eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

chris bezzel: kit. eine kindheit. Langenhagen: Anthemion 2007, 126 S., 7,90 €, ISBN 978-3-9811431-0-2

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2008
Dagmar Schmauks
kod311-20171
Reviews 171 chris bezzel: kit. eine kindheit. Langenhagen: Anthemion 2007. 126 S., 7,90 , ISBN 978- 3-9811431-0-2 “die purpurroten steppdecken auf dem bett der eltern”, “das stöbern in allen schränken als lieblingsbeschäftigung” - mit rund 600 Mosaiksteinchen der Erinnerung lässt Chris Bezzel seine Kindheit in Kitzingen lebendig werden, wo er 1938-1952 bis zum Alter von 15 Jahren lebte. Trotz Bombenangriffen und einem lange abwesenden Vater wächst er mit seinen Schwestern in einem evangelischen Pfarrhaus vergleichsweise behütet auf, denn die Eltern halten Krieg und Politik weitgehend von den Kindern fern. Was ist nun semiotisch oder linguistisch interessant daran, von den Kriegs- und Nachkriegsjahren in einer fränkischen Kleinstadt zu erzählen? Es sollen drei Aspekte herausgegriffen werden, nämlich der Verzicht auf Narrativität, einige Einblicke in die Struktur des Gedächtnisses und der Wandel der Kindheit. Das eigene Leben wird meist als zusammenhängende Geschichte repräsentiert, die von der Geburt bis in die Gegenwart reicht, wobei die frühesten Erinnerungen meist von anderen stammen. Das gilt für ältere Autoren “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” ebenso wie für Medienstars, die schon in zartem Alter ihr pralles Leben niederschreiben. Bezzel hat einen anderen Weg gewählt, denn er überlässt es dem Leser, aus den Mosaiksteinchen ein Bild zusammenzusetzen. Jeder Eintrag umfasst nur wenige Zeilen, selten einmal eine halbe Seite. Manchmal skizzieren einige knappe Sätze eine kleine Szene wie das Herstellen eines Familienfotos. Häufiger ist der Eintrag nur eine Nominalphrase, die ein bestimmtes Objekt, einen Sinneseindruck oder ein Gefühl beschreibt. Zwischen benachbarten Einträgen gibt es keine Übergänge, sie sind lediglich durch Person, Ort und Zeitraum verbunden. Wer andere Texte dieser Struktur sucht, wird am ehesten in der Lyrik fündig. So geben auch Haikus einen abgeschlossenen Eindruck wieder, etwa ein Klassiker von Bashô: Abend im Herbst. Auf einem dürren Ast hockt eine Krähe. Moderne Beispiele sind Bertolt Brechts Gedichte Orges Wunschliste (“Von den Freuden, die nicht abgewogenen”) und Vergnügungen (“Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen”). Man schreibt Erinnerungen auf, um sie für sich selbst zu bewahren oder andere teilhaben zu lassen. Eine optimistische Zukunftsvision ist die rein technische Aufzeichnung des Gedächtnisinhaltes durch “Scannen des Gehirns”, die oft als Weg zur Unsterblichkeit beschworen wird. Kognitionswissenschaftler unterscheiden zwischen semantischem Gedächtnis, also Weltwissen im weitesten Sinn, und episodischem Gedächtnis, in dem biographische Fakten gespeichert sind. Mit begrenztem Weltwissen lässt sich ganz gut leben, aber das episodische Gedächtnis konstituiert die Person - wer seine eigene Vergangenheit verliert, verliert sich selbst. Unser Gedächtnis ist kein Datenträger, auf dem man mühelos mit einem Schlagwort googeln könnte. Manche Erlebnisse lassen sich zwar gezielt auffrischen, indem man externe Quellen hinzuzieht. Man besucht die Orte seiner Kindheit wieder, spricht mit Verwandten und früheren Mitschülern unter der Leitfrage “Weißt du noch? ” und vertieft sich in Fotoalben, Tagebücher und andere Zeitdokumente. Andere Erinnerungen hingegen “überfallen” uns ohne eigenes Zutun, so dass wir eine lange vergessene Szene mit allen Sinnen noch einmal erleben. Besonders mächtige Auslöser sind Geruchs- und Geschmackseindrücke, man denke an Prousts berühmte Madeleine. Wer Erinnerungen aufschreibt, muss eine Reihenfolge wählen. Das Anordnen “so, wie sie kommen” liefert einen den Zufälligkeiten des Erinnerungsvermögens aus. Eine exakt chronologische Anordnung scheidet aus, denn biographische Erinnerungen haben keine lineare Ordnung, so dass man wie bei einem Lied oder Gedicht immer genau “wüsste, wie es weitergeht”. Eine alphabetische Anordnung wie im Wörterbuch scheitert, weil Erinnerungen nicht mit einem Schlagwort versehen daherkommen, und eine Anordnung nach Dingsystemen wie im Thesaurus (“Familie”, “Schule”, “Spiele”…) wäre angesichts persönlicher Erinnerungen überspannt und für den Leser langweilig. Bezzel hat hier einen raffinierten Ausweg gefunden, nämlich eine Art bereinigte Zufälligkeit. Zwar scheint die Reihen- Reviews 172 folge der Splitter beliebig, es wurden aber unmittelbare Wiederholungen vermieden. Besonders Eindrückliches kommt in Wellen immer wieder, etwa Bombenangriffe sowie die Kriegsgefangenschaft und Heimkehr des Vaters. So entsteht die kognitive Karte einer Kindheit und wird um immer neue Tupfen ergänzt - eine pointillistische Geschichtsschreibung. Interessant ist, wie unterschiedlich Kinder und Erwachsene die Welt wahrnehmen. Was für Erwachsene deutlich in Wichtiges und Belangloses geschieden ist, steht für das Kind gleichwertig nebeneinander: Bombenangriffe und Zuckernaschen, Evakuierung und das Salzfass mit dem Silberlöffel. Die große Weltgeschichte erleben Kinder nur punktuell, wenn Tiefflieger auftauchen oder die Väter von Mitschülern als vermisst gelten. Vieles bleibt unverstanden, etwa der Anblick von Leuten mit gelben Sternen oder dass der früher geforderte Gruß “Heil Hitler! ” nach Kriegsende plötzlich verpönt ist. Rückblickend sind auch die Gedächtnislücken interessant, denn sobald man von ihnen weiß, kennzeichnen sie die Unterschiede zwischen eigener und intersubjektiver Geschichte. So weiß Bezzel nicht mehr, ob er eine Schultüte hatte, und erinnert sich nicht an die Kindersendungen im Radio. Größere Lücken entstammen der Strategie der Eltern, politische Ereignisse von den Kindern fernzuhalten, so dass es keine Erinnerungen an Judendeportationen oder die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gibt. Bezzels Erinnerungen bestätigen, dass sich Erlebnisse umso deutlicher einprägen, je stärker sie mit positiven oder negativen Emotionen verknüpft sind. Ferner legen sie einige Einteilungskriterien von Erinnerungen nahe, nämlich die nach verschiedenen Sinnesmodalitäten sowie die in persönliche Erinnerungen vs. familien- und epochenspezifische. Wer mit Zentralheizung aufgewachsen ist, wird erstaunt sein, wie viele metallene Griffe, Schlüssel und Treppengeländer eine geradezu feindliche Kälte ausströmten und dass man sich leicht die Zehen und Ohren anfror. Wärme war etwas Besonderes, das gute Zimmer wurde nur an Festtagen geheizt, und erst Wärmflaschen machten die eisigen Betten mollig. Übrigens erscheint einem die aus der Not des Krieges geborene Sparsamkeit heute am Ende des Ölzeitalters schon wieder ökologisch vorbildlich, etwa das ungeheizte Schlafzimmer, die weiter vererbte Kleidung und die Wiederverwendung des Wärmflaschenwassers. Da Wärme so angenehm ist, wird auch die schöne Formulierung verständlich, dass die Sonne im kleinen Hinterhof “schmerzhaft verschwand”. Weitere epochenspezifische Hauteindrücke sind die kratzigen Wollstrümpfe, der heftig über die Haut gezogene Radiergummi und das Gefühl, das Gesicht mit Mutters Spucke gesäubert zu bekommen. Und schließlich noch die Schmerzen, wenn einem der Lehrer das Ohr verdrehte. Beim Geschmack haben sich seltene Leckerbissen wie Rohrnudeln und das erste Eis nach dem Krieg tief eingeprägt, aber auch besonders Ekliges wie Lebertran und Lungenhaschee. In der vergangenen Geruchswelt gab es duftende Bleichwäsche, molkige Milchkannen, Nachttöpfe und den schalen Geruch abgekühlter Wärmflaschen. Welches heutige Kind weiß noch, wie Maikäfer und zerquetschte Ameisen riechen, oder findet den Duft der Ledersitze eines der seltenen Autos bemerkenswert? Der in den 60er Jahren geprägte Begriff “Klanglandschaft” bezeichnet die Gesamtheit dessen, was in einer Umgebung zu hören ist. Bezzels Beispiele legen nahe, diesen Begriff aufzufächern. Zum einen gibt es epochenspezifische Geräusche wie das Kratzen des Griffels auf der Schiefertafel, das Sirren der Telegrafenmasten und die vielen “Kriegsgeräusche” wie Sirenensignale und Lautsprecherwagen. Daneben steht der unverwechselbare Klangteppich des Elternhauses, zu dessen familiären Lauten das je typische Zuklappen von Dosen und Schränken sowie das Einklinken der Türgriffe gehören. Bei den Gesichtseindrücken sticht das Rot besonders hervor - die Farbe der Steppdecken, Christbaumkugeln und Postautos -, und das Schimmern des Christbaumes. Kindheitserinnerungen werden von verschiedenen Altersgruppen auch ganz verschieden gelesen. Etwa Gleichaltrige setzen ganz automatisch das Erzählte in Beziehung zu selbst Erlebtem und reagieren daher oft ganz parteiisch mit “Ja, genau so war es! ” oder mit “Das war bei uns aber ganz anders! ” Sie werden viele Schlüsselerlebnisse ihrer Alterskohorte wiedererkennen, etwa die sexuelle Aufklärung durch Lexika sowie die feste Struktur der Woche mit Waschtagen, dem sams- Reviews 173 täglichen Bad (alle in demselben Wasser) und der frischen Wäsche am Sonntag. Für heutige Jugendliche wird eine längst untergegangene Welt beschworen, in die man sich nur mit lebhafter Phantasie einfühlen kann. Sie lernen eine Fülle vergangener Geräte wie Schürhaken, Kochkiste, Griffelkasten und Strickliesel kennen und stellen fest, dass Kinder täglich mithelfen mussten, wobei das Kurbeln von Wäschemangel und Kaffeemühle lustvoll war und das Einsammeln von Kartoffelkäfern weniger. Folglich kann kit von Soziologen und Psychologen als Fallstudie zum Wandel der Kindheit benutzt werden. Als wesentlicher Unterschied zu heute fällt auf, dass Kinder täglich viele Stunden unbeaufsichtigt unter sich waren - sie “flogen unter dem Radar” der Erwachsenen. Eine Kleinstadt wie Kitzingen war im wörtlichsten Sinn überschaubar und ein einziger Abenteuerspielplatz, in dem aus heutiger Sicht zahllose Warn- und Verbotsschilder hängen müssten. Da gab es Mauern zum Balancieren, Treppen zum Heraufklettern, Geländer zum Herunterrutschen, Brunnen zum Wassermantschen und sogar Schleppkähne zum Mitfahren. Gespielt wurde oft in Verstecken, die von Erwachsenen selten betreten wurden. Die Häuser hatten Verschläge unter der Treppe, Dachböden voller Gerümpel und “sehr tiefe” Keller; mythische Orte außerhalb waren verbotene Gärten und die abenteuerlichen Ruinen. Immer wieder tauchen die Ausdrücke “herumlungern” und “stöbern” auf, die ein zielloses Erkunden in unverplanter Zeit bezeichnen. Diese Verhaltensweisen sind allen höheren Tieren eigen, ethologisch spricht man von “Spiel” und “Explorationsverhalten”. Inzwischen jedoch sind die Aktionsräume von Kindern und ihre wirkliche “Freizeit” erheblich geschrumpft, während die Beaufsichtigung zugenommen hat. Die reale Welt bietet immer weniger Geheimnisse und Abenteuer, und das früher übliche “Laufenlassen” gilt mancherorts schon als Kindesvernachlässigung. Dieser Prozess hat viele verflochtene Gründe. Weil die Familien kleiner und die Arbeitszeiten kürzer geworden sind, verbringt jedes Kind statistisch mehr Zeit mit seinen Eltern. Freunde wohnen weit verstreut, so dass anstelle von spontanen Spielen mit Nachbarskindern auf wändige Verabredungen getreten sind. Falls Eltern “nur Spielen” für Zeitvergeudung halten und ihren Kindern möglichst viel bieten wollen, erfordert der Besuch von Musikstunden, Ballett und Sportverein zahlreiche Fahrten und eine anstrengende Freizeitlogistik. Einer Untersuchung zufolge ist der sog. “Streifradius” von Grundschulkindern seit den 70er Jahren von 20 auf 4 Kilometer geschrumpft. Städte sind zwar gefährlicher geworden, weil der Verkehr stark zugenommen hat, aber darüber hinaus haben viele Eltern ein übertriebenes Gefahrenbewusstsein entwickelt, in dem Kindesentführungen und andere statistisch seltene Ereignisse einen großen Raum einnehmen. Folglich erwarten sie regelmäßige Rapporte per Handy oder liebäugeln gar mit einem implantierten Chip zur ständigen Überwachung ihrer Kinder. (Nach-)Kriegskinder hatten ein paar Kinderbücher, lauerten auf Lurchis Abenteuer und gingen manchmal ins Kino. Heute hat jedes Kind umfangreiche Medienerfahrungen, und Fernsehen und Computer ersetzen zunehmend das Spielen “draußen”. Angesichts von Schulanfängern, die nicht mehr auf einem Bein hüpfen können, entstehen allerlei Gegenbewegungen. In den USA ist gerade das Dangerous Book for Boys ein Kassenschlager, aus dem man lernt, wie man auf Bäume klettert und Schleudern baut. Andere vertrauen in einem geistigen Salto mortale darauf, man könne die Folgen des Bewegungsmangels, der durch Technik entsteht, mit neuer Technik bekämpfen. So will der Nationale Aktionsplan “In Form” (Juni 2008) die Computerspielindustrie dazu bewegen, mehr bewegungsfördernde Spiele herzustellen, etwa mit wii-Konsole und balance board. Der Leser gewinnt also nicht nur das sehr lebendige Bild einer Kindheit, sondern kann den Text auch als Illustration einiger derzeitiger Fachdiskussionen lesen. Bleibt noch zu erwähnen, dass Literatur sehr wohl ins Leben zurückwirkt. Bezzels Autobiographie hat zumindest dazu geführt, dass sein zwischenzeitlich verschollenes Kinderbuch vom Hühnchen Sabinchen zu ihm heimgekehrt ist. Dagmar Schmauks (Berlin)