eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums: Facetten des Raumerlebens

61
2008
Dagmar Schmauks
kod311-20145
Review Article Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums: Facetten des Raumerlebens Dagmar Schmauks Hartmut Heller (ed.): Raum - Heimat - fremde und vertraute Welt. Entwicklungstrends der quantitativen und qualitativen Raumansprüche des Menschen und das Problem der Nachhaltigkeit. Wien und Münster: LIT 2006. 384 Seiten, 29,90 , ISBN 3-8258-0040-7. Die seit 1976 jährlich stattfindenden “Matreier Gespräche für interdisziplinäre Kulturforschung” analysieren kulturelle Phänomene auf der Basis der Kulturethologie. In seinem Vorwort zum vorliegenden Band knüpft der Herausgeber Hartmut Heller an die Tagung 2004 an, deren Vorträge unter dem Titel “Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit” zahlreiche Phänomene der Zeitbeschleunigung und -verlangsamung in verschiedenen Disziplinen, Epochen und Kulturräumen untersuchten (s. die Rezension von Schmauks in diesem Heft von Kodikas/ Code, S. 135-143). Schwerpunkt der Folgetagung 2005 war komplementär das Erleben von Räumen unterschiedlichster Art unter der Leitfrage, inwieweit Nähe und Heimat auch im Zeitalter von Globalisierung, Weltraumforschung und Nanotechnologie noch eine Bedeutung haben. Die 20 Beiträge sind in vier Gruppen gegliedert, die im Folgenden den Abschnitten entsprechen. 1. Ontogenetische, epochenspezifische und kulturvariante Bedingungen von Raumbewusstsein Einleitend skizzierte Otto Schober die “Entstehung und aktuelle Bedeutung der Proxemik”. Die Proxemik wurde in den 1960er Jahren vom amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall begründet und untersucht, wie Menschen in kulturabhängiger Weise unterschiedliche Räume empfinden und nutzen. Menschen haben nicht nur feste Territorien wie viele Tiere, sondern um ihren jeweiligen Standort herum auch einen persönlichen Raum mit vier geschachtelten Distanzzonen (intime, persönliche, soziale und öffentliche Distanz). Der zweite Teil des Vortrags zeichnete nach, wie die Annahmen der Proxemik durch eine detaillierte Talkshow-Analyse von Christine Kühn belegt werden und sich das Nonverbale als gleichberechtigt zum Verbalen erweist. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 146 Bärbel Weber untersuchte “Raumwahrnehmung: Die Veränderungen in der Ontogenese und die Konsequenz für die Gestaltung von Lernprozessen”. In traditionalen Gesellschaften hat der Säugling ständig Hautkontakt mit der Mutter und wird lange gestillt. Nach dem Laufenlernen erobert sich das Kind schrittweise die Nachbarschaft, lebt mit Kindern aller Altersstufen zusammen und übernimmt altergemäße Aufgaben, die in Subsistenzkulturen unverzichtbar sind. Das Jugendalter endet mit der Initiation, der Aufnahme in den Erwachsenenstatus. Moderne Kulturen bieten weniger körperliche Nähe (Kinderbett) und folglich Ersatzobjekte (Schnuller, Kuscheltiere). In Städten kann der Aktionsradius nicht gefahrlos wachsen, und die hochspezialisierte Arbeitswelt macht eine Ausbildung allein durch Beobachtung unmöglich. Folglich bietet die heutige Umwelt zwar viele Herausforderungen und Chancen, hemmt aber auch natürliche Entwicklungsschritte. Extrem lange Jugendphasen führen zu eigenständigen Jugendkulturen und folglich zu Generationskonflikten. Abschließend wird gezeigt, wie die vier von Rupert Riedl unterschiedenen Anschauungsformen in einem Unterricht gefördert werden können, der sich an natürlichen Entwicklungsschritten orientiert. Andreas Mehl sprach über “Griechen und Römer in neuen Lebensräumen: die Frage nach der Anpassung”. Die Griechen drangen seit Alexander dem Großen bis Zentralasien mit seinem küstenfernen Kontinentalklima vor. Die Römer kamen bis nach Britannien, also in viel kühlere und feuchtere Gebiete. Die jeweilige Anpassung an neue Raumbedingungen betrifft alle Grundbedürfnisse, vor allem Nahrung, Kleidung und Wohnung. Während Weinstöcke auch weit nördlich der Alpen gedeihen, braucht der Ölbaum das Mittelmeerklima. Da jedoch Olivenöl als Grundnahrungsmittel galt, musste es für die römischen Soldaten in alle Provinzen exportiert werden. In kühleren Klimazonen ergänzte bzw. ersetzte man Tunika, Toga und Sandalen durch Kapuzenumhänge, lange Hosen, warme Unterwäsche und geschlossene Schuhe. Die römische Bautechnologie mit Fußbodenheizung und (Doppel-)Glasfenstern war auch für kalte Gebiete geeignet. Die Beispiele zeigen also, dass Menschen sich nicht nur durch ihr Verhalten (Kleidung, Ernährung) dem neuen Lebensraum anpassen, sondern umgekehrt auch Teile der neuen Umgebung ihren Bedürfnissen anpassen (Bau geschlossener heizbarer Gebäude). Diese Umkehr der natürlichen Anpassungsrichtung ist der Hauptzweck menschlicher Technik. Sie eröffnet dem Menschen erhebliche Freiräume, führt aber auch dazu, dass künftige Generationen sich an die von Menschen geschaffenen Umstände anpassen müssen. Jürgen Zwernemann analysierte “Raum und Raumvorstellungen bei westafrikanischen Savannenvölkern”. Die untersuchten Völker unterscheiden zwischen vertrauter Umgebung und fremder Umwelt, haben aber keinen abstrakten Raumbegriff. Traditionell bewohnt eine erweitere Familie ein Gehöft mit festliegender Struktur. Frauenhäuser haben einen 8-förmigen, Männerhäuser einen rechteckigen Grundriss. Die Anordnung der Gebäude folgt dem Weg der Sonne und bildet zugleich den Lebenslauf ab: Ganz im Osten liegt das Haus der Frau (und der Geburten), ganz im Westen liegen die Gräber der Ahnen. Das dorfnahe Familienfeld wird von allen gemeinsam bearbeitet, ferner liegende Buschfelder können den Nutzer wechseln. Das gesamte besiedelte Land gehört übernatürlichen Mächten, die es den ersten Siedlern durch Vertrag überlassen haben. Jenseits dieser Kulturlandschaft beginnt die fremde Umwelt, der Busch, die Wildnis. Bekannt sind nur seine dorfnahen Teile, in denen die Frauen Holz und Früchte sammeln, und die Pfade zu Nachbardörfern. In den unbekannten Busch, in dem es gefährliche Tiere und feindliche übernatürliche Mächte gibt, wagen sich nur Jäger, die Gegengifte besitzen und sich durch Amulette schützen. Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 147 Thema von Christa Sütterlin waren “Denkmäler als Orte kultureller Erinnerung im öffentlichen Raum”. Denkmäler sind zunächst nur Orte des derzeitigen öffentlichen Raumes, die erst durch zusätzliche Hinweise (Namen, Inschriften, Jahreszahlen) zu Erinnerungsorten werden. Antike Hermen markierten Wege und Grenzen, dienten also dem Schutz nach Außen. Ihre Gestaltung als Phallus leitet sich aus dem Drohimponieren von Primaten her. Denkmäler hingegen, die an identitätsstiftende Ereignisse erinnern, befinden sich im Inneren oder gar Zentrum eines Territoriums. Sie gehen oft auf Ereignisse zurück, die ihrerseits einen Anspruch auf Raum erhoben haben. Gruppenidentität definiert sich nur in Frühzeiten rein räumlich-territorial, mit dem Wachsen der Gemeinschaften entstehen immer mehr identitätsstiftende Symbole (Gründungsakte, Landeswappen, Fahnen, Uniformen usw.). Diesen Ablauf illustriert ein Abriss der Denkmälerkultur Wiens, die vier Hauptschichten aufweist, nämlich das Heilige Römische Reich deutscher Nation, den deutschsprachigen Kulturraum, die Österreichische Republik und die Wiener Stadtgeschichte mit ihren Lokalheiligen. Annette Scheunpflug referierte über “Lernen in der Globalisierung? Anmerkungen aus anthropologischer Perspektive”. Der heutige Mensch ist mit kognitiven Programmen ausgestattet, die auf die Lösung von Problemen zugeschnitten sind, die sich in der Frühzeit unserer Stammesgeschichte stellten. Dieses sog. “privilegierte Lernen” reagiert auf sinnliche Eindrücke, konkrete Gefahren, Zusammenhänge im Lebenskontext und soziale Beziehungen mit Anwesenden. Die zunehmende Globalisierung hingegen stellt neue komplexe Probleme wie rasanten sozialen Wandel, enormes Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern sowie ständig steigenden Ressourcenverbrauch. Ferner hat ein weltumspannendes Kommunikationsnetz bewirkt, dass Vertrautheit nicht mehr an räumliche Nähe gebunden ist. Diese Situation bedarf eines ganz anderen abstrakten Lernens, das es folglich zu fördern gilt. Es baut zwar auf privilegiertem Lernen auf, löst sich aber durch die Schrift und andere Symbole vom Konkreten. Bernhart Ruso und Markus Mayer untersuchten “Evolutionäres Webdesign” unter der Leitfrage: “Wie findet sich der Jäger und Sammler des Pleistozäns im World-Wide-Web zurecht? ” Für die Wahrnehmungsmechanismen des Menschen, der ursprünglich an Savannen angepasst ist, sind virtuelle Räume wie die von Fernsehen und Computer eine große Herausforderung, die ein überlegtes Design erleichtern kann. Die Struktur komplexer Websites wird bereits beim Überfliegen verstanden, wenn sie den Gestaltgesetzen entsprechen, die sich auf Gleichheit, Geschlossenheit, Nähe und Symmetrie beziehen. Qualitätskriterien sind die klare Trennung von Navigations- und Inhaltsbereichen, die leichte Lernbarkeit und Konsistenz der Symbole, transparente Möglichkeiten der Benutzerkontrolle sowie Fehlerrobustheit. Ein interessanter Sonderfall sind virtuelle Landschaften von Computerspielen, die dieselben emotionalen Reaktionen hervorrufen wie reale Landschaften. So wie unsere Vorfahren solche Landschaften bevorzugten, die Ressourcen, Deckung und Überblick boten, schätzen Benutzer Websites mit mittelhoher Informationsdichte, die kohärent und leicht lesbar sind, aber auch eine ausreichende Menge verborgener Information (“mystery”) versprechen. 2. Auseinandersetzungen mit der Bergwelt Der zweite Themenblock war als Hommage an den in den Hohen Tauern gelegenen Tagungsort Matrei gedacht und untersuchte die zwiespältigen Beziehungen von Menschen zu Gebirgen. Diese werden einerseits als Orte von Gefahr und Bewährung aufgefasst, während sie andererseits ein zeitweiliges Eintauchen in die frühere harmonische Einheit von Mensch und Dagmar Schmauks 148 Natur zu versprechen scheinen. Aber gerade diese “Ursprünglichkeit” von Gebirgen geht durch ihre zunehmende Verwandlung in kommerzialisierte “Erlebniswelten” immer mehr verloren. Roland Girtler charakterisierte “Die Heimat der Bergbauern: Sehnsucht und Geschäft”. Feldforschungen in Bergdörfern ergeben ein facettenreiches Konzept von Heimat im Spannungsfeld zwischen dem vertrauten Ort samt seinen Symbolen (Dialekt, Tracht, Bauweise usw.) und der gezielten Vermarktung einer nostalgisch inszenierten Kulisse. Für frühere Dienstboten war Heimat ein Wunschort, der ein stilles Glück mit selbstbestimmter Arbeit versprach und nur selten etwa durch Einheirat wirklich erworben wurde. Ein literarischer Topos ist der Mensch, der nach zahlreichen Abenteuern in der Fremde endlich in seine Heimat zurückkehrt, und nach Homers Odysseus nennen wir solche Irrfahrten “Odyssee”. Seit der Industrialisierung entwickelte sich eine nostalgische Verklärung des einfachen bäuerlichen Lebens, die das Konzept “Urlaub auf dem Bauernhof” erfolgreich machte. Dem ökologisch interessierten Urlauber wird dabei oft eine Lebensform mit gemischtem Viehbestand, Trachten und Heimatabenden vorgeführt, die real längst untergegangen ist. Vor allem die Alm wird für städtische Sehnsüchte zur “Erlebniswelt”, zum “Refugium von Tradition und Nostalgie”. Ein abschließender Exkurs diskutiert das Problem Heimat für die Nachkommen verbannter Österreicher in Siebenbürgen. Im 18. Jahrhundert siedelten sich dort österreichische Protestanten an, die man wegen ihrer Religion vertrieben hatte. Doch auch diese neue Heimat zerbrach, als nach dem Ende des Kommunismus die jungen Leute ihr Glück im Westen suchten. Die zurückgebliebenen älteren Menschen fühlen sich von den Weggezogenen verraten, die sich nun in Deutschland und Österreich mit Siebenbürger Trachten und Gebräuchen als besonders heimatverbunden darstellen. In seinem öffentlichen Abendvortrag fragte Alfred K. Treml “Warum steigen Menschen (freiwillig) auf die Berge? ” Evolutionstheoretisch betrachtet scheint Bergsteigen sinnlos zu sein, denn der Bergsteiger nimmt wissentlich erhebliche Anstrengungen und Gefahren auf sich, nur um in lebensfeindlichen Regionen unterwegs zu sein. Eine genauere Betrachtung ergibt jedoch zwei evolutionäre Vorteile. Im Kontext der natürlichen Selektion kann Bergsteigen angeborene Bewegungsprogramme unter realen Bedingungen (Gelände, Wetter) in optimaler Weise üben und verfeinern. Dieses Motiv wurde erst in der Moderne wichtig, als es galt, den beruflichen Bewegungsmangel in der Freizeit zu kompensieren. Extrembergsteigen als Sportart hauptsächlich von jungen Männern wird im Kontext der sexuellen Selektion verständlich, denn die Ausübenden zeigen sowohl potentiellen Sexualpartnerinnen als auch Konkurrenten, dass ihre Fitness und überschüssigen Reserven gute Gene versprechen. Neuere Entwicklungen relativieren diesen Befund, denn heute ist (Expeditions-)Bergsteigen so teuer geworden, dass vor allem ältere Männer teilnehmen, die nicht mehr für ihre genetische Überlegenheit werben müssen. Viktor Ladstätter leitete eine Exkursion ins Defreggen und untermauerte sie geschichtlich unter dem Titel “Periodische Abwesenheit und Heimatverlust: Defregger Wanderhandel, gegenreformatorische Protestantenvertreibung und moderner Tourismus”. Die Geschichte des Tales ist durch eine besondere Spannung zwischen Heimat und Fremde gekennzeichnet. Ab dem 16. Jahrhundert konnte die Landwirtschaft die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren, so dass sich die Bauern im Winter einen Zusatzverdienst durch Hausierhandel verschafften. Dessen allmähliche Ausweitung machte Lager, bessere Transportmittel und eine Anpassung an städtische Bedürfnisse nötig. Zum Sortiment zählten zunächst nur heimische Produkte (Birnmehl, Zirbenholzschüsseln), später vor allem Decken, Handschuhe und Strohhüte. Zur Hochblüte des “Kompaniewesens” Ende des 18. Jahrhunderts bestanden Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 149 Handelsbeziehungen bis nach Vorderasien, Ägypten und Amerika. Mit zunehmender Industrialisierung waren die in Heimarbeit hergestellten Waren nicht mehr konkurrenzfähig und “stehende Geschäfte” lösten den Warenvertrieb durch Hausierer ab. Einige Strohhuthändler schafften den Übergang zum Fabrikanten, bis der Erste Weltkrieg und die hutlose Mode diesem Wirtschaftszweig ein Ende setzten. Ein besonderes Kapitel ist die Ausweisung der Protestanten 1666-1725, die sich teils in Süddeutschland ansiedelten, teils ihrem Glauben entsagten und zurückkehrten. Diese Vorgänge wurden lange totgeschwiegen, ihre gemeinsame Aufarbeitung führte erst 2002 zu einer Versöhnungsfeier. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Bergsteiger ins Defreggen und der Tourismus wuchs durch bessere Verkehrsanbindungen und Unterkunftsmöglichkeiten ständig. Diese Entwicklung hat auch Schattenseiten, da dem einsetzenden Bauboom auch kulturell wertvolle Bauernhäuser und ertragreiche landwirtschaftliche Nutzflächen zum Opfer fielen. Man setzte einseitig auf Tourismus, dessen Höhepunkt heute vielleicht schon überschritten ist. 3. Selbstbestimmte und unfreiwillige Lebensräume Unter der Leitfrage “Wie viel Wohnung braucht der Mensch? ” formulierte Hartmut Heller einige “Eingangsbemerkungen zum Größenwandel der Privatsphäre”. Im Jahr 2005 bewohnte jeder Deutsche 40,5 qm - eine Fläche, die im Vergleich mit anderen Epochen und Kulturen sehr groß ist. Im Mittelalter waren die Räume für Vieh und Vorräte größer als die eigentliche Wohnung, die nur eine heizbare Stube, Küche und Kammer umfassten. Erst viel später kamen Kinderzimmer und Innentoiletten hinzu. Während wohlhabende Familien immer geräumiger wohnten, brachte das 19. Jahrhundert für manche Gruppen besondere Elendsverhältnisse mit sich. An den Dorfrändern entstanden Tagelöhnersiedlungen und in den Großstädten lichtlose Mietskasernen, in deren überbesetzten Räume oft schichtweise geschlafen wurde. Die im 20. Jahrhundert einsetzende Stadtflucht führte zu Eigenheimen in Gartenstädten, aber auch zu Flächenzersiedlung und steigendem Verkehrsaufkommen. Diesen mitteleuropäischen Verhältnissen stehen Megastädte in anderen Weltgegenden gegenüber, in deren Slums zahllose Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Als Fazit ist festzuhalten, dass auf der Stufe des Dahinvegetierens die Raumansprüche des Einzelnen sehr tief liegen. Erst bessere wirtschaftliche Bedingungen lassen Vorstellungen von größeren, differenzierteren und schöneren Räumen entstehen. Max Liedtkes Vortrag “Der Platz für Schüler” untersuchte “Kulturethologische Aspekte in der Entwicklung der schulischen Sitzmöbel”. Schulen in unserem Sinne gibt es seit Beginn der sumerischen und ägyptischen Hochkulturen etwa 3000 v.Chr. Ganz am Anfang dürften die Schüler auf dem Boden gesessen haben, dann verlief die Entwicklung (wie wir vor allem aus bildlichen Quellen wissen) von antiken Lehm- und Steinbänken über Hocker und lehnenlose Holzbänke des Mittelalters bis zu vielsitzigen sog. “Subsellien”. Diese hatten bereits Rückenlehnen, abgeschrägte Schreibflächen, Abstellplätze für das Tintenfass sowie Fächer für Bücher und Hefte, aber auch entscheidende Nachteile: Die Schüler konnten weder ohne Störung ihrer Nachbarn aufstehen noch vom Lehrer individuell betreut werden, die Größe der Bänke war normiert und der Fußboden schwer zu reinigen. Ab etwa 1870 wurden daher zweisitzige Schulbänke in mehreren Größen eingeführt, die in einer kippbaren Variante auch die Bodenreinigung erleichterten. Jedes neue Sitzmöbel hatte also Vorteile für den Unterricht, aber auch höhere Entstehungs- und Folgekosten (höherer Raumbedarf, folglich mehr Klassenräume und Lehrpersonal). Sobald sich die Zweierbank durchgesetzt hatte, entstanden zahl- Dagmar Schmauks 150 reiche aufwändig gestaltete Varianten (“Luxurierung”). Das Artefaktpaar <Schulbank und Tintenfass> illustriert kulturelle Ko-Evolution sehr anschaulich, da etwa die kippbare Bank ein neues ausgeklügeltes Tintenfass-Design nötig machte. Abschließend ist zu bemerken, dass auch Schulmöbel dazu beitragen, dass der moderne Mensch ein “sitzender Mensch” geworden ist, was die bekannten orthopädischen und physiologischen Probleme mit sich bringt. Matthias Rogg untersuchte “Geschlossene Räume in der geschlossenen Gesellschaft: Das ‘Objekt’ Kaserne in der Nationalen Volksarmee der DDR”. Zu den Insignien des Militärs zählt neben Uniform und Gewehr vor allem die Kaserne. Sie trägt zur Disziplinierung und Militarisierung von Gesellschaften bei und ist “der in Stein gemauerte Anspruch des Staates auf das Gewaltmonopol”. Bereits im Altertum gab es feste Truppenunterkünfte, was eine ständige Präsenz von Soldaten, eine gute Infrastruktur und ausreichende finanzielle Mittel einer Zentralgewalt voraussetzte. Die Konzentrierung von Soldaten in Massenquartieren steigert nicht nur die Qualität der Ausbildung, sondern auch die Kontrollmöglichkeiten. Diese Zusammenhänge lassen sich am Beispiel der NVA belegen. Da Berufssoldaten auch nach Dienstschluss ständig erreichbar sein mussten, war ihr privater Aktionsbereich äußerst begrenzt. Heimfahrten waren nur selten möglich und das ghettoähnliche Wohnen in Einödstandorten erschwerte Kontakte zu Zivilisten. Die in der Propaganda betonte “klassenlose Gesellschaft” der DDR erweist sich schnell als Mythos, denn während Führungskader auf Kosten der Armee zu privaten Häusern und Reisen kamen, lebten die Mannschaften unter ständiger Kontrolle und Schikanen in Kasernen mit oft miserablen Sanitäreinrichtungen. Folglich waren Gewaltdelikte und Alkoholexzesse häufig, was die Zivilbevölkerung aber nur durch Flüsterpropaganda erfuhr, weil offiziell das überhöhte Bild einer “sozialistischen Soldatenpersönlichkeit” gepflegt wurde. Hartmut Heller stellte unter dem Titel “Stratigraphie des Heimatbegriffs” die wichtigsten Bedeutungsschichten vor. Im Mittelalter bezeichnete “Heimat” vor allem Grundbesitz; diese “Heimstatt” bewirkte Geborgenheit (emotionale Komponente). Sein Gegenbegriff war das “Elend” der Landlosen. Durch die unverzichtbare Einbindung der Heimstätten in größere Gemeinschaften hat Heimat eine soziale Komponente. Als im Barock die irdische Heimat unter dem Eindruck von Kriegen und Seuchen brüchig wurde, konzentrierte sich die Sehnsucht der Menschen auf eine unzerstörbare Heimat im Jenseits (spirituelle Komponente). Die Romantik fügt eine retrospektive Komponente hinzu, da sie Vergangenheit zu einer “guten alten Zeit” verklärt. Die Gründerjahre dehnten die Handelsbeziehungen aus und beschleunigten alle Lebensabläufe, folglich erhielt Heimat als Schutzinsel in einer fremden Welt eine exklusive Komponente. Eine agrarromantische Komponente entstand, als Dorf und Kleinstadt mit zunehmender Verstädterung wieder geschätzt wurden. Die NS-Zeit vermischte diese Einstellung mit einer Rassenlehre und entwickelte unter dem Schlagwort “Blut und Boden” eine aggressive Komponente. In der Nachkriegszeit fanden zahllose “Heimatvertriebene” eine “neue Heimat” und belegten so, dass sich der Mensch nacheinander an mehrere Orte binden kann (polyvalente Komponente). Die Nostalgiewelle der 1970er Jahre mit ihrer neuen Wertschätzung des Alten erzeugte eine folkloristische Komponente, die aber nur in Nahraum und Freizeit wirkt (Altstadtfeste, Kochrezepte, Trachten usw.). Die Gegenwart kennzeichnet ein ungewisses Heimatgefühl (fraktionale Komponente): Deutsche besitzen Ferienhäuser oder Altersdomizile im Ausland und umgekehrt viele Arbeitsmigranten und Aussiedler eine neue Heimat in Deutschland. Insgesamt hat die Sehnsucht nach Heimat eine doppelte Richtung, denn man möchte sich nach außen abgrenzen und selbst in der Mitte befinden. Wie weit man dabei den Radius zieht, hängt von vielen Erfahrungen ab, als Tendenz assoziieren jedoch die meisten Menschen mit “Heimat” kleine Räume wie den Wohnort. Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 151 Marie-France Chevron sprach über “Die Stadt als Heimat. Zu den Grundproblemen eines fragwürdigen Verhältnisses”. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist ambivalent, denn während Heimatfilme oft die anheimelnde Landschaft der hektischen Großstadt gegenüberstellen, leben faktisch die meisten Menschen der Industrienationen in Städten. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich, wenn man die Stadtentwicklung evolutiv betrachtet. Die Stadt als relativ späte Entwicklung ist charakterisiert durch zunehmende Berufsspezialisierung und neue Raumorganisation. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erzeugte einen weltweiten Entwicklungsschub in Richtung von “Megastädten”. Weil sie zahllose heterogene Kristallisationspunkte enthalten, an die sich das Zugehörigkeitsgefühl der unterschiedlichen Gruppen bindet, werden vor allem Städte mit Heimatverlust assoziiert. Heimatgefühl ist nämlich an einen klar definierten Raum und die damit verbundenen Symbole gebunden. Nur überschaubare Kulturlandschaften (im Gegensatz zur “Wildnis”, aber auch zu Megastädten) können als Heimat gelten. Förderlich für ein Heimatgefühl ist das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, das heute zugunsten von Beziehungen zu anderen Weltstädten oft verlorengeht. Auch Umweltzerstörung, Überbevölkerung sowie extreme Verschiedenheit der Symbolik führen zu chaotischen Zuständen und zu einem Verlust des Heimatgefühls. Burgis Heller untersuchte “Heimatlieder. Herzenslandschaften, Klischeebilder und geographische Beliebigkeit”. Eine Sichtung oft gesungener Lieder ergibt, dass sie zwar oft konkrete Landschaften nennen (“Thüringerlied”, “Westfalenlied”), diesen Bezug aber so vage halten, dass jeder in den idealtypischen Landschaften - stilles Tal, dunkler Wald, Stadt am Strom usw. - seine eigene Heimat wiedererkennen kann. Ein sehnsuchtsvoller oder gar schwärmerischer Text wird mit eingängigen Melodien verknüpft, die man leicht behalten und mitsingen kann. Häufige Themen sind die Schönheit der Heimat, das Heimweh in der Fremde und die Hoffnung auf glückliche Heimkehr, wobei manche Lieder unter den extremen Bedingungen von Krieg, Gefangenschaft oder Arbeitslager entstanden sind. Die Kategorie “Heimatlied” umfasst aber nicht nur eigentliches Volksgut, sondern auch allgemein bekannte Kunstlieder, Musical- und Operettenmelodien sowie Gassenhauer. Bundes- und Landeshymnen sind Heimatlieder, insofern sie die Schönheit des Landes und die Treue der Bevölkerung preisen. In Verbindung mit Nationalstolz und Kampfbereitschaft entstehen martialische Lieder bis hin zu solchen, die den Opfertod verherrlichen. In den letzten Jahrzehnten sind neue “Heimatlieder” gedichtet worden, die das regionale Identitätsgefühl stärken und zur touristischen Vermarktung eines Gebietes beitragen sollen (“Rennsteig-Lied”, Kufstein- Lied”). 4. Vorstöße des Menschen in abstrakte Raumvorstellungen Gustav Reingrabner fragte “Heilige Stätte - heiliger Ort - heiliger Raum: eine Entwicklung? ” Einleitend werden drei Beispiele für die “Verheiligung von Orten” vorgestellt: Taizé in Frankreich, das “Haus des Petrus” am See Genezareth und die Taufstelle Jesu am Jordan haben alle keine spirituelle Tradition, sondern wurden innerhalb weniger Jahrzehnte als sakrale Orte etabliert. Solche Entwicklungen verlaufen in bestimmten Stufen. Ausgangspunkt ist immer ein bestimmter abgegrenzter Ort, an dem die Gegenwart einer Gottheit erlebt worden ist. Oft handelt es sich um Quellen, Flüsse, besondere Bäume oder Felsen sowie Höhlen. Der Platz wird gesichert, abgesondert und damit tabuisiert, manchmal werden Altäre errichtet oder Ausschmückungen angebracht. Die Offenbarung wird beschrieben und als Kultlegende tradiert. Wenn lokale Kulte sogar nach einem Religionswechsel weiter bestehen, Dagmar Schmauks 152 führt man dies auf einen “Ort besonderer Kraft” zurück (“Erdstrahlenkreuzung” oder dgl.). Wallfahrtsorte sind oft mit sehr profanen Interessen verbunden: sie präsentieren die herrschende Kirche, überzeugen Abtrünnige, domestizieren Untertanen und stärken die Macht lokaler Institutionen. Heilige Stätten können sich weit ausdehnen, wenn man zu ihnen heilige Pilgerstraßen mit “sekundär heiligen” Etappenzielen baut. So entsteht eine Vielfalt spezialisierter und hierarchisch geordneter heiliger Orte (etwa “Patrona Bavariae” vs. lokale Marienheiligtümer). Umgekehrt verlieren heilige Orte ihre Bedeutung, wenn ein Heiliger im Alltag nicht mehr wichtig ist (Vieh-, Pestpatron) oder ein Ort in einem Ballungsraum verschwindet. Walther L. Fischer untersuchte “Raumformen - Formen im Raum. Zur Geschichte geometrischen Denkens: Von der Höhlenmalerei zur nacheuklidischen Geometrie” Schon Tiere müssen sich im Raum orientieren, und die apriorische Raumanschauung des Menschen stammt aus den Erfahrungen (dem Aposteriori) unserer tierischen Vorfahren. Das begriffliche Erfassen von Raumformen und Formen im Raum hingegen ist durch etliche Stufen historisch gewachsen. In der Phase der Prä-Geometrie nimmt der Mensch die Formen seiner Umwelt wahr und beginnt sie in Plastiken und Bildern nachzuahmen, die vor allem magische Funktion haben. Diese Abbilder von Tieren und Menschen werden oft mit ideogrammartigen Ritzungen und Schraffuren versehen. Die Entwicklung verläuft von Linien(scharen), Rechtecken, Ovalen und Dreiecken bis zu Netzen und Spiralen. In der Phase der Proto-Geometrie wird das Repertoire der geometrischen Figuren ausdifferenziert und verfeinert. Bauliche Konstruktionen wie das megalithische Newgrange spiegeln ein präzises astronomisches Wissen wider, das jahrhundertelanger Beobachtung entstammt. Auf der Stufe der naiven Geometrie werden die Formtypen alltagssprachlich benannt (etwa das Trapez als “Ochsenkopf”) und rechnerisch behandelt. Die empirische Geometrie der Babylonier und Ägypter diente der Landvermessung sowie dem Hoch- und Tiefbau. Man fertigte Grund- und Aufrisse an und vermittelte alle Kenntnisse bereits in Schulen. Die Geometrie als theoretische Wissenschaft begann mit Thales von Milet (um 600 v.Chr.), der einige elementargeometrische Sätze formulierte. Euklid (etwa 365-300 v.Chr.) gründete die axiomatisch-deduktive Mathematik, die Grundbegriffe explizit definiert und alle Sätze nach Schlussregeln aus Grundannahmen (Axiomen) ableitet. Die nach-euklidische Geometrie hat sich in viele Teilgeometrien aufgefächert, die zunehmend abstrakter werden und sich vom Raum der alltäglichen Erfahrung weit entfernt haben. Eine ähnliche Auffächerung und Abkopplung vom Alltagshandeln zeigt “Der Raum in der modernen Mathematik”, dessen Vielfalt Klaus Nagel nachzeichnete. Das Register mathematischer Handbücher enthält eine große Vielfalt von Räumen, die dem Laien oft gar nichts sagen wie “Affiner Raum” oder “Kompakter Raum”. Der dreidimensionale Raum unserer Anschauung hat Eigenschaften wie Volumen, Abstand, Dimension, Linearität, Unendlichkeit und Gleichartigkeit (Isotropie), und es ist zu klären, wie die mathematischen Räume mit diesem Anschauungsraum zusammenhängen. Die Aufstellung zeigt, dass die genannten Eigenschaften in den verschiedenen Räumen in je spezifischen Kombinationen gefordert werden. Wenn etwa nur Volumen gemessen werden soll, so erhält man Maßräume. Ein prominentes Beispiel ist der Wahrscheinlichkeitsraum, der alle möglichen Ausgänge eines Versuchs in systematischer Ordnung aufzeichnet. Im metrischen Raum kann man Entfernungen messen und im linearen Raum lineare Operationen (Addition, Multiplikation) ausführen. Im topologischen Raum hingegen geht es nur um Nachbarschaftsbeziehungen. Da diese auch bei Verzerrungen erhalten bleiben, ist das automatische Erkennen von Handschriften eine alltagsrelevante Anwendung der Topologie. Zwischen den vielen Räumen bestehen also deut- Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 153 liche “Familienähnlichkeiten”, was eine Subsumierung unter den Oberbegriff “Raum” rechtfertigt. Abschließend stellte Walter Klinger unter dem Titel “Von Parsec- und Nanoräumen” die “Spannweite der Raumdimensionen in der Physik” vor. Die Begrifflichkeit des dreidimensionalen Raumes erfordert ein Bezugssystem, und dieses ist in Phylo- und Ontogenese zunächst egozentrisch. Obwohl schon in der Antike das geozentrische Weltbild manchmal bezweifelt wurde, bewirkte erst Kepler den endgültigen Durchbruch des heliozentrischen Modells. Da mit bloßem Auge nur die Planeten und wenige helle Sterne sichtbar sind, verbesserte erst die Erfindung des Fernrohrs astronomische Beobachtungen. Optische Teleskope und später Radio-, Infrarot- und Röntgenteleskope dehnten das bekannte Universum immer weiter aus, so dass wir heute einen Bereich von über 30 Milliarden Lichtjahren mit etwa 100 Milliarden Galaxien “überblicken”. Die beobachtete Ausdehnung des Universums wird durch die Urknalltheorie zu erklären versucht. Parallel zu dieser Ausdehnung des Makrokosmos wuchs auch der uns zugängliche Mikrokosmos. Lupen und später Licht-, Elektronen- und Rastertunnelmikroskope drangen immer tiefer in die Materie ein, so dass wir heute auch atomare und subatomare Strukturen erkennen. Eine Anwendung ist die Nanotechnologie, von der man sich u.a. neue medizinische Diagnose- und Therapieverfahren sowie selbstreinigende Oberflächen verspricht. Zusammenfassung Die 20 Beiträge tragen Facetten der Raumwahrnehmung aus vielen Disziplinen zusammen und fördern damit die Einsicht, dass “Raum” ein höchst vielschichtiger Terminus ist. Da jedoch immer herausgearbeitet wird, wie die analysierten Räume mit alltäglicher Raumerfahrung zusammenhängen, entsteht im Kopf des Lesers kein zusammenhangloses Sammelsurium, sondern eine geordnete Struktur, in deren Zentrum nach wie vor der dreidimensionale Wahrnehmungsraum steht (ein linguistischer Beleg wäre etwa, dass wir auch nach Jahrhunderten im heliozentrischen Weltbild hartnäckig von “Sonnenaufgang” reden). Kriege, Naturkatastrophen und Armutsmigration führen dazu, dass heute zahllose Menschen entweder ihre Heimat verlassen müssen oder mit dem Fremden in der eigenen Heimat konfrontiert werden. Dies ist auch kulturethologisch gesehen eine schwierige Aufgabe, da unsere emotionalen und kognitiven Programme an überschaubare Gruppen und Räume angepasst sind. Der Tagungsband ist sehr leserfreundlich, weil die Beiträge nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch sehr verschieden sind. Griffige Zusammenfassungen des aktuellen Forschungsstandes (von der Proxemik bis zur Astrophysik) wechseln mit historischen Aufarbeitungen und materialreichen eigenen Feldforschungen. Im Unterschied zu Gemessene Zeit fehlt leider ein Inhaltsverzeichnis, was nicht nur das Auffinden einzelner Texte, sondern auch den Einblick in deren logischen Zusammenhang erschwert. Erfreulicherweise gibt es nun deutlich mehr Autorinnen, nämlich fünf. Da räumliche Phänomene anders als zeitliche sinnlich wahrnehmbar sind, enthält dieser Band zahlreiche informative Abbildungen, die auch Fachfremden den Einstieg in die Themen erleichtern. Die Sprache ist durchgehend klar und vermeidet unnötige Fremdwörter; nur ganz selten stößt man auf sprachliche Ungenauigkeiten wie “Mitkonkurrenten” (153) und “anthropogen verursacht” (281). Auf Seite 198 oben hat sich ein entstellender Tippfehler eingeschlichen, es müsste “Mitte des 19. Jahrhunderts” heißen; und auf Seite 369 unten wünscht man sich eine “seriösere” Quelle als Wikipedia. Anfechtbar ist ferner die Charakterisierung der gemeinsamen Geschichte von Schülergraffiti Dagmar Schmauks 154 und deren Abwehr als “Ko-Evolution” (233). Es wäre begrifflich klarer, den Ausdruck “Ko- Evolution” für Artefaktpaare zu reservieren, die untrennbar zusammengehören (Pfeil und Bogen, Dose und Dosenöffner). Der Zusammenhang von Graffiti und “Anti-Graffiti” wäre besser als “Rüstungswettlauf” zu beschreiben, da er in einem Kontext von Gegnerschaft stattfindet. Wie in Gemessene Zeit hat das Trennungsprogramm die Sache mit dem “st” nicht verstanden (Ges-talt, 279 und 284), trennt einzelne Vokale unschön ab wie “ü-bereinstimmen” (337, vgl. 252) und macht eigenmächtige Späßchen: Aust-ralien (30), sak-ral (74), Symmet-rie (115), Beg-riff (262 und 338), Af-rika (297) und zent-ral (360). Da für ausführliche Kommentare zu jedem Beitrag kein Platz ist, wähle ich exemplarisch den öffentlichen Abendvortrag von Treml, der als solcher einen besonderen Stellenwert hat und mir als Bergwanderin innerlich besonders liegt. Angesichts der einleitend betonten Gefährlichkeit des Bergsteigens scheinen mir die Ausführungen über Bergsteigen als wirksame Form sexueller Werbung ergänzungsbedürftig, denn Frauen bevorzugen doch wohl einen Mann, der sich auch für mindestens 20 Jahre an Aufzucht und Erziehung beteiligt. Folglich wäre es evolutionär klüger, den häufig abwesenden und ständig von frühem Tod bedrohten Extrembergsteiger nur als Spender seiner brillianten Gene zu benutzen und im Alltag auf einen sozialen Vater mit weniger heroischen aber familienverträglicheren Hobbies zu setzen (dieses Verhalten ist sogar empirisch belegbar - man schätzt, dass rund 4% der Geburten aus solchem “gene shopping” stammen). Auch Ersatzstimulantien wie riskantes Autofahren, Alkohol und Drogen sind zwar als Folge unserer Lebensweise verständlich, die keine echten Herausforderungen mehr bietet, machen aber aus einem Mann noch kein Objekt weiblichen Begehrens. Frauen ist nämlich die beabsichtigte Werbefunktion des “technologischen Pfauenradschlagens” durchaus bewusst (im Gegensatz zur Unbewusstheits-Vermutung auf Seite 143 und 153! ), denn die boshafteren unter ihnen nennen leistungsstarke PKWs mit häufig aufheulenden Motoren nicht gerade damenhaft aber ethologisch sehr treffend “Akustikpimmel”. Als Frau Mitte 50 (und damit klares Gegenbild zum “typischen” Bergsteiger! ) finde ich eine weitere kulturelle Funktion des Bergsteigens viel wichtiger: Je mehr mit dem Alter die Einsicht in die Ambivalenz von “Fortschritt” wächst, desto intensiver weiß man Räume zu schätzen, in denen die zweischneidigen Errungenschaften unserer Zivilisation noch weniger deutlich sind. Und das sind in Mitteleuropa nun einmal insbesondere die Gebirge.