hierarchisch höchstrangige ist, da die ständigen narrativen Kurzschlüsse ja gerade die Möglichkeit einer eindeutigen Hierarchisierung der Erzählebenen formal aufheben. Joel, der immer nur auf sich selbst bezogen ist, ist damit durch das sich Sich-selbst-Erzählen die Verkörperung von Selbstreflexivität und Selbstbezüglichkeit par excellence. Joel, die Verkörperung der Selbstreflexivität und Selbstreferenzialität, wird damit im Film zum ultimativen, verkörperten Prinzip des Sich-selbst-Bespiegelns, das wiederum seinerseits die formalen Spiegelungen der einzelnen Fragmente untereinander widerspiegelt. Nur nebenbei sei angemerkt, dass in Kombination mit der Liebeskonzeption im Film damit eine eigentlich zirkuläre und paradoxe Situation innerhalb der vom Film konstruierten Selbstreferenzialität erreicht wird: Das eigene Selbst ist nur die Wiederspiegelung des geliebten Partners; das Ich ist ausschließlich der Spiegel des/ der Anderen, dessen/ derer man sich selbst potenziell unendlich selbst vergewissert, um sich als Ich und Selbst immer wieder prozessual zu konstituieren. Der Film V ERGISSMEINNICHT erzeugt also auf der Ebene der Präsentationsstrategien die Bedeutung, dass die Widerspiegelung des eigenen Selbst bis ins Unendliche potenziert und fortgetrieben wird. Damit lässt sich aus den bisherigen Ausführungen folgern, dass der Film ein Spiel mit den Grenzen der Erzählebenen treibt und ein System von Erzählebenen entwirft, um diese zu überschreiten und zu dekonstruieren. Sinn dieser Überschreitung und Dekonstruktion der Erzählebenen ist dabei vor allem, das Erzählen als die entscheidende Tätigkeit zu idealisieren, die die Person und ihren Sinn überhaupt konstituiert. Alle Formen medialer Selbstbezüglichkeit im Film sind damit nichts weiter als die Variation und Illustration dieser sich ihrer selbst vergewissernden Funktion des Erzählens. 18 Wenn Joel 1. zugleich in einem erinnerten Fernsehbild als abgebildete Person und in seiner Erinnerung als agierende Person ist, wenn Joel 2. sich als Kinozuschauer in einer Erinnerung selbst bei der Flucht mit Clementine durch seine Erinnerungen wahrnimmt, wie dies ja auch die Kinozuschauer im Sessel vor der Leinwand beim Anschauen des Filmes tun, und wenn 3. beim Anlegen der mentalen Karte von Joels Erinnerungen in der Arztpraxis diese Erinnerungen durch einen Monitor auf eine Leinwand projiziert werden, dann wird zwar die Mittelbarkeit der vorgeführten Bilder als mediale und eben erzählte Bilder exzessiv immer wieder betont, eine grundsätzliche Bedeutungsoffenheit und Reflexion über das Medium Film selbst als eine Sinnerzeugungsmaschine, die der Film V ERGISSMEINNICHT ohne Zweifel ist, aber geradezu verschleiert. Gerade die Fülle der narrativen Kurzschlüsse und die Dekonstruktion und Fragmentierung der histoire erzeugen also nicht per se eine Dekonstruktion von Sinn und eine prinzipielle Bedeutungsoffenheit in einem filmischen Text. Vielmehr werden hier die herkömmlichen Verfahren der Sinndekonstruktion durch Fragmentierung, Metalepsen und mise-en-abyme- Strukturen dazu genutzt, den Wert universeller Liebe zu einer anderen Person als Stiften von Identität als Wert massiv zu idealisieren. Innovativer Stil - konservative Ideologie 167 7. Zur Konturierung eines Epochenstils der ‘Postmoderne’ Aus den Ausführungen zu discours und histoire des Films sollte hervorgegangen sein, dass V ERGISSMEINNICHT eine grundsätzliche Differenz zwischen seiner Oberfläche und seiner Tiefenstruktur entfaltet. Einerseits erscheint der Film auf der Textoberfläche formal offen, aufgebrochen, fragmentiert und überstrukturiert, andererseits ist jedoch die eindeutige Funktion dieser nur oberflächlich bedeutungsöffnenden, dekonstruierenden Erzählweise in der Tiefenstruktur des Textes, die Liebe von Joel und Clementine als universelle und natürliche Konstituente der Identität der Person als genau die eine eindeutige Bedeutung des Filmes aufzubauen. Damit lässt sich festhalten, dass in V ERGISSMEINNICHT eine fundamentale Differenz und semantische Grenze zwischen der Ebene des Erzählens und der Ebene des Erzählten vom Film etabliert wird. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Intertextualität des Films nur als eine sekundäre Semiotisierung und Aufgarnierung der oberflächlichen Bedeutungsoffenheit als einer bloßen Präsentationsstrategie genau dieser einen Liebesgeschichte von Joel und Clementine. Das Nietzsche-Zitat der Sprechstundenhilfe Mary aus Jenseits von Gut und Böse (1886), dass die Vergessenden selig seien, wird durch die histoire widerlegt. Das Zitat von Alexander Pope, dem der Film seinen englischen Originaltitel E TERNAL S UNSHINE OF THE SPOTLESS MIND aus dem Gedicht Eloisa to Abelard (1717) verdankt, wird dagegen konkretisert: Der ewige Sonnenschein der makellosen, unbefleckten Erinnerung ist in der Logik des Filmes die Liebe zwischen Joel und Clementine, die wie die Liebe von Heloise und Abelard eine große und universelle Liebe ist. Gleichzeitig impliziert der Film recht deutlich durch das literarisch und damit medial vorkodierte Zitat als Titel des Gesamtfilms den Anspruch, in einer Traditionslinie kulturell hochbewerteter Texte zu stehen und eine aktuelle Kodierung einer fast mythisch anmutenden universellen Wahrheit darzustellen. Doch die Intertextualität des Films integriert nicht nur die Hochkultur. Der Name Clementine, der mit dem populären amerikanischen Volkslied Oh my Darling verknüpft wird, erweist sich als sprechender Name: Hier im Volkslied wie dort im Film hat das Sprecher-Ich seine Clementine zwar verloren, aber mit ihrer Schwester im Lied wie mit der von ihren negativen Beziehungserfahrungen befreiten Clementine im Film einen fast identischen Ersatz bekommen. Auf der Oberfläche weist sich V ERGISSMEINNICHT also durch folgende sekundäre Semiotisierungen aus: 1. Intertextualität, 2. formale Dekonstruktion der Erzählebenen und damit formal Verschiebung von einer sinnstiftenden Erzählautorität auf eine andere, ohne diese durch narrative Metalepsen absolut bestimmen und hierarchisieren zu können, 3. Fragmentarisierung, 4. Wiederholung und 5. potenziell unendliche Spiegelung der universellen Wahrheit der histoire, dass Liebe den Kern der Identität der Person ausmacht, innerhalb des discours. Diese fünf Prinzipien, die der Film geballt und massiv die ganze Zeit auf sich selbst anwendet, mögen zwar oberflächlich zunächst hinderlich dabei erscheinen, die Tiefenstruktur des Textes zu rekonstruieren. Auf den zweiten Blick wird jedoch klar, dass diese aufeinander gehäuften, projizierten und potenzierten Überstrukturierungen der Textoberfläche funktional in die ideologisch konservative und vor allem eindeutige Sinnproduktion der Liebesgeschichte eingebunden sind. Gerade die Massierung und Potenzierung dieser formalen Verfahren gilt nun aber immer wieder als Ausweis eines postmodernen Textes, doch kristallisiert sich in der Forschung langsam heraus, dass ein postmoderner Text bevorzugt solche Verfahren einsetzt, um Jan-Oliver Decker 168 funktional eine eindeutige Sinnzuweisung zu unterbinden und Sinn immanent im Text konsequent zu verschieben und dadurch Sinn überhaupt zu dekonstruieren. 19 Als Beispiel eines solchen postmodernen Textes sei von mir nur Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) angeführt, dessen Hauptteil sich exemplarisch jedes definiten Sinnes entzieht, außer eben dem, keinen definiten Sinn zu erzeugen. Im Vorwort zu den Fragmenten einer Sprache der Liebe entwirft Barthes programmatisch seinen Text als bedeutungsoffenen Text, der immer wieder nur auf sich verweist und die Person des Liebenden als einer in sich geschlossenen und gefestigte Person dekonstruiert. Dabei wendet sich das Vorwort explizit gegen die traditionellen Liebesgeschichten, wie eine solche eben auch V ERGISSMEINNICHT konstruiert. Im zweiten Kapitel des Vorwortes (“Ordnung”) heißt es in der deutschen Übersetzung: Der Liebende spricht in Satzbündeln faßt diese Sätze aber nicht auf einer höheren Ebene zusammen, zu einem Werk; es ist ein horizontaler Diskurs, kein Heil, kein Roman (aber viel Romanhaftes). Jede Liebesepisode kann freilich mit Sinn ausgestattet sein: er entsteht, entwickelt und vergeht, er folgt einem Weg der immer im Sinne einer Kausalität oder Finalität zu deuten, im Notfall sogar moralisch zu bewerten ist […]. Eben das ist die Liebesgeschichte, wie sie dem großen narrativen Anderen, der öffentlichen Meinung unterworfen ist, die jede exzessive Kraft entwertet […] die Liebesgeschichte (das “Abenteuer”) ist der Zoll, den der Liebende der Welt zu entrichten hat, um sich wieder mit ihr zu versöhnen. Ganz anders der Diskurs, das Selbstgespräch, das a parte, das diese Geschichte begleitet, ohne sie je zu kennen. Es ist das eigentliche Prinzip dieses Diskurses (und des ihn präsentierenden Textes), daß seine Figuren sich nicht miteinander abfinden können: sich nicht einordnen, einen Weg bahnen, auf ein gemeinsames Ziel hinstreben […]. (Barthes 1988: 20f., Hervorhebungen im Original) Roland Barthes’ semantisch und formal offenen, postmodernen Fragmenten einer Sprache der Liebe, welche die personale Einheit relativieren, steht die nur formal aus Fragmenten aufgebaute Liebesgeschichte in V ERGISSMEINNICHT gegenüber, die die personale Einheit konstituiert. Daraus lässt sich folgern: 1. Die Potenzierung der Spiegelungen, intertextuellen Verweise, Selbstreferenzialitäten und Selbstreflexivitäten und das Aufbrechen der Ordnung der Erzählebenen durch Metalepsen bedingt nicht per se eine Offenheit des Sinns. 2. Die massive Überstrukturierung des discours suggeriert eine Offenheit, wo nichts anderes als eine eindeutig rekonstruierbare Tiefenstruktur ist. 3. Die Potenzierung der Spiegelungen, intertextuellen Verweise, Selbstreferenzialitäten und Selbstreflexivitäten und das Aufbrechen der Ordnung der Erzählebenen durch Metalepsen sind Phänomene einer sekundären Semiotisierung und damit einer Wahl aus formalen Alternativen und somit Stilphänomene. 20 4. Diese Geschichte des Films V ERGISSMEINNICHT hätte man auch anders erzählen können. Die Oberflächenphänomene suggerieren eine Zuordnung des Films zum Korpus postmoderner Texte, doch diese oberflächliche Zuordnung rechtfertigt der Film nicht auf der Ebene seiner Tiefenstruktur. Ähnlich ist die Entkoppelung von postmoderner Form und struktureller Zugehörigkeit zur Postmoderne, die ich versucht habe an V ERGISSMEINNICHT herauszuarbeiten, schon im Bereich der Gewaltdarstellung in den ebenfalls vorschnell als postmodern etikettierten Filmen David Lynchs aufgedeckt worden, wo ein innovativer discours konservative, patriarchale Sozialnormen verschleiert. 21 Der Einzelfall V ERGISSMEINNICHT scheint damit generalisierbar zu sein. Auch andere Filme und vermutlich auch literarische Texte weisen eine sekundäre Überstrukturierung auf, die im kulturellen Wissen als postmodern bezeichnet wird, ohne dass diese Texte strukturell Merkmale der Postmoderne aufweisen. 22 In solchen Fällen Innovativer Stil - konservative Ideologie 169 sollte künftig von Texten in einem postmodernen Stil oder einer postmodernen Manier, nicht jedoch von postmodernen Texten gesprochen werden. Hypothetisch kann man fragen, ob die Strategien des Films V ERGISSMEINNICHT , nämlich im kulturellen Wissen als postmodern geltende Strukturen dazu zu benutzen, wieder eine eindeutige Bedeutungsstruktur aufzubauen, auch in einem aktuellen größeren Textkorpus gefunden werden. 23 Möglicherweise könnte man auf der Grundlage eines größeren Textkorpus die These aufstellen, dass mit solchen Filmen wie V ERGISSMEINNICHT Versuche vorliegen, mit Hilfe der Formen der Postmoderne die Postmoderne als Epoche zu überwinden und wieder eindeutige Geschichten zu erzählen. Funktion einer nur stilistischen Postmoderne könnte sein, die im Denken des 20. Jahrhunderts nicht mehr mögliche Letztbegründung von Werten und Normen durch eine nur oberflächliche Bedeutungsrelativität zu umgehen, sozusagen unter der Hand aber wieder zu einem neuen Modell erzählter Geschichten zu gelangen. Möglicherweise gehört aber ein Film wie V ERGISSMEINNICHT auch zu (literarischen und filmischen) Texten einer Epoche der ‘Spätmoderne’, die die Postmoderne eben nur stilistisch, nicht aber strukturell in sich integriert und damit hinter der Postmoderne systemisch zurückbleibt, aber noch nach Einsetzen der Postmoderne und zeitgleich mit postmodernen Texten produziert wird. 8. Skizze einer semiotischen Fundierung des Begriffes ‘Stil’ in Literatur und Film Stil erscheint mir nach meinen Ausführungen zu V ERGISSMEINNICHT als ein manifestes Oberflächenphänomen, welches auf einer sekundären Wahl beruht. In diesem Zusammenhang scheint V ERGISSMEINNICHT ein besonders deutlicher Fall einer solchen sekundären Wahl zu sein, weil Selbstreferenzialität ebenso wie Fremdreferenzialität als Verweisen auf textextern konkret identifizierbare Texte und Kontexte aus semiotischer Sicht immer nur Ergebnis einer sekundären Semiotisierung sein können. 24 In einem intensional zu weiten Sinne könnte man Stil am Beispiel von V ERGISSMEIN - NICHT als die zusätzliche Überstrukturierung einer Botschaft verstehen, wie sie auch schon Jakobson in seinem berühmten Gesetz als Projektion des Paradigmas auf das Syntagma für die poetische Funktion der Sprache formuliert hat. 25 Stil wäre in dieser zu weiten Sichtweise dann identisch mit der poetischen Funktion von Sprache, mit der Ausrichtung der Nachricht auf sich selbst als künstlerisch verfertigt. Was jedoch die poetische Funktion der Sprache vom Stil als Form der Überstrukturierung unterscheidet, ist, dass Stil nicht grundsätzlich auf Selbstreferenzialität beruht und Stilphänomene nicht zwingend auf der Basis der manifesten Textkonstrukte die Aufmerksamkeit auf sich als künstlerisch gemacht lenken. Es sind ja im Gegensatz zum postmodernen Stil des Films V ERGISSMEINNICHT auch Stile denkbar, die in keiner Weise Selbstreferenzialität als Stilphänomen nutzen. Ich möchte trotzdem auf der Grundlage meiner Ausführungen zum Film V ERGISSMEINNICHT im Folgenden vorschlagen, den Stilbegriff auf der Grundlage des Kodebegriffes semiotisch neu zu definieren. Die Semiotik unterscheidet laut Nöth (2000: 216-226, bes. 217) zwei unterschiedliche Kodebegriffe: 1. Kode als Synonym für Zeichensystem, bei dem durch konventionelle Regeln Ausdrücke und Inhalte einander zugeordnet werden. 2. Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen zwei Zeichenrepertoires A und B zum Beispiel bei kryptographischen Kodes. Zur Diskussion stellen möchte ich den Vorschlag, ‘Stil’ als Kombination beider Kodedefinitionen zu bestimmen (vgl. Abb. 6). In Texten, filmischen und literarischen, werden nach Jurij M. Lotman (1993 4 : 38-43) primäre Zeichensysteme (Sprache, Filmbilder etc.), also primäre Kodes, miteinander Jan-Oliver Decker 170 Abb. 6 kombiniert. Auf diese Weise kodieren künstlerische Texte sekundär je ganz eigene Bedeutungen und entwerfen nur in ihnen gültige Welten. Literarische und filmische Texte sind nach Lotman (1993 4 : 39) sekundäre semiotische Systeme. 26 In dieser Bestimmung des künstlerischen Textes als eines sekundären semiotischen Systems liegt schon inbegriffen, dass jeder Text je eigene Kodes bei der Textbedeutung entwickelt und damit ganz eigene Bedeutungen produziert, die so zunächst nur ihm zukommen. Solche individuellen Bedeutungsstrukturen konkreter Texte möchte ich als (sekundär erzeugte) primäre Textbedeutungen bezeichnen. Eine bestimmte Ausdrucksebene auf der Textoberfläche wird dabei in jedem sekundären semiotischen System durch in der Tiefenstruktur des jeweiligen Textes individuell rekonstruierbaren Kodes mit den primären Textbedeutungen verknüpft. Eine bestimmte Inhaltsseite ist durch diese Kodes in der Tiefenstruktur in jedem Text zunächst einmal nur in ihm mit einer bestimmten Ausdrucksseite verbunden. Zusätzlich und sekundär können weitere Kodes rein auf der Textoberfläche angesiedelt sein. Im Falle von V ERGISSMEINNICHT sind diese weiteren Kodes auf der Textoberfläche die narrativen Metalepsen und die mit ihnen verbundenen Prinzipien der Fragmentierung, der Intertetxtualität und der Spiegelung. Als rein formale Prinzipien sind diese sekundären Kodes, die allein die Oberflächeneben des Textes strukturieren, nicht mit einer konkreten Bedeutung verknüpft. Wie ausgeführt wurde, implizieren Intertextualität, Metalepsen und mise-en-abyme-Strukturen eben nicht per se die und eine prinzipielle Verweigerung von eindeutiger Bedeutung. Als singuläres Zeichenrepertoire haben diese Phänomene auf der discours-Oberfläche eines Textes zunächst einmal keine festgelegte Bedeutung. Diese erlangen die formalen, sekundären Zeichenrepertoires erst dadurch, dass sie an die Kodes der primären Textbedeutungen in einem konkreten Text angekoppelt werden. Wie an V ERGISS - Innovativer Stil - konservative Ideologie 171 MEINNICHT hervorgehoben wurde, sind es ja gerade die formalen Prinzipien an der Textoberfläche, die mit den primären Textbedeutungen interagieren. Das Besondere an V ERGISSMEIN - NICHT ist nun, dass gerade die Selbstreflexivität auf der Textoberfläche im Zusammenspiel mit den durch die histoire vermittelten Bedeutungen textuell manifest impliziert, dass auch ein anderes, alternatives Zeichenrepertoire an der Textoberfläche diese Textbedeutungen hätte ausdrücken können. Damit ein rein oberflächliches Zeichenrepertoire Bedeutung bekommt, muss es also im kulturellen Wissen mit mindestens einem anderen Zeichenrepertoire verknüpft sein, in welches man es übersetzen kann. Man hätte bei dieser Defintion des Stils also die konkrete Wahl, zwischen potenziell verschiedenen Zeichenrepertoires an der Textoberfläche zu interpretieren. Diese alternativen Zeichenrepertoires, die an der Textoberfläche durch die Kodes aufmontiert werden, die die primären Textbedeutungen in einem konkreten Text individuell regulieren, müssen im kulturellen Gedächtnis als Zeichenrepertoires konventionalisiert sein. ‘Stil’ ist in meinem Definitionsversuch damit die potenzielle Varianz zwischen mindestens zwei Zeichenrepertoires an der Textoberfläche, die mit einem primären Kode der Textbedeutung als Basis verknüpft sind. Dieser auf der Kombination beider Kodebegriffe fundierte Definitionsversuch des ‘Stils’ harmoniert im Übrigen auch mit der Definition wie sie Nöth (2000: 396-399, bes. 398) als Wahl zwischen Alternativen umreißt, die auf der Abweichung von einer Norm begründet ist. Die Norm würde in meiner auf dem Kodebegriff begründeten Stildefinition durch die textimmanent manifesten, rekonstruierbaren Kodes der individuellen Bedeutungsproduktion gesetzt werden, die mit einem im kulturellen Wissen konventionalisierten, zusätzlichen Zeichenrepertoire verknüpft wären. Diese in den manifesten Textstrukturen begründete Definition von Stil griffe meines Erachtens auch bei der Ausweitung auf ein beliebiges Textkorpus. Auch aus einem beliebig erweiterbaren Korpus ließen sich rekonstruierbare, primäre Kodes der Textbedeutungen herausarbeiten, 27 die eine normative Grundlage dafür bilden, mit welchen zusätzlichen Zeichenrepertoires die Texte in diesem Korpus verknüpft sind. Der hier untersuchte Fall V ERGISSMEINNICHT zeigt damit meines Erachtens, dass die analytische Entkoppelung des Stilbegriffes von erzählten Welten und die Verwendung von ‘Stil’ als eines rein deskriptiven Inventars zur discours-Beschreibung zumindest fragwürdig ist. Zwar scheinen Oberflächenebene und Tiefenstruktur in V ERGISSMEINNICHT zueinander in Opposition zu stehen. Wie ich aber mit meinen Ausführungen hoffe gezeigt zu haben, sind discours und histoire im Film eben nicht voneinander entkoppelt, sondern konstituieren zusammen die Bedeutung des Filmes, dass 1. die universelle Liebe als natürlicher Kern der Person und 2. der Prozess des Erzählens und vor allem des sich Sich-selbst-Erzählens die zentralen Konstituenten der Identität der Person in V ERGISSMEINNICHT sind. Gerade V ER - GISSMEINNICHT demonstriert nach meiner Ansicht, dass eine literatur- und medienwissenschaftliche Stilanalyse in aller erster Linie versuchen sollte, Stilphänomene und Epochenzuordnungen funktional an Textbedeutungen festzumachen und erst dann kulturelle Kontexte an Film und Literatur heranzutragen und nicht umgekehrt. Inwiefern eine Ausweitung der Stilanalyse weg von der linguistisch-sprachlichen Ebene auf andere Ebenen des Textes und darüber hinaus auf Kontexte von Texten tragfähig ist, sollte nach meinen Ausführungen zumindest problematisch erscheinen. Ob ein solch umfassender Stilbegriff noch der Norm einer literatur- und medienwissenschaftlich trennscharfen Kategorie entspricht, bleibt zu diskutieren. Jan-Oliver Decker 172 9. Literaturangaben audiovisuelle Medien S UGAR W ATER (USA 1996, Michel Gondry), Musikvideo für Cibo Matto C OME I NTO M Y W ORLD (USA 2002, Michel Gondry), Musikvideo für Kylie Minogue E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (Vergissmeinnicht, USA 2004, Michel Gondry) Primärliteratur Barthes, Roland 1988 [zuerst 1977]: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sekundärliteratur Bisanz, Adam J. 1976: “Linearität vs. Simultaneität im narrativen Raum-Zeit-Gefüge. 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Neben anderen Kennzeichen der Postmoderne ist hier vor allem das nach Gumbrecht auf Lyotard und Baudrillard zurückgeführte Aufheben eines fest gefügten Sinnes durch Durchbrechen der konventionellen Erzählformen, Intertextualität und Selbstbespiegelung für mich im Folgenden von Bedeutung. Vgl. zum Begriff des ‘kulturellen Wissen’ Titzmann (1989). 5 Vgl. zur Präzisierung der Postmoderne als strukturelles Phänomen Petersen (2003: bes. 301-316), dem ich hier folge. Petersen (2003) differenziert vier Kennzeichen der Postmoderne im kulturellen Wissen (Offenheit, Immanenz, Selbstreflexivität und Intertextualität) und kommt durch Analyse dieser Signa in modernen und postmodernen literarischen Texten zu dem Ergebnis, dass das Vorhandensein der vier Kennzeichen allein nicht genügt, um einen postmodernen Text formal von einem modernen Text zu unterscheiden. Wesentlich für einen postmodernen Text sind nach Petersen (2003) das Verweigern eindeutiger Bedeutungsproduktion und eine umfassende Sinndekonstruktion durch die Textstrukturen. 6 Zumindest motivgeschichtlich referiert E TERNAL S UNSHINE intertextuell hier auf Paul Verhoevens T OTAL R ECALL (USA 1990) mit Arnold Schwarzenegger als Doug Quaid. In der Diegese von T OTAL R ECALL ist es im Jahre 2084 üblich, sich unliebsame Erinnerungen durch die Firma “Recall Inc.” komplett austauschen zu lassen. Auch wenn die Plotstrukturen beider Filme völlig unterschiedlich sind, verbindet sie außerdem, dass sowohl E TERNAL S UNSHINE als auch T OTAL R ECALL ins Zentrum des Filmes die Suche ihrer männlichen Protagonisten nach ihrer Identität und dem Kern ihrer Person stellen. In beiden Filmen erweist sich schließlich auch, dass sich das als wahr gesetzte Ich, der eigentliche Personenkern, gegen alle maschinellen Manipulationen als resistent erweist und die eigene Vergangenheit und damit die Identität durch Erinnerung der maschinellen Fremdbestimmung von außen trotzen kann. 7 Hier lässt sich die nächste prominente intertextuelle Referenz von E TERNAL S UNSHINE auf einen populären Kinofilm festhalten, die zumindest als Allusion im Film implementiert ist. Die Rede ist von der französischen Sozialkomödie L A VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE (D AS L EBEN IST EIN LANGER RUHIGER F LUSS , Étienne Chatiliez, F 1987). Hier informiert die von Cathérine Hiegel gespielte Krankenschwester Josette aus Wut über ihren Chef Dr. Mavial, den von Daniel Gélin gespielten Arzt eines Provinzkrankenhauses, zwei Familien darüber, dass sie vor 12 Jahren zwei Säuglinge aus den unterschiedlichen Schichten Bildungsbürgertum und Proletariat kurz nach der Geburt vertauscht hat. Der Plot von D AS L EBEN … benutzt dieses Initialereignis, um zu verhandeln, ob genetische Veranlagung oder soziales Umfeld für die Prägung eines Menschen verantwortlich sind. Auch wenn die Plotstrukturen von E TERNAL S UNSHINE und D AS L EBEN … also keine größeren Gemeinsamkeiten aufweisen, referiert die Geschichte von Mary und Dr. Merzwiak jedoch implizit motivisch auf die von Josette und Dr. Mavial: Beide Ärzte sind nicht bereit für die Sprechstundenhilfe/ Krankenschwester, mit der sie eine Affäre gehabt haben, ihre Frauen zu verlassen (beziehungsweise im Falle von Mavial nach dem Tod seiner Frau Josette zu heiraten und seine verstorbene Ehefrau mental zu verlassen) und lösen damit die Enthüllungen der verlassenen Geliebten aus. Anhand der beiden motivgeschichtlichen Referenzen des Films E TERNAL Jan-Oliver Decker 174 S UNSHINE OF THE SPOTLESS MIND , beziehungsweise der Möglichkeit, die Plotstrukturen des Filmes in zwei Handlungssträngen auf T OTAL R ECALL und L A VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE zu referenzialisieren, lässt sich ein spielerisches intertextuelles Prinzip des Filmes V ERGISSMEINNICHT erkennen. 8 Vgl. exemplarisch für deutsche und US-amerikanische Familienserien Wünsch/ Decker/ Krah (1996). 9 So verläuft eine Erinnerung während ihres Löschvorgang zwar linear in die Zukunft, mit dem Fortschreiten von Erinnerung und Löschvorgang werden aber sukzessive einzelne Elemente der Erinnerung aus dem Filmbild getilgt, bis die Erinnerung gänzlich gelöscht ist. 10 Ich benutze den Begriff ‘Spiegelung’ im Sinne von Fricke (2003) als Form der Potenzierung, das heißt der Reproduktion von Zeichen eines Textes auf einer anderen Zeichenebene des Textes. Christen (1994) weist allgemein nach, dass Selbstreflexivität und Spiegelung dominant ein Thema im europäischen (bes. französischen) Film der 60er Jahre darstellen. Die im Jahre 2004 von Gondry genutzten Verfahren sind also im Kino schon seit 40 Jahren bekannt. Kirchmanns (1994) Entkoppelung der Selbstreflexivität von den konkreten Filmstrukturen und sein Versuch, Selbstreflexivität im Film intentional als Reflexion über die Ästhetik der Moderne in Filmen zu definieren, halte ich aus semiotischer Sicht für unbrauchbar. 11 Vgl. zur Rolle solch sekundärer Semiotisierungen für intertextuelle Bildreferenzen Krah (1997). 12 Vgl. zum Begriff ‘Prolepse’ für eine Anachronie, bei der ein künftiges Ereignis vorwegnehemend erzählt wird, Martínez/ Scheffel (1999: 191), der wohl derzeit populärsten Vermittlung von Genette (1998 2 ). 13 Vgl. zum Begriff der ‘Erzählinstanz erster Stufe’ Genette (1998 2 : 249f.) und im Weiteren zu den Begriffen ‘extradiegetisch’ (für eine Erzählinstanz erster Stufe), ‘intradiegetisch’ (für eine Erzählinstanz zweiter Stufe), ‘heterodiegetisch’ (eine am erzählten Geschehen unbeteiligte Erzählinstanz) und ‘homodiegetisch’ (eine am erzählten Geschehen beteiligte Erzählinstanz) Martínez/ Scheffel (1999: 75-84). Vgl. zur Modifikation dieser Genetteschen Kategorien auch Decker (2006a). 14 Vgl. zum Begriff ‘Analepse’ für eine Anachronie, bei der ein früheres Ereignis nachreichend erzählt wird, Martínez/ Scheffel (1999: 186). 15 Vgl. zum Begriff ‘Metalepse’ Genette (19982: 167ff.) u. Martínez/ Scheffel (1999: 79, 100). Mit dem Begriff ‘Metalepse’ bezeichnet man im Genetteschen Sinne die Grenzüberschreitung zwischen Erzählen und Erzähltem. Bei einem solchen narrativen Kurzschluss wird die Grenze zwischen der Welt, in der erzählt wird, und der Welt, von der erzählt wird, aufgehoben. 16 Vgl. zum Begriff ‘autodiegetisch’ für eine Erzähler erster Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt, Martínez/ Scheffel (1999: 82) 17 Der Film folgt nämlich im Wesentlichen der Logik des Löschvorgangs, wie sie der Film entwickelt. Die Löschung Clementines und aller mit ihr verbundenen Ereignisse und Erinnerungen schreitet nämlich zeitlich rückwärts: Zuerst werden die zeitlich letzten Erinnerungen gelöscht, zuletzt die zeitlich ersten Erinnerungen. 18 Vgl. einführend zum Problem der Selbstreferenzialität, Selbstbezüglichkeit und Selbstreferenz und ihrer Funktionalisierung für eine in Texten manifest, implizite ästhetische Programmatik in den Künsten Krah (2005). Hier zeigt sich, dass Selbstreferenzialität in künstlerischen Texten oft für die Konzeption einer impliziten poetologischen Ebene genutzt wird. Vgl. zur Funktionalisierung von Selbstreferenzialität für die textuell manifeste, poetologische Reflexion der goethezeitlichen Gattung ‘Zyklus’ im Besonderen und ‘Lyrik’ im Allgemeinen sowie zur Thematisierung literarischen Wandels auch Decker (2005) am Beispiel von Heinrich Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder. 19 Vgl. allgemein zur Postmoderne Petersen (2003), vgl. speziell für das Erzählen als solches und die intermediale Verflechtung des literarischen und filmischen Erzählens Bisanz (1976). 20 Vgl. zur semiotischen Definition von ‘Stil’ Nöth (2000: 394-399). 21 Vgl. für die Filme David Lynchs Grimm (1998). 22 Vgl. im Bereich der Literatur auch die Bewertung von Süskinds Das Parfum als postmodern in Gumbrecht (2003: 140) und dagegen in Decker (2006b) den Nachweis der fehlenden strukturellen Merkmale der Postmoderne im Roman. 23 Im Verdacht habe ich die Horrorfilme seit Wes Cravens stilbildendem S CREAM (USA 1996), die das Horrorfilmgenre massiv durch Selbstreflexivität erneuert haben, aber ähnlich wie V ERGISSMEINNICHT eindeutige Botschaften vermitteln. Vgl. exemplarisch zu Gore Verbinskis T HE R ING (USA 2002) einen Vortrag von Eckhard Pabst am 13.12.2005 zum modernen Horrorfilm unter http: / / www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/ veranstaltungen/ ringvorlesungen/ filmklassiker.asp. 24 Vgl. Krah (1997), der semiotisch im Rahmen intertextueller Beziehungen fundiert, dass Referenzialisierungen auf textexternes kulturelles Wissen immer nur durch eine sekundäre Semiotisierung manifester Textdaten erfolgen können. Innovativer Stil - konservative Ideologie 175 25 Vgl. Jakobson (2005: 153). 26 Vgl. die Reformulierung Lotmans durch Titzmann (2003). 27 Vgl. Titzmanns (1991a) Definition von ‘Literatursystemen’, das heißt von quantitativ dominanten Strukturinvarianten eines Textkorpus in einer Kultur, als Grundlage einer textsemiotischen Literaturgeschichtsschreibung.
