eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2008
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Wolfgang Steinig: Als die Wörter tanzen lernten. Ursprung und Gegenwart von Sprache. Elsevier / Spektrum Akademischer Verlag 2007, 456 S., ISBN 978-3-8274-2088-6

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2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
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Reviews 183 Wolfgang Steinig: Als die Wörter tanzen lernten. Ursprung und Gegenwart von Sprache, Elsevier / Spektrum Akademischer Verlag 2007, 456 S., ISBN 978-3-8274-2088-6 Passend zur Vorbereitung auf das ‘Darwin-Jahr’ 2009 bekommen wir ein Buch aus dem renommierten Spektrum-Verlag zur Besprechung auf den Tisch: Wolfgang Steinigs Überlegungen zu Ursprung und Gegenwart der Sprache. Darwin vermochte mit der natürlichen Selektion zu erklären, weshalb die Evolution ihre Einfälle und Ressourcen ökonomisch verwaltet: wenn die an Land gekrochenen Tiere nach und nach nur noch Luft atmen, dann werden sie ihrer Kiemen überdrüssig und sie verschwinden im Laufe der Zeit. Nach einem ähnlichen Prinzip wurde aus dem mittelhochdeutschen lamp im Neuhochdeutschen das bequemer auszusprechende Lamm - nach dem Motto: unnötiger Aufwand lohnt nicht. Würde Sprache freilich nur nach Prinzipien der natürlichen Selektion, der Ökonomie und Vereinfachung funktionieren, unterhielten wir uns dann heute noch in einer so komplexen Sprache wie dem Deutschen? Solche Fragen reizen den Siegener Germanisten, genauer nachzuhaken. Wie kam es, fragt er sich, daß wir uns freiwillig mit einem sperrigen grammatischen System und lautlichen Regelwerk mühen, wenn es uns im freien Lauf der Rede nicht selten zu inhibieren scheint, wenn wir über unsere eigenen Worte stolpern, mit allerlei Verzögerungslauten wie äh und ehm Zeit zum Nachdenken herauszuschlagen suchen, wenn uns Bilder oder Gefühle in angemessene Worte zu kleiden oft so schwer fällt? Steinig sucht und findet die Antwort auf diese Frage im Prinzip der sexuellen Selektion, die Darwin der natürlichen Selektion zur Seite gestellt hat. Sprache, so die These des Autors, funktioniere nach demselben Muster, das dem Pfau zu einem farbenprächtigen Federschweif verholfen habe. Wie konnte sich ein Merkmal evolutionär durchsetzen, das in gefährlichen Situationen eher hinderlich sein könnte? Weil es erhöhte Paarungschancen versprach. Die sexuelle Selektion gibt der erfolgreichen Weitergabe von Genen den Vorzug vor einem möglichst gefahrenlosen Leben. Und im Falle der Sprache vielleicht vor einer möglichst reibungslosen Verständigung? Den Nachweis für diese These sucht Steinig auf gut 450 Seiten zu führen, indem er seinen Ausgang nimmt von einer überraschenden Behauptung: die Grundlage für Sprache habe der archaische Mensch von rituellen Tänzen abgeschaut. Die These leitet ihn auf dem Weg zu einer originellen, aber stets argumentativ gut belegten und interdisziplinär abgesicherten Sprachentwicklungstheorie: er nennt sie das “Handicap- Prinzip” (S. 32): Möchte ein Individuum […], beispielsweise vor einem Kampf oder bei der Balz, demonstrieren, daß es ausreichend fit ist, um den Kampf siegreich zu bestehen oder als Geschlechtspartner hochwertige Gene für seinen Nachwuchs zu liefern, so muß es seine Botschaft glaubwürdig vermitteln können, damit Konkurrenten oder Umworbene davon überzeugt werden, daß es sich nicht um ein Täuschungsmanöver handelt. Dies gelingt nur, wenn das Individuum seine Grenzen auslotet, wenn es Risiken eingeht, wenn es Signale einsetzt, die einen besonders großen Aufwand erfordern - kurz, wenn es Handicaps in Kauf nimmt (S. 32). Mit anschaulichen Beispielen aus der Tierwelt - vom Ochsenfrosch über Bienen bis zur Gazelle - zeigt Steinig, daß Signale, die mit hohen Kosten produziert werden, im Hinblick auf Eigenwerbung und Statusmarkierung konkurrenzfähiger sind. Das Handicap-Prinzip leuchtet zunächst ein: wer eine gepflegte Sprache benutzt, markiert Status und Überlegenheit. Wer subtilere Höflichkeitsformen oder exotische Fremdwörter nicht geschickt einzuflechten weiß, habe Nachteile zu gewärtigen in der Konkurrenz der Sprachartisten. Sprachliche Virtuosität als das erfolgversprechendere Balzverhalten? Hier kommt neben dem Handicap-Prinzip die These vom Tanz ins Spiel, an dessen Entwicklung die Frau maßgeblichen Anteil habe. Das ‘Mängelwesen’ Mensch (Arnold Gehlen) sei aus Mangel an Instinkten auf vorhersehbare Abläufe einer gemeinsamen Kultur angewiesen, um ein sicheres Leben führen zu können. Auf Sicherheit angewiesen waren in der Zeit der ersten Menschen vor allem die Frauen. Steinig vermutet, daß der Reiz des Sexuellen nicht ausreichte, um die Männer auf Dauer an ihre Sexualpartnerinnen Reviews 184 zu binden und damit für ihr Wohl und das Wohl ihrer Nachkommen zu sorgen. Die Frauen mußten also eine Strategie entwickeln, um ihre Männer für längere Fristen an sich zu binden. Zunächst habe sich der Zyklus der Frau so eingestellt, daß die fruchtbaren Tage nicht mehr ohne weiteres schon von weitem erkennbar waren. Die Männer mußten sich auf zeitlich ausgedehntere Werbungen einstellen, um die Chance zu erhöhen, während des Eisprungs als Favorit erkannt zu werden. Indem sich die Frauen so einen gewissen Machtvorteil verschafften, konnten sie nun ihrerseits Forderungen erheben. Als aussichtsreicher Kandidat galt nun, wer die besten Ressourcen zur Versorgung seiner Nächsten aufbringen konnte, z.B. ein Mann, der sich besonders altruistisch verhielt. Um sich selbstlos zu zeigen, seien aufwendig inszenierte Rituale besonders geeignet. Wer sich in Tänzen, Opferritualen und Festen mit kulturell eingespielten Abläufen besonders hervorzutun vermochte, galt als Favorit. Dem Anreiz, das Handicap in der Disziplin des Tanzes stetig zu erhöhen, entspringt dem Gedankengang des Autors zufolge nicht nur der allmählich aufrechtere Gang des Menschen, sondern eben auch: das erste Sprechen. Denn mit dem Tanz kam der Gesang, mit dem Gesang die Wörter und mit den Wörtern eine Baustruktur für die Aneinanderreihung von Wörtern - die Grammatik: Die Bewegungsabläufe von Tanzschritten basieren - ähnlich wie die Bewegungen der Sprechwerkzeuge beim Erzeugen von Lautketten - auf einem generativen Prinzip: Mit einer relativ kleinen Menge möglicher Schritte können Schrittfolgen erzeugt werden und diese Schrittfolgen wiederum können sich zu größeren Schrittsequenzen formen, die sich schließlich zu einem speziellen Tanz zusammenfügen. Diese vier Ebenen […] stehen analog zu den vier sprachlichen Ebenen - der Lautebene, der Wortebene, der Satzebene und der Textebene. Diese erstaunliche Analogie kann kein Zufall sein. Das generative Prinzip der Grammatik konnte nur entstehen, weil das lange zuvor entwickelte generative Prinzip tänzerischer Bewegungen zum Transfer auf Sprache verfügbar war (S. 167f.). Für diese These argumentiert Steinig in den folgenden beiden Dritteln des Buches mit zahlreichen weiteren Beispielen aus der Tierwelt, aus dem Alltag und mit Erkenntnissen aus der Evolutionsforschung. Er unternimmt ausgreifende Ausflüge in die Sprachentwicklungsforschung, in die Psychologie und Soziologie, in die Biologie und sogar in die Literatur. Damit wird der Leser keineswegs ermüdet. Er erfährt gleichsam im Vorbeigehen einiges über Klicksprachen im Süden Afrikas, über Höhlenmalereien und Menschenopfer, über das Paarungsverhalten der Bonobo- Affen und typische Gespräche bei Klassentreffen, über Flirts in Strassencafés und hinduistische Mantras, über große Köpfe und hohe Stirn … Er wird vom Verf. schon im Vorwort jovial ermuntert - “Sie möchten sich also auf ein wissenschaftliches Abenteuer einlassen! ” (S. 11) - und lockend in sein ‘Zeit-Shuttle’ eingeladen - “Schnallen Sie sich an! ” (S. 15) -, mit ihm an die “unterschiedlichsten Orte” zu reisen, “in denen heute kommuniziert wird und vor Tausenden von Jahren kommuniziert wurde” (ibid.). Der lockere Ton verliert sich im Laufe der elf Hauptkapitel ein wenig und tritt erst im Schlußwort wieder hervor, das den Leser aus dem Zeit-Shuttle entläßt. Bei allem inhaltlichen Anspruch schreibt der Autor (er ist auch Didaktiker) erkennbar für den Leser, nicht nur, um sich selbst der Stringenz seiner Gedankenführung zu vergewissern. Ist der Leser Linguist, liest er das Buch mit Gewinn; ist er Laie, wird er es von Seite zu Seite spannender finden. ‘Der’ Leser? Pardon, manche Leserin wird an einigen Stellen biologistische Erklärungsmuster wittern, die tradierte Geschlechtsrollen zu zementieren drohen, aber wenn alltägliche Dinge wie das Gehen auf hohen Absätzen, das Lesen von Werken der Weltliteratur oder höfliches Grüßen im Treppenhaus als Entscheidungen für ein hohes ‘Handicap’ entlarvt werden mit dem Hintersinn, dem Umfeld sexuelle Attraktivität zu demonstrieren, wird sie ernüchtert Gewinn buchen an Weltwissen über ihres- und seinesgleichen. Eher untypisch für seine Zunft erhebt der Linguist Steinig keinen Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit seiner Theorie: “Ich habe Ihnen eine Geschichte vom Sprachursprung erzählt - eine Geschichte, nicht mehr, aber auch nicht weniger” (S. 454) bescheidet er sich, nicht ohne sich einen kleinen Seitenhieb auf die lieben Kollegen zu erlauben: deren Problem bestehe eben oft darin, daß sie ihre Geschichten in ihrer abgehobenen Reviews 185 Schreibart gar nicht mehr verständlich vermitteln könnten. Und daß es dem Leser deshalb verwehrt bleibe, sie selbst auf ihre Plausibilität überprüfen zu können. Das wird manchen dieser Kollegen gewiß zum Widerspruch reizen. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Bettina Hurrelmann, Susanne Becker & Irmgard Nickel-Bacon: Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel (= Lesesozialisation und Medien), Weinheim/ München: Juventa 2006, 413 S., ISBN 978-3-7799-1357-3 Das Buch über Lesekindheiten von Bettina Hurrelmann, Susanne Becker und Irmgard Nickel- Bacon entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, das der Lesesozialisation in der deutschen Mediengesellschaft gewidmet war (cf. <http: / / www.uni-koeln.de/ dfg-spp-lesesoz/ indexanfang.htm>). In ihrem Teilprojekt nehmen die Autorinnen eine diachrone Perspektive ein und untersuchen die Lesesozialisation in der Familie zu drei ausgewählten historischen Zeitpunkten: zur Biedermeierzeit um 1830, zur Kaiserzeit um 1900 und zur Zeit des Eintritts in die - wie man heute rückblickend sagt - (westdeutsche) ‘Mediengesellschaft’ um 1980. Betrachtet werden die Familienkulturen in bürgerlichen Familien des jeweiligen Zeitraumes aus historischer Sicht sowie ihre Lesekultur. Letzteres geschieht anhand dreier ausgewählter Quellengattungen. Es wurden Erziehungsratgeber, Kinderliteratur und Autobiographien herangezogen, um zu erfahren, welcher Umgang mit dem Lesen in den Familien gepflegt wurde. Die Entwicklung der Lesekompetenz bei Kindern wurde dabei in drei Phasen eingeteilt. Die erste umfaßt den mündlichen Umgang mit Lesestoff (‘prä- und paraliterarische Kommunikation’), die zweite die Alphabetisierung der Kinder und die dritte schließlich das selbstständige kindliche Lesen (cf. S. 29). Als Theorierahmen für die Studie wählten die Autorinnen das Konzept der ‘Ko-Konstruktion’. Es handelt sich dabei um eine entwicklungspsychologische Herangehensweise, die um eine gesellschaftliche und historische Perspektive erweitert wurde. Dieser Rahmen ermöglicht die Untersuchungen des Kompetenzerwerbs einer Person (in diesem Fall des Lesens) als Wechselwirkung zwischen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Das erlaubt nach Auffassung der Autorinnen, die Lesesozialisation als Mehrebenen-Prozeß zu betrachten: “So sind für eine differenzierte Modellierung der Lesesozialisation zwischen der gesellschaftlichen Makro- Ebene und der Mikro-Ebene des Lesers bzw. der Leserin auf einer Meso-Ebene die Instanzen zu berücksichtigen, die den Erwerb kultureller Erfahrungen in face-to-face-Interaktionen ermöglichen” (S. 19). Als Ergebnis des wichtigen Schwerpunkts zur Erforschung Lesesozialisation fügt sich das vorliegende Buch in eine Reihe von Werken im Themenbereich Kindheit, Medien und Lesekompetenz ein: das Gesamtvorhaben wird in dem hier in K ODIKAS ebenfalls ausführlich besprochenen Buch (s. Hess-Lüttich 2004) über Lesesozialisation in der Mediengesellschaft von Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (2004) vorgestellt. Dort wird auch der hier applizierte Theorierahmen der ‘Ko-Konstruktion’ genauer skizziert (Groeben 2004). Den Hintergrund für das vorliegende Forschungsprojekt bildet die bereits vorliegende empirische Forschung zur Lesesozialisation in der Gegenwart. Diese habe gezeigt, daß der Umgang mit Sprache und Texten in der Familie die wichtigste Voraussetzung dafür ist, daß Kinder zum Lesen bewegt werden können. Wie Bettina Hurrelmann im Vorwort zum ersten Kapitel deutlich macht, ist die Familie für die Lesesozialisation noch heute das zentrale Moment, weshalb sie auch als Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung gewählt wurde (S. 13): Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die Familie als die bis heute wichtigste, weil früheste und wirkungsvollste Instanz der Vermittlung von Lesekultur an die junge Generation. Sie betrachtet das familiale Sozialisationsgeschehen und seine Rahmenbedingungen historisch, um das viel-verherrlichte, aber meist wenig bekannte ‘Früher’ sowie die bis zur Gegenwart und über sie hinausreichenden Veränderungsprozesse verständlicher zu machen. Das Ziel der Autoren besteht somit darin, durch einen vertieften Rückblick in vergangene Muster des Lesenlernens zu verstehen, aus welchem