eJournals Kodikas/Code 30/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
303-4

"Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa!

121
2007
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Hans-Christian Leiggener
Bericht über ein Projekt digitaler Dialektkartographie zur Integration von mehreren Typen dialektologischer Daten in verschiedenen Codes. Dabei wird besonderes Gewicht auf die kartosemiotischen Fragen und technischen Probleme angemessener Datenrepräsentation in multimedialen Umgebungen zur interaktiven Nutzung gelegt
kod303-40221
“Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa” Kartosemiotische Aspekte audiovisueller Dialektkartographie. Zum elektronischen Sprachatlas der deutschen Schweiz (aSDS) Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) & Hans-Christian Leiggener (Biel/ Bienne) 1 Überblick 2 Sprache als Lautsequenz und Bildfläche: Raumstrukturierung nach Isoglossen 3 Schrift als Laut-Zeichen? Tonträger und Transkription 4 Semiotische Aspekte der Dialektkartographie 5 Technische Probleme der Zeichenverwendung in der kartographischen Praxis 6 Fazit 7 Literatur Report on a project of digital dialect carthography for the integration of several types of dialectological data in various codes. The emphasis lies on the discussion of semiotic and technical problems in applications of multimedia and man-machine-interaction. Bericht über ein Projekt digitaler Dialektkartographie zur Integration von mehreren Typen dialektologischer Daten in verschiedenen Codes. Dabei wird besonderes Gewicht auf die kartosemiotischen Fragen und technischen Probleme angemessener Datenrepräsentation in multimedialen Umgebungen zur interaktiven Nutzung gelegt. 1 Überblick Ziel des Projekts, über das hier berichtet wird, ist die Begründung, Beschreibung und auch technische Erstellung einer neuen Art der dialektologisch-dialektkartographischen Datenaufbereitung für eine zeitgemäße audiovisuelle 3D-Dialektgeographie auf der Höhe ihrer technischen Möglichkeiten. 1 Wesentlicher Bestandteil ist die Entwicklung einer CD-Rom, die dem Nutzer aufgrund der multimedialen und interaktiven Formatierung die auditive und visuelle Analyse der repräsentierten dialektologischen Daten erleichtern soll. Sie bietet 43 Karten, die in der subtextuellen Tiefenstaffelung zugleich je 67 Tonträger und deren Transkription sowie die Erläuterung des jeweils abgerufenen dialektalen Phänomens enthalten. Das Projekt ist im wesentlichen zwischen drei Eckpfeiler eingehängt: (i) die topographische Gliederung der Deutschschweiz mit der Ermittlung und Klassifikation der Isoglossen zu den ausgewählten Dialektphänomenen, (ii) die auditiven Daten aus den Archiven mit den Kriterien ihrer Verwendung, (iii) die dialektkartographische Repräsentation dieser Daten einschließlich der toposemiotischen Reflexion dieses intermedialen Transferprozesses zwischen Zeichensystemen unterschiedlicher Struktur und Modalität. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 222 Auf der Linie dieses Programms werden zunächst eingehend die Sprachverhältnisse in den Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz beschrieben, insbesondere im Hinblick auf die Raumstrukturierung der deutschen Schweiz und die Isoglossen der einzeln betrachteten dialektalen Phänomene. Die Daten gründen auf den Befunden des Sprachatlasses der deutschen Schweiz (= SDS), ergänzen diese jedoch durch den Einbezug neuerer dialektologischer Literatur. So können alle Gemeinden kartiert werden, während der SDS nur eine Auswahl repräsentiert; damit können bestehende kartographische Lücken geschlossen werden, auch wenn dies hier und da mit der (möglicherweise kontrafaktischen, aber auf Majoritätsverhältnisse gestützten) Annahme dialektaler Homogenität auf der Bezirksebene erkauft wird. Die dadurch vor allem in Mischregionen und Überlappungszonen entlang der Sprachgrenzen auftretenden Extrapolationsunsicherheiten sind kaum vermeidlich, aber als Darstellungsproblem reflektiert. Auf der anderen Seite ermöglicht die Datenreduktion auch klare Kartenbilder und einen benutzerfreundlichen Umgang mit dem nach dialektalen Hauptoppositionen übersichtlich klassifizierten Sprachmaterial. Das auditive Material, also die “Tonträger” und deren Transkriptionen, liefern zu jedem der Kartenbilder 67 Belege, zusammen also 871 Hörbeispiele und deren Verschriftlichung. Das Material dazu entstammt vor allem dem Datensatz “Gespräch am Neujahrstag” des Sprechenden Atlasses (1952) sowie den SDS-Phonogrammen (1972-1976), stellt also (methodologisch bewußt) gerade nicht den gegenwärtigen Lautstand dar. Im Ausgangsmaterial begründet sind daher auch die damit einhergehenden Einschränkungen hinsichtlich der Berücksichtigung der Dialektregionen (so fehlt z.B. die Dialektlandschaft des Goms im obersten Wallis) und der dialektalen Variablen (so wird z.B. der Verbplural nicht berücksichtigt). Den Unterschieden zwischen den Tonträgern des Sprechenden Atlasses und der SDS- Phonogramme hinsichtlich der Gewährspersonenauswahl oder des Aufnahmezeitpunktes wird im Blick auf den vorliegenden Anwendungszweck des Projektes nicht systematisch Rechnung getragen. Hier interessiert mehr der unmittelbare Zusammenhang von lautlicher Realisation und deren kartographischer Verortung; das semiotische Problem der Interpretation der auditiven Daten in ihrer graphisch-visuellen Form durch den Prozeß der Verschriftlichung wird dagegen nur am Rande berührt. Inwieweit das seit gut zweihundert Jahren bewußte Problem angemessener Dialekterfassung durch den schriftlichen Code damit gelöst sei, wie Leiggener (2006: 205) hofft, kann hier nicht aus eigenem Recht diskutiert werden (kritische Stimmen zu Dialekt und Dialektologie zitiert Hess-Lüttich 2000). Das Problem der intermedialen Code-Relationen wird aus semiotischer Perspektive erörtert (zum Code-Begriff s. Hess-Lüttich 1994; zur Intermedialität s. id. 2006). Die ‘mediensemiotische’ Diskussion von Grundbegriffen der ‘Multimedialität’ und der ‘Interaktivität’ (in der Mensch-Maschine-Interaktion) ist in vollem Gange. Wichtige Arbeiten zur Deixis in der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI), zur multimedialen Informationsrepräsentation und zur einschlägigen Kartosemiotik wurden vor allem von Dagmar Schmauks vorgelegt (cf. Schmauks 1991; id. 1996; id. 1998). Aus der Korrelation der Daten von Raum, Text und Laut wird versucht, eine dreidimensionale Dialektgeographie zu begründen, die das ehrwürdige Isoglossen-Konzept durch Farbkontraste flächig visualisiert, dabei aber den Bezug zur Sprecherzahl in den Flächen berücksichtigt und das geomorphologische Relief abbildet. Der Einsatz von dazu kombinierten technischen Hilfsmitteln unterschiedlicher Datenfiles (im .tbl-Format), Geometriefiles (im .agf-Format) und Kartenbeschreibungsfiles (im .xml- Format) entsprechen dem technischen Stand heute möglicher Dialektkartographie (die z.T. auch bereits Videosequenzen zu integrieren vermag). Die mathematisch suggerierte Präzision Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 223 der Phänomen-Darstellung wird dabei freilich nicht immer der Komplexität der Phänomen- Wirklichkeit gerecht: so exakte Grenzziehungen wie im Kartenbild gezogen sind gerade in Mischzonen und in Isoglossennähe kaum möglich, vereinfachen aber das Bild zumal für den Laien in anschaulicher Weise. Das macht die Resultate der “audiovisuellen 3D-Dialektgeographie” jedoch leichter praktisch anwendbar sowohl auf die drei Dimensionen Ton, Text und Kartenbild als auch die dreifach instrumentierte technische Programmierung und das dreidimensionale Blockbild der geomorphologischen Reliefkarten. Die Verbindung von Originalkarte mit den auditiven und transkribierten Befunden, farbiger Flächenkarte mit deren Verteilung im Raum, Punktsymbolkarte mit den aktivierbaren Ortspunkten der empirischen Erhebung und Flächenkombinationskarte mit der Korrelation linguistischer und extralinguistischer Daten stellt eine nützliche Erweiterung und technische Aktualisierung des dialektgeographischen Instrumentariums dar. Dafür spricht auch, daß Teile aus dem hier aufbereiteten Material Eingang finden sollen in den “Atlas der Schweiz 3”, dessen Publikation vorbereitet wird. Die Stärke des Ansatzes liegt vor allem in der technischen Aufbereitung bekannter Daten, weniger in der Erschließung neuer dialektologischer Erkenntnisse. Dafür markiert die ‘semiotische’ Diskussion der Probleme von Code-Wechseln und Zeichen-Transfers (cf. Hess- Lüttich ed. 1987; id & Posner eds. 1990) angesichts des in diesem Bereich erreichten Reflexionsniveaus interessante transdisziplinäre Anschlußstellen, um das bekannten Quellen entstammende Datenmaterial nicht nur im Lichte der klassischen diachronen Dialektologie zu deuten, sondern auch für die soziolinguistische Beschreibung im Sinne moderner social dialectology zu erschließen. Aber allein schon die Variablenauswahl und -übertragung, die Anwendung auf das von professionellen Kartographen bereitgestellte Kartenwerk und die umfassend kommentierte Datenkombination und -komprimierung in einer anwendungs- und nutzerfreundlichen CD-Rom rechtfertigen eine optimistische Prognose bezüglich des Erfolgs dieses Ansatzes angewandter Kartosemiotik in der Praxis. 2 Sprache als Lautsequenz und Bildfläche: Raumstrukturierung nach Isoglossen Mittels der multimedialen interaktiven CD-Rom kann auch der Laie die Daten des audiovisuellen Sprachatlasses der deutschen Schweiz (aSDS) sowohl auditiv als auch visuell analysieren. Damit wird eine neue Art der Datenaufbereitung für die klassische Dialektgeographie bereitgestellt: die CD-Rom stellt in diesem Falle, wie gesagt, insgesamt 43 Kartenbilder mit je 67 Tonträgern und deren Transkription einschließlich der Erläuterung des jeweiligen dialektalen Phänomens per Mausklick zur Verfügung. Das verbindet den Einblick in die sprach-räumliche Binnendifferenzierung (durch Klassifikation der Isoglossen) mit dem empirischen Befund auf der Grundlage der Tonträger und deren mediensemiotisch reflektierte dialektkartographische Lösung durch multimediale Integration der Daten. Die dialektologische Analyse der Sprachverhältnisse in den einzelnen Gemeinden dient dem Überblick über die sprachliche Raumstrukturierung der deutschen Schweiz. Zudem wird der Verlauf der Isoglossen kommentiert und der SDS-Datensatz im Hinblick auf die kartographische Darstellung klassifiziert. Die bereits von Rudolf Hotzenköcherle (1984) eingeführte Einteilung der “Sprachlandschaft der deutschen Schweiz” mit der wirkungsmächtigen Unterscheidung zwischen Hoch- und Höchstalemannisch (also der Nord/ Süd-Gegensatz) und dem West/ Ost-Gegensatz der helvetischen Dialektlandschaft dient dabei als Ausgangspunkt. Allerdings müssen weitere Daten einbezogen werden, da der aSDS alle Gemeinden der Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 224 deutschen Schweiz kartiert, während die SDS-Daten nur jede dritte Gemeinde berücksichtigen. Die dadurch bislang bestehenden kartographischen Lücken können auf diese Weise weitgehend geschlossen werden. Etwaige noch bestehende ‘weiße Flecken’ können durch (kontrafaktische) Homogenitätsannahmen (aufgrund bestehender Mehrheitsverhältnisse) innerhalb von Bezirken als den zweitkleinsten administrativen Einheiten der Schweiz minimiert werden. Wenn etwa in einem Bezirk mit drei Aufnahmeorten zwei Aufnahmen identische dialektale Varianten aufweisen und die dritte davon abweicht, wird diese als Ausnahme innerhalb des gesamten Bezirks als einer zusammenhängenden sprachlichen Einheit betrachtet und entsprechend eingerechnet - ein Verfahren, das sich in der Dialektologie auch bislang bereits durchaus bewährt hat (cf. Zinsli 2 1957; Meng 1986; Bietenhard 1991). Bei der angestrebten Berücksichtigung sämtlicher deutschsprachiger Gemeinden der Schweiz stellen (neben der Detailanalyse der dialektalen Verhältnisse innerhalb eines Kantons) vor allem die gemischtsprachigen Regionen und die Situation an den Sprachgrenzen eine methodische Herausforderung dar. Dies erfordert moderne Kartiermethoden auf der Grundlage der jeweils neuesten zur Verfügung stehenden Daten, die freilich vielfach noch nicht in digitalisierter Form vorliegen. Die im Zuge der Volkszählung im Jahre 2000 erhobenen Sprachdaten können hier ergänzt werden. Dabei zeigen sich vor allem im Kanton Graubünden, aber auch im Kanton Freiburg heute andere Sprachverhältnisse als zur Zelt der Erhebung der SDS-Daten. Dort wird z.B. in Graubünden eine Vielzahl von nach der Volkszählung von 2000 mehrheitlich deutschsprachigen Gebieten noch dem rätoromanischen Territorium zugeschlagen. Der Umstand, daß die Gebiete, deren Deutschsprachigkeit relativ jung ist, zwischen zwei verschiedenen Dialektregionen (dem Südwestwalserischen und dem Churrheintalischen) liegen, erschwert die dialektologische Einteilung nicht unerheblich (cf. Willi & Ebneter 1987; Wellstein & Ebneter 1991; Ludwig & Ebneter 1988). Ähnliche Probleme ergeben sich an den Sprachgrenzen, z.B. in den gemischtsprachigen Gemeinden des Freiburger Seebezirks (cf. bereits Henzen 1924). In solchen Regionen gilt in der Regel jeweils die sprachliche Mehrheit als Maßstab. 2 Bei der arealen Verteilung eines jeden im aSDS aufgeführten Dialektmerkmals wird ausgehend vom Datensatz des SDS die Anzahl von Isoglossen aufgrund von Klassifikationen, die die dialektalen Hauptoppositionen hervortreten lassen, systematisch und methodisch kontrolliert reduziert, um klare Kartenbilder zu generieren. Seltene Befunde, die auf keinem Tonträger Eingang finden, werden dabei dem sie umgebenden dialektalen Umfeld zugerechnet. Die Klassifikationen werden zudem durch Transkriptionen visuell unterstützt. 3 Schrift als Laut-Zeichen? Tonträger und Transkription Die Tonträger sowie deren Transkriptionen stellen insofern eine substantielle Bereicherung des aSDS dar, als bei pro Kartenbild 67 Tonträgern 871 auditive Belege und Transkriptionen Grundlage der Auswertung sind. Die Belege entstammen den berühmten “Gesprächen am Neujahrestag” des Sprechenden Atlasses und der SDS-Phonogramme. Das Corpus bietet einen Vergleichstext, der eine Gegenüberstellung der in den 67 verschiedenen Ortschaften üblichen Sprachgepflogenheiten realisiert und somit eine kartographische Darstellung mittels Isoglossen ermöglicht. (Die weiteren Aufnahmen der SDS-Phonogramme sind bisweilen sehr umfangreich, aber schlecht miteinander vergleichbar.) Für den aSDS bedeutet das Einschränkungen in zwei Hinsichten: (i) wenn Tonträger von 67 Ortschaften vorliegen, sind Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 225 bestimmte Dialektlandschaften nicht vertreten; (ii) die Textgrundlage beschränkt die Anzahl der betrachteten dialektalen Variablen. Einige bekannte dialektale Phänomene wie der Verbalplural oder die Sprachlandschaft des Goms im obersten Wallis können dadurch nicht berücksichtigt werden. Weitere Einschränkungen ergeben sich (iii) hinsichtlich der Gewährspersonen, die den Text sprechen und damit die Daten des SDS geliefert haben und (iv) hinsichtlich des Aufnahmezeitpunkts. Wenn einige der Gewährspersonen des Sprechenden Atlasses dem für den SDS geforderten ‘klassischen Profil’ bezüglich Herkunft, Berufstätigkeit und ständigem Wohnsitz nicht ganz entsprechen, so wird das i.d.R. durch deren berufliches Interesse am Dialekt kompensiert, insofern sie z.B. als Lehrer selbst dialektologische Schriften zu ihrer Umgebung verfaßt haben (wie Albin Fringeli) oder wissenschaftlich einschlägig engagiert waren (wie Walter Henzen oder Otto Frehner aus Herisau, der die Korrekturen zu den Transkriptionen seines gesprochenen Textes für die Begleittexte zu den SOS-Phonogrammen selbst vornahm). Das Problem Aufnahmezeitpunkt der Tonträger des Sprechenden Atlasses einerseits und der SOS-Phonogramme andererseits besteht darin, daß erstere bereits aus dem Jahre 1943 stammen, letztere (bis auf eine Ausnahme) im Zeitraum zwischen 1954 und 1960 entstanden, was Zweifel an der Synchronie der Daten rechtfertigt. Für die Diachronie fehlen zudem aktuell erhobene Daten, für die noch kein vergleichbares Corpus zur Verfügung stand. Methodisch problematisch ist auch die kontextfreie Verwendung von einzelnen Sätzen oder Teilsätzen aus den Corpora, die möglichst viele Variablen enthalten, wobei aufgrund begrenzter Speicherkapazitäten jedes Dialektmerkmal nur einmal betrachtet werden kann. (Die einzige Ausnahme ist das wiederholte Notat von mhd. / â/ in schwer und in Käse, da die Variable die durch die Walserwanderungen bedingten dialektalen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Teilen Graubündens und dem Wallis widerspiegelt.) Die Texte sind trotz standardsprachlicher Vorlage (ein weiteres methodisches Problem) keineswegs identisch, da die Sprecher nicht selten von der Vorlage abweichen. Diese Probleme werden indes teilweise aufgewogen durch den Vorteil, daß alle Variablen, in Ko-Texte eingebettet, dem Nutzer Aufschluß geben über prosodische Merkmale (Intonation, Satzmelodie, Phonotaktik) realitätsnaher Verwendung. Damit wird der Informationsverlust durch Code-Transformationen minimiert (cf. Hess-Lüttich 2004: 3490f.). Das Problem war auch der traditionellen Dialektologie bereits bewußt: “Phonetische Mundarttranskriptionen - und wären es die feinsten - haben den Nachteil, daß sie die gesprochene Realität nur unvollkommen evozieren” (Hotzenköcherle 1962 a: 73). Der aSDS erfüllt in diesem Punkt ein seit langem formuliertes Desiderat. Selbst die heute hoch elaborierten Transkriptionssysteme und Partiturnotationen können den faktischen Sprachgebrauch nicht verlustbzw. interpretationsfrei abbilden. Die Verschriftung einer Substandardvarietät enthält bereits eine durch sprachwissenschaftliche Erkenntnisse begründete Darstellungsform, d.h. jegliche “Verschriftlichung von gesprochener Sprache [ist] Teilbearbeitung, da die Zuteilung der gesprochenen Laute zu einem Schriftzeichen nur durch die eine vorläufige lautliche Interpretation möglich ist” (Löffler 3 1990: 66). Die Klage über die Grenzen der Schrift als Zeichenkette für das Lautkontinuum bzw. zu dessen Abbildung ist so alt wie das Nachdenken über Sprache (cf. Stetter 1997). Auch in der Frühphase dialektologischer Studien schmerzte manchen der Philologen, die von ihnen wahrgenommenen dialektalen Nuancen nur unzureichend semiotisch umcodieren zu können; so schränkte Franz Joseph Stalder schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine diesbezüglichen Anstrengungen ein: “Diese Übersetzungen, verfaßt von Männern, die der örtlichen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 226 Sprachart wohl kundig sind, geben getreulich den Dialekt jedes Ortes, sofern sich der Ton und Laut desselben in leblosen Schriftzeichen ausdrücken läßt” (Stalder 1819: 273f.). Der aSDS vermeidet das Problem durch seine audiovisuelle Kartierung und konserviert zugleich einen historischen Sprachstand im Medium des gesprochenen Wortes, ohne deshalb auf Schrift verzichten zu müssen. Aber durch die multimediale Polycodierung in Ton, Schrift und topologischer Verteilung wird dem Benutzer die dialektale Information mehrfach und (in den Einzelcodes gegeneinander überprüfbar) übermittelt, was akustisch oder artikulatorisch bedingte Fehlerquoten oder Verstehensprobleme erheblich vermindert. Die Transkriptionen relativieren zudem die (im Verhältnis zu den SDS-Transkriptionen bereits ihrerseits stark klassifizierten) kartographischen Klassifikationen, denn sie erlauben dem Nutzer, etwaige stärkere Differenzierungen innerhalb des Kartenbildes selbst zu erkennen und zu interpretieren. 4 Semiotische Aspekte der Dialektkartographie Wir halten also fest: werden (Sprach-)Daten in ein anderes Medium übersetzt oder miteinander kombiniert, geht damit zugleich und mit semiotischer Notwendigkeit eine Veränderung dieser Daten einher. Im aSDS werden die dialektologischen Daten, die Tonträger und die Transkriptionen multimedial zusammengeführt. Ihr Zusammenwirken ergibt hinsichtlich der Zeichenprozesse des Kartierens einen Mehrwert, der medienbzw. kartosemiotisch expliziert werden kann: mediensemiotisch insofern die Daten im Medium der interaktiven CD-Rom polycodiert notiert werden können; kartosemiotisch insofern kartographische Datenverarbeitung und -analyse die semiotischen Modalitäten ikonischer, symbolischer und indexikalischer Datenrepräsentation nutzt. Deshalb ist unsere dialektologische Fragestellung recht eigentlich eine semiotische: “Semiotics, the study of sign processes and systems in nature and culture, has contributed approaches to the media since the very beginning of media studies” (Nöth 1997: 1). Der Ansatz verbindet demnach Multimedialität mit Interaktivität. Bei aller technizistischen Verkürzung der heute geläufigen Verwendung des Begriffs ‘Multimedia’ als “Kombination technischer Medien, insbesondere […] Verschmelzung von Fernsehen und Computer, von Audivisualität und Datenverarbeitung” (Hess-Lüttich 1992: 433), hat die technische Entwicklung die synchrone Kombination von Kartenbild, Ton, Transkription und Kommentartext im Medium der CD-Rom erst für die multimediale Anwendung ermöglicht, weil sie im Vergleich zu anderen Speichermedien “aufgrund ihrer großen Kapazität […] zahlreiche Texte, Grafiken, Animationen, Videoclips, Programme usw. aufnehmen [und] für die verschiedensten Informationsangebote” aufbereiten kann (Voets & Hamel 1995: 61). Insofern erlaubt das Medium “die Integration aller herkömmlichen Informationsträger zu einem interaktiven multimedialen System” (Hess-Lüttich 1992: 442), das die Modalitäten der Funktionsweise des aSDS bestimmt, nicht jedoch dessen kartographischen Gehalt (s.u. zu kartosemiotischen Aspekten). Die drei hier involvierten Bestandteile Karte, Text und Ton sind eigens für den aSDS digitalisiert worden, damit sie technisch kookkurrieren können. Dieser Digitalisierungsprozeß ist für die Kartographie um ein Mehrfaches aufwendiger als für den Text (Transkriptionen) oder den Ton, er limitiert bisweilen auch den Handlungsrahmen (s.u. zu technischen Aspekten). Interaktivität konstituiert sich durch die “Art des Informationsaustauschs zwischen Mensch und Maschine, bei dem die Möglichkeit besteht, in den Ablauf einzugreifen bzw. Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 227 diesen zu steuern. Interaktiv wird oft auch als Synonym für dialogorientierte Bedienung - z.B. einer Software - benutzt” (Voets & Hamel 1995: 162). Schmauks (1996: 151) nennt ein System interaktiv, “wenn es auf Benutzereingaben flexibel reagiert”, Weiss ( 5 1993: 12.94) spricht von einem “Verfahren, das den Dialog mit dem Computerprogramm ermöglicht. Das Multimedia-Programm ist dabei so konzipiert, daß es auf jede Wahl oder jeden Befehl des Benutzers in einer spezifischen und sinnvollen Weise, wenn möglich intuitiv und spontan, reagiert”. In der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) kann bei Multimedia-Produkten der neuen Generation dem Interesse des Nutzers effektiver Rechnung getragen werden. Der mit Audioschnittstelle ausgestattete Computer kann als Werkzeug dienen, das den bestmöglichen Zugang zur gesprochenen Wirklichkeit verschaffen kann, d.h. das dem Nutzer die technisch bestmögliche Wiedergabe einer dialektalen Äußerung abzurufen erlaubt. Das zusätzliche Einflechten des Textes (sowohl der Transkriptionen wie der Erläuterungen) unterstützt die MMI dabei entscheidend: “In einem alternativen Ansatz wird der Computer nicht als Dialogpartner, sondern als Werkzeug aufgefaßt, das wie alle Werkzeuge unzureichende menschliche Fähigkeiten erweitern soll” (Schmauks 1991: 119). Dies bedeutet natürlich nicht etwa vollständige Nachahmung der Realität. Die MMI versucht zwar, dem Prozeß alltäglicher Kommunikation immer ähnlicher zu werden, aber eine Vielzahl konkomitanter Faktoren und nonverbaler Komponenten wie Mimik, Gestik, Proxemik usw. in unmittelbarer en-face-Verständigung fehlen: “Wenn Bestrebungen zur Verbesserung der MMI das Leitziel ‘Natürlichkeit’ haben, kann man sich z.B. am Vorbild der face-to-face Interaktion orientieren. […] Dennoch liegt immer noch eine erhebliche Verkürzung gegenüber natürlichen Dialogen vor, bei denen Sprache von nonverbalen Mitteln begleitet wird” (Schmauks 1991: 119). Zum Verbalausdruck kommen bei der vorliegenden CD-Rom graphische Elemente hinzu in Form von Ortspunkten oder “earcons”, die per Mausklick interaktiv werden, d.h. “sprechen”: “Bei sogenannten ‘hörbaren Graphiken’ haben die normalerweise nur sichtbaren Piktogramme (‘icons’) auch akustische Aspekte. Aufgrund des Wortspiels ‘icon-eyecon’ werden sie darum ‘earcon’ genannt. […]. Falls der Cursor ein earcon berührt, erklingt dessen kennzeichnender Ton” (Schmauks 1998: 21). Die Ortspunkte figurieren auf den aSDS-Karten als genau jene Zeichen, die die Schnittstelle zu den auditiven Daten darstellen. Index-Gesten sind als individueller Ausdruck von Interesse ein wichtiger Bestandteil der Interaktivität. Das ‘Zeigen’ erfolgt am Computer normalerweise mittels Maus und Mausklick. Die Cursorbewegungen “können als Simulation der Bewegungen aufgefaßt werden, die ein Mensch beim taktilen Zeigen mit seinen Fingerspitzen ausführt” (Schmauks 1996: 150). Dieses Zeigen simuliert aber nicht nur diese für den Menschen äußerst wichtige Interaktionsgeste, sondern kann auch die sprachliche Eingebung (den verbalen input) substituieren: “Ersetzung sprachlicher Interaktion ist durch eine Vielzahl von Techniken möglich. […] Der Benutzer kann aus einer Menge antizipierter Möglichkeiten durch ‘Zeigen’ eine auswählen” (Schmauks 1991: 123). Das Zeigen mittels Mausklick identifiziert bei der vorliegenden CD-Rom exakt den Ortspunkt und stellt das dazugehörige auditive und textliche Material bereit. Semiotisch relevant wird bei der Interaktion zudem jede Veränderung des Erscheinungsbildes am Bildschirm. Die “lokalen Änderungen des visuellen Kontextes” (Schmauks 1991: 125) ratifizieren die Zeigehandlungen des Nutzers. Mit der Wahl eines jeden neuen Menüpunktes des aSDS erscheint eine neue Karte am Bildschirm. Im Gegensatz zur statischen Information einer Karte, auf der sich nur Informationen ablesen lassen, die aber selbst nicht interaktiv veränderbar ist, spricht man hier deshalb von dynamischer Information (cf. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 228 Abb. 1: Anwendungsbeispiel des aSDS: Mit jedem Mausklick ändert sich der visuelle Kontext. Die Abb. zeigt exemplarisch das Kartenbild der Monophthongierung in “Geiss” (SDS I 109). Am rechten Bildschirmrand ist die ausgewählte Variable unterstrichen, in der unteren Mitte wird das dialektale Phänomen erklärt und unmittelbar oberhalb erscheint die Transkription der dialektalen Äußerung des angeklickten Ortspunkts. Der aktive Ortspunkt ist zudem mittels eines Kreises gekennzeichnet. Schmauks 1991: 125). Eine Computergraphik wird also wie das Fernsehen oder wie ein Video als “dynamisches Bild” betrachtet (cf. Caneparo & Caprettini 1997: 148). Die im aSDS abrufbaren 43 Kartenbilder in Verbindung mit den an diese jeweils gekoppelten 67 Tonträger konstituieren somit eine dynamische Dialektkarte, die auf Benutzereingaben reagiert. Wir haben es hier also mit einer interaktiven Anwendung zu tun, bei der sich die polycodierten Informationen von Karte, Ton und Text zum dynamischen Superzeichen supplementieren. Als Gefüge von Elementen, das mehr ist als deren Summe (Totalität) und als Gefüge von Elementen, die gegenseitig voneinander abhängen (Interdependenz) ist es ein Zeichen von komplexer Struktur (cf. Oppitz 1975: 19), das im Mittelpunkt des Interesses moderner Kartosemiotik steht. Gegenstand der Kartosemiotik ist “die semiotische Untersuchung von topographischen und thematischen Karten” (Nöth 1998: 25), die längst auch die sog. Neuen Medien in die Kartographie mit einbezieht. Dadurch erfahren die traditionellen Dialektkarten im Hinblick auf die Aspekte Statik, Visualität und Zweidimensionalität eine deutliche Erweiterung. Die Visualität wird z.B. durch die Tonträger bereichert, denn “typische Karten stellen zwar Sichtbares Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 229 durch sichtbare Zeichen dar, aber auf beiden Ebenen gibt es Abweichungen. Karten können Daten aus allen Modalitäten erfassen” (Schmauks 1998: 8). Eine solche Modalität ist eben das am jeweiligen Ort “Hörbare”, wodurch die visuelle Dialektkartographie zur audiovisuellen wird. Als kartographische Grundlage des aSDS werden zudem nicht die herkömmlichen zweidimensionalen Karten verwandt, sondern Blockbilder, die der Benutzer wie Reliefkarten empfindet. Damit wird die Dialektkarte dreidimensional. Dazu kommt das Zusammenspiel von Karte und Sprache, Bild und Laut (Nöth 2000: 487): Wegen ihrer Zweidimensionalität sind sowohl Bilder als auch Karten in ihrem räumlichen Darstellungspotential der Sprache überlegen, denn Sprache kann die Dimensionalität des Raums nur durch die Eindimensionalität der Lautkette wiedergeben. Im Gegensatz zu Bildern sind Karten jedoch insofern der Sprache ähnlicher, als sie ein elaboriertes System arbiträrer Symbole verwenden, um geographische Orte auf der Karte zu lokalisieren oder zu beschreiben. Die Eindimensionalität akustischer Lautketten der Sprache und die Zweidimensionalität der Koordinaten flächiger Karten ergänzen einander also zum dreidimensionalen System arbiträrer Symbole von Sprache, Fläche und Raum. Semiotisch komplexe Karten dieses Typs kommunizieren generell zwei wichtige Informationen zugleich, nämlich einerseits die “interne Information topographischer Nähe” und andererseits die “externe Information […], die für Interpretation und Entscheidung notwendig ist” (Bertin 1982: 139). Die interne Information der vorliegenden Karte wird durch die Kantonsgrenzen, das Relief und die Seen verkörpert. Diese Information knüpft also an bereits voraussetzbares Wissen an. Die externe Information ist hingegen neu; dies sind die pro Menüpunkt wechselnden Gebietszuteilungen der jeweiligen Karten, die Farben sowie die interaktiven Ortspunkte, deren Aktivierung auditives Material sowie die Transkription und die dialektologische Erläuterung präsentiert. Diese Information muß sich an der Voraussicht von Operationen der Kartennutzung orientieren. “Zur Planung einer Karte gehört es unter anderem, die Fragen vorauszusehen, die der Kartennutzer stellen könnte oder stellen soll. Graphische Mittel werden dann im Hinblick auf die bezweckte Lesung eingesetzt (oder sollten so eingesetzt werden)” (Schlichtmann 1998: 49). Im aSOS zielt vor allem die unterschiedliche Einfärbung der einzelnen Dialektgebiete auf die bezweckte Lesung hin. Die unterschiedlichen Farben suggerieren demnach bereits die dialektalen Unterschiede. Es handelt sich bei den neueren Werken der Dialektkartographie wie dem aSDS oder vergleichbaren Projekten wie dem Digitalen Wenkeratlas (DiWA) 3 um Transformationen von Karten in andere Text-Modalitäten, denn unter bestimmten Rahmenbedingungen “ist es sinnvoll oder gar unerläßlich, eine Karte in andere Modalitäten oder Medien zu übersetzen” (Schmauks 1998: 20). Dabei orientiert sich die Struktur des kartographischen Superzeichens heute meist an der gängigen Zeichentypologie symbolischer, ikonischer und indexikalischer Zeichen (Peirce 1958/ 1960; cf. Nöth 2000: 178-198; Posner et al. 1996-2004; Hess-Lüttich & Rellstab 2005; Hess-Lüttich 2006): “In Karten finden sich natürlich alle drei Zeichentypen, aber die Vorstellung, daß die beste aller Karten diejenige ist, die ihr Territorium am getreusten ‘abbildet’, hat zu der Annahme geführt, daß Karten in erster Linie ikonische Zeichen sind” (Nöth 2000: 489). Solche ikonischen Zeichen sind beim aSDS etwa die maßstabgetreu verkleinerte Repräsentation des Territoriums und der Seen sowie das dreidimensionale Relief, das nahezu photographische Wirkung erzielt. Demgegenüber sind “Kartographen […] darum bemüht, die Symbolizität der Karten soweit wie möglich zu reduzieren” (Nöth 2000: 490). Freilich erweist sich das - abgesehen von der konventionell gängigen symbolischen Verwendung z.B. von blauer Farbe für Seen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 230 und differenzierten Linien für Kantons- und Staatsgrenzen sowie die ‘Einnordung’ (also die Ausrichtung der Karten nach Norden) - bei thematischen Karten als ziemlich schwierig. Gerade bei der Dialektkartographie kann auf symbolische Darstellungen auf der Karte kaum verzichtet werden. “Die kartographische Darstellung kommt ohne Abstraktion, ohne Zeichen für die Dinge, ohne symbolische Linien und Farben nicht aus” (Imhof 1965: 99). Da beim aSDS jedoch sämtliche Karten zugleich um Tonträger ergänzt werden, relativiert das ihre Symbolizität insofern als die Kookkurrenz farblich-symbolischer Darstellung und realauditiver Lautung die eingefärbten Dialektkarten gleichsam iconisiert, also zur faktischen Ähnlichkeit des Dargestellten mit seinem Objekt führt. Auch die dreidimensionale Reliefkarte verstärkt die Ikonizität, indem sie die Symbolizität der aSDS-Karten durch ihren nahezu photographischen Effekt reduziert. Als die wesentliche Funktion einer Karte betrachtet Nöth (2000: 490) indes die “indexikalische, denn einerseits sind Kartenzeichen durch Gesetzmäßigkeiten der optischen Projektion mit dem dargestellten Territorium (als dem dynamischen Objekt) kausal verbunden, andererseits orientiert eine Karte ihre Benutzer ‘richtungsweisend’ in ihrer unmittelbaren geographischen Umwelt oder in ihrem mentalen Vorstellungsraum.” 5 Technische Probleme der Zeichenverwendung in der kartographischen Praxis Die im Zusammenhang mit Konzepten der Multimedialität und Interaktivität diskutierten zeichentheoretischen Probleme intermedialer Relationen (Hess-Lüttich 2006) gelten grundsätzlich auch in der digitalen Dialektkartographie. Hinzu kommen jedoch bei der Erstellung nutzerfreundlicher polycodierter Texte allerlei technische Probleme (die hier für ein nicht technisch vorgebildetes Leserpublikum nur in allgemeiner Form kurz angerissen werden sollen). Es wurde bereits hervorgehoben, wie sich die Textfläche, das dreidimensionale Blockbild und die konkomitanten Zeichenketten auf dem akustisch-phonetischen Kanal mit jedem Nutzer-Input (per Mausklick) dynamisch verändern. Die zur Visualisierung von Dialektgrenzen markierten Isoglossen werden durch Farbkontraste realisiert, die aus dem sog. Rot-Grün-Blau-Farbraum (RGB) generiert werden, was eine für Computeranwendungen gängige Lösung darstellt. Für die Komplementarität der Farben ist dabei sowohl der maximale Kontrast zwischen den verschiedenen Dialektgebieten wichtig als auch die Regelmäßigkeit der Farbverteilung auf den Karten und die Kontinuität der Farbgebung beim Kartenwechsel. Beim aSDS z.B. sind die Verbreitungsgebiete der westlichen Varianten und die der Höchstalemannia i.d.R. blau markiert, die der östlichen und hochalemannischen in gelb. Diese Farbwahl kann freilich nicht immer konsequent durchgehalten werden und orientiert sich zudem am Sprachgebrauch in den Städten Bern und Zürich. Kleinere Dialektgebiete werden mittels kontrastreicher Farben hervorgehoben, bei den Kombinationskarten werden Gebiete mit ähnlichem Sprachgebrauch in entsprechend ähnlichen Farben gehalten. Die Größe der eingefärbten Fläche entspricht natürlich nicht der Einwohnerzahl, was den rotfarbenen Agglomerationsgebieten und der Reliefkarte, die die Gebirgsregionen hervorhebt, entnommen werden kann. Die technischen Hilfsmittel der Dialektkartographie des aSDS bestehen, wie bereits kurz erwähnt (s.o.), aus drei Typen von Files, die nunmehr noch kurz erläutert werden sollen. Sie enthalten den digitalisierten Datensatz aller im aSDS verfügbaren (aber zusätzlich klassifizierten) Daten. Bei den Datenfiles (im .tbl-Format) muß jeder kartierten Gemeinde ein dialektaler Wert in Form von Zahlen zugewiesen werden. Die offiziell nicht deutschsprachi- Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 231 gen Gemeinden werden mittels Leerwert (Rautezeichen) von der Einfärbung ausgenommen. Bei den Geometriefiles (im .agf-Format) handelt es sich um das kartographische Grundgerüst, das sich aus Kantons- und Gemeindegrenzen sowie der Reliefkarte zusammensetzt. Mittels der Kartenbeschreibungsfiles (im .xml-Format) wird den verschiedenen Werten der Datenfiles ein Farbwert zugewiesen. Die Kombinationskarten sind bezüglich der Farbwahl um einiges schwieriger zu gestalten als die einfachen Karten, denn bei diesen gilt es, zwischen acht und 26 verschiedenen Dialektgebieten Grenzen und Zugehörigkeiten hervortreten zu lassen. Dabei stimmen die mathematisch möglichen Dialektgebiete aufgrund der Anzahl der miteinander kombinierten Varianten und Variablen nicht mit den tatsächlich existenten überein. Die Unterstützung moderner, hochtechnisierter Kartographietechnik nimmt dem Dialektkartographen mithin die Definition der jeweiligen Dialekträume, ihre jeweilige Einfärbung und die Bearbeitung der Navigation im Hinblick auf die beabsichtigte Handhabung der Nutzer nicht ab. Weitere Probleme entstehen durch die technischen Lösungen selbst. Die Entscheidung für das Isoglossenkonzept als Möglichkeit kartographischer Darstellung von Dialektgrenzen z.B. suggeriert eine Genauigkeit, die in der Wirklichkeit des Sprachgebrauchs, besonders in Mischgebieten in Isoglossennähe, keine Entsprechung hat. Oder die Entscheidung für die ‘politische Gemeinde’ als der kleinsten kartographischen Einheit: Isoglossen und Verwaltungsgrenzen stimmen keineswegs immer überein. Im St. Galler Oberland (Bezirk Sargans) existieren beispielsweise innerhalb der Gemeinde Quarten zwei SDS-Aufnahmeorte (die Teil-Gemeinden Murg und Oberterzen), zwischen denen häufig wichtige Isoglossen verlaufen. 4 Dialektal heterogen sind auch die beiden Gemeinden Mels und Pfäfers, die beide durch zwei SDS-Aufnahmeorte vertreten sind. Sowohl Weisstannen wie auch Vättls sind weit entfernt vom politischen Gemeindezentrum und bei beiden handelt es sich um Bergdörfer, die oft andere Varianten aufweisen als ihr politisches Zentrum. Meist handelt es sich dabei um Relikte, die nach den SDS-Daten zwar noch belegt sind, aber aufgrund der kartographischen Darstellungsweise im aSDS nicht abgebildet werden können. Schließlich fallen teilweise dünn besiedelte Gemeinden der Höchstalemannia durch ihre enormen Flächenausmaße kartographisch bezogen auf die Sprecherzahl überdimensional ins Gewicht. Um der Fehlinterpretation einer Korrelation von Fläche und Sprecherzahl vorzubeugen, sind im aSDS die Städte und Agglomerationsgebiete der Schweiz mit über 10’000 Einwohnern rot gekennzeichnet. Daraus können die Nutzer auf die Populationsdichte schließen; zudem sind der Reliefkarte, wie beschrieben, die Gebirgsregionen und die Gletscherflächen zu entnehmen. 6 Fazit Die audiovisuelle 3D-Dialektgeographie (‘3D’ für Dreidimensionalität) vereint die Textdimensionen polychrome Blockbild-Karte, Originaltonaufnahme und phonetische Transkription. Das Zusammenwirken der Codes im interaktiven Multimedium der CD-Rom ermöglicht die Eingliederung mehrerer herkömmlicher Kartentypen der Dialektkartographie und deren audiovisuelle Nutzung. Die auditiven und transkribierten Befunde entsprechen dem Typus einer Originalkarte, die Farbverteilungen dem einer Flächenkarte; die per Mausklick aktivierbaren Ortspunkte können als Elemente einer Punktsymbolkarte betrachtet werden; insofern die Karten linguistische und extralinguistische Merkmale (Kantonsgrenzen, Stadtgebiete, Relief) verbinden, kann zusätzlich von einer Flächenkombinationskarte gesprochen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 232 werden; die Verbindung verschiedener thematischer Kartentypen wird in Form von Merkmalskombinationskarten geleistet (z.B. enthält der Satzteil “ein gutes neues Jahr” sowohl phonetische als auch morphologische Unterschiede, die in einer Kombinationskarte dargestellt werden können). Schließlich ermöglicht das Verfahren die kombinierte Anwendung aller schulmäßigen Methoden der Kartiertechnik im Dienste der Erstellung einer ‘guten Karte’: “In einer guten Karte können alle kartographischen Mittel nebeneinander benutzt werden” (Naumann 1982: 672). Damit verspricht die geolinguistische und dialektologische Kartographie Anschluß zu gewinnen an die modernen Kartiersysteme der Naturwissenschaften. 7 Literatur Bertin, Jacques 1982: Graphische Darstellungen und die graphische Weiterverarbeitung der Information, übers. u. bearb. v. Wolfgang Scharfe, Berlin/ New York: de Gruyter Besch, Werner, Ulrich Knoop & Wolfgang Putschke (eds.) 1982/ 1983: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, vol 1: 1982, vol. 2: 1983, Berlin/ New York: de Gruyter Besch, Werner & Klaus J. Mattheier (eds.) 1984: Ortssprachenforschung. 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Dies liegt bei den erstgenannten in historischen Ursachen und im unmittelbaren Anstoß an deutsches Sprachgebiet begründet, bei der Tessiner Gemeinde in dem Umstand, daß diese ihre deutschsprachige Mehrheit erst im Laufe der letzten Dekade verlor. 3 Bei dem von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) im Rahmen des Programms “Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen” finanzierten DiWA-Projekts sollen 576 Karten online verfügbar sein, die eine bis dato unerreichte Datenfülle repräsentieren, insofern sie die Verbindung “mit kulturhistorischen, sozialdemographischen und bibliographischen Informationen” ermöglichen (www.diwa.info/ projektbeschrieb). Zur Veranschaulichung der Topographie dienen auch hier Reliefunterlagen. 4 So kann z.B. die Dialektgrenze zwischen Murg und Quarten im Hinblick auf die Variablen SDS IV 167 (“nicht” im Satzinlaut) und SDS V 185 (Rückstand beim Auslassen von Butter) aufgrund der gewählten Einheiten nicht kartographisch repräsentiert werden, was hier aber zulässig scheint, da ansonsten die “Unterschiede sehr bescheiden [sind], d.h. die Mundarten von Murg und Quarten sind sehr ähnlich” (Trüb 1951: 185).