eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Martin Luginbühl, Thomas Baumberger, Kathrine Schwab & Harald Burger: Medientexte zwischen Autor und Publikum. Intertextualität in Presse, Radio und Fernsehen, Zürich: Seismo 2002, 248 S., ISBN 978-3-9080239-84-0

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2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20180
Reviews 180 einer strukturalistischen oder eher einer poststrukturalistischen Position zuneigt, da immer wieder Typologien und Klassifikationen nach strengen Mustern auftauchen, die später indes zumindest teilweise wieder dekonstruiert werden. Insbesondere das letzte Kapitel argumentiert für eine Relativierung allzu starrer Zuordnungen, wobei das vorgestellte Werk “Voice mail” vielleicht nicht gar so außergewöhnlich ist, wie es Lidov suggeriert. Ist es nicht bei den meisten Musikstücken so, daß jeder Hörer auf andere Details fokussiert? Bleiben die ‘wahren’ Intentionen des Komponisten nicht stets weitgehend im Dunkeln? Steht nicht jedes neue Werk in einer Tradition (oder einer Šklovskijschen ‘Reihe’), die ein anderes (im Sinne der Prager Strukturalisten) ‘aktualisiert’ oder kontrastiert? Wäre damit nicht auch jede Interpretation ein Argument für die mögliche Repräsentation einer Partitur? Literatur Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel Rellstab 2005: “Zeichen/ Semiotik der Künste”, in: Karlheinz Barck et al. (eds.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, vol. 7, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 247-282 Ernest W.B. Hess-Lüttich 2007: “Sprache und Musik: Intermediale Relationen”, in: Henriette Herwig et al. (eds.), Übergänge. Zwischen Künsten und Kulturen. Internationaler Kongress zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine und Robert Schumann, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 161-182 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Martin Luginbühl, Thomas Baumberger, Kathrine Schwab & Harald Burger: Medientexte zwischen Autor und Publikum. Intertextualität in Presse, Radio und Fernsehen, Zürich: Seismo 2002, 248 S., ISBN 978-3-908239-84-0 Objektivität als wesentliches Kriterium angemessener journalistischer Berichterstattung wird bekanntlich unter anderem gewährleistet durch eine unparteiische Darstellung von Ereignissen und ihre faktenorientierte Präsentation ohne eigene Wertung durch den Berichterstatter (cf. Lorenz 2002: 83). Die Frage, wie ‘objektiv’ Medien nun aber tatsächlich berichten, ist Gegenstand der Mediendiskursforschung. Kunczik & Zipfel (2001: 277) z.B. sehen ‘Objektivität’ vielmehr als festen Bestandteil “des medienpolitischen Schimpfbzw. Kampfvokabulars”. Auch Renkema (2004: 266) hinterfragt die Objektivität in den Medien und betrachtet den Diskurs immer auch als Symptom der Intention des Sprechers: “He cannot do otherwise than, by making choices, present the information from a perspective, containing a vision, a focalization and empathy [...].” Mit anderen Worten: schon die Auswahl der Information führt zu einer Wertung und Perspektivierung des Dargestellten. Das immer wieder kontrovers diskutierte Problem der Objektivität (‘Objektivität’ im Sinne der neutralen ‘Abbildung’ von ‘Wirklichkeit’) ist es auch, das den Zürcher Germanisten, Linguisten und Medienforscher Harald Burger und sein Team motiviert hat, Textketten von Deutschschweizer Medien zu untersuchen. Der Fokus der Studie liegt auf der Intertextualität und darauf, wie diese auf Prozesse der Realitätskonstruktion einwirkt. Daß mit Medientexten Realität nicht ‘abgebildet’, sondern vielmehr konstruiert und inszeniert wird, erklären Luginbühl et al. in ihrer Einführung eben mit dem “intertextuellen Charakter medialer Texte” (S. 7). Es folgt ein kurzer Bericht über den Forschungsstand zum Konzept der Intertextualität, das ja ursprünglich aus der Literaturwissenschaft kommt und erst später auch von der Linguistik aufgegriffen wurde. Die Autoren schlagen angesichts der Vielfalt vorliegender Intertextualitätskonzepte einen ‘radikalen’ Begriff von Intertextualität vor und formulieren sechs Thesen, die empirisch überprüft werden sollen. Zusammengefaßt besagen diese Thesen, daß eigentlich gar kein konkreter Autor des Textes festzumachen sei, daß die üblichen Vorstellungen von ‘Textproduktion’ revidiert werden müßten, daß ein Text immer nur eine ‘Variante’ in einer Kette von Texten darstelle, daß ‘Redewiedergabe’ meistens nur dann transparent gemacht werde, wenn sie eine spezifische Funktion erfüllen solle, daß Realität ein Medienkonstrukt sei und daß es weder eine klar definierte Gruppe von Rezipienten noch eine eindeutige Rezeptionsweise gebe. Luginbühl et al. räumen ein, daß diese Thesen nicht sonderlich neu sind. Mit ihrer ‘radikalen’ Position formulieren sie für die Medien- Reviews 181 linguistik noch einmal in griffiger Prägnanz, was in Literaturwissenschaft und Semiotik (z.B. bei Roland Barthes: “Tod des Autors”, “chambre d’echos” usw.) schon seit Julia Kristeva immer wieder betont wurde und was übrigens keineswegs unumstritten war: zur kritischen Diskussion s. schon Broich & Pfister 1985 oder jetzt Hess- Lüttich 2009). Konerding (2005: 22) sieht Intertextualität als Bedingung dafür, daß ein Text überhaupt Bestandteil eines Diskurses werden könne: “Der betreffende Text - bzw. der einschlägige Teiltext - muss die gleiche oder doch sehr ähnliche Makro-Proposition wie die übrigen Texte (bzw. Teiltexte), die den Diskurs konstituieren, aufweisen.” Es ist daher schlüssig, daß auch der Textbegriff der Textlinguistik selbst einer kritischen Revision unterzogen und um Aspekte der Modalität und des Informationskanals erweitert wird. Weiter unterscheiden die Autoren verschiedene Arten von Realität in Medientexten. Je nach ‘Realitätsmodus’ (z.B. eine Naturkatastrophe als außermediale Realität oder eine Talkshow als innermediale Realität) verändere sich das Maß der ‘Texthaftigkeit’. Die verschiedenen Typen und Formen von Intertextualität und die unterschiedlichen Grade der Beziehung zwischen Medientext und Prätext werden dann an einem Beispiel aus der schweizerischen Nachrichtensendung Zehn vor Zehn illustriert. Wie sie ihre Thesen an empirischem Material überprüfen wollen, erläutern die Autoren im zweiten Kapitel des Buches. Ihr Corpus zum Vergleich zwischen den verschiedenen Medien und Medienprodukten umfaßt nicht weniger als 3200 Medientexte aus Zeitungen, aus Rundfunk und Fernsehen im Zeitraum von April 1997 bis Februar 1998 zu den beiden Themen “schweizerische Sozialversicherungen” und “Gentechnologie”, über die in diesem Zeitraum viel berichtet wurde. Aus diesem Corpus wählen sie sechs Themenketten für die genaue Analyse aus und ergänzen sie um Daten aus einer teilnehmenden Beobachtung von Redaktionen, einer mündlichen Befragung von Medienschaffenden und einer Rezipientenbefragung. Befunde der quantitativen und qualitativen Analyse werden dann in den folgenden Kapiteln ausführlich präsentiert. Leitend sind dabei insbesondere die Fragen: “Was tun die KommunikatorInnen der verschiedenen Medien, um Sachverhalte in ihrer Komplexität für die RezipientInnen durchschaubar zu machen? Diesbezüglich interessieren hier besonders die Markierungen der Autorschaft und Verweise auf Quellenangaben bzw. die zitierten Personen und Institutionen in den Medientexten. Wer kann - aus der Sicht der RezipientInnen - für die Gestaltung eines Medientextes verantwortlich gemacht werden? Wer und wie wird zitiert? ” (S. 44). Die Analyse ergibt unter anderem, daß bei 90% der Texte der Name oder das Kürzel des Autors angegeben werde, in elektronischen Medien allerdings meist nicht explizit. Die Zitationen seien in der Regel nachvollziehbar, der Anteil an zitierter Rede sei in Agenturmeldungen am größten. Während in den Printmedien eher indirekte Zitate verwendet würden, böten die elektronischen Medien lieber ‘O-Töne’. Der Intertextanteil sei oft größer als auf den ersten Blick ersichtlich, wobei oft ein expliziter Verweis auf einen Prätext fehle. Im vierten Kapitel geht es dann um die Fragen, wie und mit welchen sprachlichen Verfahren in Medientexten Bewertungen vorgenommen würden und ob einzelne Verfahren dabei in bestimmten Zusammenhängen (etwa in bestimmten Medien oder bestimmten Texttypen) gehäuft aufträten, woher die vorhandenen Bewertungen stammten, ob sie - unverändert oder transformiert - von einem Prätext übernommen (intertextuelle Textelemente) oder ob sie vom Journalisten hinzugefügt worden seien (auktoriale Textelemente) und wie konstant Bewertungen in umfangreicheren intertextuellen Ketten beibehalten würden (cf. S. 81). Die Resultate zeigen unter anderem, daß Bewertungen häufig aus Prätexten übernommen würden, wobei Metaphern ein beliebtes sprachliches Mittel der Bewertung seien. Zur Absicherung würden Bewertungen oft an Zitierte delegiert. In allen Medientypen seien implizite Bewertungen zentral, sodaß Textanalyseverfahren, die nur explizit bewertende Lexeme berücksichtigten, den massenmedialen Bewertungsverfahren kaum gerecht würden. Das fünfte Kapitel präsentiert ein Fallbeispiel zur Themenkette “Berichterstattung über eine staatliche Studie zu den Schweizer Sozialwerken.” Die quantitativen Befunde ergeben, daß die Nachrichtenberichterstattung nur knapp sei und Reviews 182 meist am Tag des Ereignisses stattfinde. Sie basiere häufig auf Agenturtexten - Eigenrecherche halte sich in Grenzen, meist werde der Text nicht neu formuliert, sondern aus verschiedenen Prätexten zusammenmontiert. In Zeitungen und Zeitschriften fänden sich viele markierte Zitate, wobei Parteien in der Themenkette zum Fallbeispiel häufiger zitiert würden als in den anderen Themenketten. Das markierte Zitieren fungiere als Inszenierung von Authentizität und Autorität, Zitate von Experten sicherten dominante Bewertungen ab. Eine explorative Rezipientenbefragung in halbstandardisierten Interviews mit über hundert Personen zwischen 11 und 85 Jahren soll (ohne Anspruch auf Repräsentativität) darüber Aufschluß geben, ob die Rezipienten wissen, wer die Autoren von (zuvor analysierten) Texten sind und woher die Informationen stammen. Die Befunde ergeben, daß über drei Viertel der Befragten sich nicht für den Autor des Textes interessieren, sondern allenfalls für die Herkunft der Information, daß Autorenkürzel kaum Beachtung finden, daß der Einfluss von Agenturen unterschätzt bzw. die Eigenleistung des Journalisten deutlich überschätzt werde. Implizite Bewertungen würden höchstes von überdurchschnittlich gebildeten Rezipienten erkannt, aber alle legten Wert auf ‘neutrale’, ‘ausgewogene’ Berichterstattung, die höher rangiere als Kriterien wie Sachlichkeit oder Wertfreiheit. Ingesamt erweist sich das Konzept der Intertextualität hier als sinnvolles Instrument zur Beschreibung von Medientexten und deren Wirklichkeitskonstruktion, die (wie schon Luhmann so genau wie lakonisch beschrieben hat) weniger aus der Wahrnehmung und Deutung der ‘Realität’ erwachse als aus der Auswahl und Zusammenstellung vorhandener Prätexte (nicht nur aus Agenturen, sondern auch aus PR-Systemen, die neben den Themen deren Bewertung gleich mitliefern): “Die mediale Realität [ist] kein einheitliches Konstrukt, das auf ein Individuum zurückgeht, sondern vielmehr eine Klitterung, eine Art ‘patchwork’ aus verschiedenen Realitäten, das Risse, Brüche, ja sogar Widersprüchlichkeiten aufweisen kann” (S. 217). Die Autornennung suggeriert irreführenderweise eine Eigenleistung auf Kosten der Transparenz auf die tatsächliche Quellenlage eines Medientextes, die Berichterstattung folgt konventionellen, ja ritualisierten Mustern. Harald Burger und sein Team liefern mit ihrer Untersuchung empirisch erhärtete Befunde zu einem brisanten Thema der Kommunikationswissenschaft und Medienlinguistik, die auch für angehende Medienpraktiker manch ernüchterne Information enthalten, wenn auch für Medienprofis keine neuen. Welche Folgerungen für die Praxis der medialen Textproduktion daraus zu ziehen seien, läßt die Studie freilich ebenso offen wie die Konsequenzen für das Konzept der Medienwirklichkeit, die mehr mit Marktwirklichkeit zu tun hat als mit individueller Wirklichkeit oder mit Gesellschaftswirklichkeit. Denn Medienunternehmen stehen nicht nur in nationaler und internationaler Konkurrenz, sondern auch in der intermedialen Konkurrenz eines expandierenden Mediensystems mit neuen (polycodierten) Medientextsorten und Textverwertungsprozessen (cf. Hess-Lüttich ed. 2006). Literatur Barthes, Roland 2000: “Der Tod des Autors”, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez & Simone Winko (eds.) 2000: Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam, 185-193 Broich, Ulrich & Manfred Pfister (eds.) 1985: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 2006: Media systems - their evolution and innovation (= Kodikas / Code Special Issue 29.4), Tübingen: Gunter Narr Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2009: “Textbegriffe der Sprach-, Literatur und Medienwissenschaften im Zeichen technischer Umbrüche”, in: Renate Riedner & Siegfried Steinmann (eds.) 2009: Alexandrinische Gespräche. Forschungsbeiträge ägyptischer und deutscher Germanist/ inn/ en, München: iudicium, 154-168 Konerding, Klaus-Peter 2005: “Diskurse, Themen und soziale Topik”, in: Claudia Fraas & Michael Klemm (eds.) 2005: Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt/ Main etc.: Peter Lang, 9-38 Kunczik, Michael & Astrid Zipfel 2001 [ 2 2005]: Publizistik, Köln / Wien: Böhlau Lorenz, Dagmar 2002 [ 2 2009 in Vorb.]: Journalismus, Stuttgart: Metzler Renkema, Jan 2004: Introduction to Discourse Studies, Amsterdam / Philadelphia: Benjamins Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)