eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

David Lidov: Is Language a Music? Writings on Musical Form and Signification, Bloomington: Indiana University Press 2005, 256 pp., ISBN 978-0-253-34383-3

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2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20178
Reviews 178 Vagheit des Terminus Geste speist sich aus seiner Ubiquität. Das gestische Spektrum reicht von spontanen, individuellen Gesten bis zur tropischen Synthese des Etablierten. Ob im subjektiven Ausdruck, im musikalischen Diskurs oder in der resultierenden Form, die Geste ist allgegenwärtig und daher sehr schwer fassbar. Der Vorteil der definitorischen Breite liegt sicher in der Flexibilität einer Theorie, die sich praktisch überall anwenden ließe. Als Nachteil muß hingenommen werden, dass auch die Resultate der Untersuchungen im Bezug auf ihren Inhalt leiden. Hattens verbindet semiotische und phänomenologische Aspekte der sinnhaften Interpretation. Sein Ansatz vermag die Genese musikalischer Gehalte zu erklären, das Konzept der emergenten Synthese muß aber im Bezug auf den Inhalt Abstriche machen. Das heißt, daß Hatten zwar erklären kann, wie musikalische Bedeutungen entstehen, nicht aber, was die Inhalte denn konkret bedeuten. Die Synthese tropischer Topoikonglomerate qua musikalische Geste etwa schafft tatsächlich originale Expressivität, die in ihrer Bedeutung über ihre fragmentierten Einzelteile hinauswächst, dieser semantische Gewinn verharrt aber in phänomenologischer Unmittelbarkeit, d.h. verschließt sich eben gerade einer analytischen Betrachtungsweise. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) David Lidov: Is Language a Music? Writings on Musical Form and Signification, Bloomington: Indiana University Press 2005, 256 pp., ISBN 978-0-253-34383-3 In der Einleitung zu seinem Buch, dessen Titel den eines seiner früheren variiert (Is Music a Language? ), weist Lidov auf die zahlreichen Parallelen zwischen Sprache und Musik hin: sie motivieren das Bemühen um die Entwicklung einer semiotischen Musikologie. Sprachlichen Struktureinheiten wie Morphemen, Wörtern und Sätzen stehen musikalische Elemente wie Noten, Phrasen und Motive gegenüber. Partituren laden zur Nuancierung beim Tempo und bei der Akzentuierung ein, ohne die Performanz voll zu determinieren. Es gibt natürlich auch Unterschiede: das musikalische Vokabular ist weniger fixiert als das linguistische, und seine Kombinationsregeln sind weniger allgemeingültig als beim sprachlichen Satzbau. Dieser Spielraum macht Musik aber noch nicht arbiträr, denn auch ihre Topoi sind historisch generiert, ihre Gestik leitet sich aus den Vorgaben des Körpers ab. Für Lidov bietet die Semiotik eine angemessene Perspektive auf das Verhältnis von Sprache und Musik - “not necessarily neutral, but embracing” (p. 2). Er möchte zeigen, daß die semiotische Theorie unsere Wertschätzung der Musik erhöhen kann, und daß das Studium der Musik umgekehrt seinen Teil zur Konstitution des semiotischen Modells beiträgt. Sein Buch will die Möglichkeiten und Grenzen musikalischer Repräsentation anhand verschiedener Bereiche aufzeigen, sei es in der Geste, der Partitur oder der Musiktheorie. Der erste Teil des Buches ist der strukturalistischen Perspektive auf die Musik gewidmet, obwohl die Idee eines musikalischen Flusses als Kette aus separaten Teilen im zweiten Teil wieder in Frage gestellt wird. Trotzdem sollen vorerst grundsätzliche Zusammenhänge zwischen musikalischen Strukturen und ihren Funktionen betont werden. So trägt z.B. die gebräuchliche Repetition eines Stilelements nicht nur zur Segmentierung und zum Aufbau struktureller Hierarchien bei, die Wiederholung struktureller Einheiten erfüllt auch eine syntaktische Rolle zur Identifikation eines Themas und zur Klärung des Stils. Als anderes strukturalistisch motiviertes Beispiel stellt Lidov ein Allegretto Beethovens vor, in welchem der Komponist Grammatik und Design des Werks funktional koordiniert. Mit dem Begriff ‘Grammatik’ ist dabei eine Ordnung durch ein abstraktes Regelsystem gemeint, während das ‘Design’ auf einen Idiolekt innerhalb des Systems verweist. Das Design geht über die reine musikalische Grammatik hinaus, indem es deren Regeln funktional interpretiert, jedoch können ähnliche Designs auch mithelfen, eine musikalische Grammatik zu festigen und sich z.B. in der Sonatenform zu sedimentieren. Im zweiten Teil bemängelt Lidov, daß die Zeichentheorie erst spät von der Musikologie nutzbar gemacht worden sei, während diese doch Anregungen aus Mathematik, Physik, Biologie und Psychologie dankbar aufgenommen habe. Reviews 179 Vor allem die Semiotik von Charles Sanders Peirce sei dabei im Schatten der Saussure-Rezeption viel zu lange vernachlässigt worden. Peirce selbst äußerte sich zwar als Zeichentheoretiker nur vereinzelt zu den Künsten (cf. Hess-Lüttich & Rellstab 2005), aber wer Repräsentation als einen sich kontinuierlich entwickelnden Prozeß im Sinne von Peirce betrachtet, kann daraus auch das Musikverständnis als zeitlich-phänomenalen Vorgang konzipieren (cf. Hess-Lüttich 2007). Mit der Adaption semiotischer Konzepte lenkt Lidov die Aufmerksamkeit von den starren Strukturen hin zu den dynamischen Qualitäten der Musik. Denn das musikalische Zeichen ist nicht statisch, sondern “a charged moment of interpretation” (p. 129), eine Definition, die in ihren post-strukturalistischen Zügen die Resultate des ersten Teils zu dementieren scheint. Der dritte Teil von Lidovs Buch erweitert die semiotischen Überlegungen um den expressiven Aspekt der musikalischen Geste. Ob beim klassischen Allegro (dt. Laufen) oder beim jazzigen Swing - Assoziationen zwischen Musik und körperlicher Erfahrung sind stets präsent. Musik ist nur als signifikant markiert, wenn wir die empfangene Klangbewegung mittels körperlicher Erfahrung identifizieren. Gesten umfassen demnach alle kurzen, expressiven Einheiten motorischer Aktivitäten, sie wirken als Entitäten, die mehrere musikalische Einheiten unmittelbar repräsentieren können: “Music is an action on and of the body” (p. 145). Im semiotischen Prozess werden Empfindungen und Impulse im Körper zu Geist transzendiert, und private, unaussprechliche Erfahrungen implizieren umgekehrt geteilte und meßbare biologische Reaktionen. Und wieder übersetzt Lidov diese Überlegungen in die Terminologie von Peirce, indem er den unmittelbaren Ausdruck als indexikalisches, den übersetzten oder formal transponierten Ausdruck als ikonisches oder gar als symbolisches Zeichen wertet. Im vorletzten Teil entfernt sich Lidov von der konkreten Partitur und versucht, die technischen Theorien von Komponisten ebenfalls als ästhetische Zeichen zu begreifen. Dieses Unterfangen soll jedoch nicht deren technischen Charakter bestreiten, sondern will zu ihrer tieferen Rezeption anregen. Zwischen der Musik und ihrer theoretischen Beschreibung existieren semiotische Parallelen der Struktur, Parallelen, die sich z.B. bei Komponisten des 20 Jahrhunderts theoretisch im Ideal des Möglichen äußern. Die Theorie ist ein ästhetisches Zeichen, das die Möglichkeit als ästhetischen Topos repräsentiert: “A theory is a specific representation of abstract possibility” (p. 197). Auch die Idee der Abstraktion kann die musikalische Theorie ästhetisch bereichern. Indem die Musiktheorie teilnehmende Mechanismen aufhebt, gewinnt der Rezipient mehr ästhetische Distanz zum Werk und versteht sich nun eher als Beobachter denn als Teilnehmer. Im letzten Teil will Lindov schließlich nach den Möglichkeiten nun auch die Grenzen der Repräsentation reflektieren und zeigen, daß musikalische Semiotik sowohl die Konstruktion wie auch den Verlust von Bedeutung berücksichtigen muß: “A musician needs no consistent or constant stance toward representation” (p. 225). Durch konstantes Neuaushandeln der Perzeption gerät die semiotische Inkonsistenz gar zum Zeichen der Kunst schlechthin. Als Beispiel nennt Lidov sein eigenes Werk “Voice mail”, in dem die Mischung aus dreizehn verschiedenen Stimmen zu einem strukturellen Idiolekt beiträgt, der sich gegen eindeutige Referenz und Interpretation zu sperren scheint. “Voice mail” spielt mit programmatischen Titeln und Anlehnungen an Genres, es bietet Vorstellungen an, nur um sie gleichzeitig zu untergraben und zu verdrehen. Lidov möchte mit seinem Stück keineswegs die semiotische Zugangsweise zur Musik unterlaufen, aber das Werk soll die Performanz von den Zwängen der Partitur befreien, zumindest sollen die Intentionen des Komponisten nicht dem Interpreten aufdrängt werden. “Voice mail” biete vielmehr nur Anreize zur Interpretation, man gebe der Partitur Sinn, indem man sie spiele, als ob sie konsistente Intentionen habe. Die Performanz soll die Resistenz der Partitur gegen Repräsentation bezwingen, dafür ist sie verantwortlich. Lidovs Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen einer semiotischen Musikologie überschaut ein weites Untersuchungsfeld. Besonders die dynamische Zeichenkonzeption lädt dazu ein, neue Aspekte in der Produktion und Rezeption musikalischer Ereignisse zu erkennen. Allerdings wird nicht immer ganz deutlich, ob der Autor Reviews 180 einer strukturalistischen oder eher einer poststrukturalistischen Position zuneigt, da immer wieder Typologien und Klassifikationen nach strengen Mustern auftauchen, die später indes zumindest teilweise wieder dekonstruiert werden. Insbesondere das letzte Kapitel argumentiert für eine Relativierung allzu starrer Zuordnungen, wobei das vorgestellte Werk “Voice mail” vielleicht nicht gar so außergewöhnlich ist, wie es Lidov suggeriert. Ist es nicht bei den meisten Musikstücken so, daß jeder Hörer auf andere Details fokussiert? Bleiben die ‘wahren’ Intentionen des Komponisten nicht stets weitgehend im Dunkeln? Steht nicht jedes neue Werk in einer Tradition (oder einer Šklovskijschen ‘Reihe’), die ein anderes (im Sinne der Prager Strukturalisten) ‘aktualisiert’ oder kontrastiert? Wäre damit nicht auch jede Interpretation ein Argument für die mögliche Repräsentation einer Partitur? Literatur Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel Rellstab 2005: “Zeichen/ Semiotik der Künste”, in: Karlheinz Barck et al. (eds.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, vol. 7, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 247-282 Ernest W.B. Hess-Lüttich 2007: “Sprache und Musik: Intermediale Relationen”, in: Henriette Herwig et al. (eds.), Übergänge. Zwischen Künsten und Kulturen. Internationaler Kongress zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine und Robert Schumann, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 161-182 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Martin Luginbühl, Thomas Baumberger, Kathrine Schwab & Harald Burger: Medientexte zwischen Autor und Publikum. Intertextualität in Presse, Radio und Fernsehen, Zürich: Seismo 2002, 248 S., ISBN 978-3-908239-84-0 Objektivität als wesentliches Kriterium angemessener journalistischer Berichterstattung wird bekanntlich unter anderem gewährleistet durch eine unparteiische Darstellung von Ereignissen und ihre faktenorientierte Präsentation ohne eigene Wertung durch den Berichterstatter (cf. Lorenz 2002: 83). Die Frage, wie ‘objektiv’ Medien nun aber tatsächlich berichten, ist Gegenstand der Mediendiskursforschung. Kunczik & Zipfel (2001: 277) z.B. sehen ‘Objektivität’ vielmehr als festen Bestandteil “des medienpolitischen Schimpfbzw. Kampfvokabulars”. Auch Renkema (2004: 266) hinterfragt die Objektivität in den Medien und betrachtet den Diskurs immer auch als Symptom der Intention des Sprechers: “He cannot do otherwise than, by making choices, present the information from a perspective, containing a vision, a focalization and empathy [...].” Mit anderen Worten: schon die Auswahl der Information führt zu einer Wertung und Perspektivierung des Dargestellten. Das immer wieder kontrovers diskutierte Problem der Objektivität (‘Objektivität’ im Sinne der neutralen ‘Abbildung’ von ‘Wirklichkeit’) ist es auch, das den Zürcher Germanisten, Linguisten und Medienforscher Harald Burger und sein Team motiviert hat, Textketten von Deutschschweizer Medien zu untersuchen. Der Fokus der Studie liegt auf der Intertextualität und darauf, wie diese auf Prozesse der Realitätskonstruktion einwirkt. Daß mit Medientexten Realität nicht ‘abgebildet’, sondern vielmehr konstruiert und inszeniert wird, erklären Luginbühl et al. in ihrer Einführung eben mit dem “intertextuellen Charakter medialer Texte” (S. 7). Es folgt ein kurzer Bericht über den Forschungsstand zum Konzept der Intertextualität, das ja ursprünglich aus der Literaturwissenschaft kommt und erst später auch von der Linguistik aufgegriffen wurde. Die Autoren schlagen angesichts der Vielfalt vorliegender Intertextualitätskonzepte einen ‘radikalen’ Begriff von Intertextualität vor und formulieren sechs Thesen, die empirisch überprüft werden sollen. Zusammengefaßt besagen diese Thesen, daß eigentlich gar kein konkreter Autor des Textes festzumachen sei, daß die üblichen Vorstellungen von ‘Textproduktion’ revidiert werden müßten, daß ein Text immer nur eine ‘Variante’ in einer Kette von Texten darstelle, daß ‘Redewiedergabe’ meistens nur dann transparent gemacht werde, wenn sie eine spezifische Funktion erfüllen solle, daß Realität ein Medienkonstrukt sei und daß es weder eine klar definierte Gruppe von Rezipienten noch eine eindeutige Rezeptionsweise gebe. Luginbühl et al. räumen ein, daß diese Thesen nicht sonderlich neu sind. Mit ihrer ‘radikalen’ Position formulieren sie für die Medien-