Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2
Bernhard Chappuzeau: Transgression und Trauma bei Pedro Almodóvar und Rainer Werner Fassbinder, Stauffenburg: Tübingen 2005, 354 S., ISBN 978-3-86057-873-5
61
2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20174
Reviews 174 Bernhard Chappuzeau: Transgression und Trauma bei Pedro Almodóvar und Rainer Werner Fassbinder, Stauffenburg: Tübingen 2005, 354 S., ISBN 978-3-86057-873-5 Bernhard Chappuzeaus Buch ist aus seiner Dissertation hervorgegangen und handelt von Sexualität und Identität, von Liebe und Gewalt in Zeiten faschistischer Diktaturen in Deutschland und Spanien, verdichtet in den Leitbegriffen Transgression und Trauma, exemplarisch veranschaulicht anhand einer einfühlsamen Interpretation von Filmen der Erfolgsregisseure Rainer Werner Fassbinder und Pedro Almodóvar. Beiden geht es in ihrem filmischen Werk nicht zuletzt um die traumatische Erfahrung homosexuellen Begehrens in heteronormativer, ja dezidiert homophober Umgebung. Diesem Lebensthema geht Chappuzeau nach unter den Suchkategorien genus, memoria und visum. Bezugspol der ersten Kategorie gender im Sinne der diskursiven Repräsentation von Geschlecht als Bestimmungsmoment der sexuellen Identität des Menschen ist Michel Foucaults Ansatz zur theoretischen Konzeptualisierung homosexueller Identität, wonach die gesellschaftlich funktionalisierte Codierung von Homosexualität in enger Verbindung stehe mit gesellschaftlichen Dispositiven der Macht und mit jenen individuell traumatischen Erfahrungen, wie sie in den Filmen von Rainer Werner Fassbinder und Pedro Almodóvar visuelle Gestalt gewinnen. In Foucaults posthum veröffentlichten Schriften Dits et écrits (1994) analysiert der Soziologe Handlungswirkungen der Macht und die traumatische Erfahrung von Gewalt in autoritären Gesellschaften. Die Sexualisierung des Körpers gehe mit einer Technik der Produktion von Wissen und Wahrheiten über den Körper einher; insofern werde sie zum Dispositiv der Macht und in den Zusammenhang der Unterwerfung unter die ‘herrschende’ Moral gestellt. Der literarische Diskurs zur Homosexualität, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Autoren wie Oscar Wilde und André Gide in Erscheinung tritt, hält Foucault für einen Ausdruck der Umwertung des Willens zur Wahrheit. Damit will Foucault eine andere Ökonomie der Körper und der Lüste mit ‘polymorphen Beziehungen’ feststellen, wobei Homosexualität und Masochismus als ein Angriff gegen die patriarchale Gesellschaft zu verstehen seien. Der Zusammenbruch des souveränen und konstitutiven Subjekts ermögliche genußvolle Praktiken der Unterwerfung, die die Sinnkonstruktionen des Patriarchats (Aufwertung der aktiven Sexualität des Mannes, Abwertung passiven Verhaltens) auflösten (cf. S. 35). Die strategische Unterdrückung der Homosexualität und die Art und Weise, wie homosexuelles Verhalten als Form einer erotischen Transgression in faschistischen Regimen wirkt, haben Autoren wie Georges Bataille, Roland Barthes, Gilles Deleuze, Felix Guattari oder Guy Hocquenghem gründlich und gültig reflektiert. Ihre Überlegungen setzt Chappuzeau in erhellenden Bezug zum filmischen Werk von Fassbinder und Almodóvar, aber auch zu anderen international erfolgreichen Filmen. Mit der zweiten Kategorie memoria öffnet der Verf. das Interpretationsfeld von Bewußtsein, Erinnerung und Erfahrung im Wechselblick von kulturwissenschaftlichen und klinischen Konzepten, in denen das Verhältnis von Homosexualität und Trauma im historischen Kontext der faschistischen Regime in Deutschland und Spanien als eine Umwertung autoritärer Machtverhältnisse von Dominanz und Unterwerfung gelesen wird. Chappuzeau deutet den Begriff memoria (mit dessen Ausweitungen false memory und desmemoria) als Hilfskonstruktion einer Reflexion unzugänglicher Erinnerung im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses. Mit dieser Terminologie sucht der Verf. individuelle Traumatisierungen im Kontext von Geschichtsprozessen zu beschreiben. Ausgangspunkt der kulturwissenschaftlichen Fassung von memoria ist hier Freuds Suche nach Erinnerungsspuren des traumatischen Ereignisses im sadomasochistischen Verhalten. Nach diesem (umstrittenen) tiefenpsychologischen Deutungsmuster besteht das ‘Leiden’ des Masochisten nicht im Genuß des körperlichen Schmerzes, sondern in der moralischen Selbstbestrafung. Foucault lehnt diese Sicht der Psychoanalyse ab, denn diese konstituiere und schütze den Wahrheitsdiskurs der Macht. Für ihn sei interessanter, die Machteffekte der Groteske zu untersuchen, um damit die Unvermeidbarkeit der Macht als Wesen der disqualifizierten Souveränität des Herrschers hervorzuheben und das gewaltvoll- Reviews 175 sexuelle Verhältnis als Dominanz-Submissions- Beziehung zu verstehen. Vor diesem Hintergrund konstruiert der Verf. einen Zusammenhang zwischen dem Umgang der nachfolgenden Generationen mit der Vergangenheit der Diktaturen in Deutschland und Spanien und den spezifischen Darstellungen von Körper, Geschlecht, Sexualität als unterschiedlichen Konzeptualisierungen von nationaler Identität: in der Gegenüberstellung des leidenden Körpers und des leidenschaftlichen Körpers werde der Blick frei auf nationale Identitätskonstruktionen, die in der Unvergleichbarkeit der spanischen Situation nach Franco und der deutschen Situation nach Hitler wurzelten. Die dritte Kategorie visum schließlich zieht die Traum- und Schattenbilder oder Visionen homosexuellen Begehrens zu einem neuen filmanalytischen Begriff zusammen. In der Interpretation von über 20 Filmen Fassbinders und Almodóvars Filmen zwischen 1969 (Götter der Pest) und 2004 (La mala educación) arbeitet Chappuzeau den Gender-Trauma-Komplex durch die Analyse von Schatten- und Traumbildern heraus. Fassbinders Film Faustrecht der Freiheit (1974) hat autobiografische Hintergründe und stellt den Zusammenhang her zwischen gay liberation und der Akzeptanz der eigenen Sexualität. Der Film illustriert zugleich die Fortschreibung von Klassenunterschieden und die Entstehung einer schwulen Subkultur. In Filmen wie Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) werde das Verhältnis von Dominanz/ Submission und Transgression/ Homosexualität mit der Kritik an faschistischen Machtstrukturen verschmolzen und heteronormative Vorstellungen von männlichem und weiblichem Verhalten in Frage gestellt. Auch der Film Zärtlichkeit der Wölfe (1973) sei ein Beispiel für die opake Ästhetik des Einfühlens in die Spannungsbalance von Marginalitätsbewußtsein und erotischer Aufladung, während Querelle - ein Pakt mit dem Teufel (1982) suggestive Prozesse der Fetischisierung mit der christlicher Schuld- und Sühnemetaphorik überhöhe. In Satansbraten (1976) will der Protagonist Walter Kranz, der bei der Züchtigung seines behinderten Bruders eine unerwartete Lust empfindet, in die Identität des homosexuellen Dichters Stefan George schlüpfen. Sein Versuch, sich wie sein Vorbild homosexuell zu verhalten, mißlingt indes kläglich, weil er den körperlichen Kontakt zu Männern eigentlich scheut. Besonders suggestiv ins Bild gesetzt seine Begegnung in der Bahnhofsklappe mit einem Mann, der ihm seinen Penis zur Berührung darbietet, und die anschließende Szene im Zimmer eines Stundenhotels: vom Stricher befragt, “Soll ich dich ficken? ”, schreit Kranz entsetzt auf, und als der Stricher ihm seinen Penis zum Munde führt, flüchtet dieser unter Würgen zum Waschbecken, in das er - man sieht es durch einen Spiegel - ausspuckend ruft “Tut mir leid, aber ich bin heut nicht in Form” (S. 108). Fassbinder spielt hier subversiv mit den gängigen Klischees des heterosexuellen Schauspielers, der in einer schwulen Rolle an die Grenze seiner ‘Toleranz’ gerät. Die Irritation erhöht sich noch, wenn sich am Ende herausstellt, daß die ganze Geschichte nur Theater war und die Darsteller in schallendes Gelächter ausbrechen. Fassbinder und Almodóvar nutzen bewußt überzeichnete Figuren wie Tunten und Transvestiten als Motive zur Destruktion patriarchaler Geschlechtsdiskurse: der karnevaleske Auftritt gerät zum grotesken Angriff gegen ästhetische Konvention und gesellschaftlichen Zwang. Die Exzentrizität der ‘Performance’ der Transvestiten, die parades, seien Ausdruck einer homosexuellen Ästhetik, die mit der Inszenierung eines vermeintlich authentischen subkulturellen Lebensstils zugleich als Angriff gegen politische Maßstäbe figuriere. Almodóvars Filme sind überdies durch die gegenkulturelle Bewegung La movida Madrileña in Spanien geprägt, in der lateinamerikanische Kultur sich mit Drogenerfahrung verbindet, das Verlangen nach Freiheit zur Imitation mit eklektischer Neubestimmung der Identität. Zeichen der Transgression sind Verkleidung und Selbstentblößung, inszeniert als gesellschaftlich tabuisiertes oder inkriminiertes Begehren und Bedürfnis nach ästhetischer Überschreitung in der Öffentlichkeit als Punk- oder Glam-Anhänger. Mit der Kleidung und den Gesten der Travestie inszeniert Almodóvar zugleich sich selbst wie im Film Laberinto de pasiones (1982), wo er auf der Bühne im Madrider Rock Ola als glamouröses Tuntenkabarett posiert oder in ¿Qué he hecho para merecer esto? (1984), wo er in Reviews 176 einer Travestie-Playback-Nummer auftritt. Die Tunten und Transen, ihre übertriebenen Gesten und glamourösen Ausstaffierungen, sind Variationen des Motivs von Dominanz und Unterwerfung wie die lesbische Verbindung zwischen Luci und Bob in Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón (1980). Im Zentrum des Films steht die Bitte des Mannes, der penetriert werden möchte. Almodóvars Unterscheidung von aktivem und passivem Analverkehr orientiert sich erneut am Muster des Machismo von Dominanz und Submission. Der Penis-Wettbewerb mit dem Slogan “erecciones generales” dient als ironische Anspielung auf die allgemeinen politischen Wahlen und pars pro toto für die ganze Bandbreite sexueller Lust-Erfahrungen außerhalb der Geschlechterkonventionen, die beim Filmbetrachter voyeuristisches Interesse weckt, das aber nicht gestillt wird. Der Film Todo sobre mi madre (1999) greift als Projekt der Feminisierung, als Aufforderung zum Ausleben einer marginalisierten Homosexualität mit der Gegenüberstellung der beiden Charaktere Agrado und Esteban/ Lola frühe Motive des Transvestismus wieder auf und erweitert und verdunkelt den Blick auf die negative Ökonomie von Homosexualität, Prostitution, Gewalt, Drogenabhängigkeit und Krankheit zum Tode: aus der Beziehung von Lola und Rosa wird ein mit A IDS infiziertes Kind geboren, Symbol der negativen Ökonomie von Sexualität und Zerstörung in religiöser Überhöhung. Das Buch von Bernhard Chappuzeau ist eine sehr verdienstvolle Analyse des filmographischen Werkes zweier herausragender Regisseure mit dem Instrumentarium des gender- und kulturwissenschaftlich ebenso wie psychoanalytisch und literaturtheoretisch geschulten Textwissenschaftlers, der dem Leser sein Material besonders im Hinblick auf Almodóvar durch seine profunden Kenntnisse der spanisch-lateinamerikanischen Kultur und zudem durch die zahlreichen bildhaften Beispiele anschaulich erschließt. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Robert S. Hatten: Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press 2004, 358 pp., ISBN 978-0- 253-34459-5 Hattens Untersuchung zur Bedeutungskonstitution in musikalischen Werken knüpft an sein früheres Buch Musical Meaning in Beethoven an und sucht einen synthetischen Zugang zur Musik. Der analytische Ansatz ist zwar ein gängiges Paradigma der traditionellen Musikwissenschaft, der Fokus auf einzelne musikalische Strukturelemente liefert aber in seiner isolierenden Methodik nur unzureichende Erklärungen von musikalischen Formen und Prozessen. Eine synthetische Perspektive auf musikalischen Gesten, Topoi und Tropen kann dagegen die emergenten Qualitäten musikalischer Einheiten hervorheben. Das bedeutet, daß die Einzigartigkeit eines Werkes nicht in der Summe seiner analytischen Teile zu suchen sei. Nach Hatten bietet eine Theorie der Synthese eine nützlichere Erklärung etwa dafür, wie Hörer separate Elemente zu bedeutungsvollen und selbständigen Entitäten des musikalischen Diskurses verbinden können. Hatten plädiert mit seinem synthetischen Ansatz im ersten Teil seines Buches zugleich auch für eine semiotische Zugangsweise zur Bedeutungsrekonstruktion. Diese Argumentation trägt dabei einerseits strukturalistische Züge, weil abstrakte Stiltypen thematisiert werden, die mit allgemeinen expressiven Bedeutungen korreliert sind. Andererseits liegt darin auch ein hermeneutisches Moment, denn musikalische Formen lassen sich auch als Strategien interpretieren, durch die die abstrakten types als konkrete token individualisiert und so einzigartige expressive Bedeutungen erzielt werden. Der semiotische Blick auf die Musik geht von der Prämisse aus, daß der Gehalt musikalischer Strukturen grundsätzlich auf generalisierten Stiltypen beruhe, jedoch im Rahmen dieser stilistischen Topik dennoch origineller Gehalt entstehe. Wo sich die Bedeutungen eigenständiger Topoi in ihrer Aktualisierung vermischen oder verschieben, spricht Hatten auch von musikalischen Tropen, die verschiedene, oft sogar inkompatible Muster zusammenfügen, um in ihrer Kollision oder Fusion eine einzigartige Bedeutung zu erschaffen. Der deviante Gebrauch