eJournals Kodikas/Code 31/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2008
313-4

Ulrich Namislow: Reizwörterbuch. Für Wortschatzsucher. Mit einem Nachwort von Elke Donalies. Obernburg a.M.: Logo-Verlag 2008, 104 Seiten, ISBN 978-3-939462-07-1

121
2008
Dagmar Schmauks
kod313-40355
Reviews Arnold Groh (Hrsg.): Was ist Zeit? Beleuchtungen eines alltäglichen Phänomens. Berlin: Weidler 2008. 223 S., 30,00 , ISBN 978-3-89693-513-7 Wie A RNOLD G ROH in der Einführung zu seinem Sammelband betont, haben wir ähnlich wie Augustinus keine Antwort auf die umfassende Frage “Was ist Zeit? ” Wir wissen lediglich, dass wir nur im Zeitfenster der Gegenwart wahrnehmen und handeln können, während die Vergangenheit nicht mehr veränderlich und die Zukunft nur ein Feld von Wahrscheinlichkeiten ist. In unserem dreidimensionalen Lebensraum bewegen wir uns vergleichsweise frei, hingegen erleben wir Zeit so, als nähme uns der “Fluss der Zeit” mit in die Zukunft - wobei dieses passive Getragenwerden mit unseren Eingriffsmöglichkeiten verwoben ist. Bereits die frühesten bildlichen Darstellungen wollten bestimmte Augenblicke festhalten, um sie für die Zukunft zu bewahren. Viele sehr unterschiedliche Disziplinen von der Physik über die Neurowissenschaften bis zur Literaturwissenschaft untersuchen besondere Aspekte der Zeit. Der vorliegende Sammelband vereinigt zwölf Artikel, die zusammen ein aufschlussreiches Panorama heutiger Ansätze bieten. H ANS P OSER betrachtet “Zeit und Ewigkeit bei Plotin und Augustinus” unter der Leitfrage, wie sich die Auffassung von Zeit als Orientierungshorizont menschlichen Seins historisch gewandelt hat. Seit der Antike setzen Philosophen die zeitliche Erfahrungswelt in Gegensatz zu einer zeitlosen Sphäre. Platon schlug eine ewige Ideenwelt vor, von der die wandelbare Wirklichkeit nur ein Abbild ist, das von einem Demiurgen geschaffen wurde. Plotin nimmt statt des mythischen Demiurgen eine geistige Bewegung der Weltseele an, an der auch die Menschen teilhaben. Augustinus wiederum deutet Plotin aus christlicher Sicht und ersetzt diesen Blick “von außen” auf die Wirklichkeit durch die Perspektive eines Einzelwesens, das sich Gott gegenüber weiß und ihn als “zeitloses Jetzt” erfährt. Aus ewiger Dauer ist also die Aufhebung von Zeitlichkeit geworden, welche die Ewigkeit Gottes ist. H ANS -E CKHART G UMLICH stellt zu Beginn seines Beitrags “Das Phänomen Zeit in der Physik” fest, die Überheblichkeit der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, die sich die Erklärung aller Phänomene anmaßte, sei durch eine “neue Bescheidenheit” ersetzt worden, beispielhaft bei Werner Heisenberg. Physiker untersuchen nicht “die Zeit”, vielmehr tritt physikalische Zeit in vielen Gestalten auf. Unser Alltagsbewusstsein entspricht weiterhin der Newton’schen Mechanik mit einer absoluten Zeit, die unabhängig von allen Ereignissen stetig “fließt”. Der Speziellen Relativitätstheorie zufolge hingegen gibt es keine absolute Gleichzeitigkeit und die Zeit vergeht umso langsamer, je schneller sich das betreffende System bewegt. Die Allgemeine Relativitätstheorie postulierte, auch die Schwerkraft verlangsame den Zeitablauf. Zwei Atomuhren in Berlin und auf der Zugspitze würden nach 100.000 Jahren eine Differenz von einer Sekunde anzeigen, und in Schwarzen Löchern käme die Zeit völlig zum Stillstand. Auch die Quantenmechanik widerspricht unseren Intuitionen über Zeit. Im Mikrokosmos kann man nicht voraussagen, wie sich Teilchen verhalten werden, sondern nur Möglichkeiten aufzeigen, ferner breitet sich die Kenntnis von Zuständen unabhängig von der Entfernung aus (was Visionen einer “Teleportation” als Fortbewegung in Nullzeit beflügelt). Für K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews 356 viele Tatsachen haben wir bislang gar keine Erklärungen. Wir kennen keine physikalischen Gründe für den Urknall, wissen nichts über die “dunkle Energie”, welche die Ausdehnung des Weltalls beschleunigt, und haben keine Ahnung, warum die Zeit nur in einer Richtung verläuft. Unter dem Titel “Der Zeitpfeil und die Entropie” erklärt T HOMAS R ICHTER , “Warum der Kaffee kalt und der Schreibtisch unordentlich wird”. Dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge nimmt die Entropie in einem geschlossenen System nie ab. Der Terminus “Entropie” wurde unabhängig voneinander in Wärmelehre und Informationstheorie definiert, und erst Ludwig Boltzmann führte die beiden Ansätze zusammen. Während sich auf der Ebene der klassischen Mechanik die Richtung von Prozessen widerspruchsfrei umkehren lässt, ist es in der Thermodynamik nicht mehr sinnvoll, über einzelne Teilchen zu sprechen. Durch ein virtuelles Experiment lässt sich belegen, dass bereits minimale Änderungen einer Konstellation dazu führen, dass bei einem “Rückwärtslauf” nie mehr die Anfangslage erreicht wird. Da die Anzahl von Konstellationen endlich ist, entsteht zwar theoretisch irgendwann auch wieder der Anfangszustand (“Wiedereinkehreinwand”), faktisch ist aber die Zahl der Möglichkeiten so hoch, dass die benötigte Zeit die geschätzte Dauer des Weltalls überstiege. Lebewesen können nur deshalb lokal die Entropie verringern (also Kaffee kochen oder ihren Schreibtisch aufräumen), weil die Erde kein isoliertes System ist. Wir nutzen die Entropiedifferenz der Sonne gegenüber dem Weltall, letztlich also den Entropievorrat, der beim Urknall entstanden ist. “Tradierung von Wissen setzt Haltbarkeit von Information voraus” ist die Kernthese von K LAUS K ORNWACHS . Unser Wissen über frühere Kulturen stammt überwiegend aus schriftlichen Zeugnissen. Umgekehrt müssen wir künftigen Generationen nicht nur die Kontexte für Dokumente überliefern, sondern sie auch über bleibende Gefahren informieren, etwa Lagerstätten von radioaktivem Abfall, Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, Landminen und Weltraumschrott. Soll Wissen über viele Generationen tradiert werden, so wird die Lebensdauer der Datenträger zum entscheidenden Aspekt. Zumindest langlebige Wissensarten wie Erklärungs- und Grundlagenwissen erfordern eine Tradierung des heutigen Wissens und somit brauchbare Kopiermöglichkeiten vom Abschreiben bis zur digitalen Kopie. Die Tabellen zeigen, dass die Dokumente im Laufe der Geschichte zugleich immer zahlreicher als auch immer kurzlebiger wurden. Während Steintafeln (bis 10.000 Jahre) und Papyri (etwa 2.000 Jahre) zwar mühsam herzustellen aber sehr dauerhaft sind, bleiben heutige Datenträger wie Papier, CD und Chip nur wenige Jahrzehnte lang haltbar bzw. lesbar - lediglich die Stahlplatte der Voyager-Sonde soll im Vakuum eine Million Jahre überdauern und das Wissen über uns in die Tiefen des Weltalls tragen. R EINHARD K RÜGER untersucht “Unendlichkeit und Kosmos in Spätantike und Mittelalter. Die Grundlagen des mittelalterlichen Zeitbegriffs und der Zeitvorstellung”. Vor allem Alexandre Koyré prägte die Vorstellung, das Mittelalter habe die Kugelgestalt der Erde nicht gekannt und das Weltall als begrenzt aufgefasst, so dass Giordano Brunos Behauptung eines unendlichen Alls eine echte Denkwende der Renaissance ausgelöst hätte. Krügers Quellenanalysen zufolge lassen sich jedoch Beschreibungen eines unendlichen sphärischen Alls bis in die Antike zurückverfolgen. Schon in der aus dem zweiten Jahrhundert stammenden Textsammlung Corpus Hermeticum wird ein grenzenloser Flug durch kosmische Sphären beschrieben, wie ihn Bruno sehr viel später als eigene originelle Leistung darstellt. Man kann nachzeichnen, dass die vermeintlich erst neuzeitliche Kosmologie - also ein grenzenloser Kosmos und eine im Vergleich dazu winzige Erde - zu Brunos Zeit bereits eine lange Denktradition hatte, so dass sie keineswegs eine tiefe Bestürzung auslösen konnte. Auch Freuds spätere Behauptung, die Kopernikanische Wende sei eine der drei großen narzisstischen Kränkungen des Menschen, spiegelt darum kaum das Erleben von Brunos Zeitgenossen wider. Unter dem Titel “Zeitempfinden” bieten S TE - FAN G LASAUER und E RICH S CHNEIDER eine kompakte Übersicht über die experimentellen und theoretischen Forschungen in einem bestimmten Bereich der Zeitwahrnehmung, nämlich dem von Sekunden bis Minuten. Im Alltag müssen wir sehr häufig die Dauer bis zum Eintreten eines Ereignisses abschätzen, etwa wenn wir ein Ei kochen oder auf den Bus warten (= prospektive