Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2008
313-4
Ingo Warnke (ed.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin: de Gruyter 2007, 283 S., ISBN 978-3-11-019299-5 Ingo Warnke & Jürgen Spitzmüller (eds.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin, de Gruyter 2008, 449 S., 978-3-11-020041-6
121
2008
Alfonso Del Percio
kod313-40362
Reviews 362 terscheidet sich von der seiner Vorgänger, Zeitgenossen, und Nachfolger: sie war auf den Menschen gerichtet. Zur “menschlichen” Semantik bei Bréal: Das Studium der Sprache kann sinnvoll sein, wenn es den sprechenden und kommunizierenden Menschen in den Mittelpunkt stellt. Bréal betrachtet die Sprache als Kommunikationsmittel und unterscheidet sich somit von den anderen Sprachwissenschaftlern, die die formale und funktionale Weiterentwicklung der Sprache erkunden wollten. Hiervon kam eine neue Disziplin zustande. Mit dieser “menschlichen” Semantik zeigt er die Wichtigkeit und seinen Vorzug der synchronischen Sprachforschung der diachronischen gegenüber. Sein Argument dafür ist, dass die Sprechaktkontrahenten nicht zu wissen brauchen, welche Bedeutung ein Wort im Laufe der Geschichte hatte, sondern für sie und deren Verständigung ist die aktuelle Bedeutung wesentlich. Wortsemantik zur Satzsemantik: Außerdem ist für Bréal die Zugehörigkeit eines Lexems zu einem Wort und eines Wortes zu einem Satz zu berücksichtigen, wenn man die Bedeutung erschließen will. Diese [Lexem und Wort] können nicht außerhalb ihres “Ko-Textes” und Kontextes erläutert werden, ansonsten machen sie keinen Sinn. Trotz allem bleibt die Frage, ob Michel Bréal der Erfinder oder Erneuerer der Semantik sei. Diese fußt in die Debatte des Ursprungs der Disziplin. Darauf wird im Folgenden nicht detailliert eingegangen. Nur soll auf manches Aufmerksamkeit gezogen werden. Bréal lässt sich in den ersten Schritten der späteren Semantik schulen (nach seiner Agrégation 1857 bei anderen bekannten Professoren), nämlich bei Franz Bopp und Albrecht Weber. Er wurde sicher von anderen Studien beeinflusst. In der Tat hat das Studium der historischvergleichenden Sprachwissenschaft bei beiden Professoren einen beträchtlichen Einfluss auf Bréal ausgeübt. Und vor ihm befand sich auch Christian Carl Reisig im Umkreis dieses Fachgebiets, der sich schon 1839 mit seinem Begriff der Semasiologie der allgemeinen Bedeutungslehre gewidmet hatte. Vielleicht geht Bréal von dieser “allgemeinen” Lehre aus, um von seiner Semantik eine eigenständige Disziplin zu machen. Er behauptet sogar: “C’est par le détail que les sciences vivent et se renouvellent” (S. 118). Das sollte nicht außer Acht gelassen werden. III. Bréal und die moderne Fremdsprachendidaktik Bemerkenswert sind Bréals Ansätze, die ihn als einen der hervorragendsten Fremdsprachendidaktiker am Ende des 19. Jahrhunderts anerkennen lassen. Er liefert bahnbrechende Tipps und Methoden für das Fremdsprachenlernen. Nach ihm sollte Akzent - beim Erlernen lebender Sprachen wie Englisch und Deutsch, im Gegensatz zu Latein als toter Sprache - auf das Mündliche gelegt werden, das den Vorrang vor dem Schriftlichen habe, denn der Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen sei leichter als der umgekehrte Weg. Dabei spiele die Aussprache eine besondere Rolle, denn La prononciation incomplètement apprise, ou (ce qui revient au même) la fausse prononciation est un mal qui accompagnera l’élève à travers les classes et à travers la vie. […] Il ne suffit pas de répéter, ni même de crier les mots: en vain vous éleverez la voix, votre écolier, habitué comme il est, les entend non comme vous les prononcez, mais comme il les prononce lui-même. (S. 282) Hier zeigt sich die lebenslange Wichtigkeit der richtigen Aussprache beim Lernprozess, die im Hören und in der Nachahmung bzw. Widergabe des Gehörten besteht. Der nächste Schritt ist das Vermitteln der Grammatik und des Wortschatzes, die nicht außerhalb seines “Kontextualisierung”-Konzepts erfolgen sollen, d.h. durch Satzmodelle (“phrases-types”). Die Literatur ist auch nicht in diesem Programm zu vernachlässigen. Durch sein pragmatisches Prinzip empfieht er die Lektüre altersgemäßer, umgangssprachlicher Texte und neu eingeführter didaktisierter fremdsprachlicher Zeitschriften. Diese neue Auffasung - mit dem provokativen Satz begründet, es gebe keine Trennung zwischen Umgangs- und Literatursprache - ist in Abrede zu stellen. Reviews 363 Zwar ist die Behauptung “Die Literatursprache speise sich aus dem täglichen Sprachgebrauch” (S. 288) unumstritten; aber es gibt sicher einen Unterschied sowohl für Muttersprachler - die sich tagtäglich der Umgangssprache bedienen, um sich mit den literarischen Texten auseinanderzusetzen - als auch für Fremdsprachenlerner, die die Fremdsprache lernen oder studieren und sich deren nur als Fachsprache bedienen. Zudem soll darauf verwiesen werden, dass nicht alles Umgangssprachliche bzw. Mündliche zu Papier gebracht werden kann. Diese feinen Unterschiede zwischen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit bzw. zwischen Umgangssprache und Literatursprache sind nicht von den Herausgebern übersehen worden, weil sie unterschiedlichen Gesetzen gehorchen. Im Großen und Ganzen aber könnte man Bréals Ansätze als Stützpunkte bzw. Grundlagen für manche Germanistikabteilungen in Entwicklungsländern betrachten: Man denke im französischen Sprachraum außer der Phonetik, des Hörverständnisses u.a. an die beiden wichtigen Übersetzungsdisziplinen “Version” und “Thème”, die die Kenntnisse des Lerners vertiefen sollten. Hier sind Techniken (bspw. in der deutsch-französischen Übersetzungsübungen [“Version”]) wie “Chasséscroisés” heute noch von höchster Bedeutung. IV. Andere Wirkungsfelder a) Michel Bréal und der Beginn der experimentellen und angewandten Phonetik Hier hat Bréal viele Projekte in die Wege geleitet. Wenn er selbst nicht daran beteiligt ist, hat er dazu geholfen, die Recherchen anderer Forscher mit Mitteln oder durch Ünterstützung des Ministeriums, dessen Mitglied er war, zu ermöglichen. Viele Wissenschaftler sind ihm in den Fußstapfen getreten und haben seine Ideen weiterentwickelt. Er hat mit der experimentellen Phonetik einem neuen Forschungsgebiet den Weg gebahnt, das aber nicht weitergeführt wurde, weil seine vielen Schüler von ihm abgewichen sind. b) Michel Bréal und das deutsche Pädagogikmodell Er gilt seinerzeit als Koryphäe der französischen Sprachwissenschaft. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass seine Ideen über eine Ernnerung des französischen Schulsystems von seinen schulischen und Lebenserfahrungen in Deutschland herleiten. Dass er in Landau geboren wurde und dort die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht, machte ihn mit einigem vertraut. Wenn er Deutschland immer als Vorbild von Bildundssystem zitiert, da weiß er aus eigener Erfahrung, wovon er redet. Schlussfolgerung Mit einem viel zitierten Satz von Goethe soll von dem internationalen Ruf Bréals zu seiner Zeit und in der Gegenwart gezeugt werden: Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten; er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert. Und so ist jeder Übersetzer anzusehen: Dass er sich als Vermittler dieses allgemein-geistigen Handels bemüht und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr. 1 (Hervorhebungen nicht im Original) Zurück zum Ziel dieses Werkes - das es sei, dem In-Vergessenheit-Geraten-Sein von Bréals Arbeit besonders im deutschen Raum standzuhalten - ist zu behaupten, dass Bréal sein Leben der Anerkennung der deutschen Sprache gewidmet hat. Er hat Interesse an Deutschland (durch sein Schulwesen und seine Wissenschaftler) geweckt, nicht nur in Frankreich sondern auch in der ganzen Welt. Seine Wirkung über die Grenzen der Linguistik hinweg ist auch in anderen Domänen zu konstatieren. Er hat sich mit Leib und Seele für den Frieden eingesetzt; dieser Einsatz ist nicht auf beide Länder Frankreich und Deutschland oder auf Europa zu reduzieren, weil der 1914 in Europa ausgebrochene Krieg nach seinem Tod zum Weltkrieg wurde. Deshalb ist er ein Weltbürger, dem alle Hommagen und Ehren gebühren sollen. Wenn er nicht zu seiner Zeit anerkannt wurde, ist das teils auf die damalige politische Lage zurückzuführen und teils auf die Tatsache, dass Reviews 364 er sich für so viele Gebiete interssierte, dass seine allgemein aufgeworfenen Ansätze nicht vertieft und manchmal praxisfern blieben. Wärmstens sind seine umfangreichen Schriften zu empfehlen, was ein doppelter Gewinn sein könnte: erstens für die Unsterblichkeit des Wissensschaftlers Bréal und zweitens für die Bereicherung und den Fortschritt der Wissenschaft. Anmerkung 1 German Romance. Edinburgh 1827. In: Johann Wolfgang von Goethe. Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17-22]. Band 18. Berlin 1960 ff. Ignace Djama Allaba (Bern) Johannes Heinrichs: Sprache. Band 1: Die Zeichendimension. Das elementare Spiel der Zeichengestalten, München etc.: Steno 2008, 262 S., ISBN 978-954-449-345-5 Johannes Heinrichs: Sprache. Band 2: Die Bedeutungsdimension. Das subjektive Spiel der objektiven Bedeutungen (Semantik), München etc.: Steno 2008, 375 S., ISBN 978-954-449-351-6 Bei den vorliegenden Bänden handelt es sich um die ersten beiden der auf insgesamt fünf Bände angelegten philosophischen Sprachtheorie von Johannes Heinrichs, die wiederum den zweiten Teil seiner Philosophischen Semiotik darstellt. Der Autor bezeichnet diese als vollständig überarbeitete Neuauflage der 1980/ 81 in zwei Teilen erschienenen “Reflexionstheoretischen Semiotik”. Wie schon zur Erstauflage setzt sich diese aus einer Handlungstheorie (“Handlungen” (2007)) und einer Sprachtheorie zusammen. Diese knüpft unmittelbar an die Handlungstheorie an, in der “als die höchstreflektierte Gattung des Handelns […] das Ausdruckshandeln herausgestellt wurde und innerhalb dessen das Zeichenhandeln” (I, 24). Die wiederum höchstreflektierte Form des Zeichenhandelns stellt Heinrich zufolge die Sprache dar, deren logische Grundlagen den Gegenstand seiner ehrgeizigen Sprachtheorie bilden. Ehrgeizig ist Heinrichs’ Vorhaben neben seinem Umfang vor allem in inhaltlicher Hinsicht: Die vorgelegte Sprachtheorie “handelt von der Sprache der Menschheit” (I, 15) und untersucht darum vor allem “deren universale Strukturen” (I, 19) - eine Aufgabe mit durchaus sozialer Relevanz, denn “beim Menschen folgen aus dieser Logosfähigkeit universale Rechte” (ebd.). Die Möglichkeit der Entdeckung universaler Strukturen sieht Heinrichs durch seine besondere, ‘reflexionslogisch’ genannte Methode gesichert, welche “die Selbstthematisierung des menschlichen Bewusstseins allgemein und damit auch des Reflexionsvermögens selbst” (I, 38) unternimmt und darauf abzielt, Sprache “aus den Grundgegebenheiten des Selbstbewusstseins genetisch in ihren Strukturen zu rekonstruieren” (I, 42). Damit wendet sich Heinrichs ausdrücklich gegen sprachanalytische Positionen im Zeichen des linguistic turn und ihr Axiom von der Unhintergehbarkeit der Sprache, da Sprache ständig auf die vorsprachlichen Bewusstseinsstrukturen zurückverweist, aus denen sie hervorgeht. Die Sprachlogik, die den Gegenstand der vorliegenden Sprachtheorie bildet, rekonstruiert daher “die innere, prozessuale, d.h. vollzugstheoretische und dynamische Reflexionslogik der Sprache selbst” (I, 66), die, so Heinrichs’ These, über allen einzelsprachlichen Unterschieden steht. Bereits vorgreifend sei angemerkt, dass Heinrichs Grundansatz und sein Versuch der philosophischen Grundlegung einer semiotischen Sprachtheorie viele interessante und diskussionswürdige Punkte enthält. Problematisch wird dies jedoch spätestens in der konkreten Durchführung, die, von der Unübersichtlichkeit abgesehen, an vielen Stellen gleichermaßen gezwungen wie beliebig anmutet. Doch zunächst sei die Herleitung und Begründung der reflexionslogischen Methode nachgezeichnet. Ihren Ausgang nehmen Heinrichs’ Überlegungen von zwei einander ergänzenden Definitionen von Sprache: “Sprache ist solches Zeichenhandeln, das sich im Handlungsvollzug durch die gleichzeitige Verwendung von syntaktischen Metazeichen selbst regelt” (I, 25) und darüber hinaus “die intersubjektive Ausdrucks- und Äußerungsform des sich reflektierenden menschlichen Bewusstseins, seiner Reflexionsfiguren mit Hilfe von Zeichen und Metazeichen” Reviews 365 (I, 29) darstellt. Dies führt Heinrichs zur Syntaktik und somit zur Morris’schen Unterscheidung der semiotischen Dimensionen des Zeichengebrauchs. Dieses dreistellige Modell weist aber Heinrichs zufolge einige grundlegende Schwächen und Unklarheiten auf und wird daher durch ein vierstelliges Modell ersetzt. In diesem werden die drei bekannten Dimensionen Syntaktik, Semantik und Pragmatik durch eine vierte, im Anschluss an Georg Klaus (1972) “Sigmatik” genannte Dimension ergänzt, was zu einer gänzlich anderen Definition und Gewichtung der einzelnen Dimensionen führt: Die Sigmatik beinhaltet den “Bezug der Subjekte (Sprecher/ Hörer) auf konkrete Objektivität D […] mittels der Zeichengestalt Z” und wird auch die Bezeichnungsfunktion der Sprache genannt. […] Grundlegend für den sigmatischen Bezug ist das situationsgebundene Zeigen (Deixis) und die erste Einführung von Wortbedeutungen durch vielfältige Handlungseinbettung (I, 51). In der semantischen Dimension steht, im Gegensatz zu konkreten Denotaten in der Sigmatik, der Bezug auf allgemeine Sinngehalte im Vordergrund. Hier können die Unterscheidungen zwischen Anschauung und Begriff (Kant) sowie zwischen Bedeutung und Sinn (Frege) als Referenzpunkte herangezogen werden. Wie die Sigmatik bezieht sich somit auch die Semantik auf Objektivität, allerdings auf “eine in die Subjektivität reflektierte, subjektiv angeeignete Objektivität” (I, 53). Die pragmatische Dimension wird grundlegend anders aufgefasst als bei Morris. Es fällt auf, dass bei Heinrichs Themen, die normalerweise der Pragmatik zugehören, der Sigmatik zugeordnet werden. Dafür möchte er die Pragmatik, und er beruft sich hier auf einen an Austin und Searle anschließenden Pragmatikbegriff, allein der Sphäre des wechselseitigen, interpersonalen Handelns durch Sprache zugeordnet wissen. Die syntaktische Dimension schließlich wird von Heinrichs traditionsbewusst als die Dimension der Zeichenverknüpfungen charakterisiert. Doch stelle sie, anders als bei Morris, nicht die unterste, sondern im Gegenteil die höchstreflektierte Dimension der Sprache dar […]: die Zeichen beziehen sich ja nicht selber, sondern werden von verstehenden Subjekten aufeinander bezogen (I, 56). Hier steht also ein medialer, auf die Zeichen selbst zurückbezogener Zeichengebrauch im Vordergrund. Den vier so gefassten und hierarchisch gestuften semiotischen Dimensionen kann Heinrichs somit die vier Sinnelemente zuordnen, die sich schon in der Handlungstheorie ebenfalls hierarchisch gestuft ergeben haben: 1. Sigmatik - Objekt; 2. Semantik - Subjekt; 3. Pragmatik - anderes Subjekt; 4. Syntax - Medium (vgl. I, 50). Nun ist sich auch Heinrich der prinzipiellen Schwierigkeit bewusst, die einzelnen Dimensionen trennscharf von einander abzugrenzen, da z.B. auch das situationsgebundene Zeigen (Sigmatik) auf einen verstehenden Partner angewiesen ist, was somit pragmatische Komponenten mit hineinspielen lässt. Durch eine ‘reflexionslogische’ Interpretation dieser wechselseitigen Durchdringung der Dimensionen wird diese vermeintliche Schwierigkeit jedoch als die grundlegende Eigenschaft von Sprache und gleichzeitig als methodische Ressource für den weiteren Fortgang der Untersuchung aufgefasst: Die “dialektische Präsenz des Ganzen durch Spiegelung jeder Schicht (Dimension) in jeder anderen” (I, 63) führt je zu einer Viergliederung der vier Dimensionen (1.1: sigmatische, 1.2: semantische, 1.3: pragmatische und 1.4: syntaktische Sigmatik usw.). Nun kann jedes dieser Glieder wiederum nach den vier Sinnelementen, die jeweils im Vordergrund stehen, gegliedert werden und jedes dieser Unterglieder abermals. In dieses somit 256 Schubladen umfassende Schema gilt es nun das gesamte Welttheater des Sprachgebrauchs einzusortieren. Die Durchführung kann wohl berechtigterweise als ein Durchdeklinieren bezeichnet werden, und die Ergebnisse wirken, wie bereits erwähnt, an vielen Stellen, und ganz besonders im zweiten Band, etwas gezwungen. Oftmals hat man als Leser den Eindruck, dass weniger der sachliche Gehalt und die Vielfalt des untersuchten Materials als vielmehr der unbedingte Wille zur Aufrechterhaltung des Schemas die Konstruktion und Auffüllung der einzelnen Schubladen anleitet. Der Zwang, wirklich zu jedem der 256 Unterglieder noch etwas gemäß seiner Position im Gesamtsystem sagen Reviews 366 zu müssen, strapaziert die durch das Schema vorgeschriebenen Begrifflichkeiten mitunter zu sehr. So muss es innerhalb der pragmatischen Sigmatik (1.3), in der es um die Bedeutungseinführung in der Handlungseinbettung geht, auch ein objektbezogenes Unterglied geben (1.3.1), das Heinrichs in der Referenz verkörpert sieht. Diese muss dem Schema zufolge auch eine auf ein anderes Subjekt bezogene Ausprägung haben (1.3.1.3), und Heinrichs findet (oder er-findet? ) hier die konventionelle, verabredete Referenz (vgl. I, 151). Was so betrachtet etwas gezwungen erscheint, ist in umgekehrter Blickrichtung schlicht beliebig: Dass sich das Relativpronomen welcher im Kapitel 2.1.1.3 findet, da innerhalb der sigmatischen Semantik (2.1), die semantisierte Zeigefunktionen untersucht, auch objektbezogene Demonstrativa (2.1.1) thematisiert sind, von denen eben die Relativpronomen “auf einen syntagmatischen Zusammenhang zur intersubjektiven [(2.1.1.3)] Einführung ihrer Bedeutung angewiesen sind und dies auch thematisieren” (II, 44), lässt sich aus dem besagten Wörtchen selbst kaum rechtfertigen. Vor allem bei den Kapiteln, die einen Bezug zur intersubjektiven bzw. pragmatischen Dimension aufweisen und in denen von den sozialen Funktionen von Sprache die Rede ist, hätte ein wenig Empirie den Überlegungen Heinrichs’ sicher gut getan. Über die Rolle von Interjektionen im sozialen Regelverhalten vor dem Hintergrund ihrer konkreten Wahrnehmbarkeit (vgl. I, 92) lässt sich wohl allein reflexionslogisch-rekonstruierend nur wenig aussagen - entsprechend dünn sind auch Heinrichs’ Ausführungen hierzu. Mit fortschreitender Lektüre wird das Schema, das ja eigentlich ordnen soll, zunehmend Ursache der Verwirrung, und nur durch stetes Zurückblättern zum Inhaltsverzeichnis zur Vergegenwärtigung der genauen Position innerhalb des (daran sei hier erinnert) im Ganzen fünfbändigen Werkes kann der Leser den Überblick bewahren und über Sinn und Begründetheit der einzelnen Ausführungen entscheiden. Die Durchführung der vorliegenden Sprachtheorie enttäuscht also, obwohl wie bereits erwähnt der Grundansatz viele interessante Punkte bereithält. Hier sei vor allem die Kritik am Morris’schen Pragmatikbegriff hervorgehoben, dessen mangelnde Schärfe und Begründetheit Heinrichs durchaus plausibel zu zeigen vermag. Auch die an Kant geschulte These, “dass gerade die kennzeichnende Objektivierungsfunktion der Semantik eine Subjektleistung darstellt” (II, 17), ist es wohl wert, einmal umfassend auf ihre möglichen Konsequenzen für eine philosophisch fundierte Sprachtheorie durchdacht zu werden. Gleichwohl unternimmt Heinrichs selbst zu wenig, um diese Ansätze wirklich fruchtbar zu machen, und verliert sich allzu bald in seinem eigenen methodischen Schema. Doch auch in theoretischer Hinsicht bleibt die vorliegende Sprachtheorie an mancher Stelle unbefriedigend. Vor allem das Ausschlagen der in der semiotischen Tradition bereitliegenden Hilfen und Vorarbeiten fällt ins Auge. So muss sich der Leser fragen, warum Heinrichs etwa die Peirce’sche Semiotik trotz der Erwähnung seiner Schriften im Literaturverzeichnis nahezu völlig unberücksichtigt lässt. Als Vertreter eines semiotischen ‘Gevierts’ sieht er womöglich Peirce wegen seines triadischen Zeichenmodells von vornherein als nicht einschlägig an - dabei hätten gerade Peirce’ Begriffe des Interpretanten (nicht der Morris’sche, den Heinrichs zurecht kritisiert) sowie der Semiose (Peirce 1993) z.B. bei der Ausarbeitung der These der vollzugstheoretischen Voraussetzungen der Verbindung der Zeichen zueinander durch Interpretationsleistungen verstehender Subjekte (vgl. I, 56) hilfreich sein können. Bei der Unterscheidung von Sigmatik und Semantik, die den Übergang vom situations- und objektgebundenen Zeigen hin zu einem Zeigen auf subjektive, aber allgemeine Gehalte markiert, wäre ein Blick auf Bühlers Konzept der Deixis am Phantasma (Bühler 1934) von Nutzen gewesen. Heinrichs verweist zwar auf die Bühler’schen Begriffe des Zeig- und Symbolfeldes (vgl. I, 142), ohne jedoch den Faden ernsthaft aufzunehmen. Die Ausführungen zur Sigmatik und zur Wahrnehmbarkeit des Zeichens hätten durch die Berücksichtigung des Bühler’schen Prinzips der abstraktiven Relevanz sowie seiner ausdruckstheoretischen Überlegungen (Bühler 1933) mit Sicherheit an Kohärenz gewonnen. Doch sei abschließend zugegeben, dass ein so systematisch angelegtes Werk wie Heinrichs’ Sprachtheorie wohl erst in seiner Gesamtheit,
