Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2008
311-2
Christoph Jacke, Eva Kimminich & Siegfried J. Schmidt (eds.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen (= Cultural Studies 16), Bielefeld: transcript 2006, 361 S., ISBN 978-3-89942-394-5
61
2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20187
Reviews 187 Christoph Jacke, Eva Kimminich & Siegfried J. Schmidt (eds.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen (= Cultural Studies 16), Bielefeld: transcript 2006, 361 S., ISBN 978-3-89942-394-5 Cultural Studies ist ein vergleichsweise junges (oft auch semiotisch sensibilisiertes) Forschungsfeld der Sozial- und Kulturwissenschaften, das erst in den 1980er Jahren entstand und in den 1990er Jahren auch in der deutschsprachigen Forschung schnell an Bedeutung gewann. Schon vorher war der Ansatz, wenn auch nur sehr vereinzelt, auch auf die Sprachforschung übertragen worden (z.B. Hess-Lüttich 1983 a, id. 1983 b). Der Boden dafür wurde indes schon früher bereitet, etwa in Arbeiten der britischen Forschung aus den späten 50er und frühen 60er Jahren (wie Hoggart 1957, Thompson 1963, Williams 1958 und id. 1961). Untersuchungen zur Jugendkultur wie Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs (Willis 1978b) und Profane Culture von Paul Willis (Willis 1978a) wurden zu viel zitierten Leitstudien für spätere Jugendstudien im Zeichen von Cultural Studies. Bücher wie Subculture - The Meaning of Style und Hiding in the Light von Dick Hebdige avancierten zu den “einflußreichsten der ‘klassischen’ Jugendstudien der Cultural Studies” (S. 131). Seither ist nicht nur im angloamerikanischen, sondern auch im deutschsprachigen Raum ein zunehmendes Interesse an wissenschaftlicher Populärkulturforschung aufgekommen, wie Andreas Hepp schon 1999 in seiner Einführung in das Forschungsfeld im Rückblick resümiert (cf. Hess-Lüttich 2006). Höchste Zeit also, daß auch deutsche Verlage das Feld beackern. Seit 2001 gibt der Bielefelder transcript-Verlag sehr erfolgreich eine Reihe unter dem Namen Cultural Studies heraus. Der hier zur Besprechung vorliegende Sammelband Kulturschutt ist bereits der sechzehnte Titel dieser Serie (cf. <http: / / www. transcript-verlag.de/ main/ kul_cul.php> [24.06. 2008]). Auf dem programmatisch bereiteten Boden des von dem heute in Münster lehrenden Kommunikationswissenschaftler (und ehemaligen Siegener Germanisten) Siegfried J. Schmidt formulierten Konzepts von Kultur haben Christoph Jacke, Eva Kimminich und eben Siegfried J. Schmidt Beiträge von Vertretern der verschiedensten Disziplinen zu einem handlichen, aber substanzreichen Band versammelt. Dabei gingen sie von folgendem Grundsatz aus (S. 15 f.): Wir lassen unsere Autoren disziplinlos aus diversen Disziplinen (Medienkulturwissenschaft, Romanistik, Philosophie, Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Medienpädagogik, Rhetorik, Kunstpädagogik, Kunsttheorie, Design, Ethnologie) im vorgemischten […] Schutt und Müll der Kulturen - mal grundlagentheoretisch, mal exemplarisch - wühlen, um zu zeigen, daß Beobachtung von Kultur aus Kultur heraus zunächst möglichst entdramatisiert und weit gestreut geschehen soll. Diese schöne Zusammenfassung im Vorwort macht bereits deutlich, was den Leser des Bandes erwartet. Im ersten Teil Grundlagen enthält das Buch Beiträge, in denen fundierte Überlegungen zum Verhältnis von Kultur und Theorie angestellt werden. Ihren Autoren gehe es darum, “den Blick für Kultur als Theorie zu schärfen und zu ent-elitisieren” (S. 12). Zum Auftakt des Grundlagenteils begründet Siegfried J. Schmidt den Anspruch auf Transdisziplinarität und gibt dem Buch seinen theoretischen Rahmen, auf den mehrere Autoren sich in ihren Beiträgen beziehen (S. 21-33). Die Begriffsbestimmung von Kultur als Diskursfiktion, die als Programm verwendet werde, um kulturelle Phänomene zu erzeugen, zu beobachten und zu bewerten (S. 26), kennt man von Schmidt in vielfältig variierter Form und in gewohnt konzentrierter Diktion auch aus anderen Zusammenhängen. Den Bezug zum ‘Kulturschutt’ stellt er zum Schluß seiner Ausführungen her (S. 33): Mit anderen Worten, Müll und Schutt sind ‘diskursive’ Fiktionen, die eine bestimmte Differenz markieren, aber keine festen Identitäten. Wandeln sich die Diskurse, wandelt sich auch der Müll- und Schuttstatus der so behandelten Phänomene nach Maßgabe des Traditionsbewußtseins (in) einer Gesellschaft, das - wie nicht anders zu erwarten - kulturell programmiert ist. Der daran anschließende (und inhaltlich anknüpfende) Beitrag von Eva Kimminich (Romanistin in Freiburg/ Brsg. und Präsidentin der Deutschen Reviews 188 Gesellschaft für Semiotik) stellt dann den Zusammenhang her zwischen Kultur und Jugendforschung (S. 34-69). Vor dem Hintergrund der Jugend als einem gesellschaftlichen Konstrukt, das seit dem Aufkommen der Jugendforschung im 19. Jahrhundert existiert, fächert sie eine Begriffsbestimmung aus verschiedenen Blickwinkeln auf. Gleichzeitig bietet sie eine fundierte Analyse von Begriffen und Metaphern, die für das Stichwort Kulturschutt von Bedeutung sind und setzt sie in Zusammenhang mit bisherigen Untersuchungen (unter anderem der Cultural Studies) und andern Beiträgen zum vorliegenden Band. Weitere Studien im Kapitel Grundlagen bieten teilweise Einblick in verschiedene populärkulturelle Forschungsfelder der Cultural Studies, greifen die Müll-Metapher nochmals auf oder üben Kritik an bisherigen wissenschaftlichen Betrachtungen populärer Phänomene. Richard Shustermans Aufsatz ist ein flott formulierter philosophisch-historischer Abriß über den Wert und die Bedeutung von Unterhaltung von Plato bis Hannah Arendt (S. 70-96). Mit der Müll-Metapher setzt sich Sebastian Jünger auseinander (S. 97-113); er konstatiert (S. 109): […] [D]iese kreative Freiheit der Unwägbarkeit ist es, auf die sich die zeitgemäße Theorie einlassen muß und für die sie Dialog-, Diskurs-, und Darstellungsformen bereitzustellen hat. Die Metapher spielt hierbei selbstredend nur die Rolle eines Operativs unter vielen. Wenn sie aber als solches Klarheit in das Verhältnis zwischen ehemals Wertlosem und nun Wertvollem bringen soll wie auch in das zwischen ehemals Wertvollem und nun Wertlosen und deren Interferenz, dann muß das Theorienest der Metapher eine ‘Recyclingtheorie’ sein. Christoph Jackes kurzer Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie es sinnvoll sein kann, sich wissenschaftlich mit Pop zu beschäftigen (S. 114-123). Welche Forschungsmöglichkeiten im weiten Feld der Cultural Studies denkbar sind, zeigt Andreas Hepp in seinem Beitrag über “Deterritoriale Vergemeinschaftsnetzwerke” auf (124-147). In Zeiten der Globalisierung von Medienkommunikation, schreibt er, sei es zentral, daß Jugendkulturforschung in Zusammenhang mit transkultureller Kommunikation betrachtet werde. Den Abschluß des ersten Teils bildet eine Kritik von Mark Terkessidis an der deutschen Ausprägung der Cultural Studies. Er fordert eine “Mischung aus Parteilichkeit, Selbstreflexion, Kontextualisierung und Kritik”, um die “naive Distanz” der Forscher in Deutschland zum Gegenstand ihrer Forschung so zu verringern, wie das nach seiner Beobachtung bei den Gender Studies bereits der Fall sei (S. 160). Der zweite Teil verspricht unter Titel Case Studies die beispielhafte Anwendung der im ersten Teil entworfenen Theorien und aufgestellten Forderungen, denn er enthalte, so die Annoncierung der Herausgeber in ihrem Vorwort, empirische Fallstudien mit der Betrachtung “konkrete[r] Phänomene” (S. 14). Tatsächlich beschäftigen sich nur einige der Aufsätze exemplarisch mit solchen Phänomenen. Theo Hug erläutert beispielsweise die Ergebnisse eines internationalen Kooperationsprojekts zur Frage der Wahrnehmung globaler Medienereignisse von Jugendlichen und formuliert anhand mehrerer Beispiele vorläufige Hypothesen (S. 165-187). Am Beispiel einer Internetplattform für Mädchen (Lizzynet) untersuchen Angela Tillmann und Ralf Vollbrecht die Möglichkeit zur “Wirklichkeitserprobung” Jugendlicher im Internet (S. 188-206). Eine Mischung aus Beispielen und theoretischen Überlegungen im Feld des ‘Kulturschutts’ und des Recyclings ist im Beitrag von Joachim Knape zu finden. Er sieht am Beispiel eines Videoclips der Gruppe Alcazar genügend Grund zu der Entwarnung, daß diese Form der Fernsehinszenierung keine größere Gefahren berge, Realitätsverlust zu erfahren, als andere Handlungszusammenhänge (S. 207-222). Ein solcher anderer Zusammenhang ist im Beitrag von Christoph Jacke und Guido Zurstiege thematisiert (S. 223-234). Sie gehen der Frage nach, wie kommerzielle Fernsehspots von Jugendlichen eingeschätzt werden. Sie suchen exemplarisch zu belegen, daß Jugendliche einen durchaus differenzierten Umgang mit Werbung pflegten: “Werbung ist doof, aber der neue Nike- Spot ist geil” (S. 14). Birgit Richard zeigt am Beispiel der Gothics die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten jugendlicher Subkulturen auf, die der von Wiederverwendung alter Symbole in der Mode bis zur Inszenierung der eigenen Subkultur im Netz reichen (S. 235-256). Mode ist auch das Gebiet, Reviews 189 dem sich Silke Hohmann in ihrem Aufsatz zuwendet, um die Umnutzung von Symbolen am Beispiel von Tarnmustern zu beschreiben (S. 257-270). Auch bei digitalisierter Popmusik ist nach den Beobachtungen von Mercedes Bunz Recycling offenbar ein hervorstechendes Merkmal geworden, was die ‘Instabilität’ von Musik offenlege und die Frage nach Urheberrechten neu aufwerfe (S. 271-281). Die letzten vier Beiträge zu diesem Sammelband beschäftigen sich wiederum theoretisch mit dem Thema Schutt und Müll im metaphorischen Sinn, auch wenn sie konkrete Gegebenheiten der Gesellschaft als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ansetzen. Jörg van der Horst fordert in einer scharfzüngigen Polemik (S. 282-306) ein “Theater der Wirklichkeiten” und findet, daß der “einzig legitime Grund für die Existenz des Theaters […] heute darin bestehen [müsse], sich selbst neu zu erfinden” (S. 301). In seinem “Plädoyer für eine neue Perspektive auf Gedächtnis, Erinnerung und Medien” (S. 310) erkennt Martin Zierold eine unzureichend explizierte Terminologie in diesem Bereich und wünscht sich ein ‘Recycling’ der bisherige Debatte darüber (S. 307-319). Das Thema der Wiederverwertung greift auch Katrin Keller auf und wirft einen Blick auf das Phänomen Retro (S. 320-332). Den Abschluß des zweiten Teils bildet der Aufsatz von Jochen Bonz, der im Sampling eine postmoderne Kulturtechnik Verwandlung und Umwandlung sieht (S. 333-353). Insgesamt bietet der Band eine originelle Sammlung von Perspektiven auf den dispersen Themenbereich Kultur, Kulturschutt, Müll und Recycling. Wer Anregungen für Forschungsvorhaben oder vielversprechende Theorieansätze im Feld der Cultural Studies sucht, wird hier fündig werden. Dafür hätte der Teil mit den Case Studies vielleicht empirisch noch ein wenig tiefer schürfen dürfen. Aber es ist gewiß eine Stärke des Bandes, daß er eine große Bandbreite möglicher Zugänge zu einen höchst heterogenen Forschungsfeld repräsentiert. Andererseits führt die eingangs von den Herausgebern beschworene Transdisziplinarität auch zu einem oft eher losen Zusammenhang zwischen den Themen, obwohl sich einige Autoren (besonders im ersten Teil) sichtlich bemüht haben, aufeinander Bezug zu nehmen. Aber ist das wohl der Tribut, der dem gewünschten “disziplinlosen Wühlen” gezollt werden muß, zu dem die Editoren ihre Autoren ja ausdrücklich ermuntert haben. Literatur Hebdige, Dick 1979: Subculture - The Meaning of Style, London: Methuen Hebdige, Dick 1988 [ 2 2002]: Hiding in the Light. On Images and Things, London/ New York: Routledge Hepp, Andreas 1999: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1983 a: “Jugendpresse und Sprachwandel”, in: International Journal of the Sociology of Language (= Special Issue on Language and the Mass Media, ed. Gerhard Leitner) 40 (1983): 93-105 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1983 b: “Alternative Dialoge? Ästhetik und Illusion der Verständigung in jugendlichen Subkulturen”, in: Wolfgang Kühlwein (ed.), Texte in Sprachwissenschaft, Sprachunterricht, Sprachtherapie (= forum Angewandte Linguistik 4), Tübingen: Gunter Narr, 24-37 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2006 : “Media of the subculture. From the history of German alternative press since ‘68”, in: Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.), Media systems - their evolution and innovation (= Special Issue of K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 29.4), Tübingen: Gunter Narr, 351-378 Hoggart, Richard 1957: The Uses of Literacy. Aspects of Working-class Life, with Special References to Publications and Entertainments, London: Chatto & Windus Thompson, Edward Palmer 1963: The Making of the English Working Class, New York: Vintage Books Williams, Raymond 1959: Culture and Society. Coleridge to Orwell, London: Chatto & Windus Williams, Raymond 1961: The Long Revolution, London: Chatto & Windus Willis, Paul E. 1978 a: Profane Culture, London: Henley Willis, Paul E. 1978 b: Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs, London: Farnborough Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)