eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Robert S. Hatten: Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2004, 358 pp., ISBN 978-0-253-34459-5

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2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20176
Reviews 176 einer Travestie-Playback-Nummer auftritt. Die Tunten und Transen, ihre übertriebenen Gesten und glamourösen Ausstaffierungen, sind Variationen des Motivs von Dominanz und Unterwerfung wie die lesbische Verbindung zwischen Luci und Bob in Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón (1980). Im Zentrum des Films steht die Bitte des Mannes, der penetriert werden möchte. Almodóvars Unterscheidung von aktivem und passivem Analverkehr orientiert sich erneut am Muster des Machismo von Dominanz und Submission. Der Penis-Wettbewerb mit dem Slogan “erecciones generales” dient als ironische Anspielung auf die allgemeinen politischen Wahlen und pars pro toto für die ganze Bandbreite sexueller Lust-Erfahrungen außerhalb der Geschlechterkonventionen, die beim Filmbetrachter voyeuristisches Interesse weckt, das aber nicht gestillt wird. Der Film Todo sobre mi madre (1999) greift als Projekt der Feminisierung, als Aufforderung zum Ausleben einer marginalisierten Homosexualität mit der Gegenüberstellung der beiden Charaktere Agrado und Esteban/ Lola frühe Motive des Transvestismus wieder auf und erweitert und verdunkelt den Blick auf die negative Ökonomie von Homosexualität, Prostitution, Gewalt, Drogenabhängigkeit und Krankheit zum Tode: aus der Beziehung von Lola und Rosa wird ein mit A IDS infiziertes Kind geboren, Symbol der negativen Ökonomie von Sexualität und Zerstörung in religiöser Überhöhung. Das Buch von Bernhard Chappuzeau ist eine sehr verdienstvolle Analyse des filmographischen Werkes zweier herausragender Regisseure mit dem Instrumentarium des gender- und kulturwissenschaftlich ebenso wie psychoanalytisch und literaturtheoretisch geschulten Textwissenschaftlers, der dem Leser sein Material besonders im Hinblick auf Almodóvar durch seine profunden Kenntnisse der spanisch-lateinamerikanischen Kultur und zudem durch die zahlreichen bildhaften Beispiele anschaulich erschließt. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Robert S. Hatten: Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press 2004, 358 pp., ISBN 978-0- 253-34459-5 Hattens Untersuchung zur Bedeutungskonstitution in musikalischen Werken knüpft an sein früheres Buch Musical Meaning in Beethoven an und sucht einen synthetischen Zugang zur Musik. Der analytische Ansatz ist zwar ein gängiges Paradigma der traditionellen Musikwissenschaft, der Fokus auf einzelne musikalische Strukturelemente liefert aber in seiner isolierenden Methodik nur unzureichende Erklärungen von musikalischen Formen und Prozessen. Eine synthetische Perspektive auf musikalischen Gesten, Topoi und Tropen kann dagegen die emergenten Qualitäten musikalischer Einheiten hervorheben. Das bedeutet, daß die Einzigartigkeit eines Werkes nicht in der Summe seiner analytischen Teile zu suchen sei. Nach Hatten bietet eine Theorie der Synthese eine nützlichere Erklärung etwa dafür, wie Hörer separate Elemente zu bedeutungsvollen und selbständigen Entitäten des musikalischen Diskurses verbinden können. Hatten plädiert mit seinem synthetischen Ansatz im ersten Teil seines Buches zugleich auch für eine semiotische Zugangsweise zur Bedeutungsrekonstruktion. Diese Argumentation trägt dabei einerseits strukturalistische Züge, weil abstrakte Stiltypen thematisiert werden, die mit allgemeinen expressiven Bedeutungen korreliert sind. Andererseits liegt darin auch ein hermeneutisches Moment, denn musikalische Formen lassen sich auch als Strategien interpretieren, durch die die abstrakten types als konkrete token individualisiert und so einzigartige expressive Bedeutungen erzielt werden. Der semiotische Blick auf die Musik geht von der Prämisse aus, daß der Gehalt musikalischer Strukturen grundsätzlich auf generalisierten Stiltypen beruhe, jedoch im Rahmen dieser stilistischen Topik dennoch origineller Gehalt entstehe. Wo sich die Bedeutungen eigenständiger Topoi in ihrer Aktualisierung vermischen oder verschieben, spricht Hatten auch von musikalischen Tropen, die verschiedene, oft sogar inkompatible Muster zusammenfügen, um in ihrer Kollision oder Fusion eine einzigartige Bedeutung zu erschaffen. Der deviante Gebrauch Reviews 177 etablierter Topoi markiert ein musikalisches Ereignis erst als signifikant. Das Individuelle ist eine eigenständige Struktur im Hinblick auf die konstitutiven, stilistischen und strategischen Bedingungen eines historischen Kontextes; “the unique expressive synthesis of the movement begins to emerge” (p. 51). Dieses Prinzip demonstriert Hatten etwa am Beispiel der Sonaten des späten Beethoven, deren konventionelle Form erst in ihrer Aktualisierung expressive Bedeutung entfaltet. Auch Schubert kontrastiert das traditionell dramatische Genre der Sonate mit ländlichen Stilelementen, wodurch er gleichzeitig einen effektiven Tropus der frühen Romantik realisiert, indem er stilistische Einfachheit der dramatischen Komplexität gegenübergestellt. Andere Beispiele eines variierten Grundthemas lassen sich bei Bach, Schubert und Schumann finden. Bruckner tropisiert Polka und Choral, und Brahms dritte Symphonie bietet im Finale verschiedene Taktsysteme an, um seine Marschthematik tropisch zu verfremden. Den Kern von Hattens Buch bildet seine Theorie der musikalischen Geste, die er im zweiten Teil entwickelt. Hatten definiert die musikalische Geste als “significant energetic shaping of sound through time” (p. 95). Die Geste ist bei Hatten mehr als der körperliche Ausdruck einer Partitur, sie sei ein kognitives Muster, das erst uns erlaube, den expressiven Gehalt der Musik zu konstruieren. Insofern ist die Geste keine bloße Reaktion auf die Musik, sondern deren notwendige Bedingung als körperlich vorgestelltes Basisschema. Diese kognitive Kategorie verbindet erst musikalische Fragmente zu einem zeitlich ausgedehnten, markierten Ganzen. Die Geste ist in ihrer zeitlichen Kontinuität also prototypisch für das Konzept von Hattens Synthese, weil sie diverse musikalische Elemente zu umfassen vermag, womit sie einen direkten Zugang zur expressiven Bedeutung gewährleistet. Hatten zeigt in seinen Analysen der Wiener Klassik, wie die individuellen Gesten großer Komponisten die Konventionen ihrer Epoche originell adaptieren und erweitern. Gestische Vorgaben finden sich in der Partitur in der Akzentuierung der Notation bis hin zum Bindebogen, der in der Handbewegung am Piano umgesetzt wird. Für Hatten ist nun große stilistische Kompetenz gefragt, um diese gestischen Vorgaben richtig lesen zu können. Denn falsch verstandene Hinweise führten unmittelbar zu Ausdrucksfehlern. Diese Sicht wirft Fragen auf. Einerseits setzt Hatten nämlich stilistische Kompetenz voraus, um musikalische Gesten richtig deuten zu können. Andererseits definiert er aber Gesten als kognitive Basiskategorien, über die also auch der Laie verfügen muß. Daß diese Kategorien beim ungeschulten Hörer implizit bleiben, sagt noch nichts über ihre Wirksamkeit aus. Unreflektierte Interpretationen müssen nicht a priori falsch sein. Im letzten Teil will Hatten seine Resultate gleichzeitig relativieren und ergänzen, indem er zeigt, dass nebst tropischen Brüchen auch strukturelle Kontinuitäten als markiert und damit semantisch signifikant gelten können. Gerade die Klassik verfügt über deutlichere Satzpausen und mehr rhythmische Kontraste als etwa der barocke Stil, das bedeutet aber auch, daß jede gleichmäßige Bewegung auffallen muß und so dieses Muster als signifikant markiert. Zwar können tiefenstrukturelle Kohärenzen die oberflächlichen Brüche oft noch legitimieren und so Inkonsistenzen als Teile einer dramatischen Kontinuität auf höherer Stufe interpretiert werden. Doch die strategische Behandlung struktureller Kontinuität steht dann bezeichnend für den graduellen Übergang von Klassik zu Romantik. Beispiele von Mozart, Beethoven und Schubert zeigen das thematische Ideal der Kontinuität als Symptom eines Stilwechsels, wobei die Devianz von klassischen Vorgaben dabei die neue Norm des romantischen Stils und seiner traumartigen Stetigkeit motiviert. Hattens Theorie der musikalischen Geste postuliert einen direkten Zugang zur expressiven Bedeutung musikalischer Strukturen. Als “synthetic entities with emergent affective meaning” (p. 287) konzipiert, können Gesten phänomenologische Aspekte der Musik berücksichtigen, während der traditionelle Ansatz vor allem auf das stilistische Encodieren der tonalen Syntax fokussiert. Der gestische Ansatz konzentriert sich dagegen auf dynamische, synthetische Prozesse, womit er durchaus als nützliche Ergänzung zu den traditionellen Analysen gelten darf, denn er “puts us in the center of the action” (p. 290). Die definitorische Unschärfe der gestischen Theorie läßt freilich einige Fragen offen. Die Reviews 178 Vagheit des Terminus Geste speist sich aus seiner Ubiquität. Das gestische Spektrum reicht von spontanen, individuellen Gesten bis zur tropischen Synthese des Etablierten. Ob im subjektiven Ausdruck, im musikalischen Diskurs oder in der resultierenden Form, die Geste ist allgegenwärtig und daher sehr schwer fassbar. Der Vorteil der definitorischen Breite liegt sicher in der Flexibilität einer Theorie, die sich praktisch überall anwenden ließe. Als Nachteil muß hingenommen werden, dass auch die Resultate der Untersuchungen im Bezug auf ihren Inhalt leiden. Hattens verbindet semiotische und phänomenologische Aspekte der sinnhaften Interpretation. Sein Ansatz vermag die Genese musikalischer Gehalte zu erklären, das Konzept der emergenten Synthese muß aber im Bezug auf den Inhalt Abstriche machen. Das heißt, daß Hatten zwar erklären kann, wie musikalische Bedeutungen entstehen, nicht aber, was die Inhalte denn konkret bedeuten. Die Synthese tropischer Topoikonglomerate qua musikalische Geste etwa schafft tatsächlich originale Expressivität, die in ihrer Bedeutung über ihre fragmentierten Einzelteile hinauswächst, dieser semantische Gewinn verharrt aber in phänomenologischer Unmittelbarkeit, d.h. verschließt sich eben gerade einer analytischen Betrachtungsweise. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) David Lidov: Is Language a Music? Writings on Musical Form and Signification, Bloomington: Indiana University Press 2005, 256 pp., ISBN 978-0-253-34383-3 In der Einleitung zu seinem Buch, dessen Titel den eines seiner früheren variiert (Is Music a Language? ), weist Lidov auf die zahlreichen Parallelen zwischen Sprache und Musik hin: sie motivieren das Bemühen um die Entwicklung einer semiotischen Musikologie. Sprachlichen Struktureinheiten wie Morphemen, Wörtern und Sätzen stehen musikalische Elemente wie Noten, Phrasen und Motive gegenüber. Partituren laden zur Nuancierung beim Tempo und bei der Akzentuierung ein, ohne die Performanz voll zu determinieren. Es gibt natürlich auch Unterschiede: das musikalische Vokabular ist weniger fixiert als das linguistische, und seine Kombinationsregeln sind weniger allgemeingültig als beim sprachlichen Satzbau. Dieser Spielraum macht Musik aber noch nicht arbiträr, denn auch ihre Topoi sind historisch generiert, ihre Gestik leitet sich aus den Vorgaben des Körpers ab. Für Lidov bietet die Semiotik eine angemessene Perspektive auf das Verhältnis von Sprache und Musik - “not necessarily neutral, but embracing” (p. 2). Er möchte zeigen, daß die semiotische Theorie unsere Wertschätzung der Musik erhöhen kann, und daß das Studium der Musik umgekehrt seinen Teil zur Konstitution des semiotischen Modells beiträgt. Sein Buch will die Möglichkeiten und Grenzen musikalischer Repräsentation anhand verschiedener Bereiche aufzeigen, sei es in der Geste, der Partitur oder der Musiktheorie. Der erste Teil des Buches ist der strukturalistischen Perspektive auf die Musik gewidmet, obwohl die Idee eines musikalischen Flusses als Kette aus separaten Teilen im zweiten Teil wieder in Frage gestellt wird. Trotzdem sollen vorerst grundsätzliche Zusammenhänge zwischen musikalischen Strukturen und ihren Funktionen betont werden. So trägt z.B. die gebräuchliche Repetition eines Stilelements nicht nur zur Segmentierung und zum Aufbau struktureller Hierarchien bei, die Wiederholung struktureller Einheiten erfüllt auch eine syntaktische Rolle zur Identifikation eines Themas und zur Klärung des Stils. Als anderes strukturalistisch motiviertes Beispiel stellt Lidov ein Allegretto Beethovens vor, in welchem der Komponist Grammatik und Design des Werks funktional koordiniert. Mit dem Begriff ‘Grammatik’ ist dabei eine Ordnung durch ein abstraktes Regelsystem gemeint, während das ‘Design’ auf einen Idiolekt innerhalb des Systems verweist. Das Design geht über die reine musikalische Grammatik hinaus, indem es deren Regeln funktional interpretiert, jedoch können ähnliche Designs auch mithelfen, eine musikalische Grammatik zu festigen und sich z.B. in der Sonatenform zu sedimentieren. Im zweiten Teil bemängelt Lidov, daß die Zeichentheorie erst spät von der Musikologie nutzbar gemacht worden sei, während diese doch Anregungen aus Mathematik, Physik, Biologie und Psychologie dankbar aufgenommen habe.