eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens

61
2008
Christoph Bourquin
kod311-20003
Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens Christophe Bourquin 0. Praemittenda Der folgende Beitrag, der auf die Ausleuchtung der Differenzialität des sprachlichen Zeichens abstellt, ist nicht thetisch, sondern synthetisch. Die wissenschaftstheoretische Systematik ist dem historischen Apriori unterstellt. Die Synthese steht nicht im Zeichen des Weg-, sondern des Ausarbeitens von Differenzen. Praemittendis praemissis. 1. Kommunikation(en) 1.1 ‘status artis’ Mit Charles Sanders Peirce (1839-1914) und Ferdinand de Saussure (1857-1913) scheiden beinahe zeitgleich zwei Gelehrte aus dem Leben, deren Zeichenkonzeptionen für die Tradition des 20. Jahrhunderts Maßstäbe setzen. Während Peirce in den Ruf des Gründungsvaters der modernen Semiotik zu stehen kommt, wird es de Saussure zuteil, als Erneuerer einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend historisch gewordenen Linguistik in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte einzugehen. Der Cours de linguistique générale, ursprünglich als Vorlesungsskript eines Indogermanisten mit Schwerpunkt Sanskritistik konzipiert, lässt nach der postumen Veröffentlichung durch de Saussures Schülerkreis die disziplineigenen Grenzen schnell hinter sich. Schon bald gilt er als Referenztext für formalistische und strukturalistische Disziplinen, die im Begriff ihrer funktionalen Ausdifferenzierung stehen. Im Gefolge der Weiterentwicklung strukturalistischer zu poststrukturalistischen Ideen schreibt sich de Saussures Text zunehmend in den literaturwissenschaftlichen Theoriediskurs ein, der sowohl den französischen als auch den amerikanischen Strang des dekonstruktiven Denkens erfasst. Die Karriere des Textes ist nun an ein Ende gelangt, das umso endgültiger scheint, weil es, wie dereinst de Saussures Text, diffundiert hat. Verkündet wird es von einer Nachbardisziplin, der systemtheoretischen Soziologie. Niklas Luhmann (1927-1998) höchstselbst ergreift das Wort: Die amerikanische Dekonstruktionismusdebatte ist heute ganz offensichtlich erschöpft. Fast will einem der Dekonstruktionismus wie eine altmodische Mode erscheinen. Es gab eine Zeit, in der man meinte, die Dekonstruktion zur Analyse literarischer Texte wie Gesetzestexte einsetzen zu können, um ältere, formalistische Methoden zur Entschlüsselung immanenter Textbedeutungen zu ersetzen. 1 Das mit wenigen Strichen gezeichnete Bild ist unmissverständlich. Das Verdikt trifft den poststrukturalistischen Ausläufer der Dekonstruktion ebenso wie den Formalismus als deren K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Christophe Bourquin 4 strukturalistischen Vorläufer. Das Paradigma der Werkimmanenz leuchtet in der Formulierung der “Entschlüsselung immanenter [Hv. CB] Textbedeutungen” schlaglichtartig auf. Mit anderen Worten: Luhmann sitzt über wesentliche Stationen der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts zu Gericht. Diese wissenschaftstheoretische Zeitdiagnose ist keineswegs singulär. Sie findet ihre Pendants in aktuelleren Einführungen in die Literaturwissenschaft: “Der Poststrukturalismus, der als historische Diskursanalyse (Derrida, Foucault, de Man) ebenfalls zunächst einen politischen Anspruch verfolgte, um über den Zusammenhang von Sprache/ Literatur, politisch-gesellschaftlicher Macht und sexuellem Begehren aufzuklären, ist nahezu erfolgreich aus der Literaturwissenschaft ausgetrieben.” 2 An die Stelle von Luhmanns gewohnt lakonischer Diktion tritt der rhetorische Exorzismus. Der semantische Aussagewert der Einschätzungen ist vergleichbar, das bilanzierende Fazit einfach zu formulieren: Der Poststrukturalismus ist (endlich) vorbei. Damit drängen drei Fragen in den Vordergrund; erstens, woran die Verabschiedung rückbindbar ist, zweitens, welches Paradigma die frei gewordene Leerstelle besetzt, und drittens die Frage nach der Superiorität der ablösenden gegenüber der abgelösten Position. 1.2 Hermeneutik Welches Verstehen von Verstehen auch immer zum Ausgangspunkt genommen wird, ob das sich über ein Vor- und Einverständnis aufbauende Verstehen einer dialogisierenden Hermeneutik à la Gadamer (1900-2002) oder das Verstehen einer dekonstruktiven Posthermeneutik à la Derrida, das sich über ein Missverstehen des Verstehens konstituiert: für beide Ansätze ist die Folie der Sprachlichkeit unabdingbar. Die unterschiedliche Fokussierung sprachlicher Medialisierung, oraler versus literaler, lässt unterschiedliche hermeneutische Selbstverständnisse ankristallisieren, deren Konvergenzpunkt in der Sprache als unhintergehbarem Medium liegt. 3 Der hermeneutische Medienreduktionismus ruft eine Form der Exbzw. Inklusionslogik auf den Plan, die nach zwei Seiten hin operiert: textbegrenzend im Sinne von ‘il n’y a pas de hors-texte’ 4 und textentgrenzend im Sinne von ‘Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache’. 5 Die mediologische Engführung, die unter der Signatur des ‘linguistic turn’ Schule macht 6 , wird zum Anlass grundlegender Kritiken: Wie kann ich behaupten, eine Erfahrung sei nicht-sprachlich, wenn ich doch in der bloßen Behauptung über sie sprechen, mich auf sie durch Sprache beziehen mußte? Jeder Versuch, etwas als nicht-sprachlich zu beschreiben oder es als sprachlich un-ausdrückbar zu beschreiben erweist es auf selbst-widerlegende Weise als sprachlich und in der Sprache ausgedrückt. … Daher folgert zum Beispiel Gadamer: “Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache” (Wahrheit und Methode, 478) und Derrida, Rorty und ihresgleichen lehnen ab, daß es so etwas wie “hors-texte” überhaupt gibt. … Gewiß, sobald wir über etwas sprechen müssen, sogar schon, wenn wir seine Existenz bestätigen oder leugnen, müssen wir es in das Sprachspiel (ein)bringen, ihm ein sprachliches Gepräge oder irgendeine begrifflich-textliche Identität wie “nicht-ausdrückbares Kribbeln” oder “nicht-diskursives Bild” geben. Doch das bedeutet nur, daß wir über existierende Dinge niemals sprechen (oder explizit denken) können, ohne daß sie irgendwie sprachlich vermittelt wären; es bedeutet nicht, daß wir sie nicht nicht-sprachlich erfahren können oder daß sie nicht für uns bedeutungsvoll existieren könnten außer in der Sprache. … Auf diese Weise geht der hermeneutische Universalismus fehl in seinem Argument, Interpretation sei the only game in town, weil Sprache the only game in town sei. Denn es gibt sowohl uninterpretiertes sprachliches Verstehen als auch bedeutungsvolle Erfahrung, die nicht sprachlich ist. 7 Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 5 1.3 Kultursemiotik Das Postulat der Analyse nicht-sprachlicher Verstehensprozesse leitet die Revolutionierung der Literaturzu Kulturwissenschaften ein 8 und damit den ‘linguistic’ in einen ‘cultural turn’ 9 über. Die Transformation bringt die Interdisziplinarisierung der Semiotik mit sich. Ein Blick auf die Titel jüngerer Erscheinungen 10 stellt unter Beweis, dass Kulturwissenschaft ohne Semiotik nicht auskommt. Es drängt sich auf, Kulturwissenschaft als Kultursemiotik 11 , Semiotik als Logik der Kultur zu begreifen. 12 Das Reich der Zeichen findet seine Bezeichnung als Semiosphäre 13 : Kultur ist - metaphorisch auf den Punkt gebracht - die Wirklichkeit der Zeichen. Kultur ist ein zeichenhaftes Phänomen, das systemischen Charakter besitzt und als offenes dynamisches, irreversibles tatsächlich existierendes System zu begreifen ist; sie umfaßt all die Phänomene und betrifft all die Aspekte, die auf Zeichenprozessen beruhen. Überall dort, wo Zeichen und also Bedeutungen (Interpretanten) auftreten, Diskurse generiert werden und Weltbilder greifen, hat man es mit dem System Kultur zu tun. 14 Das kultursemiotische Paradigma tritt mit ebendem Anspruch auf Universalität an, der die Hermeneutik ins Sperrfeuer der Kritik gebracht hat. Thomas A. Sebeok (1920-2001), mit Umberto Eco (1932-) und Roland Posner (1942-) einer der Wettermacher semiotischer Theoriebildung, beklagt, “daß die Semiotik vielfach fälschlicherweise mit dem Strukturalismus gleichgesetzt werde; dies schade der Disziplin insofern, als ihr universaler Anspruch, eine verbale und nonverbale Zeichentheorie der Kultur begründen zu wollen, verkannt werde und die Semiotik als eine inzwischen obsolete modische Strömung angesehen werde.” 15 In die gleich Kerbe schlägt Lasar Ossipowitsch Resnikow bereits 1964: “Wir definieren die Semiotik als die Wissenschaft von den sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen und meinen, daß der Gegenstand der Semiotik zu eng gefaßt wird, wenn man sie nur als Theorie der sprachlichen Zeichen oder als allgemeine Sprachtheorie auffaßt, denn dann verschwindet jeder Unterschied zwischen der Semiotik und der allgemeinen Sprachwissenschaft.” 16 Was diese Voten mit Blick auf das Interferenz- und Bedingungsverhältnis von Kultursemiotik und Linguistik zur Anschrift bringen, ist mit Händen zu greifen: The sign did not fail linguistics; linguistics have failed the sign. Anzufügen bleibt, dass Kultursemiotik sich gegen die Reduktion auf Kulturanthropologie zur Wehr setzt. Die Universalisierungsbestrebungen zielen auf eine eigentliche Biobzw. Zoosemiotik, die den “Schnittpunkt von Natur und Kultur” 17 umkreist. Ob der kultursemiotische Ansatz bei der Beantwortung der Kernfrage, “[w]ie menschliche Wahrnehmung vor sich geht, daß Zeichen, Dinge und Ereignisse in unserem Leben Bedeutung erlangen” 18 , dem aufgestellten Ideal gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. 1.4 Rhetorik, Systemtheorie Skepsis ist da angesagt, wo das Denken des kulturellen Korpus in zeichentheoretischen Kategorien sich vor dem Hintergrund einer Strukturierung der Kultur in Analogie zur Zeichenstruktur vollzieht. Die Analogie tritt als Junktim in Erscheinung. ‘Kultur als Text’, lautet die skandierte Parole. Das diskurisve Feld, das damit der Bewirtschaftung anheim fällt, ist das rhetorische, genauer: das der Tropologie. 19 Die rhetorischen Implikationen der kultursemiotischen Bestrebungen sind im Zuge der breiten Rezeption, die die Texte Clifford Geertz’ 20 (1926-2006) erfahren haben 21 , zusehends in Vergessenheit geraten. Die Textanalogie weicht der Vorstellung eines substanzialisierten Textbegriffs. 22 Die Anmahnungen von Klaus Christophe Bourquin 6 Scherpe, Thomas Macho und Hartmut Böhme sind zustimmungspflichtig. 23 Zweitens offenbart die Kultursemiotik, etwa im programmatischen Aufsatz Roland Posners mit dem Titel Kultur als Zeichensystem: Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, eine gewisse Resistenz in der Kenntnisnahme medien- und systemtheoretischer Überlegungen. Die Folge ist ein Rückfall hinter das Niveau letztgenannter Theoriebildungen. Auf der Suche nach Antwort auf die Frage, ob und inwiefern sich Kultur als Zeichensystem analysieren lässt, charakterisiert Posner die in Kulturen auftretenden Typen von Zeichenprozessen stichwortartig anhand von Beispielen. Die semiotischen Prozesse unterliegen dabei der Einteilung in Indikation, Signifikation und Kommunikation. 24 Die Klassifikation ist, unter Ausblendung von Ikonizität, eine Variation aus der Peirce’schen Tradition. Nicht die Auslassung des ikonischen Elementes beschert die Irritation. 25 Das irritierende Moment der Typologie ist dem zugrunde gelegten Kommunikationsmodell geschuldet, das mit Sendern, Botschaften und Empfängern operiert. 26 Kognitions-, System- und Medientheorien optieren dafür, dass die Frage, ob Kommunikation stattfindet oder nicht, nicht von der ‘Übertragung von Information’ 27 abhängt, sondern davon, was im Rezipienten geschieht. 28 Ob der Kapitän des einen Schiffes, um im Beispiel Posners zu bleiben, das “ostentativ schnelle[ ] Zufahren” des andern indexikalisch semiotisiert, als Anzeichen dafür, dass es offenbar eilt, oder kommunikativ, im Sinne von: ‘Mach mir Platz’, hängt allein von ihm ab. Im zweiten Fall kommt ein Mechanismus zum Tragen, den die Systemtheorie als Wahrnehmung der Differenz von Information 29 und Mitteilung 30 beschreibt. Allein: Die indexikalische Semiotisierung führt vor Augen, dass die systemtheoretische Differenz auf sie nicht applizierbar ist. Zwischen Nicht-Zeichen (Kognition, Information) und Zeichen (Kommunikation, Mitteilung) schiebt sich das Anzeichen (Indexikalität). Das gibt den Ausschlag, die Unterscheidung von Information und Mitteilung der semiotischen Ausdifferenzierung zu unterziehen. Semiotisierung 32 (von Information im definierten Sinne 33 ) zur Kommunikation unterliegt somit den Möglichkeiten zweier Anschlussselektionen: einer indexikalischen 34 und einer kommunikativen. 35 2. Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens Das Medium, das soziale Systeme konstituiert und autopoietisch prozessieren lässt, ist Sprache. Als Leitmedium kommunikativer Semiotisierung von Information fungiert das sprachliche Zeichen. Von der Frage nach der medialen Differenzlogik, die dieses konstituiert, sind die nachstehenden Ausführungen gerahmt. Die polemische Note, mit der Luhmann im Eingangsvotum das dekonstruktive Denken adressiert, täuscht über die favorisierte Positionsnahme hinweg, in der (Post)Strukturalismus und Systemtheorie kongruieren: dem Denken der Differenz. Die Ausleuchtung der Differenzen dreier Differenzkonzepte, des strukturalistischen, poststrukturalistischen und systemtheoretischen, lässt den Weg einschlagen, auf dem die Umreißung der Differenzialität des sprachlichen Zeichens erfolgen soll. 2.1 Struktur(alism)en 2.1.1 De Saussure Im Zusammenhang einer in vielen Belangen radikalen Umwertung linguistischer Bezugsgrößen - der Aufwertung der syngegenüber der diachronen Perspektive 36 , der Priorisierung Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 7 des Performanzcharakters der ‘parole’ gegenüber dem Systemcharakter der ‘langue’, der Sekundarisierung der Schrift als Repräsentation der Repräsentation gegenüber der Stimme - entfaltet das de Saussure’sche Programm eine Differenztypologie des sprachlichen Zeichens, deren bekannteste die Bilateraldifferenz von ‘signifiant’ und ‘signifié’ ist. 37 Sowohl zu Beginn des § 1 der ‘Allgemeinen Grundlagen’, der die ‘Natur des sprachlichen Zeichens’ in den Blick nimmt, als auch durch das Arbitraritätsaxiom (§ 2) reiht sich de Saussure in die kratyleische Tradition ein: H ERMOGENES : … Denn mich dünkt, welchen Namen jemand einem Dinge beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen andern an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte, wie wir unsern Knechten andere Namen geben. Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen. 38 De Saussure übernimmt die von Hermogenes formulierte Konventionalität des Zeichens als Gegenthese zur Behauptung des Kratylos von der natürlichen Richtigkeit der Benennung. Der unilaterale, auf direkte Referenz abzielende Zeichenbegriff Platons (427-347 v. Chr.) findet Beanstandung. 39 Die Bilateraldifferenz des de Saussure’schen Modells ersetzt die Vorstellung einer Beziehung zwischen Zeichen und Referent durch das Verhältnis eines “Lautbild[es]” (Signifikant) und dazugehöriger Bedeutungsvorstellung 40 (Signifikat): Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Das sprachliche Zeichen ist also etwas im Geist tatsächlich Vorhandenes, das zwei Seiten hat und durch folgende Figur dargestellt werden kann 41 : Vorstellung Lautbild Die Darstellung bringt die Bilateraldifferenz in die Fassung einer in sich geschlossenen Einheit. Gegenläufig dazu betrachtet de Saussure einige Seiten weiter die Sprache jedoch ausschließlich relational, als ein Effekt und System von Differenzen: Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, d a ß e s in d e r S p r a ch e n u r Ve r s chi e d e n h eit e n gib t. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten o h n e p o s itiv e Ein z elgli e d e r. Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben. Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der andern Zeichen um dieses herum gelagert ist [Hv. CB]. 42 Der Widerspruch, der durch die Bespiegelung der Zeichendarstellung an der zitierten Textstelle ins Bewusstsein tritt, ist manifest. Der Text widerschreibt der Visualisierung in dem Maße, wie die Visualisierung dem Text widerzeigt. Die visualisierte Form des sprachlichen Zeichens kehrt durch die Ausblendung des Kontextes, in dem sie figuriert, das Verhältnis der semiotischen Abstufung von Bedeutsamkeit, wie sie im letzten Satz des Zitats anklingt, ebenso um, wie sie durch die Ausschaltung des sie konstituierenden Differenzmilieus zusätz- Christophe Bourquin 8 lich jene Form von Differenzialität unterschlägt, die als zweite Komponente innerhalb der de Saussure’schen Differenztypologie fungiert. Diese trägt dem Umstand Rechnung, dass sprachliche Zeichen nicht nur in sich selbst differente Gebilde sind, sondern auch, mit dem Effekt Semiotizität konstituierender Funktion, in Differenz zu anderen Zeichen stehen. Den Aspekt kann man als Heterodifferenzialität charakterisieren. Eine Visualisierung des sprachlichen Zeichens, das Bilateral- und Heterodifferenzialität kombiniert, lässt sich auf folgenden Schematismus bringen 43 : … a’ b’ c’ d’ e’ f’ g’ … - - - - - - - … a b c d e f g … 2.1.2 Bloomfield, Greimas, Jakobson Bilateral- und Heterodifferenzialität erfahren im Zuge der Ausdifferenzierung strukturalistischer Ideen eine rege Rezeption. Der morphologische Strukturalismus à la Bloomfield (1887-1949) tomisiert die Signifikantenseite über Wurzel-, Endungsmorpheme und Affixe. 44 Das Zeichen zeigt sich unter dem Aspekt seiner Segmentierbarkeit (Partialdifferenz). 45 Semantische Probleme werden marginalisiert. 46 In der Pariser Schule 47 der strukturalen Semantik um Algirdas Julien Greimas (1917-1992) 48 , die die Effekte, die die Partialdifferenzen der Signifikanten auf die Signifkatseite ausüben, in den Fokus des Interesses treten lässt 49 , findet die Tendenz ihr Gegengewicht. Parallel zur Partialisierung der Bilateraldifferenz wird die Heterodifferenzialität in der Zwei-Achsen-Theorie der Sprache ausgebaut. 50 Heterodifferenzialitäten gelangen in die Registratur paradigmatischer und syntagmatischer Klassifikation, je nachdem ob die Differenzrelation über die Operation der Selektion erfolgt, d.h. über die Auswahl aus einem semantischen Feld nach dem Kriterium der Similarität, oder im Modus kombinatorischer Kontiguität. 51 Die Projektion der Ordnungsform des Statteinanders auf die Ordnungsform des Nacheinanders mündet in Roman Jakobsons (1896-1982) Poetikfunktion. 52 2.1.3 Derrida, Deleuze Die skizzierten Ausdifferenzierungen erfolgen vor dem Hintergrund des Vorhandenseins des sprachlichen Zeichens. De Saussures Argument, dass dasjenige, “[w]as ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, weniger wichtig [sei] als das, was in Gestalt der andern Zeichen um dieses herum gelagert ist” 53 , setzt den Zeichenbegriff voraus. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Voraussetzung bleibt unberührt. Die zeichentheoretische Reflexion setzt ein, ohne dass reflektiert wäre, was das Zeichen zum Zeichen (ge)macht (hat). Das Verdienst, die Tragweite der Problematik eigentlich erst erkannt zu haben, fällt Jacques Derrida und Gilles Deleuze (1925-1995) 54 zu. Die Kategorie, um die die Differenztypologie des sprachlichen Zeichens erweitert wird, ist die Wiederholung. Obschon Zeichen immer noch einmal wiederholt werden können, existiert, der französischen Argumentation zufolge, nicht zuerst das Zeichen, auf das sich Iterativität oder Iterabilität appliziert; vielmehr sind Zeichen Effekte der Wiederholung selbst. Wiederholung ist ein Differenzbegriff deshalb, weil sich von Wiederholung nur sprechen lässt, wenn mindestens zwei Zustände voneinander diskriminierbar sind. Jede Wiederholung verweist so auf die eigene Differenz. Für die Differenzialität des Zeichens heißt das, dass dieses nicht nur in Differenz zu anderen Zeichen Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 9 steht, sondern auch zu sich selbst, im Sinne der eigenen Wiederholungen. Bedingung von Heterodifferenzialität ist Autodifferenzialität. Gesetzt, dass das ‘Zeichen’ durch Wiederholung erst zum Zeichen wird, stellt sich die Frage, in welche Reflexionsfigur der Übergang vom ‘Zeichen’ zum Zeichen zu fassen ist. Derrida löst das Problem im Rahmen einer Theorie der ‘ursprünglichen Verspätung’: Der Begriff einer ‘ursprünglichen Verspätung’ ist paradox, aber notwendig. Gäbe es nicht vom Ursprung an (wann immer es Ursprung gibt) vom ‘ersten Mal’ an eine Differierung, so wäre das erste Mal nicht das ‘erste Mal’, denn ihm folgte kein ‘zweites Mal’; und wenn das ‘erste Mal’ das ‘einzige Mal’ wäre, so stünde es am Ursprung von gar nichts. In leicht dialektisch klingender Weise müßte man sagen, daß der erste nicht der erste ist, wenn es nach ihm keinen zweiten gibt. Also gelingt es dem ersten nicht, aus eigenen Kräften erster zu sein: der zweite muß ihm mit der ganzen Kraft seiner Verspätung helfen. Durch den zweiten ist der erste erster. Das ‘zweite Mal’ hat also einen gewissen Vorrang über das ‘erste Mal’, denn es ist vom ersten Mal an als notwendige Bedingung für den Vorrang des ersten Mals zugegen … 55 Der Priorisierung des Sekundären korrespondiert die Sekundarisierung des Primären. So eingängig die Überlegung ist, über den Mechanismus, der das ‘Zeichen’, das noch keines ist und das erst durch die “ganze[ ] Kraft” der “Verspätung” sowohl sich als auch seine(n) Nachfolger zu Selektionen erhebt, denen der Status der Semiotizität attestiert werden kann, schweigt sie sich aus. Durch den Einbau von Iterabilität in die semiotische Ausdifferenzierung der systemtheoretischen Differenz von Information und Mitteilung wird der Vorgang formalisierbar. Iterabilität erhöht die Wahrscheinlichkeit kommunikativer Semiotisierung von Information. Oder: Wiederholung von Information fungiert als Wahrscheinlichkeitsverstärker für das unwahrscheinliche Ereignis Kommunikation. 56 Die Konsequenzen, die sich aus der Kombination von Auto- und Heterodifferenzialität ergeben, lassen sich an der bereits eingeführten Matrix in erweiterter Form ablesen: … a’ b’ c’ d 1 ’ e’ f’ g’ … … h’ i j’ d 2 ’ k’ l’ m’ … - - - - - - - - - - - - - - … a b c d 1 e f g … … h i j d 2 k l m … … n’ o’ p’ d 3 ’ q’ r’ s’ … … t’ u’ v’ d 4 ’ w’ x’ y’ … - - - - - - - - - - - - - - … n o p d 3 q r s … … t u v d 4 w x y … “Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt”, so de Saussure, “die Sprache enthält … nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben.” 58 Sowohl Signifikant als auch Signifikat sind differenziell bestimmt. Für das Signifikat als ‘Bedeutungsträger’ bedeutet das, dass ‘Bedeutung’ nicht vorliegt, sondern differenziell erzeugt wird. Anders gesagt: d (’) 1-4 ist nicht in Kontexte gestellt und davon isolierbar, vielmehr konstituieren Kontexte d (’) 1-4 . Offensichtlich ist, dass die Kontexte von d (’) 1-4 divergieren. Wo ein Kontext beginnt und wo er endet, ist eine kontingente Setzung. Angesichts der Kontingenz semantischer Konsistenz ist Insistenz auf Konsistenz eine Verlegenheitsformel. Das Signifikat fällt durch die verschiedenen Signifikantenketten, in die es verstrickt ist, der Transformation anheim; es verändert 59 sich mit jeder Wiederholung seines Signifikanten. 60 Die Quintessenz, in die die Kombination von Auto- und Heterodifferenzialität einlenkt, zeigt ‘Sinnverschie- Christophe Bourquin 10 bung’ nicht als Prämisse, die man wählen kann oder nicht, sondern als Effekt der Differenzialität sprachlicher Medialität. 2.1.4 “différance”, kognitionstheoretisch Die Diskussion bereichert Jacques Derrida 61 um die Frage 62 , wie das sprachliche Differenzgeschehen zu dem steht, was als “différance” eingeführt wird: 1) Wie fange ich es an, von dem a der différance zu sprechen? Selbstverständlich kann sie nicht exponiert werden. Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend, offenbar werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann, ein in seiner Wahrheit gegenwärtig Seiendes, in der Wahrheit eines Anwesenden oder des Anwesens des Anwesenden. Wenn aber die différance das ist (ich streiche das “ist” durch), was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. Sie gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem. 63 2) Nach den Forderungen einer klassischen Begrifflichkeit würde man sagen, daß “différance” die konstituierende, produzierende und originäre Kausalität bezeichnet, den Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte oder Wirkung die différents oder die différences wären. 64 3) Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt. 65 4) Die différence, von der Saussure spricht, ist also selbst weder ein Begriff noch ein Wort unter anderen. Man kann dies a fortiori von der différance behaupten. Und dies führt dazu, die Beziehung zwischen beiden zu verdeutlichen. In einer Sprache gibt es nur Differenzen. Folglich kann taxinomisch eine systematische, statistische und klassifikatorische Bestandesaufnahme gemacht werden. … Andererseits sind diese Differenzen selbst wiederum Effekte. Sie sind nicht in fertigem Zustand vom Himmel gefallen; … Was sich différance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das “produziert”, was nicht einfach Tätigkeit ist. Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht einfach in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. 66 5) Behalten wir zumindest das Schema wenn nicht den Inhalt der von Saussure formulierten Forderung bei, so bezeichnen wir mit différance jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen “historisch” als Gewebe von Differenzen konstituiert. 67 6) Die Differenzen werden also von der différance “produziert” - aufgeschoben (différées). 68 7) Erste Konsequenz: die différance ist nicht. Sie ist kein gegenwärtig Seiendes, so hervorragend, einmalig, grundsätzlich oder transzendent man es wünschen mag. Sie beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus. Sie kündigt sich durch keine Majuskel an. Nicht nur gibt es kein Reich der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an. 69 8) Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der différance, die kein Name, die keine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst. “Dafür gibt es keinen Namen”: diesen Satz in seiner ganzen Plattheit lesen. … Dieses Unbenennbare ist jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt, verhältnismäßig einheitliche oder atomare Strukturen, die man Namen, Ketten von Namenssubstitutionen nennt, und in denen zum Beispiel der nominale Effekt “différance” selbst herbeigeführt, wiedereingeschrieben wird, als blinder Einstieg oder blinder Ausgang immer noch Teil des Spieles, Funktion des Systems ist. Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 11 … Dieses “Wort” hat nichts Kerygmatisches mehr, wenn man nur seine Kleinschreibung (émajusculation) wahrnimmt. Den Namen des Namens in Frage stellen. 70 Dieses Schreiben ist kein Beschreiben, sondern umschreíbt, indem es úmschreibt. Was in erster Linie und in aller Drastik lesbar wird, ist dass sich “différance” dem Schreiben über “différance” einschreibt. Die Effekte der “différance” produzieren sich selbst als Effekt der “différance”. Die dabei genauer ins Blickfeld rückenden Differenzen sind ‘différence’ und “différance”, wie sie im vierten Votum, in der Auseinandersetzung mit de Saussure, gezogen werden. Derrida beginnt mit einer semantischen Analyse des französischen, lateinischen und griechischen Differenzbegriffs: Obgleich “différance” weder ein Wort noch ein Begriff ist, wollen wir eine vorläufige und approximative semantische Analyse versuchen, die uns bei dem, was auf dem Spiel steht, leiten wird. Es ist bekannt, daß das Verb “différer” (lateinisch differre) zwei Bedeutungen hat, die anscheinend sehr verschieden sind; … In diesem Sinne ist das lateinische differre nicht die einfache Übersetzung des griechischen diapherein, und dies wird für uns nicht folgenlos bleiben … Denn die Aufteilung des Sinns im griechischen diapherein umfaßt eine der beiden Bedeutungen des lateinischen differre nicht, nämlich die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben … Différer in diesem Sinne heißt temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umweges rekurrieren … Die andere Bedeutung von différer ist die eher gewöhnliche und identifizierbare: nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein usw. 71 Was ‘différence’ und “différance” differenziert, ist nicht, dass weder das eine noch das andere “weder ein Begriff noch ein Wort” ist, sondern dass “différance” ‘différence’ in der Doppelsemantik von ‘verschieben’ verschiebt. 72 Die Wende der Saussure’schen ‘différences 73 in die derrideske “différance” stehe im Zeichen der Differenz von Präsenz und Dynamik. So jedenfalls lautet die gängige ‘communis opinio’ in der Rezeption, die sich nach Art von tibetanischen Gebetsmühlen durch die Forschungsliteratur zieht. 74 Im Schritt, den Derrida über de Saussure hinaus geht, vollziehe sich der Übergang von ‘Sinnpräsenz’ zu ‘Sinnverschiebung’. Die Losung ist ein kruder Vulgarismus. ‘Sinnverschiebung’ lässt sich über die Kombination von Auto- und Heterodifferenzialität des sprachlichen Zeichens bis ins Detail herleiten. Die zitierten Stellen verweisen auf “différance” im Sinne eines Ou-topos, der sie als Bedingung der Möglichkeit von ‘Sinnverschiebung’ denkbar macht. Die Effekte der ‘différences’ sind Effekte der “différance” (“Die Differenzen werden also von der différance “produziert” - aufgeschoben (différées).” 75 ), die “différance” die “konstituierende, produzierende und originäre Kausalität”, deren “konstituierte Produkte oder Wirkung die différents oder die différences wären” 76 , die “différance” eine “Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen “historisch” als Gewebe von Differenzen konstituiert” 77 , die “différance”, was den “Namen des Namens” 78 in Frage stellt. Mit der Überlegung kommt es zu einer Verschiebung der Bedingungskaskade um eine Position: “différance” als Bedingung der Möglichkeit von ‘Sinnverschiebung’ führt auf die Frage nach der Bedingung der Bedingung der Möglichkeit: Die Differenzen werden also von der différance “produziert” - aufgeschoben (différées). Wer oder was unterscheidet/ schiebt auf (diffère)? Mit anderen Worten, was ist die différance? Mit dieser Frage erreichen wir einen anderen Ort und eine andere Quelle der Problematik. Was unterscheidet/ schiebt auf (diffère)? Was ist die différance? 79 Christophe Bourquin 12 Der Vorschlag, als Ursache für die produzierten Differenzen “ein Subjekt oder eine Substanz, eine Sache im allgemeinen, ein irgendwo gegenwärtig oder selbst dem Spiel der différance entweichendes Seiendes” anzunehmen, wird zurückgewiesen, da “das Sprachsystem (das also nur aus Differenzen besteht) nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts ist”, da “das Subjekt (Selbstidentität oder eventuell Bewußtsein der Selbstidentität, Selbstbewußtsein) in das Sprachsystem eingeschrieben, eine “Funktion” des Sprachsystems ist, nur zum sprechenden Subjekt wird, wenn es sein Sprechen, selbst in der sogenannten “Schöpfung”, selbst in der sogenannten “Überschreitung”, an das Vorschriftsystem der Sprache als System von Differenzen oder zumindest an das allgemeine Gesetz der différance angleicht, indem es sich nach dem Prinzip der Sprache (langue) richtet, von der Saussure sagt, sie sei “die menschliche Rede (langage) abzüglich des Sprechens (parole)”.” 80 Die Stelle streicht die Tragweite des ‘il n’y a pas de hors-texte’-Theorems in aller Deutlichkeit heraus, das, nur ‘en passant’, freilich einmal unter dem Aspekt seiner Selbstdekonstruktivität im Sinne von ‘il n’y a pas de ‘il y a’’ 81 zu denken anstünde. Und doch scheint sich “différance”, der Vorstellung von der Unhintergehbarkeit und Unüberschreitbarkeit der Sprache zum Trotz, der Sprache zu entziehen. Die Spekulation über die Eventualität einer Partialsprachlichkeit, in die eine Formulierung wie die “différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der [sc. sprachlichen] Differenzen” 82 einlenken könnte, untersagt jedoch unversehens ein Wortlaut wie: “Nicht nur gibt es kein Reich [Hv. CB] der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an.” 83 In noch tiefere Verrätselung führt, wenn dieses Reich, das keines ist, plötzlich als “alles” apostrophiert wird: “Es war bereits zu vermerken, daß die différance nicht ist, nicht existiert, kein gegenwärtig Seiendes (on) ist, was dies auch immer sei; und wir müssen ebenfalls alles vermerken, was sie nicht ist, das heißt alles[.]” 84 Ein Passus, der die Möglichkeit in sich birgt, das Problem nicht über die Differenz von Sprache und Nichtsprachlichkeit, nicht über die Grenze von einem ‘Innen’ des Textes und seinem ‘Außen’ erneut anzugehen, nimmt sich wie folgt aus: Da es keine Präsenz vor und außerhalb der semiologischen Differenz gibt, läßt sich, was Saussure über das Sprachsystem schreibt, auf das Zeichen im allgemeinen ausdehnen: Die Sprache ist erforderlich, damit das Sprechen verständlich sei und seinen Zweck erfülle (produise tous ses effets). Das Sprechen aber ist erforderlich, damit die Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gegebene Faktum. 85 Was interessiert, ist nicht die Differenz von Sprechen und Sprache, ist nicht das Problem, wie die Sprache das Sprechen regelt, nachdem das Sprechen die Sprache gesprochen hat, ist nicht die Frage nach der Entdifferenzierung der Ausdifferenzierung des Sprechens, sondern allein jener Aspekt des Sprechens, den man als ‘Bezeichnen’ bezeichnet, ohne dass die Frage danach, ‘was’ bezeichnet bzw. bezeichnet wird, in Subjektsphilosophien alteuropäischen Typs zurückfallen lässt. Die konstruktivistische Kognitionsbiologie der evolutionären Erkenntnistheorie 86 , auf der die Systemtheorie fußt, betont, dass es keinen Unterschied macht, ob von einem Beobachter oder einer Beobachtung gesprochen wird. Die Operation, die ihn/ sie erzeugt, ist die gleiche. Sie kommt zustande durch das Einführen einer Unterscheidung. Durch Unterscheiden bringt sich Beobachten hervor. 87 Was Beobachten konstituiert, sind nicht ‘Dinge’, sondern Differenzen. 88 ‘Beobachten’, als differenztheoretische Operation, differenziert auch das Differenzsystem der Sprache. 89 Der springende Punkt ist, dass das Bezeichnen einer Unterscheidung im Moment des Vollzugs nur die eine Seite dieser Unterscheidung bezeichnet. Die andere fungiert, als blinder Fleck der Beobachtung, unbeobachtet. Um bezeichnet zu werden, müsste Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 13 sie ihrerseits, als beobachtete Beobachtung, Komponente einer Unterscheidung werden. 90 Kommt es zur Beobachtung der beobachteten Beobachtung, handelt es sich um eine Beobachtung dritter Ordnung. Um zu beobachten, was eine Beobachtung dritter Ordnung nicht sehen kann, bedarf es einer Bezeichnung der Beobachtung der Beobachtung der beobachteten Beobachtung. Ein unabschließbarer Prozess bahnt sich an, ohne dass eine Hierarchie der Beobachtungs- und Bezeichnungsebenen sichtbar würde. Was aus der Überlegung hervorgeht, ist nichts anderes, als dass die Bezeichnung einer Unterscheidung den blinden Fleck der nichtbezeichneten Seite dieser Unterscheidung immer schon in sich trägt. Jede Bezeichnung stellt ein unausgeschöpftes Unterscheidungspotential zur Verfügung, auf das mit einer weiteren Bezeichnung eingetreten werden kann, wobei die das unausgeschöpfte Unterscheidungspotential der ersten Bezeichnung ausschöpfende zweite Bezeichnung ihrerseits ein unausgeschöpftes Unterscheidungspotential mit sich führt. Das unausgeschöpfte Unterscheidungspotential, der blinde Fleck in der Bezeichnung einer Unterscheidung, “ist kein gegenwärtig Seiendes, so hervorragend, einmalig, grundsätzlich oder transzendent man es wünschen mag.” 91 Es ist “der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen.” 92 Wo sich Derridas Ausführungen aufgrund ihrer mediologischen Engführung, die keinen anderen Fokus auf Sprache mehr zulässt als Sprache, im hermeneutischen Dunkel verlieren, bringt eine kognitionsorientierte Bespiegelung des sprachlichen Zeichens die beobachtungstheoretische Komponente der “différance” in Sicht: Sie ist eine Bezeichnung für die Beobachtung des blinden Flecks der bezeichneten Beobachtung. 2.2 Rhetorik der Differenz - Differenz der Rhetorik Das Bezeichnende, der Signifikant, morphologisch partialisierbar und durch Auto- und Heterodifferenzialität in die Sphäre der Semiotizität aufrückend, verfügt über zwei Formen der Präsenz von Absenz: über das sich seinem semantischen ‘Gehalt’ nach permanent ‘verschiebende’ Signifikat, die ‘Rückseite’ der Bilateraldifferenz, um die de Saussure’sche Tropik von den “zwei Seiten” 93 einer Münze zu bemühen 94 , und über das unausgeschöpfte Unterscheidungspotential der nichtbezeichneten Seite der über den Signifikanten bezeichneten Unterscheidung, die ‘différence’ der “différance”. Die Pentadifferenzialität des sprachlichen Zeichens ist um einen letzten Differenztyp zu erweitern. Der § 2 der ‘Allgemeinen Grundlagen’, der die Veränderlichkeit des Zeichens zur Sprache bringt, liefert dazu das Einfallstor: [D]as Zeichen wird umgestaltet, weil es sich ununterbrochen in der Zeit fortpflanzt. … Zunächst darf kein Mißverständnis bestehen über den Sinn, der hier dem Wort Umgestaltung beigelegt wird. Es könnte den Eindruck erwecken, als handle es sich speziell um phonetische Veränderungen, welche die Bezeichnung erleidet, oder um Veränderungen des Sinnes, welche die bezeichnete Vorstellung betreffen. Diese Anschauung wäre unzureichend. Was auch immer die Faktoren der Umgestaltung sein mögen, ob sie einzeln oder in Verbindung wirken, sie laufen immer auf ein e Ve r s chi e b u n g d e s Ve r h ält ni s s e s zwi s c h e n d e m B e z eic h n e t e n u n d d e r B e z e ic h n u n g . Dafür einige Beispiele: das lat. necâre “töten” wurde franz. noyer “ertränken”. Lautbild und Vorstellung sind beide geändert; aber es führt nicht weiter, wenn man diese beiden Seiten der Erscheinung unterscheidet; vielmehr genügt es, für das Ganze festzustellen, daß das Band zwischen Vorstellung und Bezeichnung gelockert ist, und daß eine Verschiebung ihres Verhältnisses eingetreten ist. 95 Die “Faktoren”, die dazu führen, dass das sprachliche Zeichen sich “umgestaltet”, sind Lautgesetze, von deren Wirkung die Signifikantenkette erfasst wird, und die semantischen Christophe Bourquin 14 Kontexte, in die diese zu liegen kommt. Die Reflexionsfigur der ‘Sinnverschiebung’, ob im neostrukturalen oder im Sinne des diachronen Sprachwandels, ist der tropische Effekt, der aus dem Vergleich der Kontexte resultiert, in denen das sprachliche Zeichen steht. Ein Argumentationsgang Friedrich Nietzsches (1844-1900), der darauf abzielt, dass die Genese des sprachlichen Zeichens ebenso tropisch motiviert ist wie die Bezeichnung für seine Transformation, sowohl ‘Sinnverschiebung’ als auch “Verschiebung ihres Verhältnisses” geben sich als Metaphern der Metonymie zu lesen 96 , formalisiert die Operation semiotischer Iterabilität (Autodifferenzialität) auf die Bedingung ihrer Möglichkeit: Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. 97 Der Begriff entsteht aus einem Gleichsetzen des Nichtgleichen: d.h. durch die Täuschung, es gäbe ein Gleiches, durch die Voraussetzung von Identitäten: also durch falsche Anschauungen. Man sieht einen Menschen gehen: nennt es “gehen”. Jetzt einen Affen, Hund: sagt auch “gehen”. 98 Mit der Übertragung von “gehen” vom Menschen auf den Affen und von da aus weiter auf den Hund öffnet sich der Blick für die Tropologie der Operation, die das “Nicht-Gleiche[ ]” “[g]leichsetz[t.]” “Nun aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen geht das Erkennen vor[.]” 99 Die Genese des Begriffs wird auf den rhetorischen Begriff der Trope gebracht. Den Begriff der Trope konstituiert die gleiche Operation, die den Tropierungsvorgang in der Genese des Begriffs umreißt: “Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat.” 100 Die Konsequenz aus der Funktionsäquivalenz der Operation, die die Begrifflichkeit der Tropik und die Tropik der Begrifflichkeit generiert, zieht Nietzsche bereits in der Rhetorikvorlesung des Wintersemesters 1872/ 3: Als wichtigstes Kunstmittel der Rhetorik gelten die Tropen, die uneigentlichen Bezeichnungen. Alle Wörter aber sind an sich und von Anfang an, in Bezug auf ihre Bedeutung, Tropen. … In summa: die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ‘eigentlichen Bedeutung’, die nur bei speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein. 101 Paul de Man (1919-1983), eine der Galionsfiguren des dekonstruktiven Denkens, übernimmt Nietzsches sprachtheoretisches Basalaxiom der tropischen Grundverfasstheit der Sprache: Tropen sind weder ästhetisch, als Ornamente, noch semantisch, als figurative Bedeutung, die sich von buchstäblichen, eigentlichen Benennungen herleiten, zu verstehen. Eher ist das Umgekehrte der Fall. Die Trope ist keine abgeleitete, marginale oder anormale Form der Sprache, sondern das linguistische Paradigma par excellence. Die figurative Struktur ist nich ein Sprachmodus unter anderen, sondern sie zeichnet die Sprache insgesamt aus. 102 Jacques Derrida, analog zu Nietzsche und de Man, schreibt in Die weiße Mythologie gegen die Vorstellung an, dass es “eine Reinheit der anschaulichen Sprache am Ursprung der Sprache gegeben habe und daß das etymon eines einfachen Sinnes noch immer, obwohl verdeckt, bestimmbar sei.” 103 Das Sprachmodell, das sich der epistemologischen Nobilitierung und Totalisierung des Metaphorischen verschreibt, reicht diskurisv weit hinter Nietzsche zurück, den die poststrukturalistische Theoriebildung zu ihrem philosophischen Gewährsmann erkürt. 104 Schon in Jean Pauls (1763-1825) Vorschule der Ästhetik ist zu lesen: Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 15 Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. 105 An der Rhetorizität der rhetorischen Terminologie, von Gotthold Ephraim Lessing 106 (1729-1781), über Nietzsche 107 bis zu Nelson Goodman 108 (1906-1998), lässt sich beobachten, wie sich der Einsicht in die tropische Unhintergehbarkeit der Sprache die Einsicht in die tropische Unhintergehbarkeit der Tropologie zur Seite stellt. Die Leitdifferenz von ‘ordo naturalis’ und ‘artificialis’ innerhalb der ‘elocutio’, dem dritten der fünf rhetorischen Performanzstadien, stellt heraus, dass der antiken Rhetorik genau diese Pointe verschlossen bleibt. Der ‘ornatus’ des ‘ordo artificialis’ wird in Formen des Redeschmucks unterteilt, die aus Wortverbindungen (‘ornatus in verbis coniunctis’) einerseits und aus Einzelwörtern (‘ornatus in verbis singulis’) andernteils bestehen. Über die Änderungskategorien der ‘adiectio’ (Hinzufügung), ‘detractio’ (Weglassung), ‘transmutatio’ (Umstellung) und ‘immutatio’ (‘Ersetzung’) tritt die ornative Architektur in die Phase ihrer weiteren Systematisierung: Dadurch stehen die Tropen dem Redeschmuck in der Wortverbindung, dem ornatus in verbis coniunctis gegenüber, als welchen man gewöhnlich die Wortfiguren bezeichnet. Die abstrakteste Bestimmung eines Tropus ist nun die, daß ein Wort im Textzusammenhang durch ein anderes Wort ersetzt wird. Es ist bei den Tropen also endlich die vierte Änderungskategorie wirksam, die Ersetzung. Die Differenz zwischen der Kategorie der Ersetzung und den anderen drei Änderungskategorien der Hinzufügung, der Umstellung und der Weglassung, nach welchen sich die Wortfiguren einteilen lassen, macht im Grunde auch den vieldiskutierten Unterschied von Tropen und Figuren überhaupt aus. Das ersetzte Wort wird im Lateinischen als verbum proprium bezeichnet, als eigentlicher Ausdruck, und das ersetzende Wort als tropischer, als uneigentlicher oder als übertragener Ausdruck. … Die zehn Tropen sind also nichts anderes als zehn verschiedene Namen für unterschiedliche Weisen der Ersetzung. Sie bezeichnen aber nicht so sehr den Akt der Ersetzung, sondern benennen und regeln vielmehr das Verhältnis zwischen ersetzendem und ersetztem Wort. Das ersetzte Wort verschwindet ja nicht einfach, sondern bleibt über das ersetzende, neue Wort weiterhin semantisch aktiv und ›begründet‹ so erst die tropische Nuancierung. Wenn es wirklich nur ›ersetzt‹ würde, gäbe es keinen Grund mehr, von einem Tropus zu reden. Tropen sind Differenzbegriffe. 109 Die differenzielle Energie des Tropus bringt sich zunächst als Effekt in der Differenzterminologie 110 zur Anschrift, die seine Periphrase produziert. In Wolfram Groddecks Bezeichnung der Tropen als “Differenzbegriffe” ist ‘in nuce’ enthalten, was diesen Effekt motiviert: die Strukturaffinität des Tropus zum sprachlichen Zeichen. Sprachliche Zeichen sind Differenzgebilde. Tropen sind “Differenzbegriffe” deshalb, weil sie sprachliche Zeichen sind. Ein Vergleich der ihrem Kern nach von Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründeten Substitutionstheorie der Metapher 111 , derzufolge “die Metapher ein eigentlich gemeintes Wort [substituiert] und … ohne Bedeutungsverlust gegen das eigentliche Wort ausgetauscht werden [kann]” 112 - eine Vorstellung, der Groddeck zu Recht entgegen hält -, mit der in der Scholastik entwickelten, ebenfalls auf Aristoteles zurückgehenden Definition des Zeichens als ‘Stellvertreter’ (‘aliquid stat pro aliquo’) führt vor Augen, dass der Tropus mit dem (sprachlichen) Zeichen die wichtigste Eigenschaft teilt: die Eigenschaft nämlich, etwas (Absentes) präsent zu machen, ohne dieses etwas selbst zu sein. 113 Der Unterschied zwischen der Bilateral- und der Tropendifferenz des sprachlichen Zeichens, womit der sechste Differenztyp benannt ist, besteht darin, dass die Relation von Bezeichnendem und Bezeichnetem arbiträr, die tropische Christophe Bourquin 16 Relation von ‘Ersetzendem’ und ‘Ersetztem’ bei allen Tropen, das Symbol im rein rhetorischen Sinne als Neukodierung des Zeichens unter dem Gesichtspunkt der Konventionalität ausgenommen, semantisch motiviert ist. Die Systematisierung des semantischen Bezugs der Metapher als ‘µ ’ “entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine andere durch Analogie” 114 im aristotelischen oder von ‘Beseeltem’ auf ‘Beseeltes’, von ‘Unbeseeltem’ auf ‘Unbeseeltes’, von ‘Unbeseeltem’ auf ‘Beseeltes’ im quintilianischen Sinne 115 und die Umschreibungen der Tropen generell, etwa der Metapher und Metonymie als ‘Sprung-’ und ‘Grenzverschiebungs-’, ‘Similaritäts-’ und ‘Kontiguitäts-’, ‘Ähnlichkeits-’ (‘similitudo’) und ‘Nachbarschafts’trope (‘vicinitas’) sind das (tropologische) Geschäft der Übertragungs- und Tropentypologien. Die Strukturverwandtschaft von Bilateral- und Tropendifferenz ist, in der nochmaligen Rückblendung auf Nietzsche, eine genetische. Die Trope konstituiert die gleiche Operation wie den Begriff: das “Gleichsetzen des Nicht-Gleichen”. In der Operation findet nicht nur die Vergleichstheorie der Metapher ihre Grundlage, die Quintilian 116 (35-96) im Anschluss an Aristoteles’ (384-322 v. Chr.) berühmten Vergleich des Vergleichs und der Metapher anhand von Achilles und dem Löwen 117 aus dem zwanzigsten Gesang der Ilias 118 ausbaut 119 und die die rhetorische Genese der Metapher aus dem Vergleich durch die Ellipse der Vergleichspartikel und des ‘tertium comparationis’ herleitet, sondern auch die Spekulationen über die Genese der Metapher infolge der Insuffizienz des Lexikons, wie sie von Cicero 120 (106-43 v. Chr.) formuliert werden: “Anfangs sind Metaphern geschaffen worden, weil der Mangel und die Armut (an Worten) dazu zwang. Später haben sie sich verbreitet wegen ihres angenehmen und erfreulichen Wesens. Denn wie die Kleidung anfangs erfunden wurde, um uns gegen Kälte zu schützen, dann aber auch benutzt wurde, um den Körper zu schmücken und ihm Würde zu verleihen, so wurde auch die Übertragung eines Wortes aus Not eingeführt und dann zum Vergnügen wiederholt.” 121 Quintilian knüpft daran an: “die Blumen dürsten, der Wald stirbt - was sollten wir sonst sagen? ” 122 Von Quintilian zu Nietzsche ist nur ein Schritt: “Man sieht einen Menschen gehen: nennt es “gehen”. Jetzt einen Affen, Hund: sagt auch “gehen”. [“was sollten wir sonst sagen? ”]” 123 2.2.1 Ab- und Anschluss Es verbleibt die Frage, was die (Optionalität der) Tropierung des sprachlichen Zeichens konstituiert. Uwe Spörl sieht in allen Modi des rhetorischen ‘ornatus’ eine “(bewußt herbeigeführte und inszenierte) Abweichung von der sprachlichen Normalform, die auf der Ebene der Semantik als Austausch (immutatio) beschrieben werden kann: Ein eigentlicher Ausdruck ‘a’ wird durch einen uneigentlichen Ausdruck ‘b’ ersetzt.” 124 Die Argumentation operiert sowohl vor dem Hintergrund der Differenz von ‘ordo naturalis’ (“Normalform”, “eigentlicher Ausdruck”) und ‘ordo artificialis’ (“immutatio”, “uneigentliche[r] Ausdruck”) als auch den Implikaten der Stilometrie. Die Rückbindung der Leitdifferenz der klassischen Rhetorik an die stilometrische Differenz von Dominanz und Devianz, wobei sich die semantische Dominanz, über die ein sprachliches Zeichen, der Theorie zufolge, verfügt, in Form quantitativ messbarer Frequenz niederschlagen soll, greift zum einen zu kurz, weil sie die Relativität des Standortes ausblendet, von dem aus das sprachliche Zeichen in Augenschein genommen wird. Damit wird die Kontingenz des kontextuellen Feldes marginalisiert, das auf der Achse der Diachronie der stilometrischen Bewirtschaftung anheim fällt; sie greift zum andern zu kurz, weil sie übersieht, dass die Emergenz semantischer Konventionalisierung selbst ein Effekt tropischer Demergenz ist. Was Nietzsche, um ihn noch einmal zu Worte kommen zu lassen, Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 17 in metatropologischer Form als Antwort auf die Frage nach dem Begriff der “Wahrheit” gibt, gilt ebenso für das Begriffspaar der ‘(Un)Eigentlichkeit’: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. 125 Unter diachronem Gesichtspunkt erweist sich tropische Demergenz, das “[E]ntfärben” der “Metapher” “zum eigentlichen Ausdruck” in Jean Paul’scher Diktion 126 , als Bedingung der Möglichkeit der Emergenz semantischer Konventionalisierung, worunter auch die Emergenz der rhetorischen Trope fällt. “Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ‘eigentlichen Bedeutung’, die nur bei speziellen Fällen übertragen würde, kann [nur dann] die Rede sein”, wenn “deren eigenste Natur” 127 “vergessen” bzw. eine konventionalisierte Semantik 128 erinnert wird. Nicht unähnlich zu Uwe Spörl definiert Gerhard Kurz die Metapher als “eine Abweichung … vom dominanten Gebrauch eines Wortes”, votiert im gleichen Schreibzug allerdings dafür, dass “die metaphorische Bedeutung dabei nicht einfach aus der wörtlichen Bedeutung abgeleitet [wird], sondern aus dem Verständnis der ganzen Situation, des ganzen Kontextes” 129 erzeugt wird. Der Nachsatz steht im Kontext einer Metapherndiskussion, die unter dem Signet der Interaktionstheorie in den 60er und 70er Jahren einigen Staub aufwirbelt. 130 Die Interaktionstheorie kündigt der Substituions- und Vergleichstheorie der Metapher ebenso die Gefolgschaft auf, wie sie mit der Vorstellung bricht, dass Tropen zum ‘ornatus in verbis singulis’ gehören. Ein singuläres sprachliches Zeichen, z.B. ‘Herz’, so das einleuchtende Argument, ist weder eine Trope noch keine. Die Frage, ob das Wort ‘in der Bedeutung’ eines Pumporgans zur Aufrechterhaltung der Blutzirkulation oder als Bezeichnung für die/ den Geliebte(n) ‘steht’, ist kontextabhängig. Die linguistische Bezugsgröße, von deren Seite man sich die Beantwortung der Frage verspricht, ist der Satz. 131 Paul Ricoeur (1913-2005): “Die Metapher gehört zur Semantik des Satzes, noch bevor sie die Semantik des Wortes betrifft; die Metapher stiftet Sinn nur innerhalb einer Aussage; sie ist selber ein Phänomen der Prädikation.” 132 Die Überlegung lässt sich vor dem Hintergrund der entwickelten Differenztypologie formalisieren. Unter differenztheoretischem Gesichtspunkt ist der Kontext, in dem ein sprachliches Zeichen figuriert, das Milieu seiner Heterodifferenzialität. Die Bedingung der Möglichkeit der Tropierung des sprachlichen Zeichens liegt in seinem heterodifferenziellen Umfeld begründet. Eine Stelle aus Nietzsches Zarathustra (Von den Dichtern) erbringt den Aufweis: “Seit ich den Leib besser kenne, - sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger - ist mir der Geist [1] nur noch gleichsam Geist [2]; und alles da “Unvergängliche” - das ist auch nur ein Gleichniss.” 133 Im Übergang vom “Geist [1]” zum “Geist [2]” leitet sich die Tropierung von letzterem in die Wege. Bedingung dafür, dass “Geist [2]” als lat. ‘phasma’ (‘Gespenst’) und nicht als lat. ‘animus’ gelesen wird, ist “Geist [1]”, den die Lektüre, gerade im heterodifferenziellen Verbund mit der für die abendländische Tradition wirkmächtigen Leitdifferenz von ‘corpus’/ ‘animus’ (“Leib”/ “Geist”), im letzteren Sinne semantisiert. Nietzsches Satz, der nicht umsonst in einem poetischen Text steht, ist unter tropologischem Gesichtspunkt ein Spezialfall. Der figurale Kontext erzwingt die Tropierung des sprachlichen Zeichens “Geist [2]”. Die Christophe Bourquin 18 Anapher generiert die Energie, die sich im tropischen ‘Sprung’ vom “Geist” (‘animus’) zum “Geist” (‘phasma’) freisetzt. Die Abklärung der Mechanismen, die Tropierungsereignisse im sprachlichen Selektionsgeschehen in Gang setzen, und die Frage nach der Beschaffenheit der Kontexte, entlang derer die Lektüreinstanz die Tropierung eines sprachlichen Zeichens einleitet oder nicht oder gar einzuleiten gezwungen ist, wie hier, verlangen nach einer gesonderten Analyse. Die Abschlussbemerkung kann hier nicht mehr als die Anschlussstelle für eine solche Untersuchung markieren. Sie hätte die sechs Ebenen der Differenz, die dem Rahmen des sprachlichen Zeichens eingezogen sind - Bilateral-, Hetero-, Partial-, Auto-, “différance”- und Tropendifferenz - nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer heuristischen Systematik in den Blick zu nehmen, sondern unter der Systematik, die diese Heuristik entfalten lässt. Anmerkungen 1 N. Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Ders.: Aufsätze und Reden. O. Jahraus (Hg.). Stuttgart 2004, 262; Für einen grundsätzlichen Vergleich der beiden Paradigmen vgl. O. Jahraus: Theorieschleife: Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie. Wien 2001, 49: “Als Hypothese für den Vergleich zur Systemtheorie läßt sich formulieren: Die Systemtheorie löst ein Programm der Dekonstruktion ein - aber auf eine Weise, die sich die Dekonstruktion nicht hätte träumen lassen, aber mit weitreichenden theoriebautechnischen Konsequenzen.” 2 M. Luserke-Jaqui: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Göttingen 2002, 19. 3 L. Somani: Semiotik und Hermeneutik im interkulturellen Rahmen: Interpretationen zu Werken von Peter Weiß, Rainer Werner Fassbinder, Thomas Bernhard und Botho Strauß. Frankfurt a.M. 1998, 70: “Hegel und Heidegger folgend betont Gadamer, daß die hermeneutische Erfahrung auf der “Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung” beruht und auf der dem sozialen Leben entsprechenden “Gesprächsgemeinschaft”, von der nichts ausgeschlossen werden kann. Der dritte Teil von “Wahrheit und Methode” skizziert eine “Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache”: Zwar ist der menschliche Sprachgebrauch endlich, da er immer durch eine bestimmte Situation bedingt ist, aber die verbale Sprache besitzt eine potentielle Unendlichkeit in der Sinnentfaltung. In dieser logozentrischen Auffassung, die auf Augustinus zurückgeht, wurzelt Gadamers These des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik.” Vgl. auch J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: Ders.: Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M. 1985, 331ff. 4 J. Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, 142. 5 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 3 1972, 478. 6 E. Holenstein: Von der Hintergehbarkeit der Sprache. Kognitive Unterlagen der Sprache. Frankfurt a.M. 1980, 11: “Seit gut zwei Jahrzehnten spricht man in der Philosophie von einer “linguistischen Wende”. Die Wende basiert auf der These, daß die Sprache nicht mehr nur als ein Gegenstand der Philosophie neben anderen, etwa der Natur, der Geschichte, der Kunst, der Mathematik, anzusehen ist, mit denen sich sogenannte Bindestrich- Philosophien, philosophische Disziplinen zweiten Ranges, befassen mögen, sondern als eine Bedingung von Erkenntnis überhaupt als erster Gegenstand einer prima philosophia. Im deutschen Raum hat sich für diese transzendentale Rolle der Sprache ein angeblich auf Nietzsche zurückgehendes Wort durchgesetzt, für das man in anderen Sprachen Mühe hat, ein konzises Äquivalent zu finden. Es geht die Rede von der Nichthintergehbarkeit der Sprache.” 7 R. Schustermann: Vor der Interpretation: Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus. Übers. v. B. Reiter. Wien 1996, 87ff. 8 D. Bachmann-Medick: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1996, 9f.: “Kultur gilt in der interpretativen Kulturanthropologie nicht mehr nur als einheitliches Gesamtgefüge, das in der Summe von Normen, Überzeugungen, kollektiven Vorstellungen und Praktiken aufgeht. Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die - über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus - auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind. Solche Ausdrucksformen sind höchst aufschlußreich, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren.” Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 19 9 Ein erster Höhepunkt der ‘writing culture’-Debatte dürfte die Tagung vom April 1984 im amerikanischen Santa Fe bzw. der zwei Jahre später erschienene Tagungsband (J. Clifford, G. Marcus (Hgg.): Writing culture. The poetics and politics of ethnography. Berkeley 1986) gewesen sein; Vgl. H. Turk: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur. Würzburg 2003. 10 I. Bystøina: Semiotik der Kultur: Zeichen - Texte - Codes. Tübingen 1989; J. Bernard, G. Withalm (Hgg.): Kultur und Lebenswelt als Zeichenphänomene: Akten eines Internationalen Kolloquiums zum 70. Geburtstag von Ivan Bystøina und Ladislav Tondl. Wien, Dezember 1994. Wien 1998; H.J. Silverman (Hg.): Cultural semiosis. Tracing the signifier. New York 1998; U. Wirth: Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce. Frankfurt a.M. 2000; M. Fleischer: Kulturtheorie: systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen. Oberhausen 2001, 67: “Roland Posner geht in seinem Ansatz generell von zwei Disziplinen aus, in denen der Kulturbegriff und aber auch der Gegenstand als solcher eine zentrale Rolle spielen … Eine semiotisch orientierte Kulturforschung beginnt - so Posner - mit Ernst Cassirer in den 20er Jahren mit den Arbeiten über symbolische Formen als Gegenstand einer Semiotik.” E. Bisanz: Kulturwissenschaft und Zeichentheorien. Zur Synthese von Theoria, Praxis und Poiesis. Münster 2004. 11 C. Lenk: Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur. In: R. Glaser, M. Luserke (Hgg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Darmstadt 1996, 116: “Mit den frühen achtziger Jahren begann sich in den Kulturwissenschaften (genauer: in den sich als solche verstehenden Disziplinen wie Volkskunde, Kulturanthropologie, Ethnologie) ein Verständnis von Kultur durchzusetzen, das verkürzt als ein kultursemiotisches bezeichnet werden darf.” 12 Vgl. H. Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation: Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 2000, 59ff. 13 H. Sottong, M. Müller: Zwischen Sender und Empfänger. Eine Einführung in die Semiotik der Kommunikationsgesellschaft. Bielefeld 1998, 19ff. 14 M. Fleischer: Kulturtheorie: systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen. Oberhausen 2001, 307. 15 Zit. n. H. Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation: Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 2000, 67. 16 L.O. Resnikow: Erkenntnistheoretische Fragen der Semiotik. Übers. v. W. Winkler. Berlin 1968, 13; Vergleichbar mit Y. Tobin: Semiotics and linguistics. New York 1990, 6: “Semiotics includes visual and verbal as well as tactile and olfactory signs (all signs or signals which are accessible to and can be perceived by all our senses) as they form code systems which systematically communicate information or messages in litteraly every field of human behaviour and enterprise.” 17 Vgl. T.A. Sebeok: Theorie und Geschichte der Semiotik. Übers. v. A. Eschbach. Reinbek bei Hamburg 1979, 79ff. 18 E. Waniek: Was bedeutet Bedeutung? Beiträge zu einer transdisziplinären Semiotik. In: Dies. (Hg.): Bedeutung? Für eine interdisziplinäre Semiotik. Wien 2000, 9. 19 Auf diese kulturelle Textmetaphorologie hinweisend, schreibt Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1996, 10: “Ziel ist es, im Horizont der Metapher von Kultur als Text Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft zu gewinnen. Erst indem man auch Handlungen, Ereignisse und soziale Situationen als “Texte” betrachtet, werden sie - über ihre Situationskontingenz hinaus - für den kulturellen Prozeß der Objektivierung von Bedeutungen erschlossen.” 20 Vornehmlich selbstredend “Deep play”: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: C. Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1993, 202ff. 21 Vgl. P. Wiechens: Das Prinzip Überschreitung. Clifford Geertz und die Konstitution der Interpretativen Anthropologie. Karlsruhe 2000, 10, Fn. 1. 22 Vgl. C. Lenk: Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur. In: R. Glaser, M. Luserke (Hgg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Darmstadt 1996, 118f.: “Die Idee, daß soziale Handlungen sich wie Texte lesen und hermeneutisch deuten lassen, übernimmt Geertz dabei von Paul Ricoeur. … Anders als Ricoeur geht Geertz aber noch einen Schritt weiter. Kultur, so seine Folgerung, kann nicht nur wie ein Text gedeutet und von ihrer Struktur her verstanden werden, sondern ist ein Text, den jene schreiben, die innerhalb dieser Kultur handeln. Geertz trifft sich in dieser Hinsicht mit der Kultursemiotik, deren Konstituens, so Günter Bentele, darin gesehen werden kann, “daß alle kulturellen Prozesse Zeichenprozesse sind und daß alle kulturellen Produkte als Texte betrachtet werden können”.” Die Kultur-Text-Analogie lässt sich weit hinter Ricoeur zurückführen, auf Herder (vgl. das in Anlehnung an Campanellas Il mondo è il Christophe Bourquin 20 libro entstandene Gedicht Die Welt und die Bücher (Die Welt, ein Buch, darinn der ewige / Verstand selbsteigene Gedanken schrieb, / Ist ein lebendiger Tempel, worinn Er / Gesinnungen und Handlung, droben, drunten / Worinn sein Vorbild Er uns selbst gemahlt. / Les’ und betrachte Jeder diese Kunst …)), ins Mittelalter (“Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum”, heißt es bei Alanus ab Insulis (1120-1202), vgl. U. Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. Übers. v. G. Memmert. München 1991, 105), ja, mit Benjamin gesprochen, an die Anfänge der Literatur: “Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.” W. Benjamin: Über das mimetische Vermögen. In: Ders.: Gesammelte Schriften in sieben Bänden, unter Mitwirkung von T.W. Adorno, G. Scholem. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser (Hgg.). Frankfurt a.M. 1977. Bd. 2.1, 213; Generell zum Komplex der Lesbarkeit der Kultur vgl. H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981. 23 K.R. Scherpe: Kanon - Text - Medium. Kulturwissenschaftliche Motivationen für die Literaturwissenschaft. In: W. Schmidt-Dengler, A. Schwob (Hgg.): Germanistik im Spannungsfeld zwischen Philologie und Kulturwissenschaft. Beiträge der Tagung in Wien 1998. Wien 1999, 22: “Mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho bin ich der Meinung, daß es nicht unproblematisch ist, den Kulturbegriff als Substitutionsbegriff für den Textbegriff (der balinesische Hahnenkampf ‘als Text’‘) zu verwenden, also zum Beispiel Kultur überhaupt als Text zu verstehen. Wenn dies geschieht, wird der Textbegriff quasi als Metapher verwendet und der unterschiedliche mediale Charakter der ‘Texte’ wird ignoriert.” H. Böhme, P. Matussek, L. Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000, 136: “In dieser Angleichung des Verstehens von Kulturen an das Lesen von Texten beruft sich Geertz auf Paul Ricoeur, in dessen Programm einer hermeneutischen Grundlegung der Sozialwissenschaften Kultur und soziales Handeln als “Text-Analog” aufgefaßt wird werden (Ricoeur 1971). Die Kritik an Geertz hat aber zeigen können, daß er dazu neigt, den bei Ricoeur stets prekären Status der Text-Analogie zur resoluten Lektüre von “Kultur als Text” zu vereinfachen (Berg/ Fuchs 1993a, S. 55). Zweierlei ist am durchschlagenden Erfolg dieser Formel als programmatischer Losung der Kulturwissenschaft (vgl. Bachmann-Medick 1998) problematisch. Zum einen führt die Einebnung der Differenz zwischen dem metaphorischen, universalisierten und dem engen, auf schriftliche Quellen beschränkten Textbegriff leicht in methodologische Aporien. Der Versuch, die nur in einem schriftlichen Text überlieferte kulturelle Praxis unmittelbar einer deutenden Lektüre zu unterziehen, neigt dazu, die Eigenlogik des Textes, der sie dokumentiert, zu unterschätzen.” 24 R. Posner: Kultur als Zeichensystem: Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: P. Rusterholz, M. Svilar (Hgg.): Welt der Zeichen - Welt der Wirklichkeit. Referate der Münchenwiler Tagung und der Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Sommersemester 1992. Bern 1993, 10f.: “(1) Die einfachste Art des kulturellen Zeichenprozesses nennen wir ‘Indikation’. Dabei wird ein Sachverhalt von jemandem (dem Empfänger) aufgrund besonderer Randbedingungen (Kontext) als Anzeichen (indikatives Zeichen, Index) für das Vorliegen eines anderen Sachverhalts (des Angezeigten, Referenten) aufgefasst; die Annahme dieses anderen Sachverhalts ist die ‘Botschaft’ (‘message’) des indikativen Zeichens. So kann einem Seefahrer (Empfänger) auf dem Meer (Kontext) das Auftreten von Landvögeln (Zeichen) die Botschaft bringen: ‘Hier ist Land in der Nähe.’ (2) Etwas komplexer ist der Zeichenprozess, den wir ‘Signifikation’ nennen. In ihm wird dem Empfänger die Ermittlung einer Botschaft aus einem Zeichen durch die Kenntnis eines Kodes (eines Systems von Zuordnungsregeln) ermöglicht, der bestimmten Signifikanten bestimmte Signifikate zuordnet. So kann unser Seefahrer, wenn er auf hoher See ein Stück Stoff auffischt, die Tatsache, dass es schwarz ist, zwei Ärmel hat sowie auf der einen Seite in zwei schwanzartige Fortsätze ausläuft und auf der anderen rechtwinklig abgeschnitten ist, als Signifikanten auffassen, dem das Signifikat ‘Frack’ entspricht. Dadurch wird das Fundstück für ihn zu einem signifikativen Zeichen, mit dem er aufgrund seiner Kenntnis des Kleiderkodes in diesem Kontext die Botschaft verbinden kann: ‘Hier in der Nähe ist ein Kleidungsstück für Männer ins Wasser gefallen’ (unter Einbeziehung spezieller Umstände kann er daraus dann weitergehende Schlüsse ziehen). Die Zuordnungsregeln eines Kodes können einerseits wie hier Konventionen sein, die sich im Verhalten zwischen Lebewesen herausgebildet haben …; sie können aber auch konstante Programme sein, wie der genetische Kode von Lebewesen oder die Maschinenkodes von Computern. Die Prozesse der Signifikation, mit denen wir es zu tun haben, beruhen auf konventionellen Kodes. (3) Indikation und Signifikation unterscheiden sich voneinander in bezug auf die Einbeziehung von Kodes. Ihnen ist aber gemeinsam, dass sie als Zeichenbenutzer nur einen Empfänger voraussetzen; sie erfordern nicht das Vorhandensein eines Senders, der dem Empfänger die Botschaft mitteilen will. Letzteres ist nun in Zeichenprozessen der Fall, die wir ‘Kommunikation’ nennen. Dabei produziert jemand (der Sender) etwas in der Absicht, dass ein anderer (der beabsichtigte Empfänger, d.h. der Adressat) dies als Zeichen erkennt, das eine Botschaft trägt, die er (der Sender) ihm mitteilen will. So kann unser Seefahrer, wenn er am Horizont ein Schiff sieht, das eine schwarz-rot-gold Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 21 gestreifte Flagge setzt, daraus entnehmen, dass der Kapitän dieses Schiffes ihm die Botschaft mitteilen will: ‘Dies ist ein deutsches Schiff’. In diesem Fall bedient sich der fremde Kapitän des Flaggenkodes in der Annahme, dass auch sein Adressat ihn kennt. Kommunikation ist allerdings auch ohne Dazwischentreten eines Kodes möglich, zum Beispiel wenn der eine Kapitän dem andern durch ostentativ schnelles Zufahren auf dessen Schiff die Botschaft mitteilt: ‘Mach mir Platz’ (ob der Adressat damit dieser Aufforderung folgt, ist für das Vorliegen von Kommunikation unwichtig).” 25 Ikonizität fällt aufgrund ihrer, in der Terminologie Posners, Kodebundenheit in den Bereich der Signifikation. Die Frage bleibt, ob das Kriterium der Kodegebundenheit für Signifikation stichhaltig ist. 26 Letztlich rückführbar auf C.E. Shannon, W. Weaver: The mathematical theory of communication. Urbana 1949. 27 F. Hartmann: Mediologie. Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien 2003, 95: “Der Begriff Medien als Vermittler oder Verbreitungsmittel von Informationen konnotiert bislang ein Kommunikationsmodell, das einen Sender über einen Kanal mit einem Empfänger verbindet. Ein nach Flusser ebenso verharmlosendes wie idiotisierendes Modell (vgl. 1996, 270f.), das gleichwohl Standard im Mainstream der Kommunikationstheorie geblieben ist.” Das ‘Verharmlosende’ besteht einmal mehr in einer selten durchschauten Rhetorik. Das Übertragungsmodell operiert über den Begriff der ‘Übertragung’ metaphorisch, genau genommen metametaphorisch, weil die Metapher, deren es sich bedient, die Metapher der Metapher selbst ist; Vgl. H. Siever: Kommunikation und Verstehen. Der Fall Jenninger als Beispiel einer semiotischen Kommunikationsanalyse. Frankfurt a.M. 2001, 42ff. 28 Vgl. die Aussagen von Humberto Maturana: “Daß es in alltäglicher Sprechweise akzeptabel erscheint, von einer Übertragung von Information zu sprechen, hat seinen Grund darin, daß der Sprecher stillschweigend voraussetzt, der Hörer sei mit ihm selbst identisch und besitze folglich den gleichen kognitiven Bereich wie er selbst (was nie der Fall ist).” Bzw.: “Jede Person sagt, was sie sagt, und hört, was sie hört, gemäß ihrer eigenen Strukturdeterminiertheit; daß etwas gesagt wird, garantiert nicht, daß es auch gehört wird. Aus der Perspektive eines Beobachters gibt es in einer kommunikativen Interaktion immer Mehrdeutigkeit. Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht. Und dies hat wenig zu tun mit ‘übertragener Information’.” Zit. n. D. Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht: eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, 75f. 29 Information sei kognitionstheoretisch verstanden als das Wahrnehmen einer Differenz, bzw. - pluralisch - als Wahrnehmung von Differenzen (vgl. N. Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Ders.: Aufsätze und Reden. O. Jahraus (Hg.). Stuttgart 2004, 269: “Ein alternatives differenzorientiertes Konzept von Erkennen konstituierte sich in den späten sechziger Jahren aus ganz unterschiedlichen Quellen. Gregory Bateson, um bei ihm anzusetzen, definiert Information als “a difference that makes a difference.””), unabhängig vom Medium, das das Unterscheidungspotential bereitstellt, in dem diese Differenzen figurieren. Medien seien im Anschluss an Martin Seel (M. Seel: Medien der Realität und Realität der Medien. In: S. Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 1998, 248) definiert als “Zugänge, die etwas gegeben sein lassen”. Sie stellen Differenzen bereit, in Bezug auf welche wiederum mit Differenzen eingetreten werden kann. 30 Für die Systemtheorie ein evolutionsgeschichtliches Emergenzphänomen; Vgl. I. Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen: soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Münster 1999, 77: “Kommunikation kommt nur zustande, wenn diese (…) Differenz [von Information und Mitteilungsverhalten …] beobachtet, zugemutet, verstanden und der Wahl des Anschlußverhaltens zu Grunde gelegt wird.” Ebd.: “… die Kommunikation [organisiert sich, wit], wenn man so sagen darf, vom Verstehen aus; und sie ist im Evolutionsprozeß vermutlich auch durch verstehensmäßige Raffinierung von Verhaltensbeobachtungen entstanden.” 31 D.h. Information, der kommunikative Intentionalität unterstellt wird; Ob Intentionalität tatsächlich vorliegt, ist irrelevant; Vgl. G. Kiss: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, 21: “Im Unterschied zu Habermas spricht Luhmann nicht vom “kommunikativen Handeln”, dem irgendeine Verständigungsabsicht unterstellt wird: Weder Intentionalität noch selbst Sprachlichkeit soll in seinem Kommunikationsbegriff enthalten sein: “Statt dessen stellen wir auf jenes Differenzbewußtsein ab: auf die in alle Kommunikation eingebaute Differenz von Information und Mitteilung. Die Kommunikation prozessiert sozusagen diese Differenz” (1984: 209).” Luhmann bringt ein Beispiel, das demjenigen von Posner vergleichbar ist: “Rasches Gehen kann in diesem Sinne als Zeichen für Eile beobachtbar sein … es kann aber auch als Demonstration von Eile … aufgefaßt und mit der Absicht, eine solche Auffassung auszulösen, auch produziert werden.” Der Kommentar von Kiss, ebd., 22: “Information als selektive Behandlung von Differenzen besteht dann, daß “der Christophe Bourquin 22 Erlebende Ereignisse gegen einen Horizont anderer Möglichkeiten projiziert” und “dies und nicht das” festlegt. Wie die Information beim Informierten ankommt, hängt von dessen selbstreferentieller Informationsverarbeitung ab, wie er die Information nachvollziehen oder verstehen kann, “wie Input in ihm als Information wirkt und wie er seinen Output (das, was er sagt, z.B.) an die eigene Informationsverarbeitung wieder anschließt” (1982: 28); Kommunikation ist zwar ohne Mitteilungsabsicht möglich, aber Mitteilung als Anregung muß als Selektion (Selbstfestlegung einer Situation) interpretierbar sein (1984; 208f.).” 32 Semiotisierung als semantisches Relationieren ist sowohl kulturrelativ als auch kulturdependent, vgl. A. Roesler: Medienphilosophie und Zeichentheorie. In: S. Münker, A. Roesler, M. Sandbothe (Hgg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M. 2003, 51f.: “Ohne Bedeutung, wie bereits gesagt worden ist, gibt es für uns keine Phänomene. Sie wären absolute Singularitäten und daher nicht kategorisierbar und bestimmbar. Wir wüssten nicht, womit wir es zu tun hätten. … Die dritte These zieht die Konsequenz daraus, dass es für uns kein “rohes Sein” gibt, wie es bei Merleau-Ponty und dem frühen Foucault heißt. Das “rohe Sein”, das von keinerlei Bedeutungszuschreibung berührte “Etwas”, die “vorprädikative Erfahrung” bei Husserl entspricht dem “Gegenstand” ohne seine Relationen zu Medium und Interpretant. Das “rohe Sein” ist ein Gedanke, der von allem Angewiesensein auf Medien abstrahiert. Wir können ihn denken - aber nicht ohne Medien.” 33 Vgl. Fn. 29. 34 Schwerverständlich ist, was durch die Einengung von Indexikalität auf Folge- und Wenn-dann-Verhältnisse gewonnen wird, vgl., im Anschluss an Peirce, A. Linke, M. Nussbaumer, P.R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen 3 1996, 20: “Etwas sinnlich Wahrnehmbares wird zum indexikalischen Zeichen, wenn wir es als Folgeglied in einem Wenn-Dann-Verhältnis auffassen und aus dem Vorliegen der Folge auf das (nicht unmittelbar ersichtliche) Vorliegen des Grundes schließen.” Warum sollte indexikalische Semiotisierung nicht die Gesamtheit aller möglichen Formen von semantischen Relationierungen - nebst konsekutiven, konditionalen und kausalen also etwa konzessive, adversative, assoziative etc. - umfassen können, die eine kulturelle Formation zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stellt? 35 Dass die Systemtheorie die Differenz von Information und Indexikalität, mithin die Differenz von Nicht-Zeichen und Anzeichen, nicht fokussiert, wird bei Iris Wittenbecher deutlich: “Werden Mitteilung und Information nicht unterschieden, wird beispielsweise das Nicken des Kopfes nicht als Zustimmung verstanden, sondern als ein nervöses Zucken, dem keine Bedeutung (kein Sinn! ) beizumessen und entsprechend keine Information zu entnehmen ist, dann kommt keine Kommunikation zustande. Es bleibt bei einer Wahrnehmung, einer Verhaltensbeobachtung.” (I. Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen: soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Münster 1999, 81) Dagegen wäre einzuwenden: Tritt das Nicken des Kopfes über den Status einer bloßen Wahrnehmung, d.h. kognitiver Information, wird es bereits semiotisiert. Wittenbecher demonstriert geradezu die vorgeschlagene Differenz: “Zustimmung” als kommunikative Semiotisierung, das “nervöse[ ] Zucken” als indexikalische Semiotisierung, dem damit nicht einfach “keine Bedeutung (kein Sinn! )” zukommt. 36 E. Benveniste: Problèmes de linguistique générale. Paris 1966. Bd. 1, 5: “La nouveauté du point de vue saussurien, un de ceux qui ont le plus profondément agi, a été de prendre conscience que le langage en lui-même ne comporte aucune dimension historique, qu’il est synchronie et structure, et qu’il ne fonctionne qu’en vertu de sa nature symbolique.” 37 Zur Vorgeschichte der Differenzziehung vgl. T. Todorov: Symboltheorien. Übers. v. B. Gyger. Tübingen 1995, 5ff. 38 Platon: Sämtliche Werke. Bd. 3: Kratylos, Parmenides, Theaitetos, Sophistes, Politikos, Philebos, Briefe. U. Wolf (Hg.). Übers. v. F. Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 34 2004, 16. 39 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. C. Bally, A. Sechehaye (Hgg.). Übers. v. H. Lommel. Berlin 2 1967, 76, im Folgenden abgekürzt mit ‘Cours’: “Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine Nomenklatur, d.h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen. … Diese Ansicht gibt in vielerlei Beziehung Anlaß zur Kritik.” 40 im Sinne eines mentalen Erfahrungskorrelats. Der Umweg von Platon zu de Saussure geht über Aristoteles, der in De interpretatione / Peri hermeneías dem ‘ ’ Hermogenes’ einerseits Folge leistet, andererseits darauf hinweist, dass der Bezug zwischen Wort und Sache, Sprache und Seiendem durch die Erleidnisse der Seele (“ µ ” (16a3ff.)) vermittelt ist; Vgl. J. Hennigfeld: Geschichte der Sprachphilosophie. Antike und Mittelalter. Berlin 1994, 114: “Aristoteles betont, daß es sich nicht um eine direkte Beziehung handelt; der Bezug von Wort und Ding ist vermittelt durch die seelischen Eindrücke, welche die Dinge in uns hinterlassen.” Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 23 41 Cours, 77f.; Der Begriff “Lautbild”, französisch “image acoustique”, ist explikationsbedürftig. De Saussure sieht sich zu erläutern veranlasst (ebd., 77: “Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen. … Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird ganz klar, wenn wir uns selbst beobachten. Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst sprechen oder uns im Geist ein Gedicht vorsagen. Gerade deshalb, weil die Worte der Sprache für uns Lautbilder sind, sollte man nicht von den Lauten als Phonemen sprechen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Denn dieser Ausdruck deutet auf mündliche Sprechtätigkeit und paßt nur zum gesprochenen Wort, zur Verwirklichung des inneren Bildes in der Rede. Man muß sich stets daran erinnern, daß es sich nur um das innere Bild der lautlichen Erscheinung handelt.”), auch die Herausgeber melden sich, noch vor ihm, in einer der ganz seltenen Fußnoten des Cours zu Wort (ebd., 77: “Der Terminus “Lautbild” könnte vielleicht als zu eng gefaßt erscheinen, weil neben der Vorstellung von dem Laut eines Wortes auch diejenige seiner Artikulation, die Bewegungsgefühle des Lautgebungsaktes bestehen. Jedoch ist für F. de S. die Sprache im wesentlichen ein Vorrat, etwas von außen Empfangenes (vgl. S. 16). Das Lautbild ist in erster Linie die natürliche Vergegenwärtigung des Wortes als Sprachbestandteil ohne Rücksicht auf die Verwirklichung durch das Sprechen. Die motorische Seite kann also mit inbegriffen sein oder allenfalls eine untergeordnete Stellung im Vergleich zum Lautbild haben. (Die Herausgeber.)”). Das Problem, dem de Saussure erliegt, ist dem vergleichbar, was Jacques Derrida zu Beginn seines différance-Aufsatzes anmahnt: dass die Phonetik eine Wissenschaft ist, die die mediale Bedingung ihrer Möglichkeit, die Schrift (die IPA-Symbole sind eine Lautschrift.), vergessen hat, dass das Phonem nie als Phon, sondern immer nur als Graphem beschreibbar wird (J. Derrida: Die différance. Übers. v. G.R. Rigl. In: P. Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 31: “Unhörbar ist die Differenz zwischen zwei Phonemen, die allein ihr Sein und Wirken als solche ermöglicht. Das Unhörbare eröffnet die zwei präsenten Phoneme, so wie sie sich präsentieren, dem Vernehmen. Gibt es also keine rein phonetische Schrift, so weil es keine rein phonetische phone gibt. Die Differenz, welche die Phoneme aufstellt und sie, in jedem Sinne des Wortes, vernehmbar macht, bleibt an sich unhörbar.”). Von “Lautbild[ern]” kann nur deshalb die Rede sein, weil die Wörter der Sprache für uns ‘Schriftbilder’ sind: “Denn dieser Ausdruck deutet auf [schriftliche] [Sprech]tätigkeit und passt nur zum [geschriebenen] Wort, zur Verwirklichung des inneren Bildes in der [Schreibe].” Die Medientheorie bringt das Phänomen auf den Begriff der aisthetischen Neutralisierung, vgl. S. Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren. In: S. Münker, A. Roesler, M. Sandbothe (Hgg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M. 2003, 81: “Medien wirken in Latenz. Wo immer wir gewöhnlich mit Medien umgehen, richten wir uns auf das, was Medien vermitteln und vorstellig machen: ob wir dies nun ›Gehalt‹, ›Botschaft‹ oder ›Sinn‹ nennen. … Medien werden ihrer Funktion umso besser gerecht, je mehr sie uns vergessen lassen, dass es Medien sind, durch die wir etwas zu sehen oder zu hören bekommen. Medien bleiben der blinde Fleck in unserem Wahrnehmen und Kommunizieren. Sie wirken gewöhnlich unterhalb der Schwelle unserer Wahrnehmung; im Gebrauch ›entziehen‹ Medien sich durch eine Art ›aisthetischer Neutralität‹: Nur im Rauschen, das ist aber in der Störung, bringen Medien sich selbst in Erinnerung, rücken sie ins Zentrum der Wahrnehmung. Medien kommen einer Reflexionsfigur entgegen, die, was ›Vermittlung‹ ist, so entfaltet, dass dabei der Eindruck einer ›Unmittelbarkeit‹ entsteht.” 42 Cours, 143f. 43 Oberhalb des Bruchstrichs figurieren die Signifikate, darunter die Signifikanten; Vgl. P. Grzybek: Studien zum Zeichenbegriff der sowjetischen Semiotik. Bochum 1989, 165ff. 44 = Präfixe, Suffixe, Circumfixe. 45 Etwa ‘laudabam’ in ‘laud-a-ba-m’. 46 Zur Ära Bloomfield bzw. zum sprachwissenschaftlichen Axiom ‘Form ist alles, Bedeutung ist nichts’ vgl. O. Szemerényi: Richtungen moderner Sprachwissenschaft: von Saussure bis Bloomfield 1916-1950. Heidelberg 1971, 142: “Der Sieg seiner [sc. Bloomfields] Gedanken und Methoden war fast total. Man kann zwar auf ein paar Schüler und Nachfolger von Sapir hinweisen, man hat sogar von einer Yale School gesprochen, da ja Sapir und Bloomfield und nach des letzteren Tod sein Schüler Bloch an der Universität Yale wirkten. Aber es ist nicht zu leugnen, daß ein Vierteljahrhundert lang, etwa von 1933 bis 1957, dem Erscheinungsjahr von Chomskys Syntactic Structures, fast alle tonangebenden und richtungsweisenden Linguisten Amerikas sich zur Lehre Bloomfields bekannten, Bloomfieldianer waren. Das Kennzeichnende für diese Epoche ist, daß Bloomfieldsche Ideen entfaltet, weiterentwickelt werden, hauptsächlich in der Phonologie, aber auch in der Morphologie, wogegen die Syntax eher vernachläßigt wird. Die Ausschaltung der Bedeutung wird immer strikter verfolgt, sie wird sogar zu einem wissenschaftlichen Ideal erhoben.” Christophe Bourquin 24 47 C. Ohno: Die semiotische Theorie der Pariser Schule. Bd. 1. Würzburg 2003, 69: “Algirdas Julien Greimas (1917-1992), der Gründer der Pariser Schule, ist einer der Hauptvertreter des Strukturalismus Saussurescher Provenienz in Frankreich neben Roland Barthes, Gérard Genette, Tzvetan Todorov und vor allem Claude Lévi- Strauss, dessen anthropologische und mythologische Untersuchungen Aufsehen erregten.” Ebd., 78: “Zur Zeit seines Erscheinens (1966) stellte Sémantique structurale einen Meilenstein in der Entwicklung der Semantik dar. Es braucht eigentlich nicht mehr darauf hingewiesen zu werden, dass die Linguistik sich mit ihren semantischen Analysen in einem Engpass befand, da die Forschungsanstrengungen in dem Bemühen um Beweisbarkeit und Stringenz der Untersuchungsergebnisse vorwiegend syntaktischen und formalen Aspekten der Sprache gegolten hatten. Eine Bedeutungsanalyse schien einen bloß intuitiven, intersubjektiv nicht überprüfbaren Wert zu haben.” 48 Vgl. A.J. Greimas: Strukturale Semantik. Übers. von J.F. Ihwe. Braunschweig 1971. 49 Für weitere Ausführungen zum wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang vgl. P. Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I. München 1974; Bzw. R. Baum: Dependenzgrammatik; Tesnières Modell der Sprachbeschreibung in wissenschaftsgeschichtlicher und kritischer Sicht. Tübingen 1976. 50 Von Nikolaj Kruszewski inauguriert (N. Kruszewski: Prinzipien der Sprachentwicklung, 3. Artikel. In: Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft 3 (1886), 145ff.), von de Saussure mit einer zu diskutierenden Einschränkung übernommen und schließlich von Roman Jakobson ausgebaut (R. Jakobson: Two aspects of language and two types of aphasic disturbances. In: Ders.: Selected writings II. The Hague 1971, 237ff.). Über die Linguistik hinaus wird das Zweiachsenschema berühmt, als es Jacques Lacan (1901-1981) auf die beiden wichtigsten Operationen des ‘Unbewussten’, die Verdichtung und die Verschiebung, appliziert. Die Zwei-Achsen-Theorie der Sprache wird ausführlich besprochen bei E. Holenstein: Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1976, 76ff. 51 Damit gegen E. Holenstein: Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1976, 76: “Die paradigmatische Achse der Selektion gründet auf Ähnlichkeitsbeziehungen, die syntagmatische Achse der Kombination auf Kontiguitätsbeziehungen. Entsprechend wird die erste Achse von Jakobson als metaphorische, die zweite als metonymische Achse bezeichnet.” Die Bezeichnungen “metaphorisch[ ]” bzw. “metonymisch[ ]” sind tropologisch! 52 R. Jakobson: Linguistics and poetics. In: T.A. Sebeok (Hg.): Style in language. New York 1960, 350ff. 53 Vgl. S. 7. 54 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. v. J. Vogl. München 1992. 55 Zit. n. M. Stegu: Postmoderne Semiotik und Linguistik: Möglichkeiten, Anwendungen, Perspektiven. Frankfurt a.M. 1998, 38. 56 Zur systemtheoretischen These der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation vgl. N. Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, 26: “Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben würden. Diese unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit gilt es vorab zu begreifen.” Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster und zweiter Teilband. Frankfurt a.M. 1997, 190: “Sieht man einmal davon ab, daß ein Gesellschaftssystem faktisch bereits existiert und Kommunikation durch Kommunikation reproduziert, ist ein solcher Sachverhalt extrem unwahrscheinlich.” Ebd., 191: “Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen, sondern es im Hinblick auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf einstellen können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche? ) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie abzulehnen? Geht man von dem aus, was für die beteiligten psychischen Systeme wahrscheinlich ist, ist also kaum verständlich zu machen, daß es überhaupt zu Kommunikation kommt.” 57 Ob Information dabei allerdings den Umweg über eine indexikalische Semiotisierung nehmen muss oder direkt kommunikativ semiotisiert werden kann, müsste genauer abgeklärt werden. 58 Vgl. S. 7. 59 Gesprochen sei in der Semantik der Veränderung, da sie eine gewisse ‘Neutralität’ des Ausdrucks zum Ausdruck bringt, eine Neutralität, die das poststrukturalistische Jargon durch eine subversivere Diktion gelegentlich neutralisierte, wenn von ‘dekonstruktiver Sinnentstellung’, von ‘parasitärer Kontamination’ etc. die Rede war. Zu einem Gutteil dürfte die Auslegung der Dekonstruktion als Destruktion diesem revoltierenden Vokabular zuzuschreiben sein. 60 Die Wiederholung von Signifikanten ist eine rein syntaktische und keine semantische Operation. Deshalb ist technische Datenverarbeitung kein Zweig der Sprachtheorie; Vgl. N. Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 25 München 1991, 127f.: “Die Semantik der Kommunikation ist für die Technik der Datenverarbeitung irrelevant; es kommt also darauf an, Information nicht mit Bedeutung zu verwechseln - ein bit zeigt ja lediglich an, welche der gleichwahrscheinlichen Alternativen gewählt wurde. Datenverarbeitung ist kein Kapitel der Sprachtheorie; sie prozediert durch Algorithmen.” 61 G.W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion: Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie. München 2002, 16: “Alle KommentatorInnen scheinen sich einig darin, dass das Werk Jacques Derridas die bedeutendste Fundierung dekonstruktiven Denkens geleistet hat.” 62 Die Pointierung von Nietzsches (1844-1900) Bemühungen als “eine[r] Kritik der Philosophie als aktiver Indifferenz der Differenz gegenüber, als System von a-diaphoristischer Reduktion oder Repression”, lässt sich für Derridas eigene Schriften in den Dienst nehmen; J. Derrida: Die différance. Übers. v. G.R. Rigl. In: P. Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 43; Im Folgenden abgekürzt mit ‘différance’. 63 différance, 31f. 64 Ebd., 34. 65 Ebd., 37. 66 Ebd., 37. 67 Ebd., 38. 68 Ebd., 40. 69 Ebd., 47. 70 Ebd., 51. 71 Ebd., 33f. 72 Sowohl topologisiert im Sinne von ‘A nach B’ als auch temporalisiert im Sinne von ‘jetzt auf später’. 73 Auch Derrida nimmt sofort die bereits besprochene Stelle aus dem Cours in den Blick, derzufolge es in der Sprache nur Differenzen und keine Positivitäten gibt, différance, 36: “Das Prinzip der Differenz berührt, als Bedingung der Signifikation, die Totalität des Zeichens, das heißt, die Seite des Signifié und die des Signifiant zugleich. Die Seite des Signifié ist die Vorstellung, die ideale Bedeutung; und das Signifiant das, was Saussure “Bild”, “psychischen Ausdruck” eines materiellen, physikalischen, zum Beispiel lautlichen Phänomens nennt. Wir wollen hier nicht auf alle Probleme dieser Definitionen eingehen. Zitieren wir Saussure nur in dem Punkt, der uns interessiert[.]” Es folgt die besagte Stelle. 74 P.V. Zima: Die Dekonstruktion: Einführung und Kritik. Tübingen 1994, 52: “So kann Saussure beispielsweise behaupten, daß “es in der Sprache nur Differenzen gibt”. Er erklärt: “Innerhalb einer und derselben Sprache begrenzen sich gegenseitig alle Worte, welche verwandte Vorstellungen ausdrücken: Synonyma wie denken, meinen, glauben haben ihren besonderen Wert nur durch ihre Gegenüberstellung; wenn meinen nicht vorhanden wäre, würde sein ganzer Inhalt seinen Konkurrenten zufallen.” Obwohl er Saussures These über die wechselseitige Bedingtheit der linguistischen Einheiten akzeptiert, lehnt Derrida die komplementäre These des Genfer Linguisten ab, derzufolge ein Wort wie denken im Zusammenhang mit den differierenden Einheiten, die sein semantisches Feld bestimmen, eindeutig bestimmbar ist. Dem Dekonstruktivisten erscheint diese These als ein zugleich rationalistischer und logozentristischer Versuch, die Sinngegenwart als transzendentales Signifikat (signifié transcendental, Derrida) zu retten. Derrida vertritt nun die den meisten Rationalisten nicht ganz geheuere Ansicht, daß die Sinnpräsenz nicht zu verwirklichen ist, weil jedes Zeichen unabläßig auf andere, vorausgegangene oder nachfolgende Zeichen verweist und dadurch den Zerfall der eigenen Identität und der Sinnpräsenz bewirkt.” Ebd., 54: “Der Saussureschen Linguistik, deren im Rationalismus verankerten Logozentrismus und Phonozentrismus er kritisiert, wirft Derrida vor, die metaphysische Tradition fortzusetzen und das gesprochene Wort zu privilegieren, das für die Gegenwart des Sinnes und des transzendentalen Signifikats, d.h. der platonischen Idee, bürgt.” Bzw. A. Köpper: Dekonstruktive Denkbewegungen: Zu Lektüreverfahren Jacques Derridas. Wien 1999, 25: “Die differentielle Seinsweise der sprachlichen Zeichen, die nicht positiv durch ihren Inhalt bestimmt werden kann, läßt den Wert der Präsenz für alle Elemente von Sprache und Schrift problematisch werden. Von dieser Überlegung ausgehend, führen Derridas Gedanken weit über Saussure hinaus. Zwar ist auch der dekonstruktive Diskurs gefangen in der Metaphysik, doch treibt Derrida die Arbeit der Verschiebung unerbittlich voran, indem er im Unterschied zu Saussure das Differenzprinzip als ausschließlich und radikal annimmt. Saussure sucht im Gegensatz zu Derrida noch Zuflucht zu einem “letzten”, “transzendentalen Signifikat” als einem möglichen Endpunkt (Sinnpräsenz) …” 75 différance, 40. 76 Ebd., 34. 77 Ebd., 38. 78 Ebd., 51. Christophe Bourquin 26 79 Ebd., 40. 80 Ebd., 41. 81 Bzw. ‘il n’y a pas de ‘il n’y a pas de ‘il y a’’’. 82 Ebd., 37. 83 Ebd., 47. 84 Ebd., 32. 85 Ebd., 38. 86 Vgl. dazu die Arbeiten von Jean Piaget, Konrad Lorenz, Gerhard Vollmer, Rupert Riedl, Franz M. Wuketits, Humberto R. Maturana, Francisco Varela, Heinz v. Foerster, Paul Watzlawick, Gerhard Roth, Ernst von Glaserfeld; Zu den geistigen Vätern des radikalen Konstruktivismus vgl. auch R.F. Weidhas: Konstruktion - Wirklichkeit - Schöpfung: das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens im Dialog mit dem radikalen Konstruktivismus unter besonderer Berücksichtigung der Kognitionstheorie H. Maturanas. Frankfurt a.M. 1994, 40. 87 ”Der Ausgangspunkt dieses Kalküls […] ist das Setzen einer Unterscheidung. Mit diesem Urakt der Trennung scheiden wir Erscheinungsformen voneinander, die wir dann für die Welt selbst halten. … nämlich die Unterscheidungen, die wir machen - und sie beziehen sich viel mehr auf den Standpunkt des Beobachters als auf die wahre Beschaffenheit der Welt, die infolge der Trennung von Beobachter und Beobachtetem immer unerfaßbar bleibt. Indem wir der Welt in ihrem bestimmten So-Sein gewahr werden, vergessen wir, was wir unternahmen, um sie in diesem So-Sein zu finden …” F. Varela: A calculus for self-reference. In: Internat. Journal of General Systems 2 (1975), 22, hier zit. n. V. Riegas, C. Vetter: Gespräch mit Humberto R. Maturana. In: Dies. (Hgg.): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt a.M. 1990, 300; Ähnlich H. Maturana: Was ist erkennen? München 1994, 53: “Wir müssen uns also mit der Grundbedingung anfreunden, im Akt des Unterscheidens nicht gegebene Differenzen bloß festzustellen und zu bestätigen, sondern das Unterschiedene selber aktiv zu konstruieren, hervorzubringen oder zu erzeugen.” 88 Darüber, worauf ‘Sinnesorgane’ reagieren, lässt sich nichts sagen. Darüber, was sie produzieren, jedoch sehr wohl: Ausschließlich Differenzen. Es handelt sich hierbei um eine Denkfigur, die die Kognitionstheorie so beschreibt: Die ‘Realität’ erzeugt eine Wirklichkeit, ohne in letztgenannter aufzutauchen; Vgl. G. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit: kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M. 1994, 324: “Ich habe davon gesprochen, daß das Gehirn die Wirklichkeit hervorbringt und darin all die Unterscheidungen entwickelt, die unsere Erlebniswelt ausmachen. Wenn ich aber annehme, daß die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn, als Konstrukteur, existiert.” Ebd., 329: “Daraus folgt: Dasjenige Gehirn, das mich hervorbringt, ist mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Körper, in dem es steckt, und die reale Welt, in welcher der Körper lebt. Daraus folgt zugleich: Nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge sind Konstrukte in der Wirklichkeit, ich selbst bin ein Konstrukt. Ich komme unabweisbar in dieser Wirklichkeit vor. Dies bedeutet, daß das reale Gehirn eine Wirklichkeit hervorbringt, in der ein Ich existiert, das sich als Subjekt seiner mentalen Akte, Wahrnehmungen und Handlungen erlebt, einen Körper besitzt und einer Außenwelt gegenübersteht.” 89 Denn alles, was gesagt wird, wird über die Operation Beobachtung gesagt. Humberto Maturana definiert den Beobachter als Menschen, “wie er spricht, und dabei Unterscheidungen trifft und Beschreibungen anfertigt.” V. Riegas, C. Vetter: Gespräch mit Humberto R. Maturana. In: Dies. (Hgg.): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt a.M. 1990, 58. 90 I. Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen: soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Münster 1999, 64: “Die Beobachtung von Beobachtungen kann die Unterscheidung, die einer beobachteten Beobachtung zugrunde liegt (z.B. Autor/ Text), mit Hilfe einer weiteren (anderen) Unterscheidung (z.B. literarische Produktion/ Rezeption) unterscheiden und bezeichnen. Sie ist demnach sachlich auf einer höheren Abstraktionsebene angesiedelt, was nicht heißt, daß sie höherwertig ist, im Sinne von besser, wahrer, richtiger oder wahrhaftiger. Denn auch die Beobachtung zweiter Ordnung vollzieht sich als Einheit der beiden Komponenten Unterscheiden und Bezeichnen.” 91 différance, 47. 92 Ebd., 37. 93 Vgl. S. 7. 94 Vgl. J.H. Hulstijn: Das fremdsprachliche Wort im bilingualen Lexikon. In: W. Börner, K. Vogel (Hgg.): Kognitive Linguistik und Fremdsprachenerwerb: das mentale Lexikon. Tübingen 2 1997, 174: “Form und Bedeutung sind manchmal metaphorisch als die zwei Seiten einer Münze vorgestellt worden (De Saussure 1916; Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 27 Aitchison 1987). Diese Metapher, wie sinnbildlich sie auch ist, hat den Nachteil, daß in ihr Form und Bedeutung eines Wortes untrennbar sind.” Bzw. A. Koeder: Von Ferdinand de Saussure zu einer formalen diachronen Semantik. Konstanz 1999, 98. 95 Cours, 88. 96 Die auch als Grenzverschiebungstrope kurrent ist, vgl. W. Groddeck: Reden über Rhetorik: zu einer Stilistik des Lesens. Frankfurt a.M. 1995, 209f. 97 F. Nietzsche: Sämtliche Werke. KSA. G. Colli, M. Montinari (Hgg.). München 1980. Bd. 1, 879f.; Im Folgenden abgekürzt mit ‘KSA’. 98 KSA 7, 542. 99 KSA 7, 481. 100 KSA 7, 498. 101 F. Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. KGW. G. Colli, M. Montinari (Hgg.). Berlin 1967ff., Bd. 2, 426f. 102 P. de Man: Rhetorik der Tropen. In: Ders.: Allegorien des Lesens. Übers. v. W. Hamacher, P. Krumme, mit einer Einl. v. W. Hamacher. Frankfurt a.M. 1989, 148. 103 J. Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. Übers. v. G. Ahrens. In: P. Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 206. 104 Vgl. W. Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Essays von Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat. Berlin 2003. 105 J. Paul: Werke. N. Miller, G. Lohman (Hgg.). Bd. 1-6. München 1959ff., Bd. 5, 184. 106 G.E. Lessing: Anti-Goeze. In: Ders.: Werke. G. Göpfert et al. (Hgg.). Bd. 1-8. München 1970ff. Bd. 8, 195: “Aber wie lange und genau muß man denn auch eine Metapher oft betrachten, ehe man den Strom in ihr entdecket, der uns am besten weiter bringen kann! ” 107 KSA 1, 879: “Er [der Sprachbildner] bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.” 108 N. Goodman: Sprachen der Kunst: Entwurf einer Symboltheorie. Übers. v. B. Philippi. Frankfurt a.M. 1997, 79: “Eine Metapher ist eine Affaire zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und seinem Objekt, das sich unter Protest hingiebt.” 109 W. Groddeck: Reden über Rhetorik: zu einer Stilistik des Lesens. Frankfurt a.M. 1995, 208f. 110 ’eigentlich’ (‘ µ ’, ‘verbum proprium’) gegenüber ‘uneigentlich’ (‘ µ ’, ‘verbum improprium’), ‘wörtlich’, ‘buchstäblich’ gegenüber ‘übertragen’ - allesamt Tropen! 111 Die spezialisierte Bezeichnung ‘Metapher’ für eine der Tropen ist nacharistotelisch, vgl. H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Mit einem Vorwort v. A. Arens. Stuttgart 3 1990, 283; Aristoteles nennt die Tropen in seiner Poetik insgesamt ‘metaphora’, vgl. K. Ae-Ryung: Metapher und Mimesis: Über das hermeneutische Lesen des geschriebenen Textes. Berlin 2002, 22: “Die Metapher ist für Aristoteles nicht nur eine Figur der Sprache, sondern die Figur überhaupt, sie umfaßt den ganzen Bereich der Begriffsübertragung.” 112 U. Poch: Metaphernvertrauen und Metaphernskepsis: Untersuchungen metaphorischer Strukturen in neuerer Lyrik. Frankfurt a.M. 1989, 31f.: “Nach einer alten, auf Aristoteles zurückgehenden Erklärungsweise gilt die Metapher als uneigentliche Redeform. Entweder fungiert sie als sprachlicher Notbehelf für einen mangelnden eigentlichen Ausdruck, oder sie ist Redeschmuck. Die Auffassung der Metapher als uneigentliches Wort mit übertragener Bedeutung wird als Substitutionstheorie bezeichnet. Nach dieser Theorie substituiert die Metapher ein eigentlich gemeintes Wort und kann ohne Bedeutungsverlust gegen das eigentliche Wort ausgetauscht werden.” 113 A. Linke, M. Nussbaumer, P.R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen 3 1996, 17f.: “Gibt es etwas, was all diesen Zeichen gemeinsam ist? Wenn da etwas Gemeinsames zu benennen ist, so wahrscheinlich dies, dass diese Zeichen alle in einer speziellen Beziehung zu etwas anderem zu stehen scheinen, dass sie - in welcher Art auch immer - etwas repräsentieren oder anzeigen können. In der Scholastik wurde diese Charakteristik in einer letztlich auf Aristoteles zurückgehenden Definition als Stellvertreter-Funktion beschrieben. Von einem Zeichen ist demnach zu sprechen, wenn etwas für etwas anderes steht, dann also, wenn gilt: aliquid stat pro aliquo. Die auffälligste und sichtbarste Eigenschaft von Zeichen jeder Art ist, dass sie einem Zeichenbenutzer etwas präsent machen können, ohne selbst dieses etwas zu sein.” Christophe Bourquin 28 114 Poet. 21.7; Zit. n. Ø. Andersen: Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike. Übers. v. B. Mannsperger, I. Tveide. Darmstadt 2001, 76. 115 Vgl. G. Ueding: Rhetorik des Schreibens: eine Einführung. Frankfurt a.M. 3 1991, 69. 116 I. Zielke: Text und Metapher: Studien zur Prosa Ivan Bunins. Hamburg 2001, 23f.: “Dieser Ansatz geht auf die Definition von Quintilian zurück, die das Metaphernproblem auf die folgende kurze Formel bringt: Die Metapher ist ein verkürzter Vergleich (metaphora est brevior similitudo).” 117 Rhet. 3.4.1 118 Il. 20.161ff. 119 Zit. n. G. Ueding: Rhetorik des Schreibens: eine Einführung. Frankfurt a.M. 3 1991, 69: “Im ganzen aber ist die Metapher ein kürzeres Gleichnis und unterscheidet sich dadurch, daß das Gleichnis einen Vergleich mit dem Sachverhalt bietet, den wir darstellen wollen, während die Metapher für die Sache selbst steht. Eine Vergleichung ist es, wenn ich sage, ein Mann habe etwas getan ‘wie ein Löwe’, eine Metapher, wenn ich von dem Mann sage: ‘er ist ein Löwe’.” 120 De orat. 3.155f. 121 Zit. n. Ø. Andersen: Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike. Übers. v. B. Mannsperger, I. Tveide. Darmstadt 2001, 77. 122 Inst. orat. 8.6.4ff. 123 Vgl. S. 14. 124 U. Spörl: Basislexikon Literaturwissenschaft. Paderborn 2004, 87. 125 KSA 1, 880f. 126 Vgl. S. 14. 127 Vgl. S. 14. 128 der das Funktionieren der (Alltags)Sprache maßgeblich geschuldet ist. 129 G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 5 2004, 17. 130 Literaturangaben zu den wichtigsten Vertretern finden sich gesammelt ebd., 7, Fn. 3. 131 I. Zielke: Text und Metapher: Studien zur Prosa Ivan Bunins. Hamburg 2001, 26: “In der neuzeitigen Metaphernforschung setzte sich die Tendenz zu einer prädikativen, satzsemantisch orientierten Metaphernbetrachtung durch, die unter dem Begriff ‘Interaktionstheorie’ subsumiert wird. Die Metapher ist danach eine eigentliche Redeweise, bei deren Betrachtung von der semantischen Gleichrangigkeit aller am metaphorischen Ausdruck beteiligten Elemente ausgegangen wird.” 132 P. Ricoeur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache. In: Ders., E. Jüngel (Hgg.): Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache. München 1974, 47. 133 KSA 4, 163.