Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2008
313-4
Ellen Fricke: Origo, Geste und Raum. Lokaldeixis im Deutschen (= Linguistik - Impulse und Tendenzen 24), Berlin/New York: de Gruyter 2007, 401 S., ISBN 978-3-11-019227-8
121
2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod313-40373
Reviews 373 nen, New Age und, nicht zuletzt, noch der Ursprung der Sprache. Dem Leser wird nochmals versichert, dass die Lehre des Impurismus esoterisch tradiert sei (Tarot, Kabbala etc.) und im Laufe der Jahrtausende als Weltbild hinter den Wissenschaften und ihren Vorläufern (Astrologie, Alchemie) und als Quelle von Fachbegriffen benutzt wurde. Doch damit noch nicht genug: jegliche Form wissenschaftlicher Terminologie sei von impuristischen Urbildern geprägt. Das Ganze mündet in die ungeheuerliche Erkenntnis, eine “Weltformel der Wissenschaften, ihrer historischen Vorläufer und der Esoterik” entdeckt zu haben, die auch die Literaturwissenschaft und die Linguistik nachhaltig beeinflussen werde. So ist es die erklärte Absicht des Autors, die wegen ihrer gegenwärtigen Interpretationspraxis in eine Sackgasse geratene Germanistik durch den Impurismus wieder auf den Pfad wissenschaftlicher Tugend zu führen, da das Konzept mit der Idee, alles auf die Genitalien zurückzuführen, die Implementierung eines Decodierungsprozesses bedeute und analog dazu die faktische Überwindung der bisherigen Hermeneutik. Wenn das nicht Grund genug ist, eine neuerliche Renaissance zu prognostizieren, in der die Schönheit der Mythen, der Kunst, der Wissenschaft und der Sprachen des Altertums wiederentdeckt werde! Was nun zeichnet ‘impuristische Literatur’ aus? Sie sei von tiefgründiger Bedeutung und nur wer im Besitz der “alten Weisheit” sei, könne sie hervorbringen, denn gute Literatur und Dichtung sei nur, was sich impuristisch entschlüsseln lasse (weshalb ein Grossteil moderner Lyrik nichts weiter als “kunstgewerbliche Imitation” sei). In einem kreativen Akt konstruiere der Dichter ein sprachliches Gewebe, das einzig der Codierung eines den Worten von Anfang an inhärenten Ur- Sinns diene. In der Entschlüsselung dieser Tiefe - De profundis clamavi - “wird die alte Welt aus Schöpfungstagen wiederhergestellt.” Diese Art von Codierung und Decodierung ist allerdings nur mittels Applikation von Entstellungs- und Verfremdungspraktiken möglich (daher erklärt sich übrigens auch die Herkunft des Wortes ‘Impurismus’: in Anspielung auf H.M. Enzensbergers Übersetzung ausgewählter Gedichte von Neruda unter dem Titel “Poésie impure” kann dieser Terminus in etwa mit ‘Sprachunreinheit’ übersetzt werden), zu denen unter anderen etwa Polysemie, Mehrsprachigkeit, Synästhesien, Metaphorik, Gemination, Schüttelreime, Assonanzen und Alliterationen gehören (aufgezählt werden insgesamt 55). Um Belege für seine Theorie liefern zu können, analysiert Werner abschliessend u.a. Auszüge aus dem altägyptischen Totenbuch, ein altnordisches Runenlied aus der Edda, die Offenbahrung des Johannes, 26 Grimmsche Märchen, sowie Gedichte von Rimbaud, Schiller, Brentano, Bachmann, Benn und Enzensberger. Was kann man dieser kulturhistorischen Emulsion nun ernsthaft abgewinnen, ausser vielleicht der Erkenntnis, dass das Lager pseudowissenschaftlicher Theoriebastler um ein Mitglied reicher geworden ist? Diese Zuordnung von Organ und Text kannte man bisher eigentlich nur bei James Joyce, aber wo dieser aufgrund seiner intellektuellen Originalität mit einem von nahezu avantgardistischer Brillanz zeugenden literarischen Stilmittel zu überzeugen vermag, bleibt hier nur reiner Obskurantismus. Eigentlich gilt Hegel als letzter grosser Systembauer - der Autor sucht ihn auch in punkto Unverständlichkeit zu übertreffen (wenn sich beispielsweise Werners pansemiotischer quasi-Weltgeist im ‘Weltbild der Windmühle’ manifestiert) - allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Hegel nach wie vor Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Diskussionen ist, wogegen man in diesem Fall von Anfang an in einem inhaltslosen Netz aus Beliebigkeit, Spekulation und Grössenwahn gefangen scheint. So verwundert es auch nicht mehr, wenn der Autor auf seiner Homepage schreibt, dass man nur mit dem Wissen vom Impurismus zur kulturellen Elite, die Kunst und Literatur prägt und versteht, gehören könne. Es bleibt der Eindruck eines sich masslos überschätzenden Kulturalchemisten, der das schriftliche Zeugnis seiner hermetischen Esoterik zum Wendepunkt der Geistesgeschichte hochstilisiert. Den von Werner intendierten methodologischen Ikonoklasmus wird dieses Werk somit wohl eher nicht herbeiführen. Eine stupende Fleissarbeit - zweifellos - , mit ernsthafter Wissenschaft hat das freilich wenig zu tun. Nicolas Bollinger (Bern) Reviews 374 Fritz Hermanns & Werner Holly (eds.): Linguistische Hermeneutik, Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen: Niemeyer 2007, 426 S., ISBN 978-3-484-31272-2 “Die Sprache ist Verkehr der Menschen untereinander und nur die sprachlichen Vorgänge, welche wir als Hörende verstanden haben, können uns beim Sprechen als Sprachmittel dienen” (S. 1). Mit diesem klassischen Zitat von Philipp Wegener (Wegener 1885: 182) suchen der kürzlich verstorbene Fritz Hermanns und sein Mitherausgeber Werner Holly einen Einstieg in die linguistische Hermeneutik. Die ist eigentlich nicht neu, schon Ferdinand de Saussure beschrieb Sprache als Mittel, um zu verstehen und sich verständlich zu machen - “de comprendre et de se faire comprendre” (Saussure 1967: 9). Auch das war nicht der Anfangspunkt. Wie man einen Text möglichst eindeutig interpretieren kann, interessiert die Wissenschaft, seit es Schrifttexte gibt. Die älteste bekannte Wissenschaft, die sich mit Textauslegung befaßt, ist bekanntlich die Theologie mit der Bibelexegese - aber auch Rechts- oder Literaturwissenschaften setzten sich mit der Verständlichkeit von Texten auseinander (Busse 1991: 7), wobei sie sich dazu vorwiegend an philosophischen Theorien orientierten. Der rezeptionsästhetische Ansatz der Literaturwissenschaft wurde als eine der wenigen europäischen Theorien sogar in den USA rezipiert. Anders als die sog. Autonomieästhetik, die im Sinne Kants vom überzeitlichen Charakter des Werks ihren Ausgang nimmt, versteht sich die Rezeptionsästhetik als leserorientierter Ansatz. Nicht eine “methodisch regulierte Aufnahme eines vorgegebenen Text-Sinns” (Brenner 1998: 102) steht im Vordergrund, sondern eine aktive Leistung des Lesers - der Dialog zwischen Leser und Werk. Der Anteil der Sprachwissenschaft an der Entwicklung einer allgemeinen Theorie der Textinterpretation blieb demgegenüber bislang weniger erkennbar (S. 8). Auch die Linguistik könne sich nicht mehr der Einsicht verschließen, daß Verstehen die Grundlage “jeglichen gelingenden Kommunizierens” sei, so Hermanns & Holly (S. 1) in ihrer Einleitung. Das Ziel ihres Bandes ist es denn auch, dem in der Linguistik vorherrschenden Mißtrauen gegenüber der Hermeneutik entgegenzuwirken. Die Linguistik solle nicht nur intern und extern für eine eigene Verstehenswissenschaft einstehen und am Diskurs anderer Verstehenswissenschaften teilnehmen, sondern “linguistische Hermeneutik” als neues Teilfach einführen. Der Sammelband will einen Überblick darüber geben, wie eine solche linguistische Hermeneutik ausgegestaltet sein könnte, wobei sich die verschiedenen Beiträge vier Teilbereichen zuordnen lassen: (i) Hermeneutik und Linguistik, (ii) theoretische Hermeneutik, (iii) empirische Hermeneutik und (iv) methodologische und praktische Hermeneutik. Bernd Ulrich Biere (S. 7-21) macht den Anfang mit einem anspruchsvollen wissenschaftshistorischen und linguistikkritischen Beitrag zum Thema “Hermeneutik und Linguistik”. Metaphernreich steigt Biere in den Artikel ein und deklariert, was die Wissenschaft vom Götterboten Hermes lernen könnte: “jene Portion ‘Frechheit’, die es vielleicht braucht, um sich erneut auf die unsichere, und mehr noch, die ‘unendliche Aufgabe’ des Verstehens einzulassen” (S. 7 f.). Biere erwähnt die methodologischen Kontroversen sowie die theoretische und methodische Rolle des Verstehens, stellt die Positionen ‘Positivismus’ und ‘Antipositivismus’ einander gegenüber und fordert eine Klärung des Verstehensbegriffs. Es müsse geklärt werden, inwieweit die germanistische Sprachwissenschaft an eine ältere hermeneutische Tradition anknüpfen und wo sie neue Perspektiven gewinnen könne. Es folgt ein fachgeschichtlicher Rückblick über die germanistische Linguistik sowie ein historischer Abriß der hermeneutischen Tradition bis zurück ins 18. Jahrhundert. Biere unterscheidet zwischen “linguistischer Hermeneutik”, die er eher ablehnt, da sie die Rückkehr zu den Spezialhermeneutikern des 18. Jahrhunderts bedeuten würde, und einer “hermeneutischen Linguistik”, die er als sprachtheoretische Grundlage sieht. Im zweiten Teil mit fünf Beiträgen zur theoretischen Hermeneutik vergleicht Ludwig Jäger (S. 25-42) zunächst die beiden sprachtheoretischen Positionen von Wilhelm v. Humboldt und Noam Chomsky und plädiert für die Orientierung der linguistischen Hermeneutik an Humboldts Konzeption von Sprache und Verstehen. Erika Linz (S. 43-58) hinterfragt die Annahme, daß “die Erzeugung eines Äußerungsgehaltes seiner Reviews 375 Versprachlichung vorausgeht”. In der Psycholinguistik gilt die Sprachproduktion als Prozeß, bei dem Gedanken in Sprache übersetzt werden. Linz spricht sich gegen diese Auffassung von Sprachproduktion aus und vertritt die These, dass eigenrezeptive Prozesse für den Sprecher selbst sinngenerierend sind. In Anlehnung an Humboldt und Schleiermacher geht Linz davon aus, daß sich Gedanken bilden, indem man sich selbst sprechen hört und das Gehörte versteht. Ihre These stützt sie mit neuen Befunden aus der Neurowissenschaft zu Sprach- und Wahrnehmungsprozessen. Frank Liedtke (S. 59-99) zeigt in seinem Beitrag, inwiefern fragmentarische Äußerungen bzw. Ellipsen in vielen Kontexten verständlicher sind als vollständige Äußerungen. Er vertritt die These, “daß das Satzverstehen inkrementell erfolgt, also nicht erst mit dem letzten Wort des zu verarbeitenden Satzes oder der Äußerung einsetzt, vielmehr sogleich mit dem ersten gehörten oder gelesenen Wort” (S. 63). Dabei konzentriert er sich vor allem auf die mündliche Kommunikation. Warum wir in der Alltagskommunikation keinen Anspruch auf vollständige Sätze haben, begründet er anhand der von Levinson (2000) weiterentwickelten Griceschen Analyse konversationeller Schlußprozesse. Dietrich Busse (S. 101-126) erläutert am Beispiel einer juristischen Textauslegung die Begriffe ‘Textbedeutung’, ‘Textverstehen’ sowie ‘Textarbeit’ und deren Beziehung zum Begriff ‘Applikation’ (Textanwendung). Zu den Anwendbarkeitsbedingungen eines Begriffs gehöre mehr als das, was Linguisten zur wörtlichen Bedeutung zählen. Der ‘semantische Rahmen’ bzw. das Weltwissen spiele eine wichtige Rolle beim angemessenen Verstehen und Interpretieren eines Textes. Seine Erläuterungen basieren sowohl auf traditionellen hermeneutischen wie auch auf psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen. Den zweiten Teil schließt Fritz Hermanns (S. 127-172) mit einem gewichtigen und bedeutsamen Beitrag über Empathie ab - ein Thema, das bisher wenig Interesse in der Linguistik fand, das aber in Anbetracht neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse mehr Bedeutung verlangt. Sehr anschaulich, mit vielen Beispielen aus der aktuellen Forschung, trägt Hermanns wissenswerte Informationen aus den Bereichen Philosophie, Psychologie und Neurologie zusammen, die nachweisen, daß es Empathie gibt und was sie bedeutet. Zunächst zeigt er die verschiedenen Formen der Empathie auf, geht dann auf die Entdeckung der Spiegelneuronen ein, erläutert den Begriff im Zusammenhang mit der Imitationsforschung und zeigt schließlich die Relevanz der Empathie für das Sprach- und Textverstehen und somit für die Sprachwissenschaft auf. Der dritte Teil des Bandes enthält zwei Beiträge zur empirischen Hermeneutik. Wolfgang Falkner (S. 175-200) geht in seiner Studie davon aus, dass Mißverständnisse fester Bestandteil unseres Kommunikationsverhaltens seien. Ein Gedanke, der nicht ganz neu ist und an Humboldts Maxime erinnert, daß jedes Verstehen gleichzeitig Nicht-Verstehen ist: jeder Mensch versteht unter einem Begriff etwas anders (cf. Hess-Lüttich 1981). Erst durch Interaktion kann ein gemeinsames Verständnis eines Begriffs ausgehandelt werden. Falkner will jedoch aufzeigen, wie Phänomene des (Miß-)Verstehens empirisch erforscht werden können. Dazu stellt er zunächst ein Kommunikationsmodell vor, das im Unterschied zum ursprünglichen Modell von Shannon & Weaver situative und kotextuelle Aspekte einbezieht. Auch die kommunikative Motivation sowie die Erwartung der Gesprächspartner werden berücksichtigt. Weiter beschreibt er das Konzept der “dreigliedrigen Äußerungsfunktion” (S. 188), mit welchem sich Mißverständnisse auf drei Ebenen lokalisieren lassen: Modifikatoren (z.B. Höflichkeit), Proposition und Illokution. An Beispielen, die er mit Hilfe seiner “Tagebuchmethode” gewonnen hat (teilnehmende Beobachtung), veranschaulicht er das Konzept, bevor er abschließend diskutiert, ob und inwiefern sich der vorgestellte Ansatz dazu eigne, neben Mißverständnissen auch funktionierende Kommunikationsprozesse zu modellieren. Josef Klein (S. 201-238) befaßt sich in seinem Beitrag mit der linguistischen Hermeneutik politischer Rede. Am Beispiel der umstrittenen Regierungserklärung “Agenda 2010” deutet er die politische Rede unter Berücksichtigung des Kontexts. Er arbeitet heraus, inwieweit vorgängige Diskursstränge und Prätexte für die Rede von konstitutiver Bedeutung sind. Der Vorteil seines Reviews 376 Vorgehens, sagt er, sei die Berücksichtigung der Diskursbeteiligten und der Publikumsresonanz, weil nur so umfassend analysiert werden könne, wie ‘Verstehen’ zustande komme. Zum Schluß folgen sieben Artikel zur methodologischen und praktischen Hermeneutik. Ulrike Hass-Zumkehr (S. 241-261) befaßt sich in ihrem Beitrag mit Corpus-Hermeneutik. Am Beispiel der Wortgruppen “warm/ Wärme” und “kalt/ Kälte” zeigt sie auf, inwiefern große digitale Textcorpora (wie das Textcorpus des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache) die traditionelle “Zettelkastenhermeneutik” erweitern. Aus einer Frequenzanalyse der genannten Wortgruppen unter Berücksichtigung des Kotexts zieht sie den Schluß, daß mit elektronischen Textkorpora feiner und differenzierter interpretiert werden könne als in der traditionellen Lexikographie, da mit statistischer Hilfe große Äußerungsmengen analysiert werden. Andreas Gardt (S. 263-280) reflektiert linguistisches Interpretieren im Kontext des Konstruktivismus und der ‘realistischen Sprachwissenschaft’. Er beobachtet zunächst, daß der interpretative Umgang mit Texten nicht, wie man erwarten könne, von konstruktivistischen Theorien geprägt sei, sondern daß Texten eine ‘feste’ Bedeutung zugewiesen werde, und beschreitet dann einen Mittelweg zwischen Konstruktivismus und Realismus als Lösung für das linguistische Interpretieren: ein Text sei weder als nur konstruiert zu betrachten noch als objektiv deutbar. Bei der linguistischen Interpretation solle der individuelle Text im Zentrum stehen, die Analyseverfahren sollten alle Gestaltungsdimensionen des Textes berücksichtigen. Ulrich Püschel (S. 281-299) plädiert mit seinem Beitrag unter dem Stichwort ‘handlungssemantische Textanalyse’ oder ‘interpretative Stilistik’ für einen pragmalinguistischen Umgang mit Texten. Mit seinem Instrumentarium der interpretativen Stilistik analysiert er ein Gespräch aus Theodor Fontanes Roman Effi Briest. Die Analyse dieses literarischen Gesprächs macht (nicht zum ersten Mal: s. Hess-Lüttich ed. 1980; zu einem andern Gespräch bei Fontane s. Hess- Lüttich 2008) deutlich, daß die linguistische Gesprächsanalyse etwas Sinnvolles zur Untersuchung literarischer Gespräche beitragen kann. Heidrun Kämper (S. 301-322) widmet sich in ihrem Beitrag der von Jaspers (1946) beschriebenen “Schuldfrage” an. Die “Schuldfrage” ist einer der wichtigsten Texte, der sich mit der deutschen Kriegsvergangenheit beschäftigt. Die “Darstellung und Beschreibung zentraler Texte der deutschen Sprache” erachtet Kämper (S. 302) als eine der wesentlichen Aufgaben der Sprachwissenschaft. Sie möchte die Bedeutung des Textes im Sinne linguistischer Hermeneutik erschließen, wobei sie ‘linguistische Hermeneutik’ nicht als Methode, sondern als Anliegen versteht, mittels Sprachanalyse einen Beitrag zum Verständnis eines Textes zu leisten. Im Falle der “Schuldfrage” wird das Textverständnis hergestellt, indem Begrifflichkeiten erklärt werden. Zuerst beschreibt Kämper die Leitbegriffe, ihre Bedeutungen und die semantischen Relationen der verschiedenen Begriffe. Dann geht sie auf die Rezeptions- und Konzeptgeschichte der “Schuldfrage” ein und hält fest, daß die Geschichte des Schuldbegriffs im 20. Jahrhundert einen sprachlichen Umbruch erlebte: “Seit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft referiert Schuld auch auf ‘Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ […]” (S. 319) und Jaspers “Schuldfrage” sei ein wesentlicher Beitrag zur Ausdeutung des neuen Begriffs. Ulla Fix (S. 323-356) will in ihrem Beitrag am Beispiel der Erzählung “Epitaph für Pinnau” von Johannes Bobrowski (1962) zeigen, wie und mit welchen linguistisch-literaturwissenschaftlichen Methoden man “in die Ganzheit eines Textes” eindringen könne. Aus der Analyse schließt sie, daß viele “Befunde” auf der Ebene der Textoberfläche zu beobachten seien, aber es zur Vertiefung dieser Befunde des Rahmenwissens bedürfe. Wenn aber nichts dem Erstleseeindruck widerspreche, sei die Textoberfläche “beim Wort zu nehmen” und “der sicherste Weg zum Textverstehen” (S. 353). Ekkehard Felder (S. 357-385) befaßt sich mit der Text-Bild-Hermeneutik. Er untersucht die Zeitgebundenheit des Bild-Verstehens am Beispiel eines Medienereignisses aus dem Jahr 1962, das von den Medien während vier Jahrzehnten zur Berichterstattung verwendet wurde. Dazu wählt er fünf Pressefotographien, die das Ereignis dokumentieren und diskutiert sie unter pragmatischen und zeitspezifischen Verstehensbedin- Reviews 377 gungen der Bildrezeption. Felder geht unter anderem den Fragen nach, welche Handlungen mit Hilfe von Sprach- und Bildzeichen zur Konstitution von Sachverhalten vollzogen werden und wie sich der Einsatz von Bild- und Sprachzeichen methodologisch beschreiben läßt. Er geht davon aus, daß sich mit Fotografien als Bildzeichen genauso Handlungen vollziehen lassen wie mit sprachlichen Zeichen. Seine Untersuchung zeigt, daß Bilder je nach Text-Bild-Äußerung einem oder mehreren Bild-Handlungstypen zugeordnet werden können. Dieselben Bilder können je nach Fokus eine andere Funktion übernehmen. Durch die häufige Verwendung von demselben Bild kann es zu einer symbolischen Verwendung und Stereotypsierung kommen, was die “Nicht-Arbitrarität” von Bildern in Frage stellt. Abschließend behandelt Werner Holly (S. 387-426) in seinem Beitrag die audiovisuelle Hermeneutik am Beispiel eines Kampagnen-TV- Spots. “So wichtig das Verstehen im Zusammenhang mit Sprache ist, so wenig läßt sich Verstehen auf Sprache reduzieren”, hebt er an und fordert zu Recht (wenn auch nicht als erster: s. Hess-Lüttich 1978) eine Einbettung des Sprachverstehens in ein “semiotisch integriertes Gesamtverstehen” (S. 388), zumal bei elektronischen Medien mit ihrem Einsatz von Bildern, Tönen und Musik. Holly versteht unter audiovisueller Hermeneutik nicht eine Addition von Sprach- und Bildanalysen, sondern eine Verschränkung der beiden Analysen, wobei spezifische Muster herausgearbeitet werden. Diese Verschränkung erklärt er mit Jägers Idee der “Transkriptivität” (S. 389, s. Jäger 2002). Sprache und Bilder beeinflussen sich gegenseitig und lassen Neues entstehen. Die Wechselseitigkeit ist es also, welche die Bedeutung generiert. Diese Erklärung erinnert an das Prinzip der Emergenz, welches besagt, dass auf jeder höheren Komplexitätsstufe neue Eigenschaften auftreten, die auf den tieferen Komplexitätsstufen nicht vorhanden waren. In diesem Sinne läßt sich das Ganze nicht auf die einzelnen Teile zurückführen. Holly zeigt dann auch, wie die Bilder im TV-Spot “Du bist Deutschland” den Sprachtext transkribieren und anders lesbar machen. In Ergänzung zu den anderen Beiträgen setzt sich Holly mit einer hermeneutisch orientierten Medienlinguistik auseinander, die den heutigen Anforderungen an eine “moderne Hermeneutik” in einer multimedialen Gesellschaft gerecht zu werden sucht (cf. Hess- Lüttich ed. 2001/ 2005 a, b). Es steht zu wünschen, daß dieser sehr verdienstvolle Band dazu beiträgt, dem “noch bestehenden Mißtrauen gegen alle Hermeneutik” (S. 2) entgegen zu wirken. Denn in dem Maße, in dem sich die Linguistik mit linguistischer Hermeneutik auseinandersetzt, bekommt sie die Chance, “am Verstehensdiskurs anderer Verstehenswissenschaften verstärkt teilzunehmen” (ibid.) - eine unabdingbare Voraussetzung, um Verstehen bzw. Interpretieren nicht als “starres Gebilde”, sondern als vielseitiges, interessantes und flexibles Phänomen zu betrachten, das es zu untersuchen lohnt. Die dazu nötigen interdisziplinären Anschlußpunkte markieren die Autoren selbst in ihren Bezügen auf psychologische, neurologische und literaturwissenschaftliche Ansätze und tragen damit dazu bei, das Verstehen nicht nur als das “A und O von Sprache” (S. 2) zu begreifen, sondern endlich auch als das A und O einer nicht-reduktionistischen Linguistik. Literatur Brenner, Peter J. 1998: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen: Niemeyer Busse, Dietrich 1991: Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1978/ 2004: “Semiotik der multimedialen Kommunikation”, in: Tasso Borbé & Martin Krampen (eds.), Angewandte Semiotik, Wien: Egermann 1978, 21-48; aktualisierte Neufassung in: Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds.), Semiotik / Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture (= HSK 13.4), Berlin/ New York: de Gruyter, 3487-3503 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 1980: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1991: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 2001/ 2005 a: Medien, Texte und Maschinen. Angewandte Mediensemiotik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
