eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld

61
2008
Dagmar Schmauks
kod311-20135
Review Article Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld Dagmar Schmauks Hartmut Heller (ed.): Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit. Tendenzen der Beschleunigung, Verlangsamung und subjektiven Zeitempfindens. Wien und Münster: LIT 2006. 360 Seiten, 29,90 , ISBN 3-8258-9588-2. Seit 1976 finden jährlich in Matrei (Osttirol) die “Matreier Gespräche für interdisziplinäre Kulturforschung” statt, um die Sichtweisen unterschiedlicher Wissenschaften zu kulturellen Phänomenen zusammenzutragen und zu systematisieren. Als Brückenwissenschaft dient die Kulturethologie, die ihr Begründer Otto Koenig (1914-1992) in Kultur und Verhaltensforschung (1970: 17) definierte als “Spezielle Arbeitsrichtung der Vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie), die sich mit den ideellen und materiellen Produkten (Kultur) des Menschen, deren Entwicklung, ökologischer Bedingtheit und ihrer Abhängigkeit von angeborenen Verhaltensweisen sowie mit entsprechenden Erscheinungen bei Tieren vergleichend befaßt”. Bisher wurden rund 30 Tagungen veranstaltet und in rund 20 Tagungsbänden publiziert. Der vorliegende Band vereinigt 18 Vorträge der Matreier Gespräche von 2004 zum Thema “Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit”. In fünf Themenkreisen (die hier den Abschnitten entsprechen) untersuchen Wissenschaftler aus Natur-, Geistes- und Ingenieurswissenschaften, in welchen Bereichen der Gegenwart eine Zeitbeschleunigung auszumachen ist, welche Folgen für Individuen und Gesellschaften sie hat und wo es eventuell gilt, ihr entgegenzusteuern. Unter dem Titel “Tempus fugit” führte Hartmut Heller in das Tagungsthema ein. Zeit wird als gerichtetes Phänomen erlebt und in vielen Modellen visualisiert, etwa als auf- und absteigende “Lebenstreppe”. Die ursprüngliche Orientierung an natürlichen Rhythmen wie den Tages- und Jahreszeiten wurde durch künstliche Zeitmessung präzisiert und immer stärker von konventionellen Rhythmen (Kirchenjahr, Arbeit vs. Freizeit) überlagert. Heute folgen nicht nur technische Neuerungen, sondern auch soziale Veränderungen immer schneller aufeinander. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 136 1. Endlichkeit - Unendlichkeit Der erste Themenblock “Endlichkeit - Unendlichkeit” untersuchte die Beziehungen zwischen zeitlichen und überzeitlichen Phänomenen. Einleitend stellte Gustav Reingrabner in seinem Vortrag “… zeitlich und ewiglich wohl verdienet …” die theologische Dimension des Zeitverständnisses dar. Nur Lebewesen können Zeit erleben, und nur der Mensch fasst Zeit als begrenzte Ressource auf, die man mehr oder weniger gut nutzen kann. Spezifisch religiös ist die Vorstellung von heiligen Zeiten, in denen das Ewige “in die Zeit kommt”. Christen etwa deuten die profane Geschichte als Heilsgeschichte, die mit der Schöpfung begonnen hat und wieder in Gottes Händen enden wird. Unter der Leitfrage “Warum altern wir? ” untersuchte Eckart Voland die biologische Evolution der Vergänglichkeit. Die durchschnittliche Lebensdauer hängt entscheidend davon ab, wie stark äußere Faktoren eine Art bedrohen. Bei typischen Beutetieren wie Mäusen investiert die Evolution nicht in ein langes Leben, sondern in eine möglichst frühe starke Vermehrung. Der Mensch ist weit weniger gefährdet und daher sehr langlebig. Besonders erklärungsbedürftig ist, warum Frauen nach der Menopause noch mehrere Jahrzehnte leben. Offenbar konnte die Evolution den schon vorgeburtlich festliegenden Eizellenvorrat von Mädchen nicht der steigenden Lebenserwartung anpassen. Die These, dass so die Rolle der hilfreichen Großmutter entstand, wird durch eine demographische Untersuchung ostfriesischer Familien des 18. und 19. Jahrhunderts relativiert. Ein verblüffendes Ergebnis war: Wenn Großmütter in derselben Gemeinde wohnen, steigern Großmütter mütterlicherseits die Überlebenswahrscheinlichkeit von Säuglingen, während Großmütter väterlicherseits sie erkennbar senken. Eine Erklärung könnte sein, dass Frauen eigene Töchter bei der Kinderaufzucht unterstützen, während die Beziehung zu Schwiegertöchtern konfliktreicher ist. Schwiegermütter kontrollieren die jungen Frauen, um die Vaterschaft ihrer Söhne zu sichern, und beuten sie zugunsten eigener Nachkommen aus. Das schadet der Gesundheit der Schwiegertöchter und führt zu Früh- und Totgeburten sowie zu erhöhter Säuglingssterblichkeit. Walther L. Fischer analysierte auf Grundlage der mathematischen Diagramme von Ruhe, Bewegung und Beschleunigung die “Formen des Verlaufs kultureller Prozesse”. Als Präzisierung von Redensarten wie “Halbwertszeit des Wissens” betont er, dass ein Basiswissen erhalten bleibt (etwa die Klassische Mechanik im Alltagshandeln), dass aber immer mehr spezielle Wissensarten hinzukommen. Ferner gibt es Sättigungseffekte und Paradigmenwechsel sowie Stile und Moden des Wissens. Beschleunigungen werden immer durch Kräfte verursacht. Im Bereich der Kultur wirken sich vor allem interkulturelle Kontakte als beschleunigende Kraft aus. Dieser Effekt ist umso deutlicher, je weiter Kulturen auseinanderliegen; man vergleiche etwa die Weltbilder, die dem Deutschen und dem Chinesischen zugrundeliegen. 2. Zeit im Kopf des Menschen Der zweite Themenblock begann mit Eilo Hildebrands Vortrag “Die zeitliche Ordnung biologischer Prozesse und unsere subjektive Zeitempfindung”. Zeit wird, da spezielle Organe fehlen, immer indirekt wahrgenommen. Das menschliche Zeiterleben beruht auf mindestens vier Mechanismen, die sequentiell und hierarchisch geordnet sind. Jede höhere Stufe setzt die tieferen Stufen voraus, beinhaltet aber eine neue Qualität. Die Wahrnehmung von (Un-) Gleichzeitigkeit ist modalitätsspezifisch. Die zeitliche Auflösung des Hörens liegt bei 3 ms, Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 137 die des Sehens bei 50 ms. Ungleichzeitigkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Wahrnehmung einer zeitlichen Ordnung; diese erfordert einen Reizabstand von 25-40 ms. Die subjektive Gegenwart, das “Jetzt”, liegt in allen Kulturkreisen bei 2-3 Sekunden und spiegelt sich in der Struktur des Sprechens (Gedichtzeilen) und Musizierens (Takte). Trotz dieser “Stückelung” erleben wir Zeit als kontinuierlich, da aufeinander folgende Bewusstseinsinhalte semantisch verknüpft sind. Die Schätzung der Dauer längerer Zeitabschnitte hängt ab von Menge und Struktur der Information, vom Gedächtnis sowie von Aufmerksamkeit, Motivation und Gemütszustand. Die bekannte Empfindung, dass die Zeit mit zunehmendem Alter immer schneller vergeht, wird durch zwei Hypothesen erklärt. Arithmetisch gesehen macht ein Jahr einen immer kleineren Teil des bereits erreichten Alters aus (mit 10 Jahren 10%, mit 80 Jahren 1,2%). Zum anderen verläuft ein Jahr für alte Menschen oft einförmig, ist wenig mit Erlebnissen gefüllt und erscheint daher im Rückblick als kurz. Manfred Wechsberg bot Einblicke in “Nanochemische Vorbedingungen für menschliches Zeitempfinden”. Die Reizfortleitung in Nervenfasern erweist sich als große Leistung der Evolution, die keine metallischen Leiter (mit Lichtgeschwindigkeit) zur Verfügung hatte. Raffinierte Einzellösungen wie Ionenpumpen, Fettisolierung und Neurotransmitter zur Überwindung des Synapsenspalts erlauben Signalgeschwindigkeiten bis zu 100 Metern pro Sekunde. Überlebenswichtige Reflexe sind mit wenigen Millisekunden die schnellsten motorischen Reaktionen. Sie unterstehen nicht dem bewussten Willen, da höhere kognitive Funktionen wegen des hohen Vernetzungsgrades mehr Zeit benötigen. Dass wir Gesichter und andere komplexe Objekte in Sekundenbruchteilen erkennen können, beruht auf der parallelen Arbeitsweise des Gehirns. Lage, Farbe, Bewegung usw. werden getrennt verarbeitet, um Gedächtnis- und Gefühlskomponenten ergänzt und wieder integriert. Zeitökonomie scheint eine Grundkonstante der Evolution zu sein, wobei die chemisch-hormonelle Signalausbreitung bewirkt, dass unsere Gefühlswelt träger ist als das neuronal basierte Denken. Bernhard Ruso stellte anhand der “Wahrnehmung von Jahreszeiten” die evolutionäre Bedeutung biologischer Mechanismen dar. Alle Lebewesen nehmen Jahreszeiten wahr, v.a. anhand der Tageslichtdauer. Strategien der Anpassung an wechselnde Temperaturen und Wassermangel reichen vom Laubabwurf der Laubbäume über den Winterschlaf bis zu saisonalen Wanderungen. Auch der menschliche Körper ist jahreszeitlichen Rhythmen unterworfen, so sind im Winterhalbjahr Empfängnisbereitschaft, Schlafbedürfnis, Körperfettgehalt und Blutdruck höher. Ferner ist das Immunsystem weniger leistungsfähig und die Zahl der Todesfälle steigt. Weil der Mensch körperlich an die Savanne (also an niedrige Breitengrade) angepasst ist, sieht man die sog. “Winterdepression” als Indiz mangelhafter Anpassung an verkürzte Tageslängen. Saisonale Bräuche wie Sonnwendfeiern gehören zum ältesten Kulturgut. Und obwohl sich der Mensch durch Klimaanlagen und globalen Handel weitgehend von jahreszeitlichen Zwängen befreit hat, scheint er doch ein Bedürfnis nach Saisonalität zu haben. Anderenfalls würde es z.B. dem Handel nicht gelingen, immer neue Feste wie Valentinstag und Halloween einzuführen. Alfred K. Treml und Michael Weigel umrissen unter dem Titel “rhythmos - kairos - chronos” die pädagogische Bedeutung von Zeiterfahrungen. Wenn man Zeit in bewusster Abgrenzung von rationalistischen Ansätzen als Produkt der organischen und kulturellen Evolution sieht, muss man drei Zeitbegriffe unterscheiden. “Rhythmus” als biologischer Terminus bezeichnet die Anpassung von Lebewesen an wiederkehrende Umweltereignisse, etwa durch eine innere Uhr. Der psychische Terminus “Kairos” bezeichnet Augenblicke, die Dagmar Schmauks 138 durch starke Emotionen ausgezeichnet sind. Während es in der Antike nur um den rechten Augenblick (Glück, Erfolg) ging, zählen hier auch Momente der Enttäuschung und des Leids zum Kairos. Der soziale Begriff “Chronos” schließlich bezeichnet Zeit als abstrakte Bezugsgröße und Maßeinheit, abgelöst von konkreten Erfahrungen. Alle drei Begriffe sind auch in der Pädagogik wichtig, können aber kollidieren. Stundenpläne und Curricula sollten den Biorhythmen von Jugendlichen entsprechen. Kairos-Erlebnisse, also fruchtbare Augenblicke, lassen sich nicht herbeizwingen, man kann ihnen lediglich günstige Rahmenbedingungen schaffen. Gruppenunterricht ist immer ein Kompromiss zwischen einzelnen Lernvorlieben (Rhythmus) und Zeitökonomie (Chronos). 3. Die Bedeutung der Zeit in verschiedenen sozialen Kontexten Andreas Mehl untersuchte “Gefühlte, gedeutete und gemessene Zeit bei Griechen und Römern”. Auch antike Ausdrücke belegen, dass die inhaltlich gefüllte und bewertete Zeit für menschliches Weltverständnis grundlegender ist als die gemessene. Zeitspannen bis zu einem Jahr waren durch naturnahe Arbeiten verständlich, längere Dauern wurden nur ungenau angegeben. Erst Heldenchronologien machten Zeitangaben wichtig - interessanterweise gleichzeitig mit ersten Landvermessungen. Erst als die Christen nicht mehr glaubten, Christus würde noch zu ihren Lebzeiten wiederkehren, wurden Abschätzungen der Zukunft nötig. Zukunft als Differenz zwischen gesamter und bereits verstrichener Zeit musste sorgfältig genutzt werden. Einerseits wollte man die Schrecken der Endzeit weit hinausschieben, andererseits möglichst schnell durch sie hindurch das Paradies gewinnen. Im Gegensatz zu neuzeitlichen Fortschrittsvorstellungen sahen unsere Vorfahren die Geschichte als ständigen Abstieg, man denke an Hesiods Menschengeschlechter. Eine Detailanalyse zeichnet die Geschichte der Stunde nach. Sonnenuhren als früheste Zeitmesser haben grundlegende Nachteile: sie geben nur bei Sonnenschein die Stunden an und deren Länge wechselt jahreszeitlich. Dennoch behaupteten sie sich in einer landwirtschaftlich geprägten Welt noch lange gegen die aufkommenden Wasseruhren. Jürgen Zwernemann analysierte “Die Zeit bei westafrikanischen Völkern”. Wie in allen agrarischen Kulturen sind Tag, Mondphasen und Jahreszeiten grundlegende Zeiteinheiten. Der 24-Stunden-Tag beginnt bei den untersuchten Völkern bei Sonnenuntergang, der lichte Tag mit dem ersten Hahnenschrei. Die Einteilung des Tages orientiert sich am Verhalten von Tieren und an menschlichen Handlungen (Besuch des Marktes). Die festliegenden Markttage einzelner Orte liefern Bezeichnungen für Wochentage (“Markt von Bogu”). Monate beginnen mit Erscheinen der neuen Mondsichel und haben keine festgelegte Länge. Sie orientieren sich an Naturprozessen (Regenvs. Trockenzeit, Stand bestimmter Sternkonstellationen) und entsprechenden Handlungen wie dem Säen, Hacken und Ernten bestimmter Früchte. Der Mondmonat kann von einem Ritualmonat überlagert werden, der Götter- und Ahnenkulte regelt. Während Jäger- und Sammlerkulturen ihre Toten schnell vergessen, tradieren sesshafte Gruppen ihre Genealogien. Hierbei kommen Manipulationen vor, man übertreibt etwa ruhmfördernde Ereignisse und überspringt Personen, die dem Ansehen der Herrscherfamilie geschadet haben. Ausgehend von eigener Lebenserfahrung stellte Roland Girtler den “Zeitbegriff in der alten bäuerlichen Kultur und sein[en] Wandel” dar. Während Bauern früher weitgehend autark waren und sich an Jahreslauf und Wetter orientierten, sind heutige Bauern spezialisierte und erfolgsorientierte Unternehmer. Bis zur Zeit Cäsars begann das offizielle Jahr im Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 139 März, der Zeit der Aussaat. Im bäuerlichen Jahr galt dies weiterhin, so war im christlichen Heiligenkalender zwischen den Stichtagen Josefi (19. März) und Michaeli (19. September) die Hauptarbeit zu tun. Zahlreiche Bauernregeln, in denen das Erfahrungswissen vieler Generationen gespeichert ist, legen den Beginn bestimmter Arbeiten fest und sagen Wetterlagen vorher. Freizeit war unbekannt, es gab nur heilige Sonn- und Feiertage, saisonale Feste (Maibaumaufstellen) und Feste zu bestimmten Anlässen (Hochzeit). Felder wurden durch Feldarbeiten gemessen, so ist “ein Joch” die Fläche, die an einem Morgen mit einem Joch (= zwei) Ochsen gepflügt werden kann. Die alte bäuerliche Kultur war eine Kultur der Langsamkeit. Man gab Pflanzen und Tieren die ihnen eigene Zeit, war zu Fuß unterwegs und hatte genug Muße, um Entgegenkommende zu grüßen und mit ihnen zu plaudern. Zusammen mit den Fußwegen, die zu allen wichtigen Zielen führten, ist auch diese “Kultur der Wege” verschwunden. Hartmut Heller sprach “Über die Vielgestaltigkeit von Zeit und Geschwindigkeit im 90- Minuten-Spiel Fußball”. Kulturethologische Analysen von Spielen decken viele ins Unblutige transponierte Verhaltensweisen unser jägerischen Vorfahren auf, so entspricht der Ball der Waffe, das Tor dem Beutetier, das Foul der Ahndung von Tabubrüchen. Seit Jahrtausenden gibt es Ballspiele, die der Körperertüchtigung oder kultischen Zwecken dienen. Fußball bekam 1863 ein Regelwerk, das auch die Zeitstruktur festlegt: 90 Minuten in zwei Halbzeiten (Lateralsymmetrie! ). Der Schiedsrichter wacht wie Gott Chronos bis zum Schlusspfiff über das Geschehen, das Spiel zeigt ständige Tempowechsel, und das Publikum wird mit rund 2.000 Ballkontakten je Spiel (= 26 pro Minute) optimal gefordert. Fußball wurde zu einer Metapher unserer Zeit, die viele gesellschaftliche Prozesse von Ökonomisierung und Internationalisierung bis zur Emanzipation der Frau anschaulich macht. Wichtige Spiele beinflussen das gesamte Handeln, sogar der Gang zur Toilette muss in die Halbzeitpause gelegt werden. Durch Einsatz mehrerer Kameras ist der Zuschauer nicht nur live dabei, sondern sieht auch alles aus mehreren Perspektiven. Ein mediengeschichtlicher Exkurs belegt die ständig zunehmende Beschleunigung der Bilder. Aber auch das Spiel selbst ist durch Optimierung von Training, Ernährung, Ausrüstung und medizinischer Betreuung immer schneller geworden. So legten Spieler 1985 schon durchschnittlich 10 km pro Spiel zurück, während die “Helden von Bern” (1954) es nur auf 3 km brachten. 4. Beschleunigungen in der Kulturtechnik Otto Schober untersuchte den “Aspekt der Geschwindigkeit in der Kulturgeschichte des Lesens”. Im Mündlichen sind Sprechen und Hören mit je rund 125 Wörtern in der Minute synchron. Das Schreiben ist etwa zehnmal langsamer als das Sprechen, und die Geschwindigkeit des Lesens hängt von vielen Faktoren ab, wobei wie überall in der Wahrnehmung eindeutige Muster wichtig sind. Erst allmählich entwickelte das Schriftsystem konsistente optische Hilfen, die eine beschleunigte visuelle Wahrnehmung erlauben. Die heutige Schrift als Mittelding zwischen Laut- und Begriffsschrift begünstigt ein rasches stilles Lesen von bis zu 1.000 Wörtern pro Minute. Wichtige Visualisierungsmittel sind die eindeutige Erfassbarkeit des Wortstamms (unabhängig von der Aussprache), Leerzeichen, Großbuchstaben, Zeichensetzung und Worttrennung. Die Rechtschreibreform führte in manchen Bereichen zu einer Variantenschwemme, die den Schreiber eher verunsichert als ihn unterstützt. Sascha Möbius belegte die “Beschleunigung von militärischen Bewegungen im 18. Jahrhundert am Beispiel der preußischen Taktik in den Schlesischen Kriegen”. Die Quellen Dagmar Schmauks 140 beschreiben zwei wichtige Ausbildungsziele, nämlich schnelles Schießen und Laden (was entsprechende Waffen voraussetzt) sowie schnelle Angriffe mit dem Bajonett. Letztere sollten den Feind in Angst versetzen und in die Flucht schlagen, setzten aber ein geordnetes Vorrücken der Linien voraus (“Lineartaktik”). Erhöhte Geschwindigkeit minimierte also eigene Verluste und hatte zugleich eine psychologische Wirkung auf den Gegner. Eine Analyse der Schlachten zeigt, dass ein solides elementartaktisches Grundwissen es trotz mangelnder Kommunikation auf dem Schlachtfeld erlaubt, der Situation entsprechend flexibel und erfolgreich zu handeln. Voraussetzung ist allerdings permanenter Drill und folglich eine verlässliche Finanzierung. Unter dem (wunderbar mehrdeutigen) Schlagwort “Kampf mit der Uhr” analysierte Matthias Rogg “Zeit, Strecke und Geschwindigkeit im I. Weltkrieg”. Geäußerte Hoffnungen, durch neue Techniken würden moderne Kriege in kürzester Zeit entschieden, erfüllten sich nicht, da dieselbe Technologie auch lang anhaltende Verteidigung möglich machte. Truppenbewegungen und Nachschub wurden immer schneller (Eisenbahn), Waffen immer zerstörerischer (Maschinengewehr, Gas), und neue Erfindungen wie die Gewinnung von Stickstoff aus der Luft machten lange Kämpfe möglich. Fernsprecher und Telegraph gewährleisteten die immer exaktere Koordinierung der einzelnen Gefechtshandlungen, Filme eine schnelle Kriegsberichterstattung und -propaganda. Die hohen Verluste zu Kriegsbeginn führen zu extrem verkürzten Ausbildungszeiten und folglich zu schlecht ausgebildeten Soldaten. Während frühere Schlachten meist nur einen Tag dauerten, brachte der moderne Stellungs- und Abnutzungskrieg ganz neue Zeiterfahrungen mit sich. Der Tag-/ Nachtrhythmus wurde umgekehrt, heftige Kämpfe wechselten mit Phasen quälender Langeweile, und der einfache Soldat hatte keine Möglichkeiten der Zeitgestaltung. Der Zwang zu exakter Zeitmessung führte dazu, dass sich im Verlauf dieses Krieges die Armbanduhr massenhaft verbreitete. Klaus Nagel fragte: “Wo bleibt die Zeit? Computer werden immer schneller! Was machen wir mit der gesparten Zeit? ” Die Geschwindigkeit von Rechnern wird gesteigert, indem man Taktfrequenzen erhöht, mehr Teilaufgaben je Takt erledigt oder mehrere Rechner parallel an derselben Aufgabe arbeiten lässt. Auch die Miniaturisierung der Schaltungen - von Röhren über Transistoren zu Halbleiterchips - machte Rechner schneller. Heutige PCs sind bzgl. Speicherplatz und Geschwindigkeit für Alltagsaufgaben überdimensioniert: Als Paradoxon ist die Anzeige von Uhrzeit und Datum aufwändiger das Eingeben des Textes selbst. Höchstleistungsrechner braucht man für die Darstellung bewegter Bilder (Computerspiele) und vor allem für Untersuchungen komplexer Zusammenhänge von der Klimasimulation bis zur Erdölsuche. 5. Begrenztes Leben - vermehrtes Wissen Ausgehend von einer Analyse der Termini “Geschwindigkeit” und “Beschleunigung” illustrierte Walter Klinger die “Akzelerierende Wissenskumulation in der Naturwissenschaften - aufgezeigt am Beispiel der Physik”. Da der Mensch ein “Lineardenker” ist, übersteigt exponentielles Wachstum sein Vorstellungsvermögen. Zwischen 1945 und 2003 ist das physikalische Wissen exponentiell angestiegen, wenn man folgende Maßeinheiten verwendet: Anzahl der physikalischen Veröffentlichungen (sowohl der Artikel als auch der Monographien), Neugründung von Fachzeitschriften, Seitenzahl von Physical Review sowie Zahl wissenschaftlicher Tagungen - allerdings hat sich die Beschleunigung ab 1970 verlang- Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 141 samt. Gründe für diese Zuwächse sind die Förderung physikalischer Forschung, die Verbesserung der Messtechnik sowie die Entwicklung ganz neuer Forschungsgebiete (etwa Kernphysik und Laseroptik). Auf qualitativer Ebene führt der Veröffentlichungsdruck (“publish oder perish”) dazu, dass auch kleinste Wissenszuwächse sofort und möglichst mehrfach publiziert werden, was zu einer unüberschaubaren Anhäufung zusammenhangloser Wissenssplitter führt. Angesichts dieser Wissenskumulation werden Datenbanken, Informationsdienste und der “Science Citation Index” immer wichtiger. Das Studium sollte grundlegende Theorien vermitteln, deren Kenntnis das Einprägen vieler Einzeltatsachen überflüssig macht. In Allgemeinbildenden Schulen muss Physik als Studium Generale gelehrt werden, das Einblick in Denk- und Arbeitsweisen des Physikers gewährt. Sein Ziel ist ein qualitatives Verständnis physikalischer Sachverhalte, das zur Lebensbewältigung beiträgt. Bärbel Weber referierte über “Die Beschleunigung menschlicher Entwicklung durch organisiertes Lernen - Der Begriff des ‘Vergeschwinderns’ bei Pestalozzi und seine Konsequenzen für eine veränderte Konzeption von Unterricht”. Pestalozzi konnte in seinen jahrzehntelangen Untersuchungen zeigen, dass Bildung natürlichen Gesetzen folgt, die der Unterricht sorgfältig beachten sollte. Jeder Lerninhalt muss den drei Naturanlagen Physis, Intellekt und Sittlichkeit entsprechen und der Unterrichtsverlauf sich an Entwicklungsstand und -tempo des Schülers anlehnen. Das Elternhaus, das von einer natürlichen Bindung an die Kinder ausgehen kann, schafft die Grundlagen einer Elementarbildung, auf der die Schule systematisch aufbaut. Konkrete Erfahrungen werden über die Stufenfolge “beobachten - in Tätigkeit bringen - reden - zeichnen - schreiben” zu Lerninhalten, wobei sich der Erfahrungsradius immer mehr ausdehnt. Geordnete und individualisierte Übungen, die natürliche Entwicklungsschritte spiegeln, bewirken ohne Überforderung eine Beschleunigung des Lernens (“Vergeschwindern”). Max Liedtke untersuchte den “Beschleunigungfaktor ‘Lernen’” hinsichtlich evolutionstheoretischer und kulturethologischer Aspekte. Der gesamte Funktionskreis der Erziehung - von Brutfürsorge und Brutpflege bis zum institutionalisierten Unterricht - baut wie alle Aspekte kultureller Evolution auf biologischer Evolution auf. Für jeden Organismus ist es von Vorteil, wenn er “weiß”, wo er Ressourcen findet, sei dieses Wissen nun genetisch fixiert oder gelernt. Während “Lernen” rund 1 Milliarde Jahre in unsere Stammesgeschichte zurückreicht, beginnt “Erziehung” als sozial vermitteltes Lernen erst vor 300 Millionen Jahren. Jüngste Forschungen ergaben, dass bereits Kraken durch Imitation lernen können. Durch diese Fähigkeit, eigene Erfahrungen weiterzugeben und umgekehrt fremde zu übernehmen, wird Kultur überindividuell und das Gesamtwissen wächst immer schneller an (ein Sonderfall sind genetische Kenntnisse, durch die der Mensch in seine eigene Evolution einzugreifen beginnt). Die Abschätzung der Geschwindigkeiten ist schwierig, da sie disziplinspezifisch sind und rein quantitative Messungen unbefriedigend bleiben. Unabhängig von der Frage, ob die Menge des Wissens begrenzt ist, wird Forschung in der Praxis durch ihre Finanzierbarkeit begrenzt. Das rasche Wachstum des Wissens hat neben unbestreitbaren Vorteilen auch Nachteile. Den enorm angewachsenen technischen Möglichkeiten steht nämlich keine entsprechende Verfeinerung kognitiver oder gar emotionaler Fähigkeiten gegenüber, wir handeln also weiterhin aufgrund eines Kanons von Antrieben und Wertungsmustern, der zu Beginn der Menschheitsgeschichte längst ausgebildet war. Die Philosophie bezeichnet diesen Befund oft als “wachsende Kluft zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen”. Dagmar Schmauks 142 Zusammenfassung Der Tagungsband trägt zahlreiche Facetten zum Thema “Zeit” zusammen und spannt dabei den Bogen von biologischen Grundlagen bis zu Detailuntersuchungen in Alltagskultur und Wissenschaft. Er liest sich sehr gut, da dichte theoretische Abhandlungen sich mit sehr griffigen Darstellungen abwechseln, die aus eigener Lebenserfahrung der Autoren erwachsen sind. Auch die Mischung von historischen Darstellungen und Analysen der Gegenwartskultur ist abwechslungsreich und damit leserfreundlich. In der Zusammenschau zeichnet sich die Ambivalenz von Wissenszuwachs deutlich ab und der Band endet sehr durchdacht mit der Feststellung, dass wir zwar fraglos immer mehr wissen, aber zugleich immer weniger verbindliche Vorstellungen darüber haben, wie wir mit diesem vielen Wissen etwas für alle Sinnvolles bewirken wollen. Der Untertitel des Tagungsbandes stellt “Beschleunigung” und “Verlangsamung” gleichberechtigt nebeneinander, in den Artikeln wird leider die Verlangsamung sehr wenig thematisiert. Hier könnte man auf einer Folgetagung auch Ansichten zu Wort kommen lassen, in denen Termini wie “Entschleunigung”, “Slow Life” und deren Sonderfälle wie “Slow Food” zentral sind. Wunderlich und korrekturbedürftig wirkt die Geschlechterverteilung, und zwar sowohl bei den Teilnehmern als auch bei den Themen: Achtzehn männlichen Autoren steht eine einzige Autorin gegenüber, und keiner der Beiträge untersucht das geschlechtstypische Eingebundensein in die Zeit. Ist dieser blinde Fleck etwa noch ein Nachhall der auf Seite 206 zitierten Ansicht von Otto Koenig, das weibliche Geschlecht sei “traditionell mehr dem Innendienst verpflichtet”? Dann ist es Zeit (! ), dies zu ändern. Das spezifisch weibliche Zeitverhalten ist ein sehr ergiebiger Untersuchungsbereich, da auch hier eine zunehmende Abkopplung von biologischen Rhythmen vorliegt, v.a. durch Hormonzufuhr (Empfängnisverhütung, Herauszögern der Menopause). Reizvoll wären auch Analysen typischer Frauenzeitschriften, deren Rubriken alle Zeitbegriffe aufgreifen, etwa Modetrends (Rhythmus), Styling für ein erfolgreiches Date (Kairos) und die Logistik der Weihnachtsvorbereitung, beginnend mit der Bestellung der Öko-Gans im Frühjahr (Chronos). Das Format ist handlich und der Satzspiegel gut lesbar, sehr wünschenswert wären allerdings einige informative und auflockernde Abbildungen (es gibt lediglich einige Diagramme). Auch Querverweise wären hilfreich, da Themen wie die “innere Uhr” und die verschiedenen Messverfahren für den Wissenszuwachs von mehreren Autoren detailliert abgehandelt werden. Eher banal, aber dennoch ärgerlich ist das höchst eigenmächtige Handeln des Trennungsprogramms - insbesondere, weil auf S. 228 die Wichtigkeit der Worttrennung als Dekodierungshilfe betont wird! Es produziert allerlei Unsinn wie • “Ges-taltung” (26) • “Anth-ropologin” (49) und • “demonst-riert” (89, vgl. 301). Einen Erkenntnisblitz bewirkt allerdings die Trennung “Beg-riffe” (74, vgl. 224) - man sieht es deutlich vor seinem geistigen Auge, wie das hoffnungsfroh zu großer Fahrt ausgelaufene Forschungsschiff auf gefährliche Untiefen (eben die Beg-Riffe) aufläuft. Bei Beseitigung solch spaßiger Idiosynkrasien sollte man dem Trennungsprogramm auch gleich abgewöhnen, einzelne Vokale und Diphtonge unschön abzutrennen wie in Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 143 • “E-pochen” (144) • “Ü-berwindung” (154) • “Ä-gypter” (195) und • “Au-sentfaltung” (317). Als Hohe Schule der Leserfreundlichkeit könnte man dann noch missverständliche Trennungen wie “Messer-gebnis” (300) vermeiden, was natürlich ein kluges Menschenauge voraussetzt.