Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
303-4
Raum - Zeit - Schichten
121
2007
Dieter D. Genske
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Dieser Beitrag analysiert exemplarisch ein ausgewähltes Terrain im zentralen Bereich von Berlin. Dabei wird von Leonard Eulers Konzept des 'Freischneidens' ausgegangen, das er im 18. Jahrhundert entwickelte, um mechanische Systeme zu untersuchen. Das Konzept und der Prozeß des 'Freischneidens' enthüllt die Entwicklung des Terrains in Zeit und Raum. Um Eigenschaften zu erkennen, die durch anthropogene und geogene Schichten verhüllt sind, werden sowohl einfache als auch anspruchsvolle Methoden der Baugrunderkundung eingesetzt. Ein breites Spektrum von direkten und indirekten Zeichen gilt es analytisch zu verarbeiten, um charakteristische Schichten zu identifizieren und ihr Zusammenwirken zu verstehen.
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Raum - Zeit - Schichten Der Spreebogen im Zeichen des Eulerschen Schnittprinzips Dieter D. Genske (Zürich) & Ernest W.B. Hess Lüttich (Bern/ Stellenbosch) 1 Verhüllung, Enthüllung und das Eulersche Schnittprinzip 2 Der Berliner Spreebogen 3 Anthropogene Schichten 4 Geogene Schichten 5 Spurensuche 6 Literatur This article analyses a terrain in central Berlin based on the concept of “cutting free” as developed by Leonard Euler in the 18 th century to investigate mechanical systems. The concept and the process of free-cutting reveals the development of the terrain in time and space. In order to look map features that are disguised by anthropogeneous substrates and geological layers, simple as well as sophisticated techniques of site investigation are employed. A broad spectrum of direct and indirect signs have to be processed and analysed in order to identify characteristic strata and their interrelation. Dieser Beitrag analysiert exemplarisch ein ausgewähltes Terrain im zentralen Bereich von Berlin. Dabei wird von Leonard Eulers Konzept des ‘Freischneidens’ ausgegangen, das er im 18. Jahrhundert entwickelte, um mechanische Systeme zu untersuchen. Das Konzept und der Prozeß des ‘Freischneidens’ enthüllt die Entwicklung des Terrains in Zeit und Raum. Um Eigenschaften zu erkennen, die durch anthropogene und geogene Schichten verhüllt sind, werden sowohl einfache als auch anspruchsvolle Methoden der Baugrunderkundung eingesetzt. Ein breites Spektrum von direkten und indirekten Zeichen gilt es analytisch zu verarbeiten, um charakteristische Schichten zu identifizieren und ihr Zusammenwirken zu verstehen. 1 Verhüllung, Enthüllung und das Eulersche Schnittprinzip Grundgedanke der folgenden Ausführungen ist ein mechanisches Prinzip, das zuerst der Basler Mathematiker Leonard Euler (1707-1783) formuliert hat. Danach lassen sich die an einem System wirkenden Kräfte ermitteln, indem es gedanklich ‘freigeschnitten’ wird, um so die Kräfte herzuleiten, die es im Gleichgewicht halten (Euler 1757; Szabo 1979: 20). Das Eulersche ‘Schnittprinzip’ ist ein Grundpfeiler der Mechanik, das, im übertragenen Sinne, im folgenden auf einen Siedlungs- und Landschaftsraum angewandt wird. Ein Gelände wird ‘freigeschnitten’, also aus seinem Zusammenhang gedanklich gelöst, um dadurch seine Entstehung und seine Entwicklung besser zu verstehen. Dabei werden, besonders an den K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 296 Abb. 1: Leonard Euler (1707-1783) kam dem Kräftespiel in einem mechanischen System auf die Spur, indem er es an beliebig gewählten Stellen zertrennte und an den solchermaßen ‘freigeschnittenen’ Kontaktflächen Reaktionskräfte ansetzte und sie ins Gleichgewicht setzte. (Abb. aus: Istvan Szabo, Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungen, 2. Aufl., Basel/ Boston/ Stuttgart: Birkhäuser 1979: 21). Schnittkanten, jene Schichten enthüllt, die das aktuelle Landschaftsbild ‘verhüllt’. Prozesse und Phänomene lassen sich rekonstruieren und erklären und erlauben so Rückschlüsse auf die raumzeitliche Dynamik und die morphologische Ausprägung des Terrains. Anthropogene Eingriffe überprägen die geogenen Vorgaben. Ihre Komplexität wird deutlich, wenn man versucht, sie in Phasen zu gliedern. Einzelne Phasen können sich zum einen überdecken und in einzelnen Schichten manifestieren, zum anderen kann eine spätere Phase eine frühere teilweise zerstören oder völlig eliminieren. Oft sind von einer Schicht nur noch Fragmente vorhanden, die von anderen Schichten überlagert und verhüllt werden. Um sie zu kartieren, gilt es historische Karten zu deuten, naturräumliche Vorgaben zu verstehen und schließlich vor Ort zu recherchieren. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Verfahren der Baugrunderkundung eingesetzt. Historische Karten und Planungsunterlagen sind oft unvollständig, Erläuterungen und Beilagen im Laufe der Zeit verloren gegangen. Aufgrund der oft nur bruchstückhaft vorliegenden Planungsunterlagen ist mitunter nicht bekannt, inwieweit die skizzierte Planung tatsächlich umgesetzt und somit das Gelände erneut überprägt wurde. Deshalb ist es notwendig, zusätzlich direkte Informationen zu sammeln, zum Beispiel durch das Freilegen von Bodenprofilen und Relikten ehemaliger Besiedelung. Weiterhin werden indirekte Aufschlüsse kartiert, wie zum Beispiel die Ansiedlung ‘kennzeichnender’ Pflanzen oder Variation der Magnetisierung des Untergrundes. Die Dynamik eines anthropogen überprägten Naturraums ergibt sich aus Bruchstücken und Fragmenten, die, rekonstruiert und zusammengefügt, räumliche und zeitliche Schichten bilden und die, an ihren Schnittkanten freigelegt, mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung stehen. Die Deutung der Vielfalt geogener und anthropogener Zeichen erlaubt einen Einblick in die raumzeitliche Entwicklung eines Landschafts- und Siedlungsraums. Das im folgenden skizzierte Freischneiden eines Segments der Bundeshauptstadt aus einem raumzeitlichen Kontinuum ist somit ein semiotischer Prozeß (cf. Hess-Lüttich et al. eds. 1998 a; id. 1998 b). Dafür wurde als Beispiel der Berliner Spreebogen gewählt, heute Standort des Reichstags und des Kanzleramtes. Raum - Zeit - Schichten 297 Abb. 2: Der Berliner Spreebogen und seine aktuelle Bebauung (vereinfacht). Die Abkürzungen beziehen sich auf den Reichstag (R), die Schweizerische Botschaft (CH), das Sowjetische Ehrenmal (SE) und das Haus der Kulturen der Welt (HKW). Ebenfalls dargestellt ist das Band des Bundes mit Kanzleramt (KA) und den Kanzlergärten (KG), dem Paul-Löbe-Haus (PLH) und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH). Östlich des Reichstags liegt das Jakob- Kaiser-Haus (JKH) (Genske & Hess-Lüttich 2004). 2 Der Berliner Spreebogen Der Spreebogen in Berlin hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht (Genske & Hess- Lüttich 2004: 9). Heute ist er Sitz der Regierung des wiedervereinigten Deutschlands. Das architekturtheoretisch intensiv diskutierte programmatische ‘Band des Bundes’ verbindet Ost- und West über die Weltenscheide des ehemaligen Eisernen Vorhangs hinweg. Einige Bauwerke zeugen jedoch von früheren Epochen, in denen der Spreebogen gleichermaßen Schauplatz war für Politik und Kultur, Hoffnung und Enttäuschung, Krieg und Frieden. Dieser Beitrag ist eine semiotische Spurensuche, bei der geologische, historische, städtebauliche und weltpolitische Schichten dieses bemerkenswerten Carrés im Herzen Berlins freigelegt werden (Abb. 2). Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde entschieden, den Regierungssitz nach Berlin auf den Spreebogen zu verlegen. Die Architekten Axel Schulze und Charlotte Frank entwarfen das ‘Band des Bundes’ mit dem Kanzleramt und weiteren Regierungsbauten, das über die Spree hinweg als Klammer zwischen Ost und West figuriert. Bevor mit dem Bau begonnen werden konnte, sah die Planung die Errichtung von insgesamt drei Tunneln vor, die unter dem ‘Band des Bundes’ hindurch nach Norden geführt Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 298 werden sollten. Im einzelnen waren ein Straßentunnel, ein Tunnel für die Fernbahn und ein U-Bahntunnel vorgesehen. Im Rahmen der Voruntersuchungen war zu klären, ob Baugrundhindernisse den Bau der unterirdischen Verkehrsanlagen stören könnten. Die Untersuchung des Untergrundes ergab eine so nicht vorhergesehene komplizierte geologische Situation. Darüber hinaus wurde in den Baugrund mehrfach eingegriffen, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, als Albert Speer den völligen Umbau der Reichshauptstadt und die Errichtung monumentaler Regierungsbauten plante. Erst als sich das Kriegsglück der Machthaber wendete, wurden die Bauarbeiten eingestellt. Die Sowjetische Armee nahm den Reichstag am 30. April 1945 ein und hißte auf seinem Dach die Rote Fahne. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte wurden die Ruinen abgeräumt, der Spreebogen wurde zu einer trostlosen Brachfläche an der deutsch-deutschen Grenze. Nur noch die Schweizerische Botschaft zeugte vom eleganten Alsenviertel, dem von Schinkel und Lenné erdachten städtebaulichen Meisterwerk im Herzen Berlins. 1 3 Anthropogene Schichten 3.1 Die Speersche Schicht Die Generalbauinspektion Albert Speers plante, auf dem Spreebogen die “Halle des Volkes” zu errichten, dreihundertzwanzig Meter hoch, um den Führerkult architektonisch zu inszenieren (Reichhardt & Schäche 2005). Eine Million Menschen hätten während der geplanten Siegesfeiern vor dem hundertachtzigtausend Menschen fassenden Kuppelbauwerk jubeln sollen. Die sich in immer groteskere Dimensionen versteigende Planung sah schließlich vor, die Spree südlich unter den geplanten Aufmarschplatz in zwei Tunnelröhren umzuleiten (Abb. 3). Als nach der Wende die Planungen für die unterirdischen Verkehrsanlagen begannen, war völlig offen, ob im Zuge der Speerschen Planung tatsächlich bereits in den Baugrund eingegriffen worden war. Alliierte Luftbilder zeigen eine große Baugrube im Bereich des geplanten “Spreedurchstichs”, die jedoch mit Grundwasser gefüllt ist. Aus historischen Photos und Fragmenten von Planungsunterlagen mußte gefolgert werden, daß tatsächlich mit den Abbrucharbeiten begonnen worden und die Ausführungsplanung weit fortgeschritten war. Es wurde zudem deutlich, daß möglicherweise mit erheblichen Baugrundhindernissen zu rechnen sein würde. Bekannt war nur, wo ungefähr diese im Untergrund verborgen sein könnten. Der Nachweis der Existenz der vermuteten Tunnel, Fundamente und Stahlspundwände gelang jedoch erst mit der Durchführung einer umfangreichen geomagnetischen Feldaufnahme, die etwa zwanzig Hektar abdeckte (Borchert et al. 1995). Armierte Fundamente, Stahlbetontunnel und Stahlspundwände verursachen magnetische Kontraste. Die Messungen identifizierten deutlich die im Luftbild bereits nachgewiesene 140 mal 60 Meter große Baugrube für den “Spreedurchstich” südlich der geplanten “Halle des Volkes”. Darüber hinaus wurden zwei massive Tunnelfragmente erkennbar, die die Trassen der neu geplanten unterirdischen Verkehrsanlagen zwischen Tiergarten und dem früheren Lehrter Bahnhof (heute Berliner Hauptbahnhof) kreuzten. Weiterhin bildeten sich die Baugrubenwände für zwei südlich abzweigende Tunnelbauwerke ab. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen wurde mit Hilfe seismischer Methoden und mit Georadar die Geometrie einzelner Störkörper näher vermessen. Mit Aufschlußbohrungen im Raum - Zeit - Schichten 299 Abb. 3: Modell der Nord-Süd-Achse, zwischen dem Südbahnhof (im Vordergrund) und der “Großen Halle” auf dem Spreebogen, Planungsstand 1942 (Archiv Wolfgang Schäche). Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 300 Abb. 4: Die Speersche Überplanung des Spreebogens (Genske & Hess-Lüttich 2004: 79). Bereich des “Spreedurchstichs” wurden sechs Meter mächtige Stahlbetonfundamente nachgewiesen. Nun stand fest, daß bei der Durchführung der Baumaßnahmen mit erheblichen Störkörpern zu rechnen war. Die Planung wurde entsprechend angepaßt. Für den Spreebogen (Abb. 4) wurde die “Große Halle” (GH) schließlich zu groß, deshalb sollte sie auf dem Humboldt-Hafen errichtet werden. Wasserflächen hätten die Wirkung der 320 m hohen Kuppel nochmals verstärkt. Der “Große Platz” (GP), für eine Million Menschen bemessen, sollte Ort des Führerkults werden. Der “Führer” selbst gedachte, westlich des Platzes im “Führerpalast” (FP) zu residieren. Die Spree hätte unter dem “Großen Platz” in zwei Tunnelröhren geführt werden müssen (“Spreedurchstich” SD). Den südlichen Eingang des Platzes hätten die “Neue Reichskanzlei” (NR) und das “Oberkommando der Wehrmacht” (OKW) flankiert. Der Reichstag (R) wäre Restaurant und Lesesaal der Abgeordneten des “Neuen Reichstags” (NR) geworden, die in Hitlers Einparteienregime freilich wenig abzustimmen gehabt hätten. Vielmehr galt es, in der fünfzigmal größeren Kuppelhalle dem Führer zu huldigen, was das einfache Volk auf dem erwähnten Aufmarschplatz ebenfalls hätte üben können. Die historische Entwicklung des Spreebogens ist bei dieser Planung fast vollständig ausgeblendet. Allein das Brandenburger Tor (B) und der Reichstag (R) hätten von der Geschichte des Terrains gezeugt, die von Friedrichs Exerzierplatz bis zur ersten deutschen Republik reicht, für die der Diktator allerdings nicht viel übrig hatte. Unterlegt ist hier die aktuelle Bebauung mit dem ‘Band des Bundes’ (BB), dem ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW), dem Sowjetischen Ehrenmal (SE) und der Schweizerischen Botschaft (CH). Raum - Zeit - Schichten 301 Abb. 5: Der Spreebogen nach dem Fall der Mauer 1990 (Genske & Hess-Lüttich 2004: 105). Anfang der 1990er Jahre gelang es, mit Hilfe geophysikalischer Messungen massive Fundamente zu lokalisieren. Die Messungen zeigen den magnetischen Kontrast zwischen natürlichem Baugrund und den im Boden verborgenen Fragmenten der Speerschen Planung (Abb. 5). Deutlich erkennbar sind die Fundamente der in Stahlbeton ausgeführten Spreetunnel (“Spreedurchstich”) und die Stahlspundwände zur Sicherung der nach Süden abbiegenden Tunnelbaugrube. Ein zweiter, nach dem Luftbild von 1945 bereits vollendeter Tunnel zweigt zum Reichstag (R) ab. Die geplanten Tunnel für Strasse, Bahn und U-Bahn sind gestrichelt gezeigt. Ebenfalls dargestellt sind das Brandenburger Tor (B), das Schweizer Generalkonsulat (CH), das Sowjetische Ehrenmal (SE) und das ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW). Unterlegt ist wiederum das ‘Band des Bundes’ (BB). Die mittels Geophysik lokalisierten Baugrundstörungen behinderten den Bau der Tunnel. Außerdem kam es während der Bauausführung wiederholt zu Munitionsfunden und Wassereinbrüchen. 3.2 Die Prä-Speerschen Schichten Albert Speer hat wie kein anderer zuvor in den Untergrund des Spreebogens eingegriffen. Dadurch sind in bestimmten Bereichen alle Zeugnisse früherer Überprägung unwiederbringlich verloren. Glücklicherweise beschränken sich die massiven Eingriffe nur auf wenige Bereiche, insbesondere im nördlichen Spreebogen. Vor der Speerschen Planung hatte der Spreebogen ein völlig anderes Gepräge, das sich, Schicht um Schicht, rekonstruieren läßt. Bis in die 1930er Jahre wird der Spreebogen durch das Alsenviertel geprägt, eine kohärente Stadtbebauung, benannt nach der dänischen Stadt Alsen, die nach der Erstürmung der Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 302 Abb. 6: Der Spreebogen als ein städtebaulich kohärentes Viertel mit gehobener Wohn- und Verwaltungsbebauung, dessen ursprüngliche Planung auf Entwürfe von Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné zurückgeht (Genske & Hess-Lüttich 2004: 47). Düppeler Schanzen durch preußische Truppen im April 1864 besetzt wurde. Die auf Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné zurückgehende Planung ist ein harmonischer Entwurf, in dem sich ein von der Aufklärung getragener Urbanismus im naturräumlich vorgegebenen Spreebogen entfaltet. Abb. 6 zeigt die Struktur des Geländes zu der Zeit, als Philipp Scheidemann vom Reichstag (R) aus die Republik ausruft. Zu sehen sind das Brandenburger Tor (B), das Generalstabsgebäude (GS), das Krollsche Etablissement (K), die Siegessäule (S), und die Brücken Moltkebrücke (MB), Alsenbrücke (AB) und Kronprinzenbrücke (KB). Zu sehen ist ebenfalls das 1919 von Magnus Hirschfeld eröffnete Institut für Sexualwissenschaften (IfS) In den Zelten 10. Unterlegt ist wiederum die aktuelle Bebauung mit dem ‘Band des Bundes’ (BB), dem ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW), dem Sowjetischen Ehrenmal (SE) und der Schweizerischen Botschaft (CH), die die Eidgenossen 1920 bezogen. Doch bereits vor Schinkels und Lennés Masterplan belebt sich der Spreebogen. Der Tiergarten wird ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. 1842/ 44 entsteht das große Krollsche Etablissement, ein über fünftausend Gäste mühelos fassendes Ausflugslokal des Breslauer Gastwirts Joseph Kroll, südlich des heutigen Kanzleramtes, erbaut nach den Plänen Ludwig Persius’, des königlichen Baumeisters. Vis à vis richtet der Diplomat, Sammler und Kunstmäzen Graf Athanasius Raczynski ein Palais ein, das jedoch keine vierzig Jahre überdauern wird, da es Paul Wallots Reichstag weichen muß. Im westlichen Spreebogen gibt es etliche Vergnügungszelte, wo wenig später vornehme Stadtvillen entstehen. Bettina von Arnim, Clara Schumann, Joseph Joachim und Mathilde Wesendonck wohnen (in der nach diesen Zelten benannten Straße) “In Raum - Zeit - Schichten 303 Abb. 7: Der Spreebogen zur Zeit des Grossen Kurfürsten, um 1660 (Genske & Hess-Lüttich 2004: 25). den Zelten”. Magnus Hirschfeld errichtet hier sein weltberühmtes Institut für Sexualwissenschaften, das am Morgen des 6. Mai 1933 von Studenten der Hochschule für Leibesübungen zusammen mit SA-Leuten geplündert wird. Die “Auftaktveranstaltung” der “Aktion zur Bekämpfung des undeutschen Schund und Schmutzes in der Literatur” hat vier Tage später mit der Bücherverbrennung am Opernplatz ihren traurigen Höhepunkt. Bevor Joseph Lenné das sandige Terrain, Berlins “Wüste Sahara”, mit dem Aushub aus dem Humboldthafen bedeckt, um es zu begrünen, exerzieren hier die Soldaten Friedrich des Großen und davor die des Soldatenkönigs, der insgesamt fünf Exerzier- und Musterplätze im märkischen Sand anlegen läßt, um den militärischen Charakter der preußischen Garnisonsstadt zu unterstreichen. Doch der Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor ist mit Abstand der größte, der Exerzierplatz “par excellence”. Auch eine Mauer gibt es schon im Berlin des Soldatenkönigs, die bereits vom Großen Kurfürsten errichtete “Akzise”, zum einen um (nach niederländischem Vorbild) Verbrauchssteuern einzuziehen, zum anderen, um Soldaten am desertieren zu hindern. Auf dem Spreebogen zieht sich diese Akzisemauer übrigens ziemlich genau entlang der im August 1961 errichteten deutsch-deutschen Grenzmauer, die Berlin und Deutschland fast 30 Jahre lang teilt. Das vermutlich erste Bauwerk auf dem Spreebogen ist eine Meierei, also ein Bauernhof zur Versorgung der noch jungen Handelsstadt. Kurfürst Joachim Friedrich schenkt sie 1602 seiner neuen Gemahlin. Sie befindet sich etwa dort, wo sich heute das Paul-Löbe-Haus in das Band des Bundes integriert. Die Zoll- oder Akzisegrenze wird nördlich von der seinerzeitigen Meierei bald danach durch den “Unterbaum” markiert, einen über die Spree gelegten Baumstamm. Abb. 7 zeigt, wie nördlich der Meierei (M) eine hölzerne Klappbrücke (UB) den Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 304 Abb. 8: Schematische Darstellung des Eisrandes eines Inlandsgletschers (oben) und die nach dessen Rückzug von der Vereisung zeugenden Landformen. E Esker, EM Endmoräne, G Gletscher, GM Grundmoräne, GS Gletschersee, K Kames, SA Sander, SÖ Sölle, T Toteisblöcke, U Urstromtal. “Unterbaum” ersetzt hat. Ein Reit- und Jagdweg führt vom Stadtschloß ins kurfürstliche Jagdrevier. Am Spreeufer wird ein Holzplatz (HP) eingerichtet. Die Dorotheenstadt (DS) expandiert nach Westen; sie erhält 1674 die Rechte einer Stadtgemeinde. Unterlegt ist auch hier die aktuelle Bebauung mit dem ‘Band des Bundes’ (BB), dem Reichstag (R), dem Brandenburger Tor (B), der Schweizerischen Botschaft (CH), dem ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW) und dem Sowjetischen Ehrenmal (SE) (vereinfachte Rekonstruktion nach historischen Berichten). Vor dem Bau der Meierei verlieren sich die Spuren menschlicher Überprägung auf dem Spreebogen. Die unterste der anthropogenen raum-zeitlichen Schichten ist somit freigelegt. Und dennoch ist damit noch längst nicht die letzte Schicht “entdeckt”. 4 Geogene Schichten Eiszeitliche Gletscher prägen bis vor etwa zwanzigtausend Jahren das Bild der Gegend, in der heute Berlin liegt. Die Gletscher hinterlassen deutliche Spuren, die der Glazialmorphologe heute ohne weiteres zu lesen vermag (Abb. 8). Sie charakterisieren die oberste geogene Schicht, unter der noch weitere folgen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs ließ die Deutsche Forschungsgesellschaft für Bodenmechanik (D EGEBO ) auf Anweisung der Speerschen Generalbauinspektion die geologischen Verhältnisse im Spreebogenbereich untersuchen. Im Bereich des “Spreedurchstichs” und der “Großen Halle” wurden hunderte von Bohrungen ‘abgeteuft’. Außerdem wurden Caissons (Senkkästen) in den Boden gesenkt, um Bodenproben zu entnehmen und die Raum - Zeit - Schichten 305 Abb. 9: Profil durch den Untergrund des Spreebogens (vereinfacht nach Lipptreu et al. 1996; Tiedemann 1999). Machbarkeit von Caissongründungen für die “Große Halle” zu prüfen. Für die gefährliche Arbeit unter Druckluft wurden Kriegsgefangene eingesetzt. Die Auswertung der Bohrungen ergab, daß bis in eine Tiefe von fünfzig bis siebzig Metern eiszeitliche Ablagerungen den Untergrund prägen. Sie zeugen von den Gletschern, die von Skandinavien her den heutigen Berliner Raum ‘überfuhren’, zum letzten Mal vor etwa zwanzigtausend Jahren. Die Gletscher hinterließen ein heterogenes Gemenge von zerriebenem Gestein, Sedimenten und intakten Gesteinsbrocken, die als ‘Findlinge’ erhebliche Baugrundhindernisse darstellen. Immer wieder zogen sich die Gletscher zurück, um nach den Warmzeiten erneut vorzustoßen. In den Interglazialen besiedelt sich das Land mit Wildpferden, Wölfen, Bären, Mammuten, die sich schließlich mit dem steinzeitlichen Menschen die noch intakte Umwelt teilen. Als homo sapiens, als denkender Mensch, wie es heißt, wird er sie schon bald zu großen Teilen zerstören. Unter den eiszeitlichen, als Grundmoräne bezeichneten Schichten stehen Sande mit Braunkohlefragmenten an, mitunter sogar kleine Braunkohleflöze, die auf überflutete voreiszeitliche Wälder schließen lassen. Ab etwa hundertdreißig Meter Tiefe stehen die so genannten Septarientone (Rupel-Tone) des Oligozäns an, einer in das erdgeschichtliche Tertiär gehörenden Serie von Schichten, die sich vor dreißig bis fünfunddreißig Millionen Jahren gebildet haben. Zu jener Zeit waren große Teile Europas überflutet. Um die im tonigen Schlamm eingeschlossenen organischen Reste bilden sich durch chemische Prozesse Konkretionen, die sich mit Kalk anreichern. Als die Tone austrocknen, scheiden sich entlang der Schrumpfrisse vagabundierende Lösungen ab, die als Septarien bezeichnet werden (Abb. 9). Speers Planer fürchten besonders diese Tone, denn unter der Last der “Großen Halle” drohen sie zu ‘konsolidieren’, was sich an der Oberfläche als Setzung des Geländes bemerkbar machen würde. Daher versuchen sie, so viel wie möglich über diese Schichten zu erfahren. Schließlich wird sogar eine Bohrung bis auf eine Tiefe von vierhundertzwanzig Metern geführt, eine zu dieser Zeit beachtliche Ingenieurleistung. Noch in fünfhundert Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 306 Metern Tiefe hätte die “Große Halle” den Boden mit einer Last von zwanzig Tonnen pro Quadratmeter komprimiert, also dem Gewicht von mehr als zwanzig Autos. Aufgrund der seinerzeitigen Berechnungen der Ingenieure wären nach Fertigstellung des Bauwerks bis etwa 1995 noch sechs bis sieben Zentimeter Setzungen zu erwarten gewesen. Die Setzungen wären endgültig erst nach etwa dreitausend Jahren abgeklungen. Das reichte den Ingenieuren, um ‘grünes Licht’ für den Bau der “Großen Halle” zu geben. Doch dann kam der Bau glücklicherweise ins Stocken, denn der sich immer schwieriger gestaltende Krieg absorbierte alle Kräfte. Wäre er gewonnen worden, Speers Planung hätte den Spreebogen und das Stadtbild Berlins noch mehr zerstört, als es die Bomben der Alliierten vermochten. 5 Spurensuche Das Beispiel des Spreebogens zeigt, wie vielschichtig eine raum-zeitliche Spurensuche sein kann (cf. Hess-Lüttich et al. eds. 1998 a; id. ed. 1998 b). Das praktische Instrumentarium semiotischer Deutung ist komplex: es reicht in diesem Falle von der Interpretation und Superposition historischer Karten über die Deutung von Dokumenten und Berichten bis hin zu Maßnahmen der Erkundung des Untergrundes wie etwa Bohrungen oder geophysikalisches Imaging. Das Zusammenfügen all dieser Informationen, die auf Raum und Zeit bezogen in vielfältigen Formen und Formaten vorliegen, erweist sich zuweilen als eine große interdisziplinäre Herausforderung, bei der es geosemiotische Hinweise zu interpretieren und historische Befunde zu beweisen und beides in angemessener Kombination zur Grundlage künftiger Planungen zu machen gilt. 6 Literatur Anon. 1987: Städtebauliche Entwicklung Berlins 1650 bis heute [Begleitheft zur Ausstellung “Die städtebauliche Entwicklung Berlins seit 1650 in Karten” anlässlich der 750-Jahr-Feier] Berlin: Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz AGBB Archäologische Gesellschaft in Berlin und Brandenburg (ed.). 2003: Archäologie in Berlin und Brandenburg, Stuttgart: Theiss Borchert, K.-M., D.D. Genske, C. Gelbke, E. Räckers & W. Schäche 1995: “Reaktivierung des Spreebogens in Berlin”, in: D.D. Genske & P. Noll (eds.) 1995: Brachflächen und Flächenrecycling, Berlin: Ernst & Sohn, 267-279 Burg, A. 1993: “Vom Exerzierplatz übers Alsenviertel zum Regierungssitz”, in: Bauwelt 84.14-15: 728-737 Chronikverlag 2003: Chronik der Metropolen: Berlin, Gütersloh/ München: Chronik/ Bertelsmann Demps, L. 2000: Das Reichstagsgebäude und seine historischen Orte: Jahresringe der Geschichte. Blickpunkt Bundestag, Forum der Demokratie August/ Extra Deutscher Bundestag 2000: Einblicke Ausblicke: Ein Rundgang durch den Deutschen Bundestag, Berlin: Deutscher Bundestag Euler, L. 1757: Continuation des recherches sur la théorie du mouvement des fluides, Berlin: Hist. Acad., 316-361 Euler, L. 1757: Sectio tertia de motu fluidorum lineari potissimum aquae, Novi Comm. Petrop. 15: 219-360 Genske, D.D. & E.W.B. Hess-Lüttich 2004: Wo steht das Kanzleramt? Der Spreebogen: eine raumzeitliche Spurensuche, Berlin: Quintessenz; Berlin: Be.Bra Hess-Lüttich, E.W.B., J.E. Müller & A. v. Zoest (ed.) 1998 a: Signs & Space Raum & Zeichen. An International Conference on the Semiotics of Space and Culture in Amsterdam (= K ODIKAS Supplement Series 23), Tübingen: Gunter Narr Hess-Lüttich, E.W.B., & B. Schlieben-Lange (eds.) 1998 b: Signs & Time Zeit & Zeichen. An International Conference on the Semiotics of Time in Tübingen (= K ODIKAS Supplement Series 24), Tübingen: Gunter Narr Raum - Zeit - Schichten 307 Lippstreu, L., A. Sonntag & W. Stackebrandt 1996: “Quartärgeologische Entwicklung des Berliner Spreebogens”, in: Geowissenschaften 14: 100-107 Materna, I. & W. Ribbe (eds.) 2003: Geschichte in Daten: Berlin, Berlin: Matrix Materna, I. & W. Ribbe (eds.) 2002: Geschichte in Daten: Brandenburg, München/ Berlin: Koehler & Amelang Materna, I. & W. Ribbe (eds.) 1995: Brandenburgische Geschichte, Berlin: Akademie Michas, U. 1999: Slawen und Germanen im Berliner Raum, Berlin: Edition Luisenstadt Reichhard, H.J. & W. 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