Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2008
311-2
Bettina Hurrelmann, Susanne Becker & Irmgard Nickel-Bacon: Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel (= Lesesozialisation und Medien), Weinheim/München: Juventa 2006, 413 S., ISBN 978-3-7799-1357-3
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2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20185
Reviews 185 Schreibart gar nicht mehr verständlich vermitteln könnten. Und daß es dem Leser deshalb verwehrt bleibe, sie selbst auf ihre Plausibilität überprüfen zu können. Das wird manchen dieser Kollegen gewiß zum Widerspruch reizen. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Bettina Hurrelmann, Susanne Becker & Irmgard Nickel-Bacon: Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel (= Lesesozialisation und Medien), Weinheim/ München: Juventa 2006, 413 S., ISBN 978-3-7799-1357-3 Das Buch über Lesekindheiten von Bettina Hurrelmann, Susanne Becker und Irmgard Nickel- Bacon entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, das der Lesesozialisation in der deutschen Mediengesellschaft gewidmet war (cf. <http: / / www.uni-koeln.de/ dfg-spp-lesesoz/ indexanfang.htm>). In ihrem Teilprojekt nehmen die Autorinnen eine diachrone Perspektive ein und untersuchen die Lesesozialisation in der Familie zu drei ausgewählten historischen Zeitpunkten: zur Biedermeierzeit um 1830, zur Kaiserzeit um 1900 und zur Zeit des Eintritts in die - wie man heute rückblickend sagt - (westdeutsche) ‘Mediengesellschaft’ um 1980. Betrachtet werden die Familienkulturen in bürgerlichen Familien des jeweiligen Zeitraumes aus historischer Sicht sowie ihre Lesekultur. Letzteres geschieht anhand dreier ausgewählter Quellengattungen. Es wurden Erziehungsratgeber, Kinderliteratur und Autobiographien herangezogen, um zu erfahren, welcher Umgang mit dem Lesen in den Familien gepflegt wurde. Die Entwicklung der Lesekompetenz bei Kindern wurde dabei in drei Phasen eingeteilt. Die erste umfaßt den mündlichen Umgang mit Lesestoff (‘prä- und paraliterarische Kommunikation’), die zweite die Alphabetisierung der Kinder und die dritte schließlich das selbstständige kindliche Lesen (cf. S. 29). Als Theorierahmen für die Studie wählten die Autorinnen das Konzept der ‘Ko-Konstruktion’. Es handelt sich dabei um eine entwicklungspsychologische Herangehensweise, die um eine gesellschaftliche und historische Perspektive erweitert wurde. Dieser Rahmen ermöglicht die Untersuchungen des Kompetenzerwerbs einer Person (in diesem Fall des Lesens) als Wechselwirkung zwischen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Das erlaubt nach Auffassung der Autorinnen, die Lesesozialisation als Mehrebenen-Prozeß zu betrachten: “So sind für eine differenzierte Modellierung der Lesesozialisation zwischen der gesellschaftlichen Makro- Ebene und der Mikro-Ebene des Lesers bzw. der Leserin auf einer Meso-Ebene die Instanzen zu berücksichtigen, die den Erwerb kultureller Erfahrungen in face-to-face-Interaktionen ermöglichen” (S. 19). Als Ergebnis des wichtigen Schwerpunkts zur Erforschung Lesesozialisation fügt sich das vorliegende Buch in eine Reihe von Werken im Themenbereich Kindheit, Medien und Lesekompetenz ein: das Gesamtvorhaben wird in dem hier in K ODIKAS ebenfalls ausführlich besprochenen Buch (s. Hess-Lüttich 2004) über Lesesozialisation in der Mediengesellschaft von Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (2004) vorgestellt. Dort wird auch der hier applizierte Theorierahmen der ‘Ko-Konstruktion’ genauer skizziert (Groeben 2004). Den Hintergrund für das vorliegende Forschungsprojekt bildet die bereits vorliegende empirische Forschung zur Lesesozialisation in der Gegenwart. Diese habe gezeigt, daß der Umgang mit Sprache und Texten in der Familie die wichtigste Voraussetzung dafür ist, daß Kinder zum Lesen bewegt werden können. Wie Bettina Hurrelmann im Vorwort zum ersten Kapitel deutlich macht, ist die Familie für die Lesesozialisation noch heute das zentrale Moment, weshalb sie auch als Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung gewählt wurde (S. 13): Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die Familie als die bis heute wichtigste, weil früheste und wirkungsvollste Instanz der Vermittlung von Lesekultur an die junge Generation. Sie betrachtet das familiale Sozialisationsgeschehen und seine Rahmenbedingungen historisch, um das viel-verherrlichte, aber meist wenig bekannte ‘Früher’ sowie die bis zur Gegenwart und über sie hinausreichenden Veränderungsprozesse verständlicher zu machen. Das Ziel der Autoren besteht somit darin, durch einen vertieften Rückblick in vergangene Muster des Lesenlernens zu verstehen, aus welchem Reviews 186 Fundament die heutigen Lesekulturen in den Familien bestehen. Erst durch dieses Verständnis wird es möglich, zu erkennen, welchen Stellenwert das Lesen hatte und welchen Stellenwert es in der Mediengesellschaft hat oder zukünftig haben sollte. Mehrere Autorinnen des Buches haben ihre Forschungsschwerpunkte in der Lesesozialisation und (Deutsch-)Didaktik. So sollen die Ergebnisse dieses historischen Abrisses natürlich auch Möglichkeiten für die Förderung der Lesekompetenzen von Kindern im schulischen Umfeld aufzeigen. So lautet auch das Fazit von Bettina Hurrelmann, daß die Aufgabe der formellen Bildungsinstanzen sei, “für den Abbau der herkunftsbezogenen Chancenungleichheit zu sorgen”, da die Lesesozialisation auch im Medienzeitalter immer noch auf schichtspezifischen Unterschieden beruhe (S. 410). Der Schwerpunkt der Arbeit liegt aber dennoch auf der Familie als erster Instanz für das Entwickeln einer kindlichen Lesekompetenz: “Denn obwohl viele Eltern heute der Meinung sind, daß das Lesen im Wesentlichen eine Sache der Schule sei, stellt sich im empirischen Vergleich immer wieder heraus, daß die Familien nach wie vor das Entscheidendere zur Leseentwicklung der Kinder beitragen” (S. 15). Die angewandte Methode zeigt diese Rolle der Familie im historischen Kontext ebenso einleuchtend wie exemplarisch auf. Anhand einer großen Fülle geschichtlicher Quellen haben die Autorinnen einen wertvollen Überblick über verschiedene Arten der Lesesozialisation erarbeitet. Allein das Verzeichnis der ausgewerteten Quellen (für die Biedermeierzeit: S. 155-170, für die Kaiserzeit: S. 273-291 und für den Eintritt in die Mediengesellschaft: S. 390-399) ist ein Fundus für mögliche weiterführende Forschung. Ein von den Autoren selbst angesprochenes Problem der Untersuchung liegt in der Quellenauswahl. Jede Quellensorte hat einen “diskursiven Eigencharakter” (S. 33). Ratgeber z.B. sind normative Diskurstypen, Literatur sind fiktionale und Autobiographien selbstrekonstruktive Diskurstypen. Da sich die Autorinnen dieser Tatsache bewußt sind, verstehen sie es in der Auswertung, diese textimmanenten Struktur- und Funktionsbedingungen angemessen zu berücksichtigen. Die Diskussion der verschiedenen Quellensorten im ersten Kapitel ist aufschlußreich. Ihre jeweiligen Besonderheiten in Bezug auf den historischen Kontext werden von Hurrelmann überzeugend verdeutlicht (S. 40-49). Ein weiteres Problem der Untersuchung betrifft die bewußt gewählte Begrenzung des Fokus auf das bürgerliche Milieu bzw. (im letzten untersuchten Zeitraum) auf die Mittelschicht. Hurrelmann begründet diese Eingrenzung mit der schwierigen Quellenlage und stellt fest, daß “[d]ie wenigen, den ersten und zweiten Untersuchungszeitraum betreffenden Dokumente, die diesen soziokulturellen Umkreis überschreiten, [...] zwar interessante, aber eben untypische Ausnahmefälle dar[stellen]” (S. 34). Die Tatsache, daß Bücher im neunzehnten Jahrhundert auch für wohlhabende Familien teuer und dementsprechend keine Selbstverständlichkeit waren, ist eine weitere mögliche Erklärung für das Fehlen entsprechender Quellen aus dem Bauerntum oder dem Proletariat. Im letzten historischen Abschnitt um 1980 wäre es demgegenüber eher möglich, Selbstzeugnisse aus bildungsferneren Schichten zu erhalten. In Anbetracht der Tatsache, daß Chancenungleichheit in der Bildung noch immer wesentlich auf Bedingungen der Herkunft oder Schicht des Kindes fußt, ist das Desiderat, gerade in diesen Schichten noch genauer die Bedingungen für das Gelingen einer familialen Lesesozialisation zu erforschen, nachgerade nicht von der Hand zu weisen. Eine gute Voraussetzung dafür böte diese verdienstvolle Dokumentation der Ergebnisse eines ebenso theoretisch reflektierten wie praxisrelevanten Projektes. Literatur Groeben, Norbert 2004: “(Lese-)Sozialisation als Ko- Konstruktion. Methodisch-methodologische Problem-(Lösungs-)Perspektiven”, in: Groeben & Hurrelmann 2004: 142-168 Groeben, Norbert & Bettina Hurrelmann 2004: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick, Weinheim/ München: Juventa Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2004: “Lesen in der Mediengesellschaft”, in: K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 27.3-4 (2004): 319-322 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)
