eJournals Kodikas/Code 30/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
303-4

Verhüllungen und Enthüllungen im Ritual der Begegnung

121
2007
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Djouroukoro Diallo
Der Beitrag resümiert die anthropologische, semiotische und linguistische Forschungstradition der kulturübergreifenden Erforschung höflichen Grußverhaltens, wirft einen kurzen Blick auf interkulturelle Unterschiede bei Ritualen des Grüßens und nimmt exemplarisch Routinen des Grüßens im malischen Bambara als Objekt interdisziplinärer Höflichkeitsforschung. In einem knappen Fazit wird zugleich eine begriffs- und problemsystematische Synopsis versucht.
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Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung Zeichen des Grußes - besonders im malischen Bambara Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) & Djouroukoro Diallo (Bamako) 1 Zur Anthropologie des Grüßens 2 Zur Semiotik des Grüßens 3 Zur Linguistik des Grüßens 4 Grußverhalten im interkulturellen Vergleich 5 Grüßen im malischen Bambara 6 Gruß als Ritual 7 Literatur The paper gives a short résumé of the anthropological, semiotic, and linguistic tradition of investigations into the analysis of greeting rituals across cultures, looks at some intercultural differences and takes greeting routines in Bambara (Mali) as an example for interdisciplinary politeness research. The closing statement includes a systematic synopsis of the terms and problems discussed. Der Beitrag resümiert die anthropologische, semiotische und linguistische Forschungstradition der kulturübergreifenden Erforschung höflichen Grußverhaltens, wirft einen kurzen Blick auf interkulturelle Unterschiede bei Ritualen des Grüßens und nimmt exemplarisch Routinen des Grüßens im malischen Bambara als Objekt interdisziplinärer Höflichkeitsforschung. In einem knappen Fazit wird zugleich eine begriffs- und problemsystematische Synopsis versucht. 1 Zur Anthropologie des Grüßens Fremdheit wird durch Höflichkeit kaschiert, Unfreundlichkeit verhüllt durch freundliche Miene, Verlegenheit durch Lächeln, Feindschaft durch Förmlichkeit. Der Gruß oder das Grüßen gehört, in seinen sprachlichen wie nicht-sprachlichen Erscheinungsformen, zu den Universalien höflichen Verhaltens, so wie die Höflichkeit zur Normalität des menschlichen Umgangs miteinander gehört. “Man kann eigentlich gar nicht anders als (mehr oder weniger) höflich grüßen, wenn man überhaupt grüßt”, meinte Harald Weinrich (1986: 10) noch in seiner Antwort auf die - im Anklang an das geflügelte Wort aus Goethes Faust formulierte - rhetorische Frage: “Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist? ” (Weinrich 1986: 5). Angesichts der auf manchen Fremden eher rauh wirkenden Grußrituale unter heutigen Jugendlichen (mit oder ohne “Migrationshintergrund”) mag man unsicher werden, ob das heute (2007) noch so gilt. Aber sie mögen noch so ‘cool’ inszeniert sein, Zeichen der Höflichkeit sind sie dennoch, selbst da, wo sie der vorsichtigen Camouflage dienen von Haß und Konkurrenz. Tatsächlich gibt es offenbar - außer vielleicht in totalen Institutionen, in K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 206 Foltersituationen, zwischen manchen Wissenschaftlern usw. - keinen ganz höflichkeitsfreien Gesprächsraum. In der Höflichkeit, dessen vorzüglichster Ausdruck das Grüßen ist, zeige sich, so der Anthropologe Hellmuth Plessner (1981: 106), das “Unnachahmliche des Menschen”, und es ist daher nur folgerichtig, wenn wir an den Beginn unserer Überlegungen einige Anmerkungen zur Anthropologie des Grüßens stellen. Im Rahmen der “universalen Grammatik menschlichen Sozialverhaltens” 1 hat sich das Grüßen in vielen kulturspezifischen Varianten ausgeprägt. Ihnen liegen aus anthropologischer bzw. humanethologischer Sicht, sozusagen ‘tiefenstrukturell’, jedoch nur wenige Verhaltensmuster zugrunde. Diese lassen sich in einem ersten Schritt nach verschiedenen Dimensionen zeichenhafter Ausdrucksmodalitäten ordnen, also danach, ob sie durch die Körperbewegung als ganze, durch Mimik oder Gestik, Blickverhalten und Sprache zum Ausdruck gebracht und vom Adressaten als Gruß-Zeichen wahrgenommen werden. So unterscheidet Irenäus Eibl-Eibesfeld (1968: 737) schon früh zunächst zwischen Kontaktgruß und Distanzgruß, also dem Gruß mit oder ohne körperlichem Kontakt. Die Zuwendung der geöffneten Handinnenfläche mit ausgestrecktem Arm, ursprünglich aus einer Abwehrgeste erwachsen (an die das ‘HALT’-Zeichen des Verkehrspolizisten noch erinnert), signalisiert Waffenlosigkeit, also Friedfertigkeit, Gefahrlosigkeit, Freundlichkeit. Diese Geste, die Eibl-Eibesfeld bei den Papuas und den Schaupen, bei den Karamojo oder den Turkana aufgenommen hat, ist in ihrer Variante mit angewinkeltem Arm auch im europäisch-okzidentalen Kulturkreis gebräuchlich. Zeichen des Grußes mittels Körperbewegung sind auch die historischen Formen des Fußfalls, des Kniefalls und der Kniebeugung (wie im Hofknicks oder im Kratzfuß), aber auch in den kulturspezifisch sehr unterschiedlich ausgeprägten Konventionen der Verbeugung, die z.B. in Japan mit nuancierter Bedeutungsvariation lebendig geblieben ist. In Deutschland ist die Verbeugung in der ausgebildeten Form des ‘Dieners’ heute in der Regel auf ein knappes Kopfnicken reduziert. Ein anderes Beispiel visueller Kontaktanbahnung ist der Augengruß, universal verbreitet, doch kultur- und situationsabhängig höchst differenziert ausgeprägt. 2 Seine soziale Bedeutung erhält er durch die Koordination mehrerer relevanter Segmente zur typischen Verhaltenssequenz: Herstellung des Blickkontaktes, “mutuelle Fokussierung” (wie die Anthropologen volkstümlich gerne sagen), kurze Anhebung des Kopfes und, für etwa eine Drittelsekunde, der Brauen, gegebenenfalls Lächeln, Kopfnicken. In Europa, in Japan und den USA wird der Augengruß eher vermieden, es sei denn, er wird unter Fremden gebraucht, um sexuelles Interesse zu signalisieren, was freilich nicht immer ganz risikofrei ist. Solchen und ähnlichen Formen des Distanzgrußes stehen die des Kontaktgrußes gegenüber, dessen taktile Varianten als Händedruck, Handauflegen, Tätscheln, Streicheln, Kraulen, Umarmen, Wangenberührung, Kuß usw. oder Kombinationen solcher Varianten verbreitet sind. Seltenere Varianten sind z.B. der Nasengruß, der Tränengruß (s.u. Anm. 11) oder das Einreiberitual der australischen Gidjingali-Männer, die sich gegenseitig ihren Achselschweiß auf den Körper reiben. Das im Schweiß enthaltene Androstenol, so der anthropologische Befund, wirkt hier als olfaktorisches Zeichen und Signal der Steigerung der Kontaktbereitschaft. Solche Grußrituale sind durch eine Fülle kultur- und konstellationsspezifischer Regeln und Tabus gekennzeichnet, die das Geschlecht und die tangierten Körperzonen der Partner betreffen, ihre Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehung, den Öffentlichkeits- und Formalitätsgrad der Situation usw. Dabei sind oft interessante Korrespondenzen in der Struktur zu beobachten. Bei den Waika, einem Indianerstamm im Amazonasgebiet, wird der Gast im vollen Kriegsornat Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 207 begrüßt, wozu ein Kind einen Palmwedel schwenkt (Eibl-Eibesfeld 1984: 611ff.). Dieselbe Koinzidenz von imponierender Selbstdarstellung und zugleich ‘entwaffnender’ Submissionskundgabe bei unseren Staatsempfängen, bei denen der Gast in Ehrenuniform oder ordensgeschmückt mit Salutschüssen empfangen wird und er von Kindern oder jungen Mädchen Blumen überreicht bekommt. Diese Balance von Dominanz- und Submissionssignalen ist natürlich ebenfalls von der Beziehungsdefinition abhängig, vom sozialen Rang der Partner und deren wechselseitiger Einschätzung. In Japan spiegelt sie sich etwa in Art und Anzahl der Verbeugungen wider, aber auch in den verbalen Handlungen, die sie begleiten. Die Begrüßungsworte, “the grooming talk”, wie Desmond Morris die verbale Komponente des Grußverhaltens nennt, dienen ebenfalls der subtilen Balance von Prestige und Bescheidung, von Selbstbewußtsein und Ehrerbietung, von Dominanz und Submission. Ausdruck der Funktion des Grußes, die Situation zu befrieden, eine Bindung herzustellen, ohne dabei ‘das Gesicht zu verlieren’, ist beispielsweise die Begleitung des (ursprünglich kräftemessenden) Händedrucks durch freundliche Worte oder den Austausch von guten Wünschen (als symbolischer Form des wechselseitigen Beschenkens), Wünschen etwa zum ‘guten Tag’ oder zum Frieden wie in Israel (shalom chaverim) und seinen arabischen Nachbarn, meist in der typischen, reziprok-obligaten Sequenzstruktur des Gesprächsschrittpaares - Salem aleikum! ‘Friede sei mit Dir’ Aleikum salem! ‘Mit Dir sei Friede’ Matulit? ‘Wie geht’s’ El cheròs ‘Es geht gut’ -, Gesprächsschrittpaare, wie sie die empirische Dialogforschung mittlerweile (auch in der transkulturellen Begegnung) präzis beschrieben hat (zum Sprachenpaar Deutsch/ Arabisch s. z.B. Bouchara 2002). Die interdisziplinäre Kooperation zwischen Dialoglinguistik und Humanethologie bzw. Kulturanthropologie wäre in diesem thematischen Sektor deshalb so wünschenswert, weil einerseits Linguisten oft allzu unbekümmert, ja reduktionistisch als universelle Struktur beschreiben, was sich empirisch als kulturspezifisch ungeheuer variantenreich erweist, und weil andererseits die Fülle empirischer Beobachtungen manchem Anthropologen oft den Blick für die ihnen gemeinsamen semiotischen Strukturen verstellt. In der Sozialanthropologie versucht vor allem Edmund Leach diese Brücke zu schlagen, indem er insbesondere die Konkomitanz sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltens in der alltäglich-direkten Interaktion ins Auge faßt und zugleich deren spezifische Unterschiede hervorhebt 3 : […] Non-speech ‘languages’ are both simpler and more complex than ‘normal’ spoken or written language. They are simpler because the syntactic rules are fewer in number and more explicit - the difference between right and wrong non-verbal behaviour is more clear-cut than the difference between right and wrong speech forms - but they are more complex because nonspeech is a multichannel system. Diese Multimodalität direkter Interaktion ist linguistisch allein nicht angemessen zu beschreiben. 4 Dazu müssen semiotische Instrumentarien hinzugezogen werden, auch um das Verhältnis von zeichenhaftem Verhalten und nicht-zeichenhaftem Verhalten, von Kommunikation und Interaktion, sprachlicher und außersprachlicher Verständigung begrifflich präziser als in der Anthropologie und Humanethologie bislang geschehen klären zu können. 2 Zur Semiotik des Grüßens Was immer Paul Watzlawick (1974) mit seinem berühmten “1. metakommunikativen Axiom” gemeint haben mag: nicht jedes Verhalten ist Kommunikation, Botschaft, Mit- Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 208 teilung, Zeichen, Signal; nicht jede Kommunikation ist Interaktion, nicht jede Interaktion Kommunikation. Zunächst gilt es zu unterscheiden zwischen einem Verhalten ohne Zeichenfunktion und einem Verhalten mit Zeichenfunktion (cf. Posner 1985: 235-271). Erst wenn z.B. ein physiologisch bedingter Lidschlag von jemandem wahrgenommen wird und diesen zu einem Schluß veranlaßt - etwa der Art: “die Person blinzelt, weil sie geblendet wird” -, wird er zum Zeichen, genauer zum Anzeichen, das aber nur dann ein kommunikatives Zeichen ist, wenn zugleich deutlich wird, daß es mit der Intention produziert wurde, einer anderen Person eine Botschaft mitzuteilen - etwa der Art: “ich zeige Dir durch das Blinzeln an, daß mich das Licht blendet.” Kommunikation, im strengeren Sinne des Begriffs, bedarf zu ihrem Gelingen also sowohl der Intention des Senders, den Adressaten durch sein Verhalten zu bewegen, einen bestimmten Schluß zu ziehen, als auch der Erkenntnis dieser Intention durch den Empfänger. Demgegenüber bezeichnet der Begriff der ‘Interaktion’ in seinem allgemeinen Sinne zunächst nur die Wechselwirkung zwischen kontingent agierenden Personen (cf. Scherer 1984 a: 14). Mit Hilfe einer solchermaßen präzisierten Begriffssystematik lassen sich die Phänomene matrizenförmig sortieren: danach ist also das alltägliche verbale Grußverhalten sowohl kommunikativ als auch interaktiv; das grußbegleitende Kopfnicken ist nicht-verbal, kommunikativ und interaktiv; das grußvorbereitende gegenseitige Anblicken ist nicht-verbal, nicht-kommunikativ, aber interaktiv; das einseitige Anblicken eines Vorübergehenden bei einer Unterhaltung auf der Straße ist nicht-verbal, nicht-kommunikativ, nicht-interaktiv; das Kopfnicken des Showmasters im Rahmen einer verbalen Begrüßung der Fernsehzuschauer ist nicht-verbal, kommunikativ, aber nicht-interaktiv usw. Auch das kulturspezifisch unterschiedliche Territorialverhalten kann beim Gruß wichtige Zeichenfunktionen übernehmen. Der Abstand zwischen den Gesprächspartnern ist ein hochsensibler kommunikativer Indikator, der im Rahmen der Proxemik systematisch erforscht wird, also der Lehre von der Bedeutung räumlicher Relationen. 5 Nach Albert Scheflen wird dieser Indikator (oder auch dieses Index-Zeichen) bestimmt durch die Variablen “ethnische Herkunft, Grad der Vertrautheit, bisherige Beziehung, Vorhaben, dinglichräumliche Umstände, Ausmaß des Engagements [Goffman], Grad der Offenheit bzw. Verschlossenheit, Kulturzugehörigkeit und Vorstellungen über die Natur der Zusammenkunft”. 6 Dabei kann es schon bei der flüchtigen Passage, beim sog. ‘Territorialdurchgang’, zu interkulturellen Mißverständnissen kommen, weil die Phasen des Aufblickens zur Situationswahrnehmung und -bewertung, das Anlegen der Arme an den Körper und der Territorialdurchgang selbst mit gesenktem Blick minimal, aber kommunikativ relevant variieren. Angehörige mediterraner Kulturen blicken längere Zeit auf und halten den Blick Sekundenbruchteile länger fest. Dies veranlaßt Angehörige einer anderen Kultur, etwa der US-amerikanischen, bereits zum Grüßen. Schwarze Amerikaner und Puertorikaner, auch Japaner, vermeiden zunächst den Blickkontakt aus Höflichkeit, was auf Europäer oder weiße Mittelschichtamerikaner provozierend, nicht achtend, herablassend wirken kann. Oder im Falle des Japaners, der den Territorialdurchgang durch knapp angedeutete rituelle Verbeugungen gleichsam entschuldigt (verbal u.U. begleitet von einem gemurmelten súmimasén oder shizodee-shimashtà), was von Europäern dann oft schon als Grußeinleitung interpretiert wird. So können Mißverständnisse bereits vor dem Gesprächsbeginn entstehen. Sein Rahmen wird in der Regel durch den Gruß konstituiert und definiert. Der gestischkinemische Variationsreichtum ist groß. Die Wahl der Form des Körperkontaktes wie Händeschütteln, Umarmung, Kuß usw. hängt von der Definition der Beziehung, von der seit Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 209 dem letzten Treffen verstrichenen Zeit, aber auch von kulturellen Konventionen ab. Daß den Briten das dauernde ‘shake-hands’ der Deutschen amüsiert, daß der zweimalige Wangenkuß unter Deutschen (bzw. dreimalige unter Schweizern) gleichsam ein französisches kinemisches Zitat bestimmter sozialer Gruppen ist, ist uns im zusammenwachsenden Europa inzwischen vertraut. Aber auch eine gemeinsame Sprache wie in den USA verführt nur zu einer trügerischen Sicherheit über die Einheit des Völkergemischs und das Medium seiner Verständigung. Viele interethnische Spannungen sind nicht zuletzt auch auf Mißverständnisse im nicht-verbalen Bereich zurückzuführen, auf Diskrepanzen in der Art, Frequenz, Dauer, Richtung des Blickkontaktes, auf kulturspezifische Regeln der fixierten oder tabuierten Körperpartien, auf die sich der Blick richtet oder die er übersieht oder übersehen sollte, auf unterschiedliche Vorstellungen von der Wahl des angemessenen Körperabstandes, etwa wenn Farbige, Franzosen, Hispano-Amerikaner oder osteuropäische Juden für ihre Gestikulation mehr Raum beanspruchen als Briten oder Schweden, die dann typischerweise automatisch zurückweichen - wie jener nordamerikanische Gesandte, der beim Empfang in der südamerikanischen Botschaft im Gespräch mit seinem latinisch-temparamentvolleren Partner zurückwich, bis er rücklings über die Brüstung der Residenzterrasse in den Garten stürzte. Solche multimodalen Verhaltenssequenzen, gerade in Situationen interkultureller Verständigung, können m.E. methodisch sinnvoll nicht anders als dialogtheoretisch fundiert erforscht werden. 7 Klaus Scherer hat dazu ein Klassifikationsschema entwickelt, mittels dessen solche Zeichenensembles und ihr Austausch als dialogische Prozesse beschrieben werden können (Scherer 1984 b: 25-32). Dieses semiotisch instrumentierte Schema krankt freilich wie ähnliche Ansätze von Ekman & Friesen, Kendon, Poyatos u.a. 8 daran, daß sie trotz subtiler Beobachtungen zum Gesamt des in Grußsequenzen involvierten Zeichenensembles dem verbalen Anteil, also der Sprache, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenken. So heißt es bei Adam Kendon (1980: 35) lapidar: In the salutational exchange two individuals address to each other, either simultaneously or in a tandem, a distinctive unit of communicatively specialized behaviour […] the units [of which …] are drawn from a large, but nontheless restricted, class of items [… it] includes such utterances as “hi”, “How d’you do”, “nice to see you”, it includes various kinds of waves, certain kinds of smile; it includes the embrace, the kiss, the handshake, the bow. Im trimodalen Dreiklang von Sprache, Prosodie und Gestik ist der verbale Code bei Fernando Poyatos gar nur einer von 16 möglichen interaktiv relevanten Bezügen und wird entsprechend allgemein abgehandelt. 9 Diese Lücke muß gezielt durch empirisch-vergleichende Studien linguistischer Provenienz gefüllt werden. 3 Zur Linguistik des Grüßens Wenn Höflichkeit und Grußverhalten so universell und kommunikativ bedeutsam sind und in vielen humanwissenschaftlichen Disziplinen eine solche Beachtung gefunden haben, dann erst recht, sollte man meinen, in der Sprachwissenschaft, weil die Sprache ja das wichtigste Medium dafür ist. Man würde also erwarten, daß wenn man etwa eine Grammatik des Deutschen konsultiert, als Ausländer zum Beispiel oder linguistischer Laie, dort umfassend darüber informiert würde, welche sprachlichen Mittel das Deutsche bereitstellt, Höflichkeit auszudrücken oder Grüße zu entbieten. Harald Weinrich ging der Frage seinerzeit auf den Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 210 Grund und hat in ca. einem Dutzend verschiedener Grammatiken unter dem Stichwort ‘Höflichkeit’ nachgeschlagen. Vergeblich. Die Register kennen kein Stichwort dieser Art. Vielleicht liegt es am Wort, dachte er, und suchte unter ‘Gruß’. Da war erst recht kein Hinweis zu finden. Seine Diagnose trifft auch heute noch weitgehend zu: “Daß die Deutschen sich überhaupt begrüßen, kann [ein] Ausländer aus deutschen Grammatiken nur mit einigen Schwierigkeiten entnehmen” (Weinrich 1986: 12). Im Rahmen der linguistischen Forschung ist das Grüßen bislang allenfalls im Bereich der Dialog- oder Gesprächsanalyse, und dort insbesondere unter dem Aspekt ritualisierter Gesprächseinleitung und sprachlicher Höflichkeitsformen, behandelt worden. Gruß und Abschied bilden nach Goffman ‘rituelle Klammern’ um einen durch gemeinsame Aktivität gekennzeichneten Handlungsraum. Zunächst einmal - und dialoganalytisch betrachtet - ist der Gruß, um noch einmal Weinrich zu zitieren, nichts anderes als eine “Erklärung grundsätzlicher Gesprächsbereitschaft” (Weinrich 1986: 10 f.): Er wird daher auch in der Regel in identischer oder nahezu identischer Form erwidert, denn die Gesprächsbereitschaft muß ja auf beiden Seiten bestehen, wenn sie Chancen haben soll, wirksam zu werden. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß sich an den Gruß und an die mit ihm erklärte Gesprächsbereitschaft tatsächlich ein Gespräch anschließt. Wenn es aber zustande kommt und nach einiger Zeit zu Ende geht, so wird es wieder mit einem [Abschieds]Gruß beendet, der über das Gesprächsende hinaus und wiederum reziprok die beiderseitig weiterbestehende Gesprächsbereitschaft zu erkennen gibt. So ist im Prinzip jedes Gespräch durch eine einleitende und eine ausleitende Grußformel markiert und in einen Höflichkeitsrahmen eingebettet. Es gilt als schwerer Verstoß gegen die Höflichkeit, auf ein Grußverhalten ganz zu verzichten oder einen gebotenen Gruß nicht zu erwidern. Denn mit dieser Unhöflichkeit verweigert man dem anderen die Rolle eines möglichen Gesprächspartners. Die konventionell geregelten Ausdrucksformen dieser hochgradig ritualisierten Gesprächsphasen sind (neben den schon angesprochenen non-verbalen Codes) im verbalen Bereich vor allem Kontaktwörter wie ‘Hallo’ usw., Anredeformen, Grußwörter. Die interne Handlungsstruktur von Begrüßungen ist relativ rigide geregelt, wobei die Auswahl der Elemente und ihre syntaktische Verknüpfung freilich sozial und kulturell, situativ und redekonstellativ variiert. Japaner z.B. betreten nie einen Raum ohne das obligatorische shizodê-shimashtà - etwa: ‘Ich habe eine Grobheit begangen’. Man muß die rituelle Funktion, also den Formelcharakter dieses Grußwortes kennen, um nicht etwa begütigend zu dementieren (“aber nicht doch”) oder verdutzt zurückzufragen (“och wieso denn? ”). Reziprozität des Gebrauchs von Anredeformen (cf. Zimmermann 1990) etwa indiziert ein höfliches bis freundschaftliches Verhältnis von Gleichrangigen, Nichtreziprozität eine Asymmetrie der Konstellation, wobei der inferiore Partner mit der Anrede beginnt und sie ausführlicher gestaltet. Die Frage nach dem Befinden kann je nach Konstellation als illokutionärer Akt, als Grußfloskel und Aufforderungssignal zur Komplettierung des Gesprächsschrittpaares mit identischer Folgehandlung oder als Kontaktwort ohne Zwang zu verbindlichem Folgehandeln aufgefaßt werden. Die jeweils angemessene Interpretation setzt eine “cultural fluency” voraus, wie Poyatos (1984) sagt, sonst kann es zu Mißverständnissen und widersprüchlichen Erwartungen kommen. Die charakteristische Sequenzstruktur von Begrüßungen ist bisher meist - in der Nachfolge Schegloffs vor allem (cf. Schegloff 1979) - am Beispiel von Telefon-Gesprächen untersucht worden, bei denen die Folge von Initiation und Reaktion, Identifikation und Gegenidentifikation der eigentlichen Gruß-/ Gegengruß-Sequenz vorausgeht. Wir wollen auf diese Untersuchungen hier nicht eingehen, weil sie inzwischen ein eigenes und sehr dynamisches Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 211 Forschungsfeld etabliert haben (cf. Luke & Pavlidou eds. 2002; Höflich & Gebhardt eds. 2005). Ein anderer Strang einschlägiger Untersuchungen ist historisch orientiert und knüpft z.T. an die eingangs erwähnten ethologischen Forschungen an. Sie interessieren sich für den Wandel der Grußformen in phylogenetischer Perspektive: wie aus Unterwerfungsgesten Achtungsbeweise werden, aus Friedenssignalen Freundschaftsbeweise, aus dem Abnehmen des Helms im Mittelalter das Hutlüften in der Neuzeit, aus dem Niederwerfen zu Boden, aus Kniefall und Verbeugung das heutige Kopfnicken. Mit der gesellschaftlichen Differenzierung ging dabei eine Differenzierung des Grußverhaltens einher, das zu regelrechten Grußzeremonien expandiert werden konnte. Sie fanden ihre Entsprechung in dem z.T. extrem ausgeweiteten Floskelapparat in den offiziellen Briefen im 17. und 18. Jahrhundert. Dieser Entwicklung entspricht in Deutschland die Geschichte der Anredeformen (cf. Butt 1968; Besch 2 1998): bis ins 9. Jahrhundert wurde, grob gesagt, allgemein geduzt, danach wurde die zweite Person Plural gegenüber Fremden und Ranghöheren gebräuchlich. Zu dieser Zeit gewann die Anredeform Symbolfunktion für den sozialen Rang. Im 15. Jahrhundert kommen zu den pronominalen Formen nominale, wie die Titel, hinzu. Im 17. Jahrhundert werden die Anredeformen Herr bzw. Frau als epitheta ornantia eingeführt und die pronominale Form der dritten Person Singular (er/ sie). Das Duzen wird unüblich und die zweite Person Plural wird altmodisch. Ende des 17. Jahrhunderts wird die 3. Person Singular in den Plural gesetzt und verbreitet sich rasch in der Form des Siezens, da jetzt die 3. Person Singular als despektierlich, als herablassend, als unhöflich empfunden wird. In funktionaler Perspektive schließlich, und drittens, kann das Grußverhalten auch die Standes- oder Gruppenzugehörigkeit definieren: man denke an die speziellen Grußformeln der Bergleute, Fischer und Jäger (“Glück auf! ”, “Petri Heil! ” und “Weidmanns Dank! ”), an die geheimgehaltenen Initiationsgrüße der Logen und Geheimbünde, an die klassen- und berufsspezifischen, alters- und geschlechtsspezifischen Grußformen (“Hi! ”, “Ciao! ” von Jugendlichen, “Cheerio”, “Cheers” von Männern in England, wo übrigens auch die Mitglieder der jeweiligen ‘Labour Unions’ ihre eigenen Grußformen verwandten, um sich ihrer Identität zu versichern). Mutuelle Definitionsleistungen wie in Fragen nach der Identität gehören zu den (z.B. von Iwar Werlen 1984: 241) so genannten “riskanten Formen” der Interaktion. Aber das Risiko kann durch eine Reihe von Kriterien benannt und, im Glücksfalle, gebannt, d.h. systematisch und interkulturell reflektiert werden. So hat z.B. Laver (1981: 289-318) für das Englische ein Schema von zwölf Kriterien entwickelt, die als Entscheidungshilfen für die Wahl korrekter Anredeformen bei der Begrüßung dienen können. Dazu gehören Bekanntschafts- und Verwandtschaftsgrad, Generationsverhältnis und Institutionalisiertheit in bestimmter Folge und deren Entsprechungen in der Wahl des sprachlichen Registers. Jede Sprache und Gesellschaft verfügt über solche mehr oder weniger reich strukturierte Register von verbalen, para- und non-verbalen Mitteln, mit deren Hilfe Sprecher ihre Verständigung initiieren, Kommunikationsverhältnisse etablieren und Rollenzuweisungen vornehmen. Während die Funktionen, die die Wahl von Gruß-Registern bestimmen, sich meist aus sozio-kulturellen Regeln ableiten lassen, unterliegen die Mittel zur Realisierung einer Auswahl häufig sprachspezifischen Restriktionen. So wird das Grußverhalten im Deutschen fundamental vom pronominalen Bereich geprägt, während es im Englischen wegen mangelnder und im Japanischen trotz großer morphologischer Differenzierungsmöglichkeiten eher im nominalen Bereich seinen sprachlichen Ausdruck findet. Pronominales Basisverhalten kann im Englischen kaum etwas ausdrücken, im Japanischen jedoch für Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 212 Formalität, im Deutschen für Status oder Solidarität entscheidende Hinweise geben. Die Möglichkeit der morphologischen Markierung von Pronomina im Japanischen wird zu einem subtilen System der differenzierenden Definition von Kommunikationsverhältnissen genutzt (cf. Kohz 1982: 76ff.). 4 Grußverhalten im interkulturellen Vergleich Diesem reich ausgebauten System steht in anderen Kulturen manchmal ein (u.U. vermeintlich) weniger ausgebautes System der Höflichkeitsformen gegenüber. Diese Asymmetrie kann zu Problemen führen: z.B. beklagte ein japanischer Kollege die Grobheit eines arabischen Gaststudenten, weil ihm nicht bewußt war, daß es - zumindest nach den Beobachtungen der Arabistin und Afrikanistin Friederike Braun (1984 a) - im Arabischen weniger Höflichkeitsformen gebe. Sie behauptet, durch den Gebrauch einer höflichen Anrede glaube sich der Araber selbst zu erniedrigen. 10 Das non-verbale Grußverhalten unterscheidet sich dagegen unstreitig vom europäischen. Gleichgeschlechtliche Freunde begrüßen einander mit Küssen auf beide Wangen und Umarmung, gegengeschlechtliche und entfernte Bekannte durch Händedruck in Verbindung mit einer knappen Grußformel, im jordanischen Arabisch etwa: ja hala ja hala/ halbi: k (Braun 1984 a: 225). Umgekehrt werden die Sympathie signalisierenden Floskeln im amerikanischen Grußverhalten von vielen Deutschen, bei denen diese offenbar spärlicher ausgeprägt sind, als oberflächlich und gar von Heuchelei nicht weit entfernt empfunden (cf. Kotthoff 1988: 8ff.). In den ehemaligen Kolonien in Afrika ist z.T. ein sonderbares Gemisch einheimischer und übernommener Grußformen entstanden. Das Tigrinya im nördlichen Äthiopien etwa vereint, wiederum nach Friederike Braun (1984b; cf. id. 1988), bei den Tageszeit-Grüßen das amharische sala: m, das kolonial-italienische ciao oder addio und das heute nahezu gemeineuropäische hallo. Überdies unterscheidet sich das Grußverhalten zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften. Anders als bei den Christen sind bei den Moslems und Amharen noch die älteren devoten non-verbalen Formen der Begrüßung von Ranghöheren in einer komplexen Bewegungsfolge zu beobachten: Zu-Boden-Fallen, Küssen des Bodens, Küssen der Füße, schließlich der Hände des Ranghöheren. Diese Bewegungsfolge kann bis zu dreimal wiederholt werden. Demgegenüber erscheint das uns vordergründig vertrautere Grußverhalten in den USA z.B. eher schlicht. Dabei ist es aber am besten untersucht in all seinen Nuancen. Kendon & Ferber (1973) haben Hunderte von Grußsituationen beobachtet und die dabei involvierten Bewegungsabfolgen detailliert beschrieben, bevor man zu dem schmucklosen Hi oder Hallo und How are you kommt oder zu jenem Geräusch, das einem etwa im Supermarkt gelegentlich als How’r’y’doin’ begegnet 11 : das Zurückwerfen des Kopfes, das Heben der Brauen, das Wegblicken bei der Annäherung, die Armbewegungen und sog. selbstbezogenen ‘Pflegehandlungen’, also z.B. das Zupfen an der Manschette, der Griff ans Ohrläppchen oder den Nasenflügel, das Glattstreichen des Haares. Solche selbstbezogenen ‘Pflegehandlungen’, wie sie die Sozialpsychologen in liebevoller Anschaulichkeit nennen, sind in vielen Kulturen in das Grußverhalten inkorporiert. Bei den Ainu in Nord-Japan streichen sich die Männer über den Bart, die Frauen durch’s Haar, in Tibet kratzen sich Rangniedrigere nach vorn gebeugt den Hinterkopf. Kendon & Ferber beschreiben noch ein paar weitere Phasen, ehe sie zur eigentlichen verbalen Phase kommen, dem “adjacency pair” der Formeln, also der Sequenz rituell verket- Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 213 teter Gesprächsschritte, bei deren Austausch man sich gegebenenfalls auch die Hand geben kann. Das Händeschütteln allein ist Gegenstand einer genauen Studie von Hall & Hall (1983: 249-262), in der sie es als Emblem beschreiben, das sich historisch entwickelt hat und kulturell variiert. Im antiken Griechenland wird es als Zeichen der Freundlichkeit verwandt, im mittelalterlichen Zentraleuropa ist es ein Zeichen der unbewaffneten Hand und also des Vertrauens zwischen den Rittern. In Nigeria greift man nach dem Daumen und schnalzt dann mit den Fingern gegen die Hand des anderen. In den USA gibt es, wie aufmerksame Fernsehzuschauer in den en gros eingekauften Krimi-Serien beobachten können, unter den Farbigen eine ähnliche subkulturelle Variante mit verhakten Daumen, die mittlerweile auch unter deutschen Jugendlichen gern gebraucht wird. Die Varianten können also auch Zeichen subkultureller Differenzierung und bewußter Abgrenzung von anderen Gruppen sein. So haben diverse Geheimbünde, Sekten, Bruderschaften, Gewerkschaften usw. Varianten des Händeschüttelns entwickelt, die sie geheimhalten und die zur Identifikation von Gruppenmitgliedern dienen (Hall & Hall 1983: 251). Dies gilt erst recht für die Varianten, die in Jahrhunderten von den Mossi in Obervolta, dem heutigen Burkina Faso (s.u.), entwickelt wurden. 12 Sie dienen auch dazu, Statusunterschiede deutlich zu machen. Der Rangniedrigere ergreift die Hand des Ranghöheren mehrfach und beginnt mit den Grußformeln. Der Ranghöhere bleibt passiv, sein Händedruck ist schwach. Bei großen Statusunterschieden können die Grußhandlungen recht komplizierte Strukturen annehmen. Das kann bis zu dem als ‘Mossi-Gruß’ berühmt gewordenen “poussipoussi” gehen, mit dem der König von den Häuptlingen begrüßt wurde, indem sie Kopfbedeckung, Waffen und Schuhe ablegen, sich niederlassen und dabei die Hände kreisförmig aneinander reiben, sich dann nach vorn verbeugen und mit gebeugten Armen und ausgestreckten Daumen zwölf mal mit den Fäusten auf den Boden klopfen. Dann reiben sie noch einmal mit den Handflächen aneinander, erheben sich und treten zurück. Wer gegen die komplizierten Regeln dieser traditionellen Etikette verstieß, mußte gewärtigen, im mildesten Falle ausgepeitscht zu werden. Gleichrangige und befreundete Mossi verbringen viel Zeit mit Händeschütteln, das oft wiederholt wird. Interessant ist dabei das Fehlen der Distanzgrußphase. Das bei uns übliche Winken von weitem würde als beleidigende Überheblichkeit gewertet. Aber dem Fremden werden Fehler leichter verziehen, man rechnet mit seiner Unkenntnis, eine Unterstellung, für die zumindest ihre hohe Wahrscheinlichkeit spricht. 5 Grüßen im malischen Bambara Bambara, oder auch Bamanankan, eine vor allem in Mali, aber auch in Burkina Faso und an der Elfenbeinküste verbreitete Mande-Sprache (der Niger-Kongo-Sprachfamilie), zählt nach aktueller Auskunft der Wikipedia-Enzyklopädie gemeinsam “mit Dioula und Malinke zum Dialektkontinuum […] des Mandekan, welches von ca. 30 Millionen Menschen in zehn Ländern Westafrikas in unterschiedlichem Maße verstanden und gesprochen wird.” 13 Es ist damit eine regionale lingua franca, mit der man sich nicht nur in Mali, sondern auch in weiten Teilen von Burkina Faso, an der Elfenbeinküste, in der östlichen Landeshälfte Guineas, im Ostsenegal sowie in bestimmten Regionen von Sierra Leone, Liberia, Guinea Bissau, Gambia und Mauretanien verständigen kann. Alle regionalen Varianten finden in der (ursprünglich schriftlosen) Manding-Kultur ihr gemeinsames Dach, die diese westafrikanischen Regionen jahrhundertelang unter den Ghana-, Mali- und Songoi-Reichen vereint hat. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 214 Daher war lange strittig, inwieweit das Variantenkontinuum überhaupt als einheitliche langue identifiziert werden könne (Galtier 1978: 37): Si l’ensemble des linguistes est bien d’accord sur l’inventaire des parleurs constitutifs du mandingue […], le débat reste ouvert sur ce que constitue ce mandingue: une langue ou un ensemble des langues. Ce débat dépend essentiellement de la définition apportée au mot langue. Im Zuge der Islamisierung wurde die Manding-Kultur stark vom Arabischen beeinflußt, was sich bis heute im Wortschatz niederschlägt, während das Schriftsystem sich des lateinischen Alphabets (mit zahlreichen Sonderzeichen zur Kennzeichnung phonetischer Eigenschaften) bedient (sigini). Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf die malische Variante. Auch in der Bambara-Sprachgemeinschaft ist das Grüßen Ausdruck höflicher Begegnung, was sich z.B. niederschlägt in der semantisch engen Verknüpfung von bm. fooli mit bô_a (entspricht etwa ‘grüßen’ vs. ‘Respekt erweisen’) oder in der malischen Redensart fooli ye mogo ya ye (dt. ungefähr: ‘Grüßen ist die Menschheit’, was Höflichkeit impliziert). Im Gruße Respekt zu erweisen, ist für eine Sprachgemeinschaft kennzeichnend, die geprägt ist durch das, was die Franzosen ‘la gérontocracie’ nennen. In dieselbe Richtung zielt die kaum in westeuropäische Sprachen übersetzbare Redensart: den misen ni tå kå koo ko numa be mogo koroba dege noni (dt. ungefähr: ‘Ein Kind mit sauberen Händen kann Milch für die Älteren kochen’, was in etwa bedeutet, daß ein wohlerzogenes Kind viel von alten Leuten lernen könne). Die Extension der Grußphase ist dabei in der Manding-Kultur nicht nur vom Bekanntschaftsgrad der Gesprächspartner abhängig, sondern auch von ihrer sozialen Position im komplexen Schichtengefüge der Gesellschaft (horon, numun, jeli etc.). Die Patronyme (Namen der Clans) evozieren einen differenzierten Erzählhorizont, weshalb Männer einander oft mit solchen Namen anreden, z.B. I jalo! (dt. ungefähr: ‘Ich erkenne Dich als Mitglied der Linie der Jalo), was Männer mit einem stolzen n’ba beantworten, Frauen mit n’se. Gegenüber diesem kaum ins Deutsche übertragbaren Gesprächsschrittpaar finden die Zeitgrüße ihre Entsprechung in den meisten Sprachen, die Grußformen nach Tageszeiten (bzw. nach dem Stand der Sonne) differenzieren: I ni sogoma (‘Guten Morgen’, bis ca. 11.00 Uhr), I ni tile (‘Guten Tag’, 11.00 bis 16.00 Uhr), I ni wula (‘Guten Nachmittag’, 16.00 Uhr bis Sonnenuntergang), I ni su (‘Guten Abend’, soweit ein Individuum adressiert wird, bei adressierten Gruppen wird das I durch Aw ersetzt: Aw ni sogoma, ‘Guten Morgen’). Je besser sich die Grußpartner kennen, desto ausführlicher wird das Grußritual ausgestaltet. Man erkundigt sich nach dem Befinden der Familie, der Verwandten und Freunde. Aber auch bei weniger guten Bekannten würde das westlich knappe ‘Hello! ’ die Grenze zur Beleidigung touchieren. Vielmehr wird der Kontakt zunächst durch das verbreitete I ni ce (‘Danke! ’) eingeleitet, was dem deutschen Besucher auch nicht unmittelbar einleuchtet, bis er die eigentliche Bedeutung enthüllt hat (‘Ich grüße Dich bei Deiner Tätigkeit’). Vertrauter klingt da vielleicht das ihm aus dem Arabischen geläufige a salam aleikum, auf das mit dem Spiegelausdruck Wa leikum salam repliziert wird. Auch die Körpersprache wird dem Besucher zunächst fremd erscheinen. Frauen auf dem Lande etwa knien nieder zum Gruße, wenn sie einem Manne begegnen. Anders als in Europa wird der Besucher gegenüber dem Gastgeber oder der Jüngere gegenüber dem Älteren auch nicht höflich warten, bis dieser ihm die Hand reicht, sondern umgekehrt ihm zuerst die Hand darbieten, weil andernfalls er gegen die malische Etikette verstieße. Respekt wird zudem durch allerlei Geschenke bezeugt, Kolanüsse etwa oder Tabakpulver, mit einem zart gehauchten I bona file überreicht. Wer aus Deutschland kommt und derlei nicht immer dabei hat, tut gut, sich Alternativen zu überlegen. Und seinerseits auf der Hut zu sein und seine Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 215 Reaktion auf die Geschenke des Gastgebers mit Umsicht und Empathie zu kalkulieren, denn dieser wird daraus den Grad seiner Wohlerzogenheit abschätzen. Der Einfluß des Islams ist unüberhörbar; man wird die ständige Anrufung Gottes (a la ka …) als zum Ritual gehörig buchen, das auch allerlei gute Wünsche umfaßt, die den Gast vor Unheil schützen sollen. Auch wird man wechselseitig all der Freunde und Verwandten gedenken und sie in die guten Wünsche einschließen, denn was gilt und vermag ein Mensch denn schon allein: bolo den kelen te bele ta (‘ein Finger nimmt keinen Stein allein’), wie man sagt, und man erinnert sich des berühmt gewordenen Satzes von Seydou Badian Kouyaté (1957) “Je suis venu dans la main des autres et je retournerai dans leur main. Que suis-je sans les autres? ” 6 Gruß als Ritual Die hier aus verschiedenen Disziplinen eher kursorisch als definitorisch eingeführten Aspekte des Grußverhaltens lassen sich resumierend über den Begriff des Rituals zueinander in Bezug setzen 14 : Rituale als muster expressiven, nicht technischen, instrumentalen handelns und nicht bestimmt durch zweck-mittel-relationen (wie z.b. im frühjahr kartoffeln pflanzen, um sie im herbst zu ernten) verweisen als symbolische handlung wieder auf etwas anderes, das in der form und im inhalt einer szenischen darbietung bei der aufführung eines rituals mitpräsent ist; in einem ritual können teilnehmer durch die tatsache ihrer teilnahme repräsentierte wertsysteme und machtverhältnisse anerkennen. Sprachliche Rituale dienen den Kommunikationspartnern also dazu, ihr Verhältnis im Rahmen einer sozialen Ordnung zu definieren. Im Verweis auf diese soziale Ordnung tritt der Symbolcharakter des Rituals zutage. Die routinisierten Grußsequenzen bilden so etwas wie ‘rituelle Klammern’ um ein Gespräch gleich welcher Extension (cf. Goffman 1974: 118). Sie sind konventionell bestimmte, habituell eingeschliffene Zeichen für den ‘sozialen Rahmen’, innerhalb dessen das Kommunikationsverhältnis der Partner etabliert ist. In diesem doppelten Bezug auf den sozialen Rahmen des Gesprächs und die soziale Beziehung der Gesprächspartner liegt die semiotisch funktionale Leistung des Grußverhaltens. Mit der Wahl spezifischer Formeln aus einem Repertoire fester Handlungsschemata geben die Partner Zeugnis ihrer Interaktionsgeschichte und versichern sich auf ebenso zweckmäßige wie ökonomische Weise ihrer gemeinsamen kulturellen Handlungsbasis. Die Geltungskraft der dabei befolgten Regeln wird ex negativo besonders anschaulich in Fällen, in denen diese kulturelle Handlungsbasis gerade keine fraglos gemeinsame ist. Sie wird problematisch in Situationen interkultureller Kommunikation, wie das Florian Coulmas (1981: 140-145) am Beispiel des Deutschen und Japanischen eindringlich demonstriert hat. Je größer die kulturelle Distanz zwischen den Partnern und den von ihnen gebrauchten Sprachen (bzw. verbalen und non-verbalen Codes), desto schwieriger die Bestimmung der funktionalen Äquivalenz von Grußformeln. Und die Gefahr, mißverstanden zu werden, lauert an jeder Ecke und auf allen sprachlichen und nicht-sprachlichen Ebenen des Signalements (Roche 2001: 16): Gerade diese Tatsache macht es so schwierig miteinander zu kommunizieren, und zwar nicht nur über kulturelle Grenzen hinweg, sondern auch innerhalb einer Gemeinschaft mit dem gleichen kulturellen Hintergrund. Zu viele Konnotationen und Interpretationen erschweren das gegenseitige Verstehen. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 216 Abb. 1: Gruß und Ritual als Problemsystem (aus: Hess-Lüttich 1991: 528) Des Grußes Ritualcharakter ist demnach nicht nur ethologisch herzuleiten, sondern in ihrer jeweiligen kulturellen Prägung zu beschreiben. Diese Differenzierung leitet zum Ausgangspunkt zurück: die soziobiologische Perspektive, in der Gruß-Zeichen auf aggressionsvermeidende Gesten zurückgeführt werden (s.o. Abs. 1) und als Handlungen beschrieben werden, die sich im Laufe ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung zwar von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst haben, aber weiterhin, mit neuem Sinn versehen und “symbolischem Mehrwert” ausgestattet (cf. Jetter 1978: 116), vollzogen werden, diese ethologische Perspektive 15 muß ergänzt werden um die interkulturelle Perspektive einer kontrastiven Pragmatik ritualisierter Handlungsroutinen im Dialog zwischen Angehörigen einander fremder Kulturen. Wie diese Verbindung zwischen Gruß und Ritual sich begriffssystematisch über ihren ethologisch beschriebenen Ursprung im tierischen Verhalten einerseits und ihre semiotisch beschriebene Entfaltung im menschlichen Verhalten andererseits herstellen läßt, mag der Versuch einer problemsystematisch skizzierten Übersicht veranschaulichen (Hess-Lüttich 1991: 528): in phylogenetischer Entwicklung über die Variablen Territorium, Dominanz/ Submission und Affiliation, die in erster Linie für die non-verbalen Kommunikate von Bedeutung sind; in symbolischer Vermittlung über die Variablen der Expressivität, Konventionalität und fehlenden Zweck-Mittel-Relation, die für das sprachliche Verhalten relevant werden (Abb. 1). Beide Codes, der verbale und der non-verbale, sind natürlich interdependent. Ihr Gebrauch ist Ausdruck spezifischer Kompetenz zur angemessenen Reaktion auf Handlungsimpulse, zur Handlungsplanung und -durchführung nach Maßgabe semiotischer, linguistischer, kultur- Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 217 übergreifender und kulturspezifischer Regularitäten. Diesen Regularitäten gilt es - und dazu soll diese Skizze ein wenig anregen - weit mehr als bisher das empirische und transdisziplinäre Interesse zu widmen, nicht nur in der Kultursemiotik, sondern auch in der Angewandten Linguistik, in der Kontrastiven Pragmatik und, nicht zuletzt, in der Interkulturellen Germanistik, damit wir verstehen lernen, warum und zu welchem Ende Menschen Rituale als Zeichen und Gruß-Zeichen als Rituale zu gebrauchen gelernt haben 16 : Jedes Territorium ist von Grenzen umgeben, die es gegen die Territorien anderer abgrenzen und den eigenen Anteil innerhalb des gemeinsamen Territoriums einer Gruppe, einer größeren Gemeinschaft oder eines ganzen Volkes anzeigen. Diese Einheiten sind gegenüber gleichartigen Größen wiederum durch Grenzlinien geschieden - Stammesgrenzen, Landesgrenzen, Sprachgrenzen […]. Jeder, der außerhalb dieser Grenzen lebt und sich ihnen nähert, ist ein potentieller Eindringling: Er könnte feindliche Absichten hegen und unser Territorium verletzen. Um diese Angst aufzuheben und ein friedliches Miteinander möglich zu machen, haben die Menschen eine Reihe von Ritualen entwickelt, durch die sie ihre freundlichen Absichten bei der Annäherung an ein fremdes Territorium signalisieren. Diese Rituale ändern sich von Kulturkreis zu Kulturkreis, doch allen ist ein Signal gemeinsam: Die offene Hand. 7 Literatur Badian, Seydou 1957 [s.u. Kouyaté] Bailleul, Charles 1996: Dictionnaire Français-Bambara, Bamako: Éditions Donniya Besch, Werner 2 1998: Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Birdwhistell, Ray L. 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Birdwhistell [1968] 1984: 193. 5 Zur Theorie und Methodologie der Proxemik cf. insbesondere Hall 1968; id. 1976; St. Clair 1980. 6 Scheflen 1976: 38; cf. zum Folgenden auch Scheflen 1975: 159-173. 7 Zu den kommunikations- und zeichentheoretischen Grundlagen cf. Hess-Lüttich 1981. 8 Ekman & Friesen [1972] 1984; Kendon [1973] 1984; Poyatos 1983. 9 Cf. Poyatos 1980; id. 1983; id. 1984. 10 Die Beobachtung ist natürlich von arabischer Seite nicht unwidersprochen geblieben: Khalil (1997: 77) etwa moniert methodische Schwächen der Braun-Studie und fordert zu Recht eine systematische Beobachtung interkulturellen Grußverhaltens, um tradierte Stereotypen gerade bezüglich des arabischen Höflichkeitsspektrums kritisch zu überprüfen (cf. dazu inzwischen Bouchara 2002). 11 Kendon & Ferber 1973: 618ff. Cf. zum Folgenden ibid.: 636ff. Kendon & Ferber sagen allerdings nichts über das Grußverhalten der amerikanischen Ureinwohner, die z.T. hochinteressante Grußrituale ausgebildet haben. Ein Beispiel ist der berühmte “Tränengruß” oder “salutation larmoyante”, der bei den Indianern in Nord- und Südamerika beobachtet wurde, aber auch bei den Ureinwohnern Australiens in Queensland, mit dem Fremde von den einheimischen Frauen begrüßt werden. Einen Überblick über die reichhaltige Literatur zu dieser speziellen Form des Grüßens bietet Harbsmeier 1987: 90-114. 12 Cf. zum Folgenden Collett 1983: 191-238. 13 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bambara [08.08.2007] Der Sprachcode ist gem. I SO 639-1 ‘bm’. Das gemeinsame Merkmal der Kontextgebundenheit teilt Bambara übrigens auch mit schweizerdeutschen Dialekten: “In der mathematischen Linguistik ist Bambara von besonderem Interesse, da bisher nur für sehr wenige Sprachen gezeigt werden konnte, daß sie nicht kontextfrei sind. Während sich der Beweis beim Zürichdeutschen und Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 220 Niederländischen auf den Satzbau stützt, basiert das Argument für die Nicht-Kontextfreiheit von Bambara auf der Wortbildung” (loc.cit.). Zur Bamako-Lexik cf. auch Culy 1985; Bailleul 1996. 14 Hartmann 1973: 140 [Kleinschreibung: sic]. Zum Folgenden cf. auch Lüger 1992: 20-30. 15 Cf. dazu auch den Überblick bei Sager 1988. 16 Das folgende Zitat entstammt einem Buch des Pantomimen Samy Molcho (1983: 206) über Körpersprache, hier auszugsweise zitiert nach Lüger 1992: 28.