eJournals Kodikas/Code 31/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2

Eva Kimminich, Michael Rappe, Heinz Geuen, Stefan Pfänder (eds.): expressyourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground, Bielefeld: transcript 2007, 250 S., ISBN 978-3-89942-673-1

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2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod311-20190
Reviews 190 Eva Kimminich, Michael Rappe, Heinz Geuen, Stefan Pfänder (eds.): expressyourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground, Bielefeld: transcript 2007, 250 S., ISBN 978-3-89942-673-1 Der Sammelband mit dem Aufmerksamkeit heischenden Titel expressyourself! will, wie der Untertitel verheißt, “Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground” untersuchen. Die Autoren stellen in ihrer Einleitung sofort klar, daß der “Begriff der Kreativität […] sich zunächst durch eine Verknüpfung mit zahlreichen Assoziationsfeldern und Erwartungen” auszeichne (S. 7); so finde man Kreativität nicht nur in künstlerischen Bereichen, sie lasse sich auch “über das lebenspendende Erzeugen, das gewinnbringende Erfinden bis zum problemlösenden Handeln” erfahren (ibid.). Zudem erweise sich Kreativität nicht nur “in Zeiten der Not als Motor der Überlebenskunst” (ibid.). Der Begriff der ‘Schöpferkraft’ gehe dem der ‘Kreativität’ voraus, und er sei der eigentliche Grund dafür, daß man sich heute nicht mehr nur philosophisch-ästhetisch damit befasse, denn der “Nutzen zur techn(olog)ischen Weltgestaltung und ökonomischen Gewinnpotenzierung” habe zur “Entmythologisierung und Demokratisierung” des Begriffs der ‘Schöpferkraft’ geführt (S. 8). Schöpferische Tätigkeit sei damit zur anthropologischen Selbstverständlichkeit und zum Untersuchungsgegenstand für die verschiedensten Wissenschaftsrichtungen geworden. Entsprechend trans- und interdisziplinär ist der Band angelegt. Die Autoren der zwölf Beiträge des Bandes stehen für die Vielfalt der Disziplinen - von der Kulturwissenschaft über (Musik)Pädagogik, Internationale Beziehungen, Medienkommunikation, Philosophie, Psychologie bis zur Romanistik -, die sich mit dem verschlungenen Verhältnis von Kultur und Kreativität, von Körpern und Künsten beschäftigen: “Kreativität, Kultur, Kunst und Körper stehen über ihre problematischen Konzeptualisierungen in einer ebenso spannungsvollen wie unauflösbaren Wechselbeziehung” (S. 7). Diese Wechselbeziehung aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Ansätzen auszuleuchten ist das erklärte Ziel der Herausgeber des Bandes. Die einzelnen Beiträge seien “aus der gemeinsamen Diskussion über die Entstehung und Wirkungsweisen pop-, sub- und jugendspezifischer Praktiken und Techniken zur Selbst(er)findung, Selbstdarstellung und Körpergestaltung, aber auch zur Bildung von Gemeinschaft und Common Sense sowie zur Wissenserzeugung bzw. -vermittlung entstanden […]” (S. 13). Zum Einstieg in diese Diskussion stellt der Klagenfurter Medien- und Kulturtheoretiker Rainer Winter in seiner kritischen Bestandsaufnahme des state of the art der Cultural Studies mit ihren genuin transdisziplinären Forschungsinteressen mit Genugtuung fest, daß in diesem Segment der Sozial- und Kulturwissenschaften die Zeit für eine explizite Methodendiskussion reif sei. Freilich gebe es da nicht die allein seligmachende Methodologie, weil für Untersuchungen im Zeichen der Cultural Studies der jeweilige Kontext des Gegenstandes im Zentrum stehe, d.h. sie folgten nicht einer globalen Theorie, einem geschlossenen Paradigma, vielmehr hingen die verwendeten Methoden von den jeweiligen Fragestellungen ab. So müßten in die Analyse eines einzelnen kulturellen Objekts eben immer auch dessen komplexe Beziehungen zu anderen kulturellen Objekten und gesellschaftlichen Kräften systematisch einbezogen werden. Die Erforschung ‘kreativer’ Prozesse sei daher per definitionem kontextsensibel. Christoph Jacke widmet sich solchen kreativen Prozessen in der Jugend- und Subkultur. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich der Begriff der ‘Subkultur’ aufgefaßt werden kann. Der Verf. skizziert mit prägnantem Strich, wie er mit dem der Jugendkultur verbunden ist und welche Rolle Kreativität bei der Erhaltung des ‘Sub-Status’ in Abgrenzung zum ‘Mainstream’ spielt. Er stellt verwundert fest, wie “uneins wissenschaftliche Beobachtungen zu diesen Gebieten sind”, und erhebt “die Forderung nach präziseren Grundlagenforschungen” in der Medienkulturwissenschaft (S. 45). Im Alter fortgeschrittenere Leser könnte dabei zuweilen das Gefühl des déjà lu beschleichen (cf. Hess-Lüttich 1983, id. 2003). Anschließend erläutert die Freiburger Romanistin Eva Kimminich, wie die HipHop-Kultur (insbesondere die Rap-Musik) und das Tattoo- Stechen als Selbst(er)findungs- und Selbstgestaltungstechniken funktionieren. Unter Rekurs auf Reviews 191 berühmte Stil-Definitionen von Ludwig Wittgenstein (1984) und Georg Simmel (1993) belegt sie mit illustrativen Beispielen die wichtige Rolle der Kreativität des Einzelnen. Mark Butler dagegen bezieht sich in seinem Beitrag über “Das Spiel mit sich” im Hinblick auf “populäre Techniken des selbst” vor allem auf Michel Foucault, der “die Art und Weise, wie ein menschliches Wesen sich zu einem Subjekt macht” (S. 75), gültig untersucht habe. Butler illustriert das veränderte Verhältnis zu sich selbst in der “fortgeschrittenen, kapitalisierten Moderne” am Beispiel von Musikstars wie Madonna oder Eminem, die sich durch erfolgreiche “Updates ihrer medialen Inszenierungen” regelmäßig “neu erfinden” (S. 80) - Selbstinszenierung also als eine andere (und offenbar sehr lukrative) Form von Kreativität in der Mediengesellschaft. Um die Vermittlung kulturellen Wissens und die Entwicklung kindlicher Kreativität geht es demgegenüber beim Beitrag von Christine Stöger, die sich fragt, welche Bedingungen “für den Umgang mit Kreativität in der Schule” gelten und “welche Strategien des Lernens und der Entwicklung kreativen Potenzials” sich außerhalb des “formalen Bildungsbereichs” finden ließen (S. 104). Darum geht es auch im darauf folgenden Beitrag von Ayhan Kaya: wie die HipHop- Bewegung jugendlichen MigantInnen außerhalb der Schule eine Plattform biete, “auf der die Unterlegenen zu Wort kommen”. Kaya gibt der schönen Hoffnung Ausdruck, daß eine zu entwickelnde ‘Rap-Pädagogik’ die Chance bieten könnte, in den Schulen den Schülern “eine Stimme zu geben, damit sie ihre Kritik an der dominanten Kultur formulieren und ihre eigene Subkultur, ihren eigenen Stil, ihren Diskurs, kulturelle Formen und Identitäten bilden können” (S. 133). Das wird sie dann im Glücksfalle sicher auch hinlänglich für einen Beruf oder ein Studium qualifizieren. HipHop- und Rap-Kultur scheinen überhaupt ein besonders wichtiges Element in “Europas kultureller Kreativität zwischen Markt und Underground” zu sein, denn ihnen gilt die besondere Aufmerksamkeit etlicher Autoren in diesem Band. Auch Michael Rappe, Professor für Geschichte und Theorie der Populären Musik an der Hochschule für Musik in der Domstadt Köln, bewegt sich routiniert im HipHop-Bereich, besonders in der Domäne des Breakbeats und der afroamerikanischen oral culture, in deren Tradition der Rhythmus steht. Er zeigt am Beispiel eines Videoclips der afroamerikanischen Rapsängerin Missy Elliot, wie Breakbeat zusammen mit Sound (Rap) und Visualisierungen (Graffiti, Mode, Tanzfiguren, Videoclips) “eine extreme Erweiterung des komplexen Zeichen-, Bewegungs- und Bedeutungsgefüges dieser oral culture” erzeugt und “auf der symbolischen Ebene ästhetische Erfahrungen intensiviert” (S. 145). Von Videoclips handelt auch Heinz Geuens Beitrag, der am Beispiel des Videos Afrika Shox von Chris Cunningham illustriert, “wie der Videoclip als spezifisch audiovisuelles Medium funktioniert” und wie sich darin “kulturelle Wissens- und Erfahrungsressourcen manifestieren” (S. 158). Wiederum um HipHop geht es in Bartolomae Rezutas Beitrag, allerdings nicht um afroamerikanischen, sondern um polnischen. Der sei nicht nur “ludisches Spektakel”, sondern auch “in den politischen und ökonomischen Diskurs verwickelt”, der von den “Aposteln” der Rapper geführt werde und die problematische Balance zwischen sozialistischer Vergangenheit und marktwirtschaftlicher Gegenwart behandle (S. 190). Stefan Meier interessiert sich als Medienwissenschaftler für “Graffiti als ‘typografisches’ Ausdrucksmittel sozialen Stils” (S. 193) und seine kommunikative Praxis. Dabei versteht er Graffiti “als ein Kommunikat, das sich aus unterschiedlichen Zeichenmodalitäten und Kodesystemen zusammensetzt” (S. 197). Das Graffito sei einerseits eigenständig, verweise aber auch (im Sinne Umberto Ecos) auf “eine kulturelle Einheit, die eine auf sozialen Konventionen beruhende Bedeutung beschreibt” (S. 198; cf. Eco 1991). Graffiti haben einen doppelten Adressatenkreis: sie wollen zugleich nach innen in die Subkultur der eigenen Peergroup kommunizieren als auch nach außen in die Öffentlichkeit der Mainstream-Gesellschaft. Den Sprayern geht es um Eigenwerbung und Imagepflege, dabei spielt auch eine wichtige Rolle, ob ein Graffito legal oder illegal gesprüht wurde. Als Ergebnis seiner Untersuchung zieht Meier den Schluß, daß “Graffiti zwar mittlerweile als jugendkulturelle Praxis in die Jahre gekommen” sei, “jedoch als Reviews 192 kreative Ausdrucksform weiterhin über gesellschaftskritisches und subversives Potenzial” verfüge (S. 207). Die Philosophin Heidi Salaverria bemüht keinen geringeren als Hegel und sein Verständnis von Anerkennung als Kampf, als “asymmetrisches Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis” (S. 209), um den Tanz - wie in den Tanzformen Krumping und Breakin - als das ästhetisch inszenierte Ringen um Respekt zu verstehen. Freilich könne man die anderen nicht zur Anerkennung zwingen, sondern nur dafür gewinnen, aber im Rekurs auf Kants ästhetischen Gemeinsinn, den Sensus Communis, gewinnt sie Überzeugung, daß “wir […] in unseren subjektiven ästhetischen Erfahrungen von Anderen […] anerkannt werden” (S. 224). Das sehen die Breakdancer sicher auch so. Der Soziologe Ronald Hitzler schließlich nimmt die posttraditionale Techno-Szene unter ökonomischen Aspekten unter die Lupe und fragt, wie ‘kreativ’ die Veranstalter und Organisatoren von Techno-Veranstaltungen heute sein müssen, damit der mittlerweile nicht mehr ganz so taufrische Hype in diesem Segment der Popkultur nicht vollends abflaut. Hitzlers Recherchen zeigen, daß dies vor allen Dingen durch Erweiterung des Event-Angebots und originelle Locations geschehe. Die Veranstalter böten an, was ihnen als Techno-Experten und Kennern der Szene selber auch gefallen würde und sind damit offenbar auch ökonomisch auf der sicheren Seite. In dem “spielerischen Unternehmertum”, das im Gegensatz zum zweckrationalen Handeln mit “Abwägen von Zweck, Mitteln, Kosten, Folgen und Nebenfolgen” stehe (S. 245), sieht Hitzler jedenfalls noch ein großes Potential. Dieses Schlußkapitel setzt mit seiner wirtschaftlich ausgerichteten Fragestellung und dem gelungenen Ausblick noch einmal einen etwas anderen Akzent und ist nicht wie die meisten anderen Beiträge auf den Bereich der HipHop- Kultur beschränkt. Deren Übergewicht erweckt streckenweise den Eindruck, daß die Community von HipHop, Rap und Breakdance etwas affirmativ ausschließlich mit Kreativität und deren Ausdrucksformen in Verbindung gebracht wird, nicht aber mit weniger erfreulichen Elementen wie dem in Teilen dieser Subkultur stilprägenden Machismo oder der primitiven Homophobie wie in den Songs unter anderen von Eminem, Massiv oder Bushido (dessen profunde Erkenntnisse, von einem Schreibhelfer zu Papier gebracht, die Bestsellerlisten anführen). Das reaktionäre Männerbild, wie es etwa im Gangsta-Rap kultiviert wird, will dem Rezensenten nicht gerade als Ausbund fortschrittlicher Kreativität erscheinen. Wenn der Rapper G-Hot in seinem populären Song “Keine Toleranz” (2007) zu Gewalt gegen “Schwuchteln” aufruft und sich dagegen verwahrt, von “Tucken” (wie dem Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit) regiert zu werden, wäre das gelegentlich auch mal einen kritischeren Blick auf die kommerziell in Deutschland erfolgreichste Szene wert, der es immerhin gelungen ist, das Wort schwul wieder als Schimpfwort durchzusetzen, mit dem einer aktuellen Untersuchung von Johannes Möhring (2008) zufolge 72 % der befragten Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren die Bedeutung “blöde, scheiße, uncool” verbinden, die das Wikipedia-Wörterbuch unter http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schwul [29.01.2009] mittlerweile als Zweitbedeutung verzeichnet. Literatur Eco, Umberto 2 1991: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München: Wilhelm Fink Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1983: “Alternative Dialoge? Ästhetik und Illusion der Verständigung in jugendlichen Subkulturen”, in: Wolfgang Kühlwein (ed.), Texte in Sprachwissenschaft, Sprachunterricht, Sprachtherapie (= forum Angewandte Linguistik 4), Tübingen: Gunter Narr, 24-37 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2003: “Sprachwandel im Spiegel der Alternativpresse von Jugend-Subkulturen in Österreich und der Schweiz”, in: Eva Neuland (ed.), Jugendsprachen - Spiegel der Zeit, Frankfurt/ Bern/ New York: Peter Lang, 285-306 Möhring, Johannes: “Ey schwul, oder was? ”, in: Augsburger Allgemeine v. 9. April 2008 Simmel, Georg 1993: “Das Problem des Stiles” [1907], in: id., Gesamtausgabe, 24 vols., vol. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 II, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 274-384 Wittgenstein, Ludwig 1984: Vermischte Bemerkungen [1949], in: id., Werkausgabe in acht Bänden, vol. 8., Franfurt/ M.: Suhrkamp Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)