eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Dagmar Schmauks, Semiotische Streifzüge: Essays aus der Welt der Zeichen. Berlin, Lit Verlag, 2007, pp. 250

61
2008
Sarah Thelen
kod311-20166
Reviews 166 Dagmar Schmauks, Semiotische Streifzüge: Essays aus der Welt der Zeichen. Berlin, Lit Verlag, 2007, pp. 250. Dagmar Schmauks’ Semiotische Streifzüge ist eine Essaysammlung, die durch ihre thematische Vielfalt beeindruckt. Vom Unbelebten über Pflanzen, Tiere und Menschen bis hin zu Toten, von Technik über Lyrik, Tanz und Malerei bis hin zum Schimpfwort wird die Zeichenhaftigkeit der Welt skizziert. Die Themenvielfalt macht das Buch geeignet als semiotische Einstiegslektüre, die das Zeug dazu hat, bisher unbewanderte Leser für die Semiotik zu interessieren, denn auch in diesem Wissenschaftsbereich gilt, dass das, was einen praktischen Bezug zur Lebenswelt und nebenbei auch noch seine lustigen Seiten hat, bereitwilliger gelernt wird als trockener Stoff. Eine Einführung in die Semiotik ersetzt das Buch freilich nicht, wie die Autorin im Vorwort betont und wie es auch nicht der Zweck einer Essaysammlung sein kann. Durch die im Inhaltsverzeichnis angedeutete thematische Ausrichtung wird dennoch ein gewisser Anspruch auf semiotische Bezüge erhoben, etwa zur Kultursemiotik, zur Zoosemiotik oder zur Semiotik der Kommunikation. Jedoch will die Autorin laut eigener Ankündigung (S. 6) weitgehend auf eine wissenschaftlich-textuelle Bezugnahme und Untermauerung verzichten und auch keine Terminologie verwenden, die dem Leser zu schwierig sein könnte. Fraglich ist, ob das Buch so funktionieren kann, denn durch die willentliche Entscheidung für ein solches Manko wird zweierlei Problemquellen Vorschub geleistet. Zum einen zeigt sich im Laufe der Lektüre, dass nicht selten Beispiele konstruiert wurden, die sachliche Unstimmigkeiten enthalten. Das direkte Beziehen auf Sekundärliteratur hätte Fehler reduziert, konkrete Literaturangaben hätten der Kritik vorgebaut und den Beispielen zu Validität verholfen. Zum anderen wird durch den weitgehenden Verzicht auf Theorie und Terminologie die Schwierigkeit geschaffen, wie das Buch dem in Titel und Inhaltsverzeichnis proklamierten semiotischen Anspruch gerecht werden soll. Die trotz seiner lobenswerten Grundausrichtung leider vorhandenen Schwächen des Buches sind großteils auf diese vermeintlich leserfreundlichen Beschränkungen zurückzuführen. Im Folgenden soll die dadurch entstehende Problematik an konkreten Textstellen der Semiotischen Streifzüge aufgezeigt werden. Eine tiefere theoretische Auseinandersetzung mit den Inhalten durch Bezugnahme auf den semiotischen Kanon fällt schwer, da das Buch selbst nur sporadisch auf ebendiesen Kanon zurückgreift. Schon im Kleinen stolpert der Leser darüber, dass Gedankengänge nur unzureichend begründet und damit nicht plausibel oder dass die angeführten Beispiele nicht schlüssig sind. So hatte z.B. der Frühmensch durchaus keinen Grund, “neidisch” die arbeitsteilige Jagd von Wölfen zu beobachten (S. 104), denn bereits die dem Frühmenschen vorausgegangenen Australopiticinen jagten arbeitsteilig (vgl. Burenhult 2004). Sollten sie sich Jagdstrategien abgeschaut haben, dann allenfalls die von Raubtieren der afrikanischen Steppe und nicht die des Wolfes. Als der Homo Erectus Afrika verließ, war er bereits ein mit allen Wassern gewaschener Großwildjäger. Ebensowenig trifft es zu, dass das Sprichwort “jemandem die Hölle heiß machen” im Kontext von Wut verwendet wird (S. 161). Laut dem Wörterbuch der deutschen Idiomatik bedeutet es lediglich, jemandem heftig zuzusetzen (Duden Bd. 11 2008, 368); zu Wut besteht kein ursächlicher Zusammenhang. Besonders verwunderlich ist es, dass im Buch von Wörtern mit “zwei gleichbetonten Silben” (S. 163) die Rede ist und als Beispiele etwa “Scherzkeks” oder “Hanswurst” angeführt werden. Auch ohne ein Studium der Linguistik ist durch Aussprechen feststellbar, dass ein zweisilbiges Wort im Deutschen eine betonte und eine unbetonte Silbe hat, niemals jedoch zwei gleichbetonte. Gerade in diesem Fall wäre ein Überprüfen besonders einfach gewesen. Im Deutschen Universalwörterbuch von Duden ist die Betonung beider Wörter als auf der ersten Silbe liegend angegeben (Duden 2006, 759 u. 1455), in anderen Nachschlagewerken ist “Hanswurst” auf der zweiten Silbe betont oder beide Betonungsmöglichkeiten sind angegeben. Zu achten ist auch auf die korrekte Schreibweise von Eigennamen: Brechts Mackie Messer schreibt sich nicht “Macky” (S. 186), wie man in der Dreigroschenoper nachlesen kann (Brecht 1968, 7). Es ließe sich argumentieren, dass solcherlei Detailfehler zwar keinen guten Eindruck mach- Reviews 167 ten, aber nicht von besonderer Wichtigkeit seien, zumal sie nur die Beispiele und nicht den theoretischen Kern betreffen. Dieses Buch ist aber ein besonderer Fall: Es lebt fast ausschließlich von Beispielen, ja sie machen nicht das Bei-, sondern geradezu das Hauptwerk aus und sind der zentrale Bereich des Buches. Tauchen innerhalb der Beispiele immer wieder Unkorrektheiten auf, stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Inhalte. Ähnlich irritieren die oben erwähnten unplausiblen Gedankengänge. Wie soll der Leser nachvollziehen, dass die Zuschauer eines Straßenkünstlers laut Schmauks “wie Automaten” wirken (S. 225)? Allein deren passives Zuschauen ist keine rechte Begründung für einen solchen Vergleich. Wieso findet Schmauks, dass das Konzept “fallen” in Magrittes Gemälde Le soir qui tombe mit “positiven Assoziationen” (S. 212) aufgeladen sei? Die Erläuterung der angeblich positiven Assoziationen erschöpft sich darin, dass das Bild einen Witz darstelle und Neugier erzeuge. Die Grundlage für eine derartige Bewertung ist also ausgesprochen mager. Warum soll das Mitfahren auf Sattelschleppern und Eselskarren die soziale Kompetenz erhöhen (S. 140)? Die Aussage bildet nichts als ein Klischee ab und ist höchstens als Eigenlob der Autorin zu verstehen, die von sich berichtet, schon häufig mit den genannten Verkehrsmitteln gereist zu sein. Solcherlei Zufriedenheitsbekundungen mit sich selbst streut die Verfasserin recht häufig ein, was als weiterer kritikwürdiger Punkt betrachtet werden kann. Es liest sich nicht angenehm, wenn ein Autor durch sein gesamtes Buch hindurch nicht müde wird, sich selbst zu loben. Bereits im Vorwort schreibt Schmauks mehrfach, wie gut gelungen ihr vorliegendes Werk sei. Eigenwerbung wie diese gehört eher hinten auf den Einband; innerhalb des eigentlichen Textes jedoch wenig angebracht sind Kommentare wie der, das Buch sei “sehr leserfreundlich”, werde “viel Freude bereiten” (S. 6), umhülle die Theorie “mit saftigem empirischem Fleisch” oder hebe die “amüsanten Aspekte” der Themen hervor (S. 7). Ein besserer Stil wäre es, die Beurteilung dem Leser selbst zu überlassen und sie ihm nicht (im wahrsten Wortsinn) vorzuschreiben. Im Kapitel über Lebewesen inszeniert sich die Autorin als Anwältin der geschundenen Kreatur, die es sich zum Ziel gemacht hat, “die heutige Wahrnehmung von Tieren” durch eine “Hommage” an dieselben zurechtzurücken (S. 91f). Tiere würden heute gleichzeitig verkitscht, unter erbärmlichen Bedingungen gehalten und dämonisiert. Von ihrem selbstgebauten Podest herunter mahnt sie den Leser, er schulde den Tieren Respekt, ein Appell, der in einem analytischen Text zur Semiotik des Alltags fehlplatziert wirkt. Nebenbei verbirgt sich hier eine weitere Ungereimtheit: Eine solch subjektive Wahrnehmung von Tieren ist keineswegs sonderlich “heutig” - die ganze Menschheitsgeschichte hindurch wurden Tiere verklärt, verteufelt und benutzt, noch nie wurden Tiere so sachlich-wissenschaftlich gesehen wie gerade heute (vgl. Schenda 1995). Ebenfalls selbstdarstellerisch mutet es an, wenn die Autorin mit dem angeblich seltsamen Verhalten von “Zeichenkundigen” kokettiert, das für andere Menschen aussehe wie die Symptome des Tourette-Syndroms (S. 240). Über Fehler in Speisekarten - eines ihrer Beispiele - zu lachen, ist aber durchaus nicht den Mitgliedern einer Geheimwissenschaft vorbehalten, als welche Schmauks die Semiotik hier darstellt. Dem unbewanderten Leser wird ohnehin nicht klar, was an falschgeschriebenen Wörtern semiotisch sein soll. Die Frage bleibt unbeantwortet, da Schmauks lediglich Spekulationen zum Ursprung der falschen Repräsentamene liefert, aber zur Semiose dieser Zeichen nichts aussagt. Dem Leser bleibt das Semiotische daran, das sich nur aus einer Kenntnis der Theorie erschließen ließe, verborgen. Wie in vielen anderen Beispielen auch steht der fehlende theoretische Bezug einem wirklichen Verstehen im Wege. Damit kommen wir nach den Details nun zu den Schwachpunkten des Buches in der weiteren Perspektive. Das im Vorwort gelobte “saftige empirische Fleisch” zeigt sich als nahezu knochenlos. Damit ist es in der Tat sehr leicht zu konsumieren, wird aber nur durch wenig Theoretisches gestützt und gehalten. Schmauks berichtet hauptsächlich von amüsanten Fundstücken oder Begebenheiten aus ihrem Leben, erklärt aber nur hin und wieder deren Zusammenhang mit der Semiotik. Ein Buch, das das Adjektiv “semiotisch” im Titel Reviews 168 führt, sollte die Phänomene, die es beschreibt, zumindest flüchtig unter semiotischen Gesichtspunkten erläutern. Das vorliegende Werk beschränkt sich jedoch häufig darauf, in jedem Kapitel irgendwo zu erwähnen, dass das jeweils Besprochene etwa “in zahlreichen Kontexten als Zeichen wahrgenommen” wird (S. 83). Meist endet jedes Kapitel abrupt mit dem Ende der Beispielschilderung, die zwar unterhaltsam ist, aber ins Leere läuft. Eine schöne Ausnahme ist die kurze und treffende Zusammenfassung am Ende des Kapitels “Der Körper als Zeitaufzeichnungsgerät”, die es schafft, in nur vier keineswegs theorieüberlasteten Zeilen dem Leser den Sinn des Kapitels vor Augen zu führen (S. 118). Was aber z.B. soll am - zugegeben witzigen - Unterkapitel zu Intelligent Design (S. 112ff), welches als Gutachten der Examensarbeit eines gewissen G. Ott aufgemacht ist, semiotisch sein? Die Auseinandersetzung mit Sexualdelikten im Spiegel der Lyrik (S. 175ff) ist höchstens literaturwissenschaftlicher Art, die einzige Verbindung zur Semiotik besteht, wohlwollend betrachtet, in der Erwähnung von Symbolen. Ganze zehn Seiten sind der Jagd als Metaphernspender gewidmet, aber mit Ausnahme dessen, dass Spuren ein “sehr grundlegender Typ von Zeichen” (S. 33) seien, wird keine semiotisch interessante Erkenntnis gewonnen. Auch wenn der Hauptzweck der Semiotischen Streifzüge erklärterweise Spaß ist, sollte der Bezug zur Semiotik gewahrt werden. Schmauks’ Anmerkung im Vorwort, das vorliegende Werk sei nicht als Einführung zu verstehen, ist keine Generalentschuldigung dafür, dass der semiotische Gehalt der Empirie zu oft nicht erklärt wird. Selbstverständlich geht es hier im weitesten Sinne durchweg um Zeichendeutung, aber wo der Bezug nicht klargemacht wird, geht es ebenso semiotisch zu wie in jedem anderen Buch auch, in dem ja ebenfalls beständig Zeichen gedeutet werden. Die Autorin verschriftlicht zu einem großen Teil lediglich ihre eigenen Deutungen, ohne dazu nähere Erklärungen abzugeben. Besonders sichtbar wird das an Kapiteln wie dem zum Schatten, in dem auf dreieinhalb Seiten aufgelistet wird, welche Informationen sich aus Schlagschatten ziehen lassen (S. 48-52). Will man diese Vorgehensweise zur Verdeutlichung auf einen anderen Wissenschaftsbereich übertragen, bietet sich der Vergleich mit einem Ozeanologen an, der behauptet, sein Betätigungsfeld sei das Fischefangen. Um eine leichte Lektüre zu garantieren, gibt Schmauks ihren aus zahlreichen anderen Publikationen bekannten objektiven Ton auf und schießt damit über das Ziel hinaus. Ihr neues Werk würde nicht an Unterhaltsamkeit verlieren, wenn der Theoriegehalt erhöht würde - im Gegenteil könnte dieser dem Leser zu echten Erkenntnissen verhelfen. Trotzdem kann es sich lohnen, die Semotischen Streifzüge zu lesen. Stellenweise sind die Beschreibungen tatsächlich so lustig, dass man nicht umhin kann zu lachen. Damit hat das Buch auf jeden Fall schon einmal den Pluspunkt des Kurzweiligen. Im Lehrbetrieb könnte es sogar sehr nützlich sein, um anhand eines der zahlreichen Beispiele eine gerade durchgenommene Theorie zu erklären und ihren Alltagsbezug aufzuzeigen. Die Semiotischen Streifzüge sind also keineswegs unnütz. Schön wäre es, wenn die Essaysammlung bis zur nächsten Ausgabe auf sachliche Unrichtigkeiten durchgearbeitet und der Bezug zur Semiotik stellenweise deutlicher herausmodelliert würde. So geläutert wäre das Buch ein echter Gewinn. Literatur Duden. 2006. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim et al.: Dudenverlag Duden Bd. 11. 2008. Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Mannheim: Dudenverlag. Brecht, Bertolt. 1968 [geschrieben 1928]. Die Dreigroschenoper. Berlin: Suhrkamp. Burenhult, Göran. 2004. Menschen der Urzeit. Köln: Karl Müller. Hurth, G. & I. Eibl-Eibesfeld. 1975. Hominisation und Verhalten. Stuttgart: Fischer. Schenda, Rudolf. 1995. Das ABC der Tiere: Märchen, Mythen und Geschichten. München: Beck. Sarah Thelen (Dortmund) Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.) Eco-Semiotics. Umwelt- und Entwicklungskommunikation. Francke Verlag 2006, 409 S. 78,- , ISBN 978-3-7720-8184-2 Verständigung über “Umwelt” hat viele Hürden zu überwinden - angefangen von der Definition von “Umwelt” allgemein bis hin zu Sprachbarrieren