eJournals Kodikas/Code 31/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2008
313-4

Andrew Goatly: Washing the Brain - Metaphor and Hidden Ideology, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins 2007, 450 S., ISBN 978-90-2722713-3

121
2008
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod313-40383
Reviews 383 b) Sprachgebrauch und Identität; c) Jugendsprachen global und lokal. Zu Beginn des ersten Kapitels Sprachgebrauch und Sprachkompetenz geben Christa Dürscheid und Eva Neuland zum einen die nützliche Zusammenfassung der wesentlichen Forschungsfragen nach Methodik, Differenzierung, Einordnung ins Sprachsystem, linguistischem Diskurs und Funktionalität in den letzten beiden Dekaden, zum andern die Erläuterung neuer Fragen nach Formen und Funktionen der Jugendsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt und Globalisierung sowie nach der Rolle der neuen technischen Kommunikationsmöglichkeiten. Die Autorinnen gelangen dabei zu dem Fazit, daß Jugendsprache natürlich nichts Homogenes sei, daß aber Gemeinsamkeiten im Sprach- und Kommunikationsverhalten noch genauer untersucht werden müßten, um zu ermitteln, inwiefern Jugendliche ‘anders’ reden und ob dies ein sprachübergreifendes Phänomen ist, wofür die Befunde andernorts derzeit zu sprechen scheinen. Jürgen Spitzmüller zeichnet sodann die Geschichte der sprachkritischen Bewertung jugendsprachlicher Phänomene in Öffentlichkeit und Medien, aber auch bestimmten Teilen der Sprachwissenschaft nach. Da werde immer schon der “Untergang des Abendlandes” beschworen, mit dem angesichts des sprachlichen Verfalls allgemein und besonders bei der Jugend leider zu rechnen sei. Untermauert mit statistischem Material gelangt der Verf. dann freilich zum Schluß, daß Jugendsprache heute in der Öffentlichkeit kaum noch Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit sei, und wenn doch, sei die Wertung nicht mehr überwiegend negativ, vielleicht sogar eher im Gegenteil: sein Material läßt den Verf. auf einen gesellschaftlichen Einstellungswandel zur ‘Jugend’ bzw. ‘Jugendlichkeit’ schließen, der von der linguistischen Forschung noch kaum erfaßt worden sei. In ihrem Rückblick auf Beobachtungen zum Thema, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, gelangt Eva Neuland unter dem Titel “Deutsche Schülersprache heute: total normal” zu dem Schluß, daß Jugendsprache und Schülersprachen als wichtige Entwicklungsphasen in der lebenslangen Sprachsozialisation der vermehrten Aufmerksamkeit der Forschung bedürften. Andere Autoren nehmen im ersten Kapitel Bezug auf die sprachliche Unterrichtssituation. Kersten Sven Roth (Greifswald) interessiert sich für die Möglichkeiten, die Rhetorik als Unterrichtsgegenstand in den Schulen wieder zur Geltung zu bringen. Johannes Volmert (Magdeburg) äußert sich zum Einfluss und Stellenwert jugendsprachlicher Stile für die Kommunikation im Unterricht und entwickelt einen Orientierungsrahmen für Lehrer, wie mit der Schüler- und Jugendsprache angemessen umzugehen sei. Der Beitrag von Ulla Kleinberger Günther und Carmen Spiegel befaßt sich unter dem Titel “Jugendliche schreiben im Internet” mit den schriftsprachlichen und formalen Gepflogenheiten der Online-Sprache (namentlich des ‘Chattens’) von Jugendlichen und haben dabei überraschend wenige eigentliche Rechtschreibe- und Interpunktionsfehler gefunden. Im letzten Beitrag des ersten Kapitels setzt Christa Dürscheid die Beobachtungen zum Verhältnis von Medienkommunikation und Jugendsprache fort und geht dabei besonders auf das ‘Messaging’ ein, das infolge der quasi-synchronen Kommunikation (Rede und Gegenrede) stark unter dem Einfluß der Bedingungen gesprochener Sprache stehe. Interessante Ergebnisse bietet auch das zweite Kapitel des Buches unter dem Titel “Sprachgebrauch und Identität”, in dem sich mehrere Autoren dem Spannungsfeld zwischen Jugendsprache und Identitätsgruppen widmen, wobei sowohl Dialekte und Sprachen als auch Sub- Kultur-Gruppen wie die Hip-Hop-Szene betrachtet werden. Wir erfahren in diesem Abschnitt, wie kommunikative Stile der sozialen Abgrenzung dienen, insbesondere auch am Beispiel einer jugendlichen Mädchengruppe, aus deren Optik dargelegt wird, wie sie die Menschen in ihrer Umwelt mit gruppenspezifischen Bezeichnungen bestimmten Referenzrahmen zuordnen. Anhand von Schülerzetteln wird etwa auch untersucht, wie Jugendliche ihre Interdependenzen und Identitäten konstruieren, wobei der Schriftlichkeit bei der Gruppendefinition eine wichtige Funktion zuzukomme. Gruppenbildung über Sprache kann auch am Beispiel des ‘Kreolischen im Internet’ beobachtet werden, in dem die Dynamik des Identitätsmanagement im Internet eine zunehmend bedeutsame Rolle spiele. Reviews 382 nistische Darstellung. Ihr Aufbau gibt dem Werk eine übersichtliche Struktur, und die zahlreichen Beispiele, teils in bildlicher Form, helfen auch dem weniger gut eingearbeiteten Leser beim Verstehen ihres Inhalts. Literatur Bühler, Karl [1934] 1982: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart/ New York: Fischer Efron, David [1941] 1972: Gesture, Race and Culture, The Hague: Mouton Ehlich, Konrad 1982: “Anaphora and Deixis: Same, Similar, or Different? ”, in: Jarvella & Klein (eds.) 1982: 315-338 Ehlich, Konrad 1983: “Deixis und Anapher”, in: Gisa Rauh (ed.), Essays on Deixis, Tübingen: Narr, 79-97 Ekman, Paul & Wallace V. Friesen [1969] 1981: “The Repertoire of Nonverbal Behavior: Categories, Origin, Usage and Coding”, in: Adam Kendon (ed.) 1981: Nonverbal Communication, Interaction, and Gesture. Selections from Semiotica, The Hague: Mouton, 57-105 Fillmore, Charles J. 1982: “Towards a Descriptive Framework for Spatial Deixis”, in: Robert J. Jarvella & Wolfgang Klein (eds.): Speech, Place and Action: Studies in Deixis and Related Topics, New York: Wiley, 31-59 Fillmore, Charles J. 1997: Lectures on Deixis, Stanford/ CA: CSLI Lecture Notes no. 65 Freedman, Norbert 1972: “The Analysis of Movement Behavior During the Clinical Interview”, in: Aron Wolfe Siegman & Benjamin Pope (eds.): Studies in Dyadic Communication, New York: Pergamon, 153-175 Freedman, Norbert & Irving Steingart 1975: “Kinesic Internalization and Language Construction”, in: Psychoanalysis and Contemporary Science 4 (1975): 355-403 Hanks, William F. 1992: “The Indexical Ground of Deictic Reference”, in: Alessandro Duranti & Charles Goodwin (eds.): Rethinking Context: Language as an Interactive Phenomenon, Cambridge: Cambridge University Press, 43-76 Hanks, William F. 1993: “Metalanguage and Pragmatics of Deixis”, in: John A. Lucy (ed.): Reflexive Language: Reported Speech and Metapragmatics, Cambridge: Cambridge University Press, 127-157 Herbermann, Clemens-Peter 1988: “Entwurf einer Systematik der Deixisarten”, in: id. 1988: 47-93 Herbermann, Clemens-Peter 1988: Modi referentiae: Studien zum sprachlichen Bezug zur Wirklichkeit, Heidelberg: Winter Lyons, John 1980: Semantik, 2 vols., München: C.H. Beck McNeill, David 1992: Hand and Mind: What Gestures Reveal about Thought, Chicago: Chicago University Press Müller, Cornelia 1998: Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte-Theorie-Sprachvergleich, Berlin: Berlin Verlag Sennholz, Klaus 1985: Grundzüge der Deixis, Bochum: Brockmeyer Wundt, Wilhelm 1900/ 1911: Völkerpsychologie: eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Leipzig: Engelmann Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Christa Dürscheid & Jürgen Spitzmüller (eds.): Perspektiven der Jugendsprachforschung - Trends and developments in youth language research, Frankfurt/ Main: Lang 2006, 476 S., ISBN 978-3-631- 53734-3 Der Band versammelt einen Teil der Erträge einer Tagung, die die Herausgeber 2005 in Boldern bei Zürich organisiert haben, und er bietet damit einen Überblick sowohl über die generellen Trends der Entwicklung der Jugendsprache während der vergangenen Jahre (z.T. Jahrzehnte) als auch einen Einblick in Schwerpunkte der aktuellen einschlägigen Forschung in diesem Kommunikationsbereich - und zwar nicht nur im engeren Bezirk der germanistischen Jugendsprachforschung im deutschsprachigen Raum, sondern auch in der internationalen Forschung zur Jugendsprache in fünfzehn europäischen, amerikanischen und afrikanischen Ländern. Deshalb enthält der Band auch englischsprachige Beiträge. Die einzelnen Beiträge orientieren sich an vier Leitfagen: (i) Wie reden und schreiben Jugendliche? (ii) Wie manifestiert sich Jugendsprache im Kontext von Mehrsprachigkeit und Sprachenkontakt? (iii) Welchen Einfluss haben die neuen Kommunikationsmittel auf den Sprachgebrauch? (iv) Wie gestaltet sich der Diskurs über Jugendsprache in der Öffentlichkeit? Insgesamt ist der Band in drei Kapitel gegliedert: a) Sprachgebrauch und Sprachkompetenz; Reviews 381 am Zeichenraum fallen Demonstratum und intendiertes Referenzobjekt hingegen auseinander. Das Demonstratum wird als Zeichen für das intendierte Referenzobjekt interpretiert. Von dieser Unterscheidung ausgehend, klassifiziert Fricke das deiktische Demonstratum für die Objektdeixis innerhalb der Deixis am Zeichenraum danach, ob es flüchtig oder dauerhaft fixiert ist, ob es vorgefunden oder in der Kommunikation erzeugt wird und ob es intersubjektiv wahrnehmbar ist oder nicht. Werden Bestandteile des deiktischen Verweisraumes erzeugt, kann dies durch die Kommunikationspartner separiert oder gemeinsam, zeitlich sukzessiv oder simultan geschehen (S. 249-258). Innerhalb der Metadeixis entspricht die Deixis am Zeichenraum der Textphorik, die Deixis am Nichtzeichenraum der Textdeixis. Der dritte Hauptfall der Deixis am Phantasma nach Bühler ist ebenfalls nach diesen beiden Zeigmodi differenziert. Das erwähnte Beispiel des Zeigens auf den Stephansdom ist als Deixis am Nichtzeichenraum zu interpretieren, da das intendierte Referenzobjekt Stephansdom zwar nicht wahrnehmbar, aber in die gegebene Wahrnehmungsordnung integriert ist, und die Referenz nicht über ein zwischengeschaltetes Demonstratum erfolgt, das als Zeichen für den Stephansdom interpretiert wird (S. 258-264). Der Zeichenaspekt des deiktischen Verweisraumes ist von seinem Formaspekt zu unterscheiden. Unabhängig von seiner Zeichenfunktion kann der deiktische Verweisraum unterschiedliche Formen annehmen. Auf seine Räumlichkeit bezogen unterscheidet Fricke, ob der Sprecher in einen Verweisraum integriert ist, der ihn wie einen Umraum umgibt, oder ob der Verweisraum als Modell in Form eines Behälters vor dem Sprecher liegt, in den der Sprecher nicht integriert ist. Weiter wird der Verweisraum als Modell in kartenähnliche und bildschirmähnliche Modelle unterteilt (S. 264-272). Das Gestenproblem wird in Kapitel sechs angegangen mit dem Ziel, die Frage “Wo ist hier? ” anhand unterschiedlicher Fallbeispiele und auf der Grundlage der Neufassung der Lokaldeixis zu beantworten. Es wird ein breites Spektrum von Beispielen mit ‘hier’ und begleitender Zeigegeste vorgestellt, anhand der Neufassung geprüft und mit anderen bereits bestehenden Ansätzen verglichen. Fricke geht davon aus, dass das Verbaldeiktikon ‘hier’ und die begleitende Zeigegeste erstens unterschiedliche Deixisobjekte bezeichnen und zweitens die verbale Bezugsgröße der Zeigegeste verbal implizit sein kann. Es wurde für die Beispielanalysen von ‘hier’ mit begleitender Zeigegeste eine Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen Zeigegesten vorgenommen. Die einfachen Zeigegesten verfügen im Gegensatz zu den komplexen Gesten über keine ikonische Komponente. Mit den einfachen Zeigegesten zeigt der Sprecher entweder auf einen Raumpunkt oder in eine bestimmte Richtung. Mit komplexen Gesten wird eine Entität nicht nur deiktisch lokalisiert, sondern auch ikonisch präsentiert (S. 274-308). Es zeigt sich bei der Analyse der Beispiele für die verschiedenen Vorkommnistypen von ‘hier’ mit begleitender Zeigegeste, dass sich diese Beispiele mit der Neukonzeption der Lokaldeixis beschreiben und erklären lassen. Dies gelingt mit den bisherigen Deixistheorien kaum, da sie weder die Annahme erfüllen, daß das geäußerte ‘hier’ und die begleitende Zeigegeste nicht auf dieselbe Deixisobjektinstanz referieren, noch die Annahme, daß bei einer komplex strukturierten Origo in einem origozuweisenden Akt mindestens zwei lokale sekundäre Origines (verbal, gestisch) durch unterschiedliche Instanzen belegt werden können (S. 305-307). Die Neukonzeption der Lokaldeixis und das von Ellen Fricke vorgeschlagene Klassifikationssystem redebegleitender Gesten stellen einen geeigneten Ausgangspunkt für eine weiterführende Forschung sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Gestenforschung dar und eröffnet überdies eine erweiterte Forschungsperspektive grundlegender Art, nämlich im Hinblick auf die für die Sprachwissenschaft wichtige Frage, ob es neben der Deixis noch weitere Bereiche gibt, in denen redebegleitende Gesten systemlinguistisch relevant sind. Die Arbeit von Ellen Fricke verfolgt - ganz im Sinne des Programms der Reihe (Linguistik - Impulse und Tendenzen), in der sie erschienen ist - einen anspruchsvollen und innovativen Ansatz in der Deixisforschung. Dies macht die Lektüre auch für den Experten nicht immer leicht, aber er wird belohnt durch die überaus kenntnisreiche, stringent argumentierende und nicht-reduktio- Reviews 380 hend, die der Rolle des Sprechers gegeben ist, werden sekundäre Origines Entitäten zugewiesen, die als Zeichen oder Nichtzeichen interpretiert werden können. Instanzen für sekundäre Origines können der Körper des Adressaten, aber auch der Körper des Sprechers sein. Von Versetzungen ist nur dann die Rede, wenn die sekundäre Origo der relationalen Komponente eines verbalen Deiktikons oder einer Zeigegeste nicht durch den Körper des Sprechers instanziiert ist (S. 139-141). In Kapitel drei wird eine Klassifikation redebegleitender Gesten (S. 222) unter der Berücksichtigung der Zeigegesten entworfen, welche die im zweiten Kapitel eingeführten deixistheoretischen Unterscheidungen berücksichtigt, insbesondere diejenige zwischen einer Deixis am Zeichenraum und einer Deixis am Nichtzeichenraum. Es wird beschrieben, wie deiktische Verweisräume gestisch konstituiert werden. Um die neue Subklassifikation redebegleitender Gesten in den Kontext bisheriger Klassifikationen stellen zu können, werden diese Klassifikationssysteme kritisch diskutiert (cf. Wundt 1900/ 1911, Efron 1941/ 1972, Ekman/ Friesen 1969/ 1981, Freedman 1972 und id. 1975, McNeill 1992, Müller 1998). Die redebegleitenden Gesten werden von anderen Gestentypen wie den emblematischen, pantomimischen und gebärdensprachlichen Gesten abgegrenzt. Die Zeigegeste tendiert einerseits zu den emblematischen Gesten, andererseits sind gewisse Vorkommnisse von Zeigegesten eher den redebegleitenden Gesten zuzurechnen. Fricke schlägt auf der Grundlage des Zeichenbegriffs von Peirce eine Klassifikation der redebegleitenden Gesten vor, deren zentrales Kriterium die Unterscheidung zwischen einem Zeigen auf Zeichen und Nichtzeichen bildet (S. 221). Mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen einem Zeigen auf Zeichen und einem Zeigen auf Nichtzeichen lässt sich nicht nur die Klassifikation der Zeigegesten, sondern die der redebegleitenden Gesten insgesamt so rekonstruieren, daß die Widersprüche bisheriger Klassifikationssysteme beseitigt werden. So berücksichtigt Wundt nur die redegegenstandsbezogenen Gesten, verfügt also nicht über den Begriff der diskursbezogenen Geste, in Müllers Teilklassifikation werden Zeigegesten nicht berücksichtigt, bei Efron spielt es bei seiner Abgrenzung zwischen redegegenstands- und diskursbezogenen Gesten eine Rolle, ob die Geste Bezug nimmt auf ein Wahrnehmbares oder ein Vorgestelltes, eine Kreuzklassifikation auf der Grundlage beider Kriterien nimmt Efron nicht vor, deshalb entstehen Lücken in seiner Klassifikation (S. 179). Fricke kann so alle deixistheoretisch relevanten Unterscheidungen für Zeigegesten und auch für ikonische Gesten als Demonstrata erfassen und alle wesentlichen Differenzierungen der bisherigen Klassifikationssysteme in ihr Schema (S. 222) integrieren. Ausgehend von Bühlers Origobegriff sucht das vierte Kapitel Fragen der Anzahl der Origines, der Fixiertheit auf den Sprecher oder der Origohierarchien zu beantworten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß man nicht nur von einer einzigen Origo, sondern von mehreren Origines auszugehen hat, und daß diese als abstrakte ausdehnungslose Punkte gedacht werden müssen, die nicht auf den Sprecher fixiert sind, sondern auch in andere Entitäten versetzbar sind bzw. mit diesen als Instanzen belegt werden können. Es wird eine hierarchische Struktur angenommen, welche von einer primären Origo verbunden mit der Sprecherrolle ihren Ausgangspunkt nimmt. Mit der primären Origo wird im Rahmen des Sprecherwechsels die Möglichkeit erworben, sekundäre Origines über einen intentionalen Akt der Origozuweisung mit wahrnehmbaren oder vorgestellten Instanzen zu belegen bzw. mit Instanzen, die als Zeichen oder Nichtzeichen interpretiert werden (S. 225-248). Im fünften Kapitel wird das zweite konkrete Problem angegangen, das Raumproblem. In diesem Kapitel wird die klassische Unterscheidung zwischen einer Deixis am Wahrnehmungsraum und einer Deixis am Vorstellungsraum durch die Unterscheidung zwischen einer Deixis am Nichtzeichenraum und einer Deixis am Zeichenraum ersetzt, “da das Kriterium der Wahrnehmbarkeit die den Phänomenen der demonstratio ad oculos und der Deixis am Phantasma eigentlich zugrunde liegende Dichotomie zwischen einem Zeigen auf Zeichen und einem Zeigen auf Nichtzeichen verzerrt” (S. 273). Eine Deixis am Nichtzeichenraum liegt in einer deiktischen Äusserung dann vor, wenn das Demonstratum und das vom Sprecher intendierte Referenzobjekt identisch sind. Bei einer Deixis Reviews 379 Mit Karl Bühler beginnt im 19. Jahrhundert die moderne deutsche Deixisforschung. Bei ihm sind begleitende Zeigegesten und außersprachliche Kontextfaktoren für die Deixis relevant. In der sogenannten “Zweifelderlehre der Sprache” unterscheidet Bühler zwischen dem Zeigfeld und dem Symbolfeld. Die Zeigwörter, die dem Zeigfeld angehören, steuern die Aufmerksamkeit des Adressaten. Die Nennwörter gehören dem Symbolfeld an und beinhalten die Darstellungsfunktion. Die Bedeutungserfüllung der Zeigwörter ist nach Bühler an sinnliche Zeighilfen gebunden. Zeigegesten sowie auch Deiktika verweisen von einem Ausgangspunkt, der Origo, zu einem Zielpunkt. Bühler unterscheidet weiter drei Dimensionen der Deixis: die Lokal-, Temporal- und Personaldeixis. Das Zeigfeld kann verschiedene Zeigmodi annehmen: demonstratio ad oculos (Zeigen am Anwesenden), Anaphora und Deixis am Phantasma, welche wiederum drei Hauptfälle unterscheidet. An einem Beispiel (S. 22) - “Ich frage 500 Hörer in der Vorlesung ‘wo ist der Stephansdom? ’ und schätzungsweise 300 Zeigefinger erheben sich und deuten (mit allerhand interessanten Abweichungen) im Raum des Hörsaals” - wird Bühlers dritter Hauptfall deutlich: weder versetzt sich der Sprecher (in diesem Fall die Zeigenden) wie im zweiten Hauptfall noch wird das Zeigobjekt als imaginiertes Objekt wie im ersten Hauptfall im geteilten Wahrnehmungsraum von Sprecher und Adressat lokalisiert. Der Unterschied zur demonstratio ad oculos besteht nur darin, dass das Zeigeobjekt Stephansdom der visuellen Wahrnehmung der im Hörsaal Anwesenden aktuell nicht zugänglich ist (S. 18-22). Frickes Ansatz besteht nun, grob zusammengefaßt, darin, daß Äußerungen lokaler Deiktika und Zeigegesten durch die Zugehörigkeit zu einer deiktischen Dimension bzw. zu einer ihrer Subkategorien, einer deiktischen Reflexionsstufe, einem Zeigmodus und die Zuweisung einer sekundären Origo durch den Sprecher charakterisiert sind. Ausgehend von den drei klassischen Dimensionen der Lokal-, Temporal- und Personaldeixis, wird der Subklassifikation dieser Dimensionen ein Kernbereich zugrunde gelegt, der sich aus der Kreuzklassifikation der Entfernungsstufen (origo-inklusiv vs. origo-exklusiv) mit den Abgegrenztheitsstufen (abgegrenzt vs. nicht-abgegrenzt) ergibt. Origo-inklusiv meint dabei die ‘Nahdeixis’, also diejenige Deixis, bei der das Deixisobjekt die Origo einschließt, im Gegensatz zur origo-exklusiven Deixis, der ‘Ferndeixis’, bei der das Deixisobjekt die Origo nicht einschließt. Daneben nimmt Fricke weitere dimensionsspezifische Differenzierungen an. Sie unterscheidet für die Lokaldeixis sechs Subdimensionen: auf der verbalen Ebene die Raumbereichsdeixis, die Entitätendeixis, die Wegdeixis und die qualitative Deixis, auf der gestischen Ebene die Raumpunktdeixis und die Richtungsdeixis (S. 86-139). Im Gegensatz zu den meisten bisherigen deixistheoretischen Ansätzen, die die Äußerung als deiktischen Verweisraum entweder den Dimensionen oder den Zeigmodi zuordnen, macht Frikke die strikte Unterscheidung zwischen Dimensionen, Zeigmodi und deiktischen Reflexionsstufen. Die Reflexionsstufen werden unterteilt in Metadeixis und Objektdeixis. Auf der Stufe der Metadeixis konstituiert die Äußerung selbst den deiktischen Verweisraum eines Deiktikons, auf der Stufe der Objektdeixis hingegen besteht der Verweisraum aus situativen Kontextelementen, die nicht Bestandteil der Äußerung des Sprechers sind. Eine Deixis am Nichtzeichenraum ist gegeben, wenn das Demonstratum eines verbalen Deiktikons oder einer Zeigegeste mit dem vom Sprecher intendierten Referenzobjekt identisch ist. Wenn das Demonstratum und das intendierte Referenzobjekt auseinander fallen und das Demonstratum vom Sprecher als Zeichen für das intendierte Referenzobjekt interpretiert wird, handelt es sich um eine Deixis am Zeichenraum. Auf der Reflexionsstufe der Objektdeixis ersetzt die Deixis am Nichtzeichenraum den Bühlerschen Begriff der demonstratio ad oculos und die Deixis am Zeichenraum den Begriff der Deixis am Phantasma. Die Metadeixis ist von der Objektdeixis dadurch unterschieden, dass die sekundäre Origo, die der Sprecher in einem origozuweisenden Akt zuweist, in der lokaldeiktischen Metadeixis durch die Position des entsprechenden Verbaldeiktions instanziiert ist. Metadeixis ist nach dieser Konzeption immer eine Versetzungsdeixis. Versetzungen sind Operationen über deiktische Verweisräume und der Konstitution eines deiktischen Verweisraumes nachgeordnet. Es können auf der Stufe der Objektdeixis sowohl verbale als auch gestische Versetzungen stattfinden. Von einer primären Origo ausge- Reviews 378 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 2001/ 2005 b: Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Ansätze der Medienästhetik und Tele-Semiotik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008: “‘Die bösen Zungen …’. Zur Rhetorik der diskreten Indiskretion in Fontanes L’Adultera”, in: Werner Faulstich (ed.), Das Böse heute. Formen und Funktionen, München Fink 2008, 113-128 Jäger, Ludwig 2002: “Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik”, in: id. & Georg Stanitzek (eds.): Transkribieren. Medien / Lektüre, München: Fink, 19-41 Levinson, Stephen 2000: Presumptive meanings, Cambridge/ MA: MIT Press Wegener, Philipp 1885: Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens, Halle: Niemeyer Ernest W.B Hess-Lüttich (Bern) Ellen Fricke: Origo, Geste und Raum. Lokaldeixis im Deutschen (= Linguistik - Impulse und Tendenzen 24), Berlin/ New York: de Gruyter 2007, 401 S., ISBN 978-3-11-019227-8 Die von Ellen Fricke vorgelegte Arbeit ist aus einer preisgekrönten Dissertation an der TU Berlin hervorgegangen und gliedert sich in zwei Hauptteile: der erste entfaltet die theoretischen Grundlagen, der zweite behandelt die drei im Titel genannten Themen: das Origoproblem, das Raumproblem und das Gestenproblem. In den Grundlagen entwickelt die Verf. aus der Kritik von bisherigen Deixistheorien zunächst eine Neukonzeption der Lokaldeixis des Deutschen, wobei auch empirische Beispiele von Zeigegesten bzw. redebegleitenden Gesten einbezogen werden. Diese Neuklassifikation erlaubt es, komplexe Formen des gestischen Zeigens und der Konstitution deiktischer Verweisräume zu beschreiben. Die Klassifikationsvorschläge im ersten Teil der Arbeit (Grundlagen) beruhen im wesentlichen auf drei Thesen, die im zweiten Teil der Arbeit (Fokussierungen) in je einem Kapitel ausführlich diskutiert werden (S. 3 f.): (i) Die Origo ist komplex strukturiert und besteht aus einer primären Origo, die beim Sprecher liegt und mit der Übernahme der Sprecherrolle beim Sprecherwechsel erworben wird, und verschiedenen sekundären Origines, die in origozuweisenden Akten vom Sprecher einer Entität zugewiesen werden. (ii) Die Unterscheidung zwischen einer demonstratio ad oculos und einer Deixis am Phantasma innerhalb der Zeigmodi ist den zu beschreibenden Phänomenen nicht adäquat. Sie ist durch die Unterscheidung zwischen einem Zeigen auf Nichtzeichen und einem Zeigen auf Zeichen zu ersetzen. (iii) Das Verbaldeiktikon, auf das sich die Zeigegeste bezieht, muß auf der verbalen Ebene nicht explizit geäußert werden, sondern kann aufgrund einer elliptischen Auslassung auch nur implizit gegeben sein. Die erste These, das Konzept des origozuweisenden Aktes, soll das Origoproblem lösen, die Unterscheidung zwischen einem Zeigen auf Zeichen und einem Zeigen auf Nichtzeichen das Raumproblem, und die Annahme einer impliziten verbalen Lokaldeixis das Gestenproblem. In der Deixisforschung ist die deutsche von der angloamerikanischen Tradition zu unterscheiden. In der deutschen Tradition (cf. Bühler 1934/ 1982, Ehlich 1982/ 1983, Herbermann 1988, Sennholz 1985) wird der Begriff der Deiktizität meist mit dem Begriff der Origorelativität in Verbindung gebracht, in der angloamerikanischen Forschung (cf. Fillmore 1982/ 1997, Hanks 1992/ 1993, Lyons 1980) wird der Begriff der Deiktizität mit dem Begriff der Indexikalität gleichgesetzt. In der angloamerikanischen Tradition werden als deiktisch nur Phänomene angesehen, bei denen die Origo dem Sprecher zugeordnet ist. Die Sprecherzentriertheit ist somit in der angloamerikanischen Tradition größer als in der deutschen. Phänomene, die nach Bühler als Versetzungen in andere Entitäten gelten, werden theoretisch kaum berücksichtigt. Ähnliches gilt auch für die Deixis am Phantasma bzw. die Deixis am Vorstellungsraum. In der angloamerikanischen Tradition liegt der Fokus stärker als in der deutschen auf der Deixis am Wahrnehmungsraum. In allen Ansätzen hat die Zeigegeste gegenüber verbalen Deiktika einen eher marginalen Status (S. 17). Reviews 377 gungen der Bildrezeption. Felder geht unter anderem den Fragen nach, welche Handlungen mit Hilfe von Sprach- und Bildzeichen zur Konstitution von Sachverhalten vollzogen werden und wie sich der Einsatz von Bild- und Sprachzeichen methodologisch beschreiben läßt. Er geht davon aus, daß sich mit Fotografien als Bildzeichen genauso Handlungen vollziehen lassen wie mit sprachlichen Zeichen. Seine Untersuchung zeigt, daß Bilder je nach Text-Bild-Äußerung einem oder mehreren Bild-Handlungstypen zugeordnet werden können. Dieselben Bilder können je nach Fokus eine andere Funktion übernehmen. Durch die häufige Verwendung von demselben Bild kann es zu einer symbolischen Verwendung und Stereotypsierung kommen, was die “Nicht-Arbitrarität” von Bildern in Frage stellt. Abschließend behandelt Werner Holly (S. 387-426) in seinem Beitrag die audiovisuelle Hermeneutik am Beispiel eines Kampagnen-TV- Spots. “So wichtig das Verstehen im Zusammenhang mit Sprache ist, so wenig läßt sich Verstehen auf Sprache reduzieren”, hebt er an und fordert zu Recht (wenn auch nicht als erster: s. Hess-Lüttich 1978) eine Einbettung des Sprachverstehens in ein “semiotisch integriertes Gesamtverstehen” (S. 388), zumal bei elektronischen Medien mit ihrem Einsatz von Bildern, Tönen und Musik. Holly versteht unter audiovisueller Hermeneutik nicht eine Addition von Sprach- und Bildanalysen, sondern eine Verschränkung der beiden Analysen, wobei spezifische Muster herausgearbeitet werden. Diese Verschränkung erklärt er mit Jägers Idee der “Transkriptivität” (S. 389, s. Jäger 2002). Sprache und Bilder beeinflussen sich gegenseitig und lassen Neues entstehen. Die Wechselseitigkeit ist es also, welche die Bedeutung generiert. Diese Erklärung erinnert an das Prinzip der Emergenz, welches besagt, dass auf jeder höheren Komplexitätsstufe neue Eigenschaften auftreten, die auf den tieferen Komplexitätsstufen nicht vorhanden waren. In diesem Sinne läßt sich das Ganze nicht auf die einzelnen Teile zurückführen. Holly zeigt dann auch, wie die Bilder im TV-Spot “Du bist Deutschland” den Sprachtext transkribieren und anders lesbar machen. In Ergänzung zu den anderen Beiträgen setzt sich Holly mit einer hermeneutisch orientierten Medienlinguistik auseinander, die den heutigen Anforderungen an eine “moderne Hermeneutik” in einer multimedialen Gesellschaft gerecht zu werden sucht (cf. Hess- Lüttich ed. 2001/ 2005 a, b). Es steht zu wünschen, daß dieser sehr verdienstvolle Band dazu beiträgt, dem “noch bestehenden Mißtrauen gegen alle Hermeneutik” (S. 2) entgegen zu wirken. Denn in dem Maße, in dem sich die Linguistik mit linguistischer Hermeneutik auseinandersetzt, bekommt sie die Chance, “am Verstehensdiskurs anderer Verstehenswissenschaften verstärkt teilzunehmen” (ibid.) - eine unabdingbare Voraussetzung, um Verstehen bzw. Interpretieren nicht als “starres Gebilde”, sondern als vielseitiges, interessantes und flexibles Phänomen zu betrachten, das es zu untersuchen lohnt. Die dazu nötigen interdisziplinären Anschlußpunkte markieren die Autoren selbst in ihren Bezügen auf psychologische, neurologische und literaturwissenschaftliche Ansätze und tragen damit dazu bei, das Verstehen nicht nur als das “A und O von Sprache” (S. 2) zu begreifen, sondern endlich auch als das A und O einer nicht-reduktionistischen Linguistik. Literatur Brenner, Peter J. 1998: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen: Niemeyer Busse, Dietrich 1991: Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1978/ 2004: “Semiotik der multimedialen Kommunikation”, in: Tasso Borbé & Martin Krampen (eds.), Angewandte Semiotik, Wien: Egermann 1978, 21-48; aktualisierte Neufassung in: Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds.), Semiotik / Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture (= HSK 13.4), Berlin/ New York: de Gruyter, 3487-3503 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 1980: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1991: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 2001/ 2005 a: Medien, Texte und Maschinen. Angewandte Mediensemiotik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Reviews 376 Vorgehens, sagt er, sei die Berücksichtigung der Diskursbeteiligten und der Publikumsresonanz, weil nur so umfassend analysiert werden könne, wie ‘Verstehen’ zustande komme. Zum Schluß folgen sieben Artikel zur methodologischen und praktischen Hermeneutik. Ulrike Hass-Zumkehr (S. 241-261) befaßt sich in ihrem Beitrag mit Corpus-Hermeneutik. Am Beispiel der Wortgruppen “warm/ Wärme” und “kalt/ Kälte” zeigt sie auf, inwiefern große digitale Textcorpora (wie das Textcorpus des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache) die traditionelle “Zettelkastenhermeneutik” erweitern. Aus einer Frequenzanalyse der genannten Wortgruppen unter Berücksichtigung des Kotexts zieht sie den Schluß, daß mit elektronischen Textkorpora feiner und differenzierter interpretiert werden könne als in der traditionellen Lexikographie, da mit statistischer Hilfe große Äußerungsmengen analysiert werden. Andreas Gardt (S. 263-280) reflektiert linguistisches Interpretieren im Kontext des Konstruktivismus und der ‘realistischen Sprachwissenschaft’. Er beobachtet zunächst, daß der interpretative Umgang mit Texten nicht, wie man erwarten könne, von konstruktivistischen Theorien geprägt sei, sondern daß Texten eine ‘feste’ Bedeutung zugewiesen werde, und beschreitet dann einen Mittelweg zwischen Konstruktivismus und Realismus als Lösung für das linguistische Interpretieren: ein Text sei weder als nur konstruiert zu betrachten noch als objektiv deutbar. Bei der linguistischen Interpretation solle der individuelle Text im Zentrum stehen, die Analyseverfahren sollten alle Gestaltungsdimensionen des Textes berücksichtigen. Ulrich Püschel (S. 281-299) plädiert mit seinem Beitrag unter dem Stichwort ‘handlungssemantische Textanalyse’ oder ‘interpretative Stilistik’ für einen pragmalinguistischen Umgang mit Texten. Mit seinem Instrumentarium der interpretativen Stilistik analysiert er ein Gespräch aus Theodor Fontanes Roman Effi Briest. Die Analyse dieses literarischen Gesprächs macht (nicht zum ersten Mal: s. Hess-Lüttich ed. 1980; zu einem andern Gespräch bei Fontane s. Hess- Lüttich 2008) deutlich, daß die linguistische Gesprächsanalyse etwas Sinnvolles zur Untersuchung literarischer Gespräche beitragen kann. Heidrun Kämper (S. 301-322) widmet sich in ihrem Beitrag der von Jaspers (1946) beschriebenen “Schuldfrage” an. Die “Schuldfrage” ist einer der wichtigsten Texte, der sich mit der deutschen Kriegsvergangenheit beschäftigt. Die “Darstellung und Beschreibung zentraler Texte der deutschen Sprache” erachtet Kämper (S. 302) als eine der wesentlichen Aufgaben der Sprachwissenschaft. Sie möchte die Bedeutung des Textes im Sinne linguistischer Hermeneutik erschließen, wobei sie ‘linguistische Hermeneutik’ nicht als Methode, sondern als Anliegen versteht, mittels Sprachanalyse einen Beitrag zum Verständnis eines Textes zu leisten. Im Falle der “Schuldfrage” wird das Textverständnis hergestellt, indem Begrifflichkeiten erklärt werden. Zuerst beschreibt Kämper die Leitbegriffe, ihre Bedeutungen und die semantischen Relationen der verschiedenen Begriffe. Dann geht sie auf die Rezeptions- und Konzeptgeschichte der “Schuldfrage” ein und hält fest, daß die Geschichte des Schuldbegriffs im 20. Jahrhundert einen sprachlichen Umbruch erlebte: “Seit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft referiert Schuld auch auf ‘Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ […]” (S. 319) und Jaspers “Schuldfrage” sei ein wesentlicher Beitrag zur Ausdeutung des neuen Begriffs. Ulla Fix (S. 323-356) will in ihrem Beitrag am Beispiel der Erzählung “Epitaph für Pinnau” von Johannes Bobrowski (1962) zeigen, wie und mit welchen linguistisch-literaturwissenschaftlichen Methoden man “in die Ganzheit eines Textes” eindringen könne. Aus der Analyse schließt sie, daß viele “Befunde” auf der Ebene der Textoberfläche zu beobachten seien, aber es zur Vertiefung dieser Befunde des Rahmenwissens bedürfe. Wenn aber nichts dem Erstleseeindruck widerspreche, sei die Textoberfläche “beim Wort zu nehmen” und “der sicherste Weg zum Textverstehen” (S. 353). Ekkehard Felder (S. 357-385) befaßt sich mit der Text-Bild-Hermeneutik. Er untersucht die Zeitgebundenheit des Bild-Verstehens am Beispiel eines Medienereignisses aus dem Jahr 1962, das von den Medien während vier Jahrzehnten zur Berichterstattung verwendet wurde. Dazu wählt er fünf Pressefotographien, die das Ereignis dokumentieren und diskutiert sie unter pragmatischen und zeitspezifischen Verstehensbedin- Reviews 375 Versprachlichung vorausgeht”. In der Psycholinguistik gilt die Sprachproduktion als Prozeß, bei dem Gedanken in Sprache übersetzt werden. Linz spricht sich gegen diese Auffassung von Sprachproduktion aus und vertritt die These, dass eigenrezeptive Prozesse für den Sprecher selbst sinngenerierend sind. In Anlehnung an Humboldt und Schleiermacher geht Linz davon aus, daß sich Gedanken bilden, indem man sich selbst sprechen hört und das Gehörte versteht. Ihre These stützt sie mit neuen Befunden aus der Neurowissenschaft zu Sprach- und Wahrnehmungsprozessen. Frank Liedtke (S. 59-99) zeigt in seinem Beitrag, inwiefern fragmentarische Äußerungen bzw. Ellipsen in vielen Kontexten verständlicher sind als vollständige Äußerungen. Er vertritt die These, “daß das Satzverstehen inkrementell erfolgt, also nicht erst mit dem letzten Wort des zu verarbeitenden Satzes oder der Äußerung einsetzt, vielmehr sogleich mit dem ersten gehörten oder gelesenen Wort” (S. 63). Dabei konzentriert er sich vor allem auf die mündliche Kommunikation. Warum wir in der Alltagskommunikation keinen Anspruch auf vollständige Sätze haben, begründet er anhand der von Levinson (2000) weiterentwickelten Griceschen Analyse konversationeller Schlußprozesse. Dietrich Busse (S. 101-126) erläutert am Beispiel einer juristischen Textauslegung die Begriffe ‘Textbedeutung’, ‘Textverstehen’ sowie ‘Textarbeit’ und deren Beziehung zum Begriff ‘Applikation’ (Textanwendung). Zu den Anwendbarkeitsbedingungen eines Begriffs gehöre mehr als das, was Linguisten zur wörtlichen Bedeutung zählen. Der ‘semantische Rahmen’ bzw. das Weltwissen spiele eine wichtige Rolle beim angemessenen Verstehen und Interpretieren eines Textes. Seine Erläuterungen basieren sowohl auf traditionellen hermeneutischen wie auch auf psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen. Den zweiten Teil schließt Fritz Hermanns (S. 127-172) mit einem gewichtigen und bedeutsamen Beitrag über Empathie ab - ein Thema, das bisher wenig Interesse in der Linguistik fand, das aber in Anbetracht neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse mehr Bedeutung verlangt. Sehr anschaulich, mit vielen Beispielen aus der aktuellen Forschung, trägt Hermanns wissenswerte Informationen aus den Bereichen Philosophie, Psychologie und Neurologie zusammen, die nachweisen, daß es Empathie gibt und was sie bedeutet. Zunächst zeigt er die verschiedenen Formen der Empathie auf, geht dann auf die Entdeckung der Spiegelneuronen ein, erläutert den Begriff im Zusammenhang mit der Imitationsforschung und zeigt schließlich die Relevanz der Empathie für das Sprach- und Textverstehen und somit für die Sprachwissenschaft auf. Der dritte Teil des Bandes enthält zwei Beiträge zur empirischen Hermeneutik. Wolfgang Falkner (S. 175-200) geht in seiner Studie davon aus, dass Mißverständnisse fester Bestandteil unseres Kommunikationsverhaltens seien. Ein Gedanke, der nicht ganz neu ist und an Humboldts Maxime erinnert, daß jedes Verstehen gleichzeitig Nicht-Verstehen ist: jeder Mensch versteht unter einem Begriff etwas anders (cf. Hess-Lüttich 1981). Erst durch Interaktion kann ein gemeinsames Verständnis eines Begriffs ausgehandelt werden. Falkner will jedoch aufzeigen, wie Phänomene des (Miß-)Verstehens empirisch erforscht werden können. Dazu stellt er zunächst ein Kommunikationsmodell vor, das im Unterschied zum ursprünglichen Modell von Shannon & Weaver situative und kotextuelle Aspekte einbezieht. Auch die kommunikative Motivation sowie die Erwartung der Gesprächspartner werden berücksichtigt. Weiter beschreibt er das Konzept der “dreigliedrigen Äußerungsfunktion” (S. 188), mit welchem sich Mißverständnisse auf drei Ebenen lokalisieren lassen: Modifikatoren (z.B. Höflichkeit), Proposition und Illokution. An Beispielen, die er mit Hilfe seiner “Tagebuchmethode” gewonnen hat (teilnehmende Beobachtung), veranschaulicht er das Konzept, bevor er abschließend diskutiert, ob und inwiefern sich der vorgestellte Ansatz dazu eigne, neben Mißverständnissen auch funktionierende Kommunikationsprozesse zu modellieren. Josef Klein (S. 201-238) befaßt sich in seinem Beitrag mit der linguistischen Hermeneutik politischer Rede. Am Beispiel der umstrittenen Regierungserklärung “Agenda 2010” deutet er die politische Rede unter Berücksichtigung des Kontexts. Er arbeitet heraus, inwieweit vorgängige Diskursstränge und Prätexte für die Rede von konstitutiver Bedeutung sind. Der Vorteil seines Reviews 374 Fritz Hermanns & Werner Holly (eds.): Linguistische Hermeneutik, Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen: Niemeyer 2007, 426 S., ISBN 978-3-484-31272-2 “Die Sprache ist Verkehr der Menschen untereinander und nur die sprachlichen Vorgänge, welche wir als Hörende verstanden haben, können uns beim Sprechen als Sprachmittel dienen” (S. 1). Mit diesem klassischen Zitat von Philipp Wegener (Wegener 1885: 182) suchen der kürzlich verstorbene Fritz Hermanns und sein Mitherausgeber Werner Holly einen Einstieg in die linguistische Hermeneutik. Die ist eigentlich nicht neu, schon Ferdinand de Saussure beschrieb Sprache als Mittel, um zu verstehen und sich verständlich zu machen - “de comprendre et de se faire comprendre” (Saussure 1967: 9). Auch das war nicht der Anfangspunkt. Wie man einen Text möglichst eindeutig interpretieren kann, interessiert die Wissenschaft, seit es Schrifttexte gibt. Die älteste bekannte Wissenschaft, die sich mit Textauslegung befaßt, ist bekanntlich die Theologie mit der Bibelexegese - aber auch Rechts- oder Literaturwissenschaften setzten sich mit der Verständlichkeit von Texten auseinander (Busse 1991: 7), wobei sie sich dazu vorwiegend an philosophischen Theorien orientierten. Der rezeptionsästhetische Ansatz der Literaturwissenschaft wurde als eine der wenigen europäischen Theorien sogar in den USA rezipiert. Anders als die sog. Autonomieästhetik, die im Sinne Kants vom überzeitlichen Charakter des Werks ihren Ausgang nimmt, versteht sich die Rezeptionsästhetik als leserorientierter Ansatz. Nicht eine “methodisch regulierte Aufnahme eines vorgegebenen Text-Sinns” (Brenner 1998: 102) steht im Vordergrund, sondern eine aktive Leistung des Lesers - der Dialog zwischen Leser und Werk. Der Anteil der Sprachwissenschaft an der Entwicklung einer allgemeinen Theorie der Textinterpretation blieb demgegenüber bislang weniger erkennbar (S. 8). Auch die Linguistik könne sich nicht mehr der Einsicht verschließen, daß Verstehen die Grundlage “jeglichen gelingenden Kommunizierens” sei, so Hermanns & Holly (S. 1) in ihrer Einleitung. Das Ziel ihres Bandes ist es denn auch, dem in der Linguistik vorherrschenden Mißtrauen gegenüber der Hermeneutik entgegenzuwirken. Die Linguistik solle nicht nur intern und extern für eine eigene Verstehenswissenschaft einstehen und am Diskurs anderer Verstehenswissenschaften teilnehmen, sondern “linguistische Hermeneutik” als neues Teilfach einführen. Der Sammelband will einen Überblick darüber geben, wie eine solche linguistische Hermeneutik ausgegestaltet sein könnte, wobei sich die verschiedenen Beiträge vier Teilbereichen zuordnen lassen: (i) Hermeneutik und Linguistik, (ii) theoretische Hermeneutik, (iii) empirische Hermeneutik und (iv) methodologische und praktische Hermeneutik. Bernd Ulrich Biere (S. 7-21) macht den Anfang mit einem anspruchsvollen wissenschaftshistorischen und linguistikkritischen Beitrag zum Thema “Hermeneutik und Linguistik”. Metaphernreich steigt Biere in den Artikel ein und deklariert, was die Wissenschaft vom Götterboten Hermes lernen könnte: “jene Portion ‘Frechheit’, die es vielleicht braucht, um sich erneut auf die unsichere, und mehr noch, die ‘unendliche Aufgabe’ des Verstehens einzulassen” (S. 7 f.). Biere erwähnt die methodologischen Kontroversen sowie die theoretische und methodische Rolle des Verstehens, stellt die Positionen ‘Positivismus’ und ‘Antipositivismus’ einander gegenüber und fordert eine Klärung des Verstehensbegriffs. Es müsse geklärt werden, inwieweit die germanistische Sprachwissenschaft an eine ältere hermeneutische Tradition anknüpfen und wo sie neue Perspektiven gewinnen könne. Es folgt ein fachgeschichtlicher Rückblick über die germanistische Linguistik sowie ein historischer Abriß der hermeneutischen Tradition bis zurück ins 18. Jahrhundert. Biere unterscheidet zwischen “linguistischer Hermeneutik”, die er eher ablehnt, da sie die Rückkehr zu den Spezialhermeneutikern des 18. Jahrhunderts bedeuten würde, und einer “hermeneutischen Linguistik”, die er als sprachtheoretische Grundlage sieht. Im zweiten Teil mit fünf Beiträgen zur theoretischen Hermeneutik vergleicht Ludwig Jäger (S. 25-42) zunächst die beiden sprachtheoretischen Positionen von Wilhelm v. Humboldt und Noam Chomsky und plädiert für die Orientierung der linguistischen Hermeneutik an Humboldts Konzeption von Sprache und Verstehen. Erika Linz (S. 43-58) hinterfragt die Annahme, daß “die Erzeugung eines Äußerungsgehaltes seiner Reviews 373 nen, New Age und, nicht zuletzt, noch der Ursprung der Sprache. Dem Leser wird nochmals versichert, dass die Lehre des Impurismus esoterisch tradiert sei (Tarot, Kabbala etc.) und im Laufe der Jahrtausende als Weltbild hinter den Wissenschaften und ihren Vorläufern (Astrologie, Alchemie) und als Quelle von Fachbegriffen benutzt wurde. Doch damit noch nicht genug: jegliche Form wissenschaftlicher Terminologie sei von impuristischen Urbildern geprägt. Das Ganze mündet in die ungeheuerliche Erkenntnis, eine “Weltformel der Wissenschaften, ihrer historischen Vorläufer und der Esoterik” entdeckt zu haben, die auch die Literaturwissenschaft und die Linguistik nachhaltig beeinflussen werde. So ist es die erklärte Absicht des Autors, die wegen ihrer gegenwärtigen Interpretationspraxis in eine Sackgasse geratene Germanistik durch den Impurismus wieder auf den Pfad wissenschaftlicher Tugend zu führen, da das Konzept mit der Idee, alles auf die Genitalien zurückzuführen, die Implementierung eines Decodierungsprozesses bedeute und analog dazu die faktische Überwindung der bisherigen Hermeneutik. Wenn das nicht Grund genug ist, eine neuerliche Renaissance zu prognostizieren, in der die Schönheit der Mythen, der Kunst, der Wissenschaft und der Sprachen des Altertums wiederentdeckt werde! Was nun zeichnet ‘impuristische Literatur’ aus? Sie sei von tiefgründiger Bedeutung und nur wer im Besitz der “alten Weisheit” sei, könne sie hervorbringen, denn gute Literatur und Dichtung sei nur, was sich impuristisch entschlüsseln lasse (weshalb ein Grossteil moderner Lyrik nichts weiter als “kunstgewerbliche Imitation” sei). In einem kreativen Akt konstruiere der Dichter ein sprachliches Gewebe, das einzig der Codierung eines den Worten von Anfang an inhärenten Ur- Sinns diene. In der Entschlüsselung dieser Tiefe - De profundis clamavi - “wird die alte Welt aus Schöpfungstagen wiederhergestellt.” Diese Art von Codierung und Decodierung ist allerdings nur mittels Applikation von Entstellungs- und Verfremdungspraktiken möglich (daher erklärt sich übrigens auch die Herkunft des Wortes ‘Impurismus’: in Anspielung auf H.M. Enzensbergers Übersetzung ausgewählter Gedichte von Neruda unter dem Titel “Poésie impure” kann dieser Terminus in etwa mit ‘Sprachunreinheit’ übersetzt werden), zu denen unter anderen etwa Polysemie, Mehrsprachigkeit, Synästhesien, Metaphorik, Gemination, Schüttelreime, Assonanzen und Alliterationen gehören (aufgezählt werden insgesamt 55). Um Belege für seine Theorie liefern zu können, analysiert Werner abschliessend u.a. Auszüge aus dem altägyptischen Totenbuch, ein altnordisches Runenlied aus der Edda, die Offenbahrung des Johannes, 26 Grimmsche Märchen, sowie Gedichte von Rimbaud, Schiller, Brentano, Bachmann, Benn und Enzensberger. Was kann man dieser kulturhistorischen Emulsion nun ernsthaft abgewinnen, ausser vielleicht der Erkenntnis, dass das Lager pseudowissenschaftlicher Theoriebastler um ein Mitglied reicher geworden ist? Diese Zuordnung von Organ und Text kannte man bisher eigentlich nur bei James Joyce, aber wo dieser aufgrund seiner intellektuellen Originalität mit einem von nahezu avantgardistischer Brillanz zeugenden literarischen Stilmittel zu überzeugen vermag, bleibt hier nur reiner Obskurantismus. Eigentlich gilt Hegel als letzter grosser Systembauer - der Autor sucht ihn auch in punkto Unverständlichkeit zu übertreffen (wenn sich beispielsweise Werners pansemiotischer quasi-Weltgeist im ‘Weltbild der Windmühle’ manifestiert) - allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Hegel nach wie vor Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Diskussionen ist, wogegen man in diesem Fall von Anfang an in einem inhaltslosen Netz aus Beliebigkeit, Spekulation und Grössenwahn gefangen scheint. So verwundert es auch nicht mehr, wenn der Autor auf seiner Homepage schreibt, dass man nur mit dem Wissen vom Impurismus zur kulturellen Elite, die Kunst und Literatur prägt und versteht, gehören könne. Es bleibt der Eindruck eines sich masslos überschätzenden Kulturalchemisten, der das schriftliche Zeugnis seiner hermetischen Esoterik zum Wendepunkt der Geistesgeschichte hochstilisiert. Den von Werner intendierten methodologischen Ikonoklasmus wird dieses Werk somit wohl eher nicht herbeiführen. Eine stupende Fleissarbeit - zweifellos - , mit ernsthafter Wissenschaft hat das freilich wenig zu tun. Nicolas Bollinger (Bern) Reviews 372 aber, das neue Konzept erweist sich a priori als derart jeglicher wissenschaftlichen Redlichkeit entbehrend, dass eine ernsthafte Diskussion dieses Ansatzes einer ganzen Fachrichtung den Ruf der Unseriosität bescheren könnte. In welche der beiden Kategorien gehört Wolfgang Werners Illustrierte Poetik des Impurismus? In diesem 1346 Seiten starken Werk will der Autor eine Entdeckung gemacht haben, die der Literatur, Kunst, Musik, Architektur und eigentlich allen Feldern des Wissens der letzten vier Jahrtausende zugrunde liegt und die nichts weniger als den Schlüssel zur Mythologie und Religion aller Völker verkörpert. Dabei handelt es sich um “einen Zusammenhang von Sprache und Sexualität, der sich in allen Gebieten spiegelt, auf denen sich menschlicher Geist in Kulturgütern objektiviert, am auffälligsten in der Kunst und Literatur aller Zeiten, jedenfalls soweit solche Artefakte von Eingeweihten produziert wurden” (S. 9). Werner will nun darlegen, wie er auf einen durch die Jahrtausende von “Wissenden” (ägyptische Priester, Orphiker, Rosenkreuzer, Templer, Alchemisten, Astrologen und Freimaurer) bewahrten und tradierten Geheimcode gestossen sei. Die Grundannahme besteht dabei darin, dass ein Autor seine Wörter nicht willkürlich auswähle, sondern sie zur Verschlüsselung eines tieferen Sinns benutze, wobei die eigentliche Entdeckung darin liege, dass sich die sprachlichen Kunstwerke als stark verschlüsselt im Bereich der Sexualorgane angesiedelt erwiesen und erst im Lichte dieser Erkenntnis verstehbar würden. Die Frage nach einer plausiblen Erörterung dieser These und deren Konsequenzen wird in etwa so beantwortet: Man nehme ein anatomisches Bildwörterbuch zur Hand und baue ausgehend von 385 lateinischen Bezeichnungen aus dem Bereich des Urogenitalsystems den ganzen Wortschatz der deutschen Sprache neu auf, um ihn für das eigene Vorhaben brauchbar zu machen, denn das Geheimnis dieser lateinischen Ausdrücke liegt in ihrem medizinischen Gebrauch. Als nächstes greife man zu einem etymologischen Lexikon und führe jeden der darin verzeichneten vielleicht 10000 Einträge auf eine erotisch-anschauliche Grundbedeutung zurück, damit man schliesslich ein eigenes Wörterbuch erstellen kann, in welchem man tausende deutscher Wörter durch Rekurrenz auf ihre sexuell konnotierten lateinischen Wortfamilien erklärbar macht. Aus der Anatomie der Geschlechtsorgane leite man nun einen Code ab, mit dem alle anderen Wörter erfasst werden können, das sind die so genannten “Wurzelwörter”. Zur Erweiterung dieses ‘impuristischen Codes’ werden alle Organe des menschlichen Körpers auf die Genitalien projiziert. Das heisst, man suche in einem Lateinisch-Deutschen Wörterbuch nach “lateinischen Bezeichnungen für sexuelle Dinge” und verbinde sie mit den Wurzelwörtern. Im nächsten Schritt fasse man die deutschen Begriffe der medizinisch-lateinischen Stichwörter zu jeweils separaten Stichwörtern zusammen, ergänze sie durch Begriffe aus der Jägersprache, aus dem Rotwelschen und anderen Spezialgebieten, um so ca. 35000 Wörter zu erhalten. Zwischendurch betone man noch ausdrücklich, dass es wichtig sei festzustellen, “dass hier nicht ein Akt der Willkür, eine planlose Chiffrensetzung, stattfindet, sondern eine Entfaltung oder Aufdeckung der Polysemie im Sinne eines objektiven Befundes” (S. 45). Wenn man sich nun im Besitz einer universalgeschichtlichen Panazee weiss, kann man unter Zuhilfenahme dieses Codes sämtliche Hervorbringungen menschlicher Schöpfungskraft entschlüsseln und dabei rückblickend feststellen, dass diese Weltformel bereits immer in den Objektivationen des Geistes vorhanden gewesen ist. Die Universalität dieses androbzw. gynäkologischen Reduktionismus scheint es in bester humoralpathologischer Tradition zu erlauben, eine riesige Menge von Wissensfeldern in ein urogenitales Raster zu zwingen. Behandelt werden unter anderem: platonische Körper, geometrische Gesetze, Formen und Figuren (nicht zu vergessen das Pentagramm), welche auf die Symbolik der Freimaurer angewendet werden, und von denen nebenbei auf die Ursprünge von kosmogonischen Modellen und Astrologie geschlossen werden könne. Dann wären da noch christliche, germanische, griechische, ägyptische und jüdische Mythologie, Hieroglyphen, Symbole, Kalender, Labyrinthe, die zyklische Einteilung der Zeit und Zeitbegriffe, Alchemie, der Tierkreis, Planeten und Sternzeichen, Farbenlehre und Farbsymbolik, Zahlenmystik, Numerologie, Phonetik, Tarot, die Kabbala und jüdische Mystik im allgemei- Reviews 371 blematisch. Denn Foucault selbst wehrt sich gegen diese Einschränkung, indem er explizit vom Diskurs “als Gesamtheit von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen)” spricht. Er nennt hier explizit alle Formen von Zeichen, nicht nur die sprachlichen. Eine Einschränkung wird dem vielschichtigen und komplexen Diskursbegriff nicht gerecht. Hier wird ein Forschungsobjekt, das klar interdisziplinär ist, welches das Interesse diverser Geistes- und Sozialwissenschaften weckt, in ein disziplinäres Prokrustesbett gelegt. Die Folge dieser Disziplinierung ist der Verlust von Bedeutungskomponenten des Forschungsobjektes des Diskurses. Foucault selbst hat an verschiedenen Stellen seines Werkes den Zusammenhang zwischen Macht, Wissen und wissenschaftlichen Disziplinen problematisiert. La discipline est un principe de contrôle de la production du discours. Elle lui fixe des limites par le jeu d’une identité […]. On a l’habitutde de voir dans le développement d’une discipline, comme autuant de resources infinies pour la création des discours. […] il est probable qu’on ne peut pas rendre compte de [son] rôle positif et multiplicateur, si on ne prend pas en considération [sa] fonction restricitive et contraingnante. In diesem Sinne kann die Linguistisierung des Diskurses insofern als Vergewaltigung dieses Begriffs verstanden werden, als hier die Macht der disziplinären Tradition und das Bedürfnis nach Legitimität der Disziplin dieses Objekt verzerrt. Im Kontext einer zunehmend starken Nachfrage seitens der Politik und der Wirtschaft nach interdisziplinären Forschung geraten die Disziplinen ins Wanken. Ein Teil der Forschungsgemeinschaft reagiert auf dieses Bedürfnis mit einer starken Referenzierung und Fokussierung auf die etablierten disziplinären Methoden und Erkenntnisinteressen, um die eigenen Disziplinen zu legitimieren. Dies darf aber nicht auf Kosten der Erkenntnisobjekte geschehen. Ich argumentiere hier nicht gegen eine Verdeutlichung und eine Präzisierung des Diskursbegriffs, auch nicht gegen Transparenz und Vergleichbarkeit von Forschungsresultaten. Die vorgeschlagene Systematisierung scheint mir mehr als sinnvoll. Trotzdem sollte die diskursinteressierte Forschung den Mut haben, die disziplinären Barrieren zu überwinden und ein interdisziplinäres Instrumentarium zu entwickeln, das der Komplexität und der Vielschichtigkeit des Diskursbegriffes gerecht werden kann. Anmerkung 1 Ingo Warnke (ed.) 2007: Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin: de Gruyter; Ingo Warnke & Jürgen Spitzmüller (eds.) 2008: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin: de Gruyter. Zitate im folgenden aus diesen Bänden nur unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Alfonso Del Percio (Bern) Wolfgang Werner: Illustrierte Poetik des Impurismus. Morphologie und Funktion der Genitalien am Ursprung von Sprache und Mythos, Schrift und Literatur, Essen: Die blaue Eule 2008, 1346 S., ISBN 978-3-89924-176-1 Wenn davon die Rede ist, dass eine Fachrichtung sich in einer Krise befindet, wird meistens nicht ein von Aussen stammender kritischer Blick auf die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Dinge geworfen, vielmehr ist dieses Sprechen ein Teil der Geschichte diese Fachs selbst. So sollte man durchaus hoffnungsvoll aufhorchen, wenn sich die vermeintliche Lösung dieser Krise in Form eines neuen Theorieansatzes präsentieren will; wenn aber dieses Modell zusätzlich noch für sich in Anspruch nimmt, sämtliche Wissenschaftszweige zu revolutionieren, müsste es eigentlich erst recht zum Gegenstand der Aufmerksamkeit werden - oder zum Objekt eines grundsätzlichen Misstrauens. Oft hat sich herausgestellt, dass ein neues, scheinbar revolutionär innovatives Deutungsmodell erst dann in den kritischen Fokus einer sich als streng wissenschaftlich verstehenden Denkrichtung gerät, wenn es sich bereits mehr oder weniger etabliert hat (man nehme nur den Strukturalismus oder die Psychoanalyse); oder Reviews 370 Wie im ersten Band spiegeln die Beiträge des zweiten die in der germanistischen Diskurslinguistik herrschende methodische Analysevielfalt. Sie beschäftigen sich “aus kognitionslinguistischer Perspektive mit dem Diskurs als epistemologischem Phänomen” (Band II, S. 45). Alexander Ziem zum Beispiel zeigt in seinem Beitrag, wie Diskurssegmente im Diskurszusammenhang analysiert werden, indem er in seiner Argumentation einen semantischen Beschreibungsansatz formuliert, nämlich die Framesemantik, welche es vermag, historisch-semantische Bedingungen der Wissenskonstitution zu beschreiben. Der zweite Teil des Buches thematisiert aus einer pragmalinguistischen Perspektive den Diskurs mit einem Fokus auf Aussagen und Argumentationen. Johannes Angermüller stellt in Anlehnung an die französischsprachige sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Diskursen das Vorgehen der Aussagenanalyse vor. Anhand von politischen Texten vermag er auf überzeugende Weise zu zeigen, wie innerhalb dieser Daten formale Äusserungsspuren zu finden sind, die “eine Vielzahl komplex verschachtelter Sprachperspektiven und Bedeutungsebenen mobilisieren und orchestrieren” (Band II, S. 187). Der interessierte Leser muss folglich immer die Äusserungskontexte der analysierten Texte bestimmen, wenn diese wirklich verstanden werden sollen. Die Beiträge des dritten Teils befassen sich mit multimodalen, Internet- und interpersonalen Kommunikationsdaten. Stefan Meier schlägt in seinem Beitrag ein Verfahren zur Bestimmung von Bildinszenierung als kommunikative Praxis im rechtsextremen Diskurs anhand einer diskursanalytischen Bildbetrachtung vor. Mit diesem Beitrag wird der Versuch gemacht, der in der deutschen Diskursforschung wenig verfolgten Analyse der visuellen Kommunikation eine methodische Basis zu geben und ein integratives Diskursanalysemodell, das nicht nur das sprachliche Zeichensystem berücksichtigt, zu entwickeln. Im vierten Teil beschäftigen sich die Autoren auf der Basis von soziolinguistischen und anthropologischen Methoden mit diskursiven Praktiken in Zusammenhang mit den Begriffen der Macht und der Ideologie. Tommaso Milani und Sally Johnson argumentieren am Beispiel der Begriffe Macht, Ideologie und Geschichte für eine engere Zusammenarbeit und einen intensiveren kritischen Austausch der linguistischen Anthropologie mit der Critical Discourse Analysis im Kontext der Sprachideologieforschung. Dies könnte zu einem vertieften Verständnis der Prozesse und Phänomene, welche sich hinter sprachpolitischen Massnahmen verbergen, führen. Die beiden Autoren exemplifizieren ihre Argumentation anhand eigener Forschungsdaten. Schliesslich präsentiert Noah Bubenhofer im letzten Teil innovative korpuslinguistische Ansätze. Er argumentiert mit Hilfe von Beispielen aus dem Terrorismus-Diskurs vor und nach 2001 für einen computergesteuerten Ansatz, der es ermöglicht, riesige Datenmengen zu berechnen und diskursive Muster innerhalb von Texten ans Licht zu bringen. Die Stärke der beiden hier besprochenen Bände liegt im Versuch einer Systematisierung und einer Normierung des Begriffes des Diskurses. Dieser soll einer modernen Auseinandersetzung mit sprachwissenschaftlich pertinenten Erkenntnisobjekten dienen und die Vagheit des Diskursbegriffs in Bezug auf die diskurslinguistische Forschung klären. Das im zweiten Band vorgeschlagene Mehrstufenmodell DIMEAN scheint auf den ersten Blick sehr unübersichtlich und schwer anwendbar. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Modell zeigt aber, dass diese Komplexität damit zu erklären ist, dass es alle sprachlichen Phänomene des Foucault’schen Diskursbegriffes mit einzubeziehen vermag. Dies ist insofern ein sehr wertvoller Beitrag für die Diskurslinguistik, als es Warnke und Spitzmüller gelungen ist, ein Modell zu entwickeln, welches alle für die Sprachwissenschaft relevanten Elemente berücksichtigt und das somit dem linguistisch interessierten Forscher ermöglicht, eine nachvollziehbare und nicht willkürliche Analyse des Diskurses durchzuführen. Was aus einer strikt sprachwissenschaftlichen Perspektive äusserst interessant ist, kann aus der Perspektive eines multimodalen Diskursansatzes, welcher sich nicht nur auf das sprachliche Zeichensystem konzentriert, kritisch diskutiert werden. Denn für ein Verständnis des Diskurses und seiner Analyse, das nahe an den Foucault’schen Reflexionen sein soll, ist genau die von Warnke und Spitzmüller vorgeschlagene Verengung des Diskursbegriffes auf sprachliche Phänomene pro- Reviews 369 Der zweite von Ingo Warnke und Jürgen Spitzmüller edierte Band Methoden der Diskurslinguistik besteht aus vierzehn Beiträgen. Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel, Episteme und Schemata, Aussagen und Argumentationen, Multimodalität und Interaktivität, Ideologie und Macht sowie Korpus und Muster. Auch wenn das in diesem Kontext vom Herausgeber vorgeschlagene Rahmenanalysemodell DIMEAN “das Resultat substantiellen Austauschs” (Band II, S. VII) ist und als eine Art Synthese eines Diskussionsprozesses verstanden werden kann, darf nicht von einer homogenen Methodenlandschaft ausgegangen werden. Die Beiträgerinnen und Beiträger haben in ihrer Beteiligung an der Diskussion “ihren eigenen Standpunkt in methodisch und methodologisch fokussierten Abhandlungen verdeutlicht” (Band II, S. VII). In anderen Worten finden wir hier eine Vielzahl an Ansätzen, welche zum Teil sowohl begrifflich als auch methodisch bzw. methodologisch im Widerspruch zu einander stehen. Die von den Herausgebern Ingo Warnke und Jürgen Spitzmüller verfasste Einführung bildet mit ihren innovativen methodischen Ausführungen den Kern des Bandes und weckt die Aufmerksamkeit der linguistischen Forschungsgemeinschaft. Sie nimmt die im ersten Band vorgestellten Reflexionen zur Diskurslinguistik auf und führt sie mit einem besonderen Augenmerk auf methodische und methodologische Fragen weiter. Das Ziel einer Diskurslinguistik soll laut den Herausgebern “die disziplinäre Kennzeichnung praktikabler und nachvollziehbarer Methoden, die den Ansprüchen und Zielen einer linguistischen Teildisziplin angemessen sind, welche sich in einer von Michel Foucaults Arbeiten geprägten wissenschaftsgeschichtliche Tradition sieht” (Band II, S. 6), sein. Da sprachliche Phänomene nur einen Teil des Diskurses ausmachen, impliziert eine Diskurslinguistik, die sich “mit allen vielschichtig strukturierten Aussagen- und Äusserungskomplexen, in denen Sprache als symbolische Form rekurrent verwendet wird” (Band II, S. 9) eine Verengung des Begriffs. Es wird argumentiert, dass nur eine solche Verengung auf fachspezifische Dimensionen des Begriffs eine eindeutige Untersuchung dieses Gegenstands ermöglicht. Die präsentierte Diskurslinguistik soll “die Produktionsbedingungen und Wirkungsmechanismen spezifischer medialer Umgebungen und die Interessen der Diskursteilnehmer als Untersuchungsgegenstand” (Band II, S. 17) ernst nehmen. Zudem muss sie einerseits “hinter die semantische Oberfläche der Texte blicken” (Band II, S. 22), andererseits wird betont, dass das “aufklärerische und ideologiekritische Moment keine Vorraussetzung für die diskursanalytische Arbeit” (Band II, S. 23) darstellt. Nach der genannten theoretischen und methodischen Begründung der Verengung des Diskursbegriffes und der Eingrenzung der Interessensgebiete, die durch eine Diskurslinguistik nach Foucault abgedeckt werden, wird das in diesem Band im Zentrum des Interesses stehende Rahmenmodell DIMEAN (Diskurslinguistische- Mehr-Ebenen-Analyse) vorgestellt, welches das von Ingo Warnke im ersten Band präsentierte Analysemodell ergänzen und präzisieren soll. Die Autoren schlagen drei bzw. vier Ebenen der Analyse vor: die Erstlektüre, die intratextuelle Ebenenzuordnung, die Analyse der Diskurshandlungen und schliesslich die transtextuelle Ebenenzuordnung. Bei der Erstlektüre geht es darum, Kenntnis vom Korpus zu nehmen und die gesammelten oder generierten Daten ein erstes Mal zu lesen. In einem zweiten Schritt soll eine Analyse auf der intratextuellen Ebene durchgeführt werden, dabei soll der Fokus auf Worteinheiten, Propositionen sowie der Textstruktur liegen. Drittens soll die Aufmerksamkeit des Forschers auf die sprachlichen Handlungen gerichtet werden, wobei folgende Analysekategorien vorgeschlagen werden: die Interaktionsrollen, die Diskurspositionen, das heisst eine Fokussierung auf die Rolle, welche die Akteure in der Gesellschaft haben, und die Medialität. Schliesslich soll eine transtextuelle Analyse durchgeführt werden. Dabei sollen Fragen nach der Intertextualität, der Historizität, der existierenden textübergreifenden Topoi und semantischen Grundfiguren und der Einbettung in bestehende Ideologien und allgemeine politische und gesellschaftliche Debatten etc. gestellt werden. Es wird argumentiert, dass die linguistische Analyse des Diskurses nicht alle vorgeschlagenen Elemente beinhalten muss, sondern dass je nach Spezifität der Schwerpunkt der Untersuchung auf der einen oder auf der anderen Ebne liegen kann. Reviews 368 nistische Debatte zieht, skizziert er einen Zuständigkeitsbereich der diskurslinguistischen Forschung, die sich “um die Analyse der Positionen von Aussagen im diskursiven Gefüge und das heißt, um die Kennzeichnung der Positivität von Ausdrücken” (Band 1, S. 12) kümmert. Dabei muss die Positivität als eine durch die “Streuung und Überlagerung von Sprache in diskursiven Netzen” (Band 1, S. 12) entstehende Bedeutung und Funktion von Ausdrücken verstanden werden. In Bezug auf die zeitgenössische diskurslinguistische Forschung entwickelt er ein Analyseinstrumentarium, das die “anonyme Verstreuung durch Texte, Bücher und Werke” (Band 1, S. 16) in den Mittelpunkt stellt. Dabei soll die Analyse des Diskurses im Sinne Foucaults sich erstens auf dessen Entstehungsbedingungen fokussieren (Prinzip der Umkehrung). Zweitens soll das Prinzip der Diskontinuität im Vordergrund stehen, das heisst, dass man nicht von einer kontinuierlichen sprachlichen Produktion ausgehen kann, sondern dass der Diskurs als zeit- und textübergreifend zu betrachtend ist. Drittens muss die Bedeutung einer Aussage immer in Bezug zum spezifischen Diskurs verstanden werden, in dem sie sich befindet (Prinzip der Spezifität), und schliesslich ist viertens diese Bedeutung immer materiell und auf der sprachlichen Oberfläche zu finden (Prinzip der Äusserlichkeit). Zudem muss die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Diskursen einerseits immer eine Fokussierung auf textübergreifende Strukturen von Sprache beinhalten. Andererseits sollen schriftliche Äusserungen wegen des besonderen Interesses für deren Regelhaftigkeit im Vordergrund stehen. Ausserdem stehen intertextuelle Bezüge von Aussagen im Zentrum des Interesses, da sie für die Entstehung von Bedeutung des Diskurses von Interesse sind. Schliesslich “werden die Möglichkeitsbedingungen für diskursive Bedeutungen in den Blick genommen, so dass die Diskurslinguistik […] die prozessualen Erzeugungen von Diskursstrukturen untersucht” (Band 1, S. 17). Das hier von Warnke vorgeschlagene Modell ist auch für einen ungeübten Leser des Foucault’schen Werkes trotz der Komplexität seiner Argumentation sowohl sprachlich, wie auch argumentativ trotz der Komplexität seiner Argumentation nachvollziehbar und verständlich. Trotzdem wäre eine Exemplifizierung des gesagten anhand ausgewählter Beispiele hilfreich gewesen, um sich über die konkreten Anwendungsmöglichkeiten der vorgeschlagenen Analyse-Methode klar zu werden. Die weiteren Beiträge in diesem Band befassen sich mit der Diskurslinguistik nach Foucault und präsentieren programmatisch den aktuellen Stand der methodischen Auseinandersetzung der deutsprachigen germanistischen Linguistik mit dem Thema: Andreas Gardt stellt z.B. in seinem Artikel die Frage, ob die Diskursanalyse eine Theorie, eine Methode oder eine Haltung im Sinne einer Schule, ist. Er beantwortet seine Frage, indem er zuerst den Diskurs als “die semantische Dimension sprachlicher Äußerungen auf grundsätzlich allen Ebenen des Sprachsystems, aber auch auf der Ebene der Textgestaltung, nicht im Sinne einer transphrastischen Textgrammatik, sondern im Sinne eines pragmatisch-funktionalen Textverständnisses” (Band 1, S. 35) definiert. Daraus schliesst er, dass die Diskursanalyse als eine klar konstruktivistisch orientierte Theorie, Methode und Haltung verstanden werden muss, welche einen wichtigen Platz in einer als Kulturwissenschaft betrachtete Sprachwissenschaft hat. Ein weiterer interessanter Text ist von Dietrich Busse. Er richtet sein Interesse in seinem Beitrag auf die Analyse der sprachlichen Äusserung in Kontexten mit etablierten und schon bekannten sprachwissenschaftlichen Methoden. Es stellt sich dabei die Frage nach den Aspekten des Kontextualisierungsbegriffes, die für eine Diskursanalyse von Interesse sind. Dabei expliziert er zuerst den Begriff der Kontextualisierung und beantwortet somit weniger in einem Modell, als vielmehr eher in einer Art Gedankensammlung seine Anfangsfrage. Im zweiten Teil des Bandes beschäftigt sich z.B. Anja Stuckenbroch mit der Sprachnation und mit dem Sprachnationalismus in Verbindung mit einer Auswahl an Texten aus der Zeit zwischen dem frühen 17. Jahrhundert und dem Nationalsozialismus. Dabei untersucht sie anhand einer Analyse von Topoi, die sprachlich als metasprachliche Begriffe, Metaphern und Argumentationsmuster in Erscheinung treten, “ein Netz von Diskurskonstituenten, die die nationsbezogene Sprachreflexion in Deutschland über Jahrhunderte hinweg” prägten (Band 1, S. 217). Reviews 367 und das heißt einschließlich der Bände zur Pragmatik und Syntaktik, angemessen gewürdigt werden kann. Und diverse Hinweise lassen vermuten, dass die Philosophische Semiotik nach der Handlungs- und Sprachtheorie noch durch eine Kunst- und Mystiktheorie zu einem - natürlich - vierteiligen opus magnum ergänzt werden wird. Der gespaltene Eindruck, den die ersten beiden Bände der Sprachtheorie beim Leser hinterlassen, müssen jedoch befürchten lassen, dass auch die Gesamtheit - außer der Gewissheit, dass das Viererschema tatsächlich bis zum Ende durchgehalten wurde - nicht allzu viel erbringen wird. Literatur Bühler, Karl 1933: Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena: Fischer Bühler, Karl 1934: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer Heinrichs, Johannes 1980/ 1981: Reflexionslogische Semiotik. 2 Bände, Bonn: Bouvier Heinrichs, Johannes 2007: Handlungen. Das Periodensystem der Handlungsarten, München: Steno Klaus, Georg 1972: Semiotik und Erkenntnistheorie, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften Peirce, Charles Sanders 1993: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Simon Meier (Bern) Ingo Warnke (ed.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin: de Gruyter 2007, 283 S., ISBN 978-3-11-019299-5 Ingo Warnke & Jürgen Spitzmüller (eds.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin: de Gruyter 2008, 449 S., ISBN 978-3-11-020041-6 Der durch Foucaults Werk geprägte Begriff des Diskurses hat sich in den letzen dreissig Jahren nicht nur in den Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch in den Wirtschaftswissenschaften, in der Psychologie und in der Geographie durchsetzen können. Auch in der Sprachwissenschaft konnte sich dieser nach einem langen fachinternen Rechtfertigungsprozess etablieren. Obwohl die Vagheit und Unklarheit des Foucault’schen Begriffes mit dem zeitgenössischen Verständnis von Transparenz der Wissenschaft kaum zu vereinen ist und somit anachronistisch scheint, “entzieht sich der Diskursbegriff bis heute nicht seiner wissenschaftlichen Relevanz” (Band I, S. 3). 1 Die beiden im Jahr 2007 von Warnke und im Jahr 2008 von Warnke und Spitzmüller herausgegebenen Bände Diskurslinguistik nach Foucault bzw. Methoden der Diskurslinguistik sind eine Sammlung der im Herbst 2004 am Kasseler Symposium Diskurslinguistik - Gegenstände, Methoden und Grenzen und im September 2006 am 41. Linguisten Kolloquium vorgestellten Beiträge zum theoretischen Stand der aktuellen Diskurslinguistik. Es ist das Ziel der beiden hier vorgestellten Bände, einen diskurslinguistisch einschlägigen Begriff des Diskurses zu entwickeln. Es wird hier der Versuch gemacht, “eine differenzierte Rekonstruktion der Begriffsdimension” (Band I, S. 3) und “ein Angebot zur Qualitätssicherung von diskurslinguistischen Methoden vorzulegen, das die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der linguistischen Teildisziplinen nicht verwischt” (Band II, S. VII). Dabei wird der Anspruch erhoben, eine Diskkurslinguistik nach Foucault zu entwickeln, “deren zentrales Merkmal die Ausrichtung an Foucault ist und deren Konzepte und Gegenstandsbereiche gemäss Foucault’scher Theoreme” (Band I, S. 10) verstanden werden. Der 2007 erschienene erste Band gliedert sich in zwei Teile, Theorie der Diskurslinguistik und Gegenstände der Diskurslinguistik, und zehn Artikel. Die theoretische Beschäftigung mit dem Begriff Diskurs hat allerdings einen deutlich prominenteren Status im Werk als die Präsentation der Gegenstände. Wer jedoch eine einheitliche Theorie des Diskurses nach Foucault erwartet, wird enttäuscht. Ingo Warnke betont in der Einleitung, dass es hier um eine Beleuchtung von verschiedenen Standpunkten aus geht. Im Gegensatz zu Foucaults Insistieren auf einen vagen Gebrauch des Ausdrucks Discours und auf eine Distanzierung von sprachwissenschaftlichen Ansätzen schlägt Warnke eine Festigung dieses Begriffs vor. In dem er sich auf die Foucault’schen Schriften über den Diskurs stützt und eine Bilanz aus der zeitgenössischen germa- Reviews 366 zu müssen, strapaziert die durch das Schema vorgeschriebenen Begrifflichkeiten mitunter zu sehr. So muss es innerhalb der pragmatischen Sigmatik (1.3), in der es um die Bedeutungseinführung in der Handlungseinbettung geht, auch ein objektbezogenes Unterglied geben (1.3.1), das Heinrichs in der Referenz verkörpert sieht. Diese muss dem Schema zufolge auch eine auf ein anderes Subjekt bezogene Ausprägung haben (1.3.1.3), und Heinrichs findet (oder er-findet? ) hier die konventionelle, verabredete Referenz (vgl. I, 151). Was so betrachtet etwas gezwungen erscheint, ist in umgekehrter Blickrichtung schlicht beliebig: Dass sich das Relativpronomen welcher im Kapitel 2.1.1.3 findet, da innerhalb der sigmatischen Semantik (2.1), die semantisierte Zeigefunktionen untersucht, auch objektbezogene Demonstrativa (2.1.1) thematisiert sind, von denen eben die Relativpronomen “auf einen syntagmatischen Zusammenhang zur intersubjektiven [(2.1.1.3)] Einführung ihrer Bedeutung angewiesen sind und dies auch thematisieren” (II, 44), lässt sich aus dem besagten Wörtchen selbst kaum rechtfertigen. Vor allem bei den Kapiteln, die einen Bezug zur intersubjektiven bzw. pragmatischen Dimension aufweisen und in denen von den sozialen Funktionen von Sprache die Rede ist, hätte ein wenig Empirie den Überlegungen Heinrichs’ sicher gut getan. Über die Rolle von Interjektionen im sozialen Regelverhalten vor dem Hintergrund ihrer konkreten Wahrnehmbarkeit (vgl. I, 92) lässt sich wohl allein reflexionslogisch-rekonstruierend nur wenig aussagen - entsprechend dünn sind auch Heinrichs’ Ausführungen hierzu. Mit fortschreitender Lektüre wird das Schema, das ja eigentlich ordnen soll, zunehmend Ursache der Verwirrung, und nur durch stetes Zurückblättern zum Inhaltsverzeichnis zur Vergegenwärtigung der genauen Position innerhalb des (daran sei hier erinnert) im Ganzen fünfbändigen Werkes kann der Leser den Überblick bewahren und über Sinn und Begründetheit der einzelnen Ausführungen entscheiden. Die Durchführung der vorliegenden Sprachtheorie enttäuscht also, obwohl wie bereits erwähnt der Grundansatz viele interessante Punkte bereithält. Hier sei vor allem die Kritik am Morris’schen Pragmatikbegriff hervorgehoben, dessen mangelnde Schärfe und Begründetheit Heinrichs durchaus plausibel zu zeigen vermag. Auch die an Kant geschulte These, “dass gerade die kennzeichnende Objektivierungsfunktion der Semantik eine Subjektleistung darstellt” (II, 17), ist es wohl wert, einmal umfassend auf ihre möglichen Konsequenzen für eine philosophisch fundierte Sprachtheorie durchdacht zu werden. Gleichwohl unternimmt Heinrichs selbst zu wenig, um diese Ansätze wirklich fruchtbar zu machen, und verliert sich allzu bald in seinem eigenen methodischen Schema. Doch auch in theoretischer Hinsicht bleibt die vorliegende Sprachtheorie an mancher Stelle unbefriedigend. Vor allem das Ausschlagen der in der semiotischen Tradition bereitliegenden Hilfen und Vorarbeiten fällt ins Auge. So muss sich der Leser fragen, warum Heinrichs etwa die Peirce’sche Semiotik trotz der Erwähnung seiner Schriften im Literaturverzeichnis nahezu völlig unberücksichtigt lässt. Als Vertreter eines semiotischen ‘Gevierts’ sieht er womöglich Peirce wegen seines triadischen Zeichenmodells von vornherein als nicht einschlägig an - dabei hätten gerade Peirce’ Begriffe des Interpretanten (nicht der Morris’sche, den Heinrichs zurecht kritisiert) sowie der Semiose (Peirce 1993) z.B. bei der Ausarbeitung der These der vollzugstheoretischen Voraussetzungen der Verbindung der Zeichen zueinander durch Interpretationsleistungen verstehender Subjekte (vgl. I, 56) hilfreich sein können. Bei der Unterscheidung von Sigmatik und Semantik, die den Übergang vom situations- und objektgebundenen Zeigen hin zu einem Zeigen auf subjektive, aber allgemeine Gehalte markiert, wäre ein Blick auf Bühlers Konzept der Deixis am Phantasma (Bühler 1934) von Nutzen gewesen. Heinrichs verweist zwar auf die Bühler’schen Begriffe des Zeig- und Symbolfeldes (vgl. I, 142), ohne jedoch den Faden ernsthaft aufzunehmen. Die Ausführungen zur Sigmatik und zur Wahrnehmbarkeit des Zeichens hätten durch die Berücksichtigung des Bühler’schen Prinzips der abstraktiven Relevanz sowie seiner ausdruckstheoretischen Überlegungen (Bühler 1933) mit Sicherheit an Kohärenz gewonnen. Doch sei abschließend zugegeben, dass ein so systematisch angelegtes Werk wie Heinrichs’ Sprachtheorie wohl erst in seiner Gesamtheit, Reviews 365 (I, 29) darstellt. Dies führt Heinrichs zur Syntaktik und somit zur Morris’schen Unterscheidung der semiotischen Dimensionen des Zeichengebrauchs. Dieses dreistellige Modell weist aber Heinrichs zufolge einige grundlegende Schwächen und Unklarheiten auf und wird daher durch ein vierstelliges Modell ersetzt. In diesem werden die drei bekannten Dimensionen Syntaktik, Semantik und Pragmatik durch eine vierte, im Anschluss an Georg Klaus (1972) “Sigmatik” genannte Dimension ergänzt, was zu einer gänzlich anderen Definition und Gewichtung der einzelnen Dimensionen führt: Die Sigmatik beinhaltet den “Bezug der Subjekte (Sprecher/ Hörer) auf konkrete Objektivität D […] mittels der Zeichengestalt Z” und wird auch die Bezeichnungsfunktion der Sprache genannt. […] Grundlegend für den sigmatischen Bezug ist das situationsgebundene Zeigen (Deixis) und die erste Einführung von Wortbedeutungen durch vielfältige Handlungseinbettung (I, 51). In der semantischen Dimension steht, im Gegensatz zu konkreten Denotaten in der Sigmatik, der Bezug auf allgemeine Sinngehalte im Vordergrund. Hier können die Unterscheidungen zwischen Anschauung und Begriff (Kant) sowie zwischen Bedeutung und Sinn (Frege) als Referenzpunkte herangezogen werden. Wie die Sigmatik bezieht sich somit auch die Semantik auf Objektivität, allerdings auf “eine in die Subjektivität reflektierte, subjektiv angeeignete Objektivität” (I, 53). Die pragmatische Dimension wird grundlegend anders aufgefasst als bei Morris. Es fällt auf, dass bei Heinrichs Themen, die normalerweise der Pragmatik zugehören, der Sigmatik zugeordnet werden. Dafür möchte er die Pragmatik, und er beruft sich hier auf einen an Austin und Searle anschließenden Pragmatikbegriff, allein der Sphäre des wechselseitigen, interpersonalen Handelns durch Sprache zugeordnet wissen. Die syntaktische Dimension schließlich wird von Heinrichs traditionsbewusst als die Dimension der Zeichenverknüpfungen charakterisiert. Doch stelle sie, anders als bei Morris, nicht die unterste, sondern im Gegenteil die höchstreflektierte Dimension der Sprache dar […]: die Zeichen beziehen sich ja nicht selber, sondern werden von verstehenden Subjekten aufeinander bezogen (I, 56). Hier steht also ein medialer, auf die Zeichen selbst zurückbezogener Zeichengebrauch im Vordergrund. Den vier so gefassten und hierarchisch gestuften semiotischen Dimensionen kann Heinrichs somit die vier Sinnelemente zuordnen, die sich schon in der Handlungstheorie ebenfalls hierarchisch gestuft ergeben haben: 1. Sigmatik - Objekt; 2. Semantik - Subjekt; 3. Pragmatik - anderes Subjekt; 4. Syntax - Medium (vgl. I, 50). Nun ist sich auch Heinrich der prinzipiellen Schwierigkeit bewusst, die einzelnen Dimensionen trennscharf von einander abzugrenzen, da z.B. auch das situationsgebundene Zeigen (Sigmatik) auf einen verstehenden Partner angewiesen ist, was somit pragmatische Komponenten mit hineinspielen lässt. Durch eine ‘reflexionslogische’ Interpretation dieser wechselseitigen Durchdringung der Dimensionen wird diese vermeintliche Schwierigkeit jedoch als die grundlegende Eigenschaft von Sprache und gleichzeitig als methodische Ressource für den weiteren Fortgang der Untersuchung aufgefasst: Die “dialektische Präsenz des Ganzen durch Spiegelung jeder Schicht (Dimension) in jeder anderen” (I, 63) führt je zu einer Viergliederung der vier Dimensionen (1.1: sigmatische, 1.2: semantische, 1.3: pragmatische und 1.4: syntaktische Sigmatik usw.). Nun kann jedes dieser Glieder wiederum nach den vier Sinnelementen, die jeweils im Vordergrund stehen, gegliedert werden und jedes dieser Unterglieder abermals. In dieses somit 256 Schubladen umfassende Schema gilt es nun das gesamte Welttheater des Sprachgebrauchs einzusortieren. Die Durchführung kann wohl berechtigterweise als ein Durchdeklinieren bezeichnet werden, und die Ergebnisse wirken, wie bereits erwähnt, an vielen Stellen, und ganz besonders im zweiten Band, etwas gezwungen. Oftmals hat man als Leser den Eindruck, dass weniger der sachliche Gehalt und die Vielfalt des untersuchten Materials als vielmehr der unbedingte Wille zur Aufrechterhaltung des Schemas die Konstruktion und Auffüllung der einzelnen Schubladen anleitet. Der Zwang, wirklich zu jedem der 256 Unterglieder noch etwas gemäß seiner Position im Gesamtsystem sagen Reviews 364 er sich für so viele Gebiete interssierte, dass seine allgemein aufgeworfenen Ansätze nicht vertieft und manchmal praxisfern blieben. Wärmstens sind seine umfangreichen Schriften zu empfehlen, was ein doppelter Gewinn sein könnte: erstens für die Unsterblichkeit des Wissensschaftlers Bréal und zweitens für die Bereicherung und den Fortschritt der Wissenschaft. Anmerkung 1 German Romance. Edinburgh 1827. In: Johann Wolfgang von Goethe. Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17-22]. Band 18. Berlin 1960 ff. Ignace Djama Allaba (Bern) Johannes Heinrichs: Sprache. Band 1: Die Zeichendimension. Das elementare Spiel der Zeichengestalten, München etc.: Steno 2008, 262 S., ISBN 978-954-449-345-5 Johannes Heinrichs: Sprache. Band 2: Die Bedeutungsdimension. Das subjektive Spiel der objektiven Bedeutungen (Semantik), München etc.: Steno 2008, 375 S., ISBN 978-954-449-351-6 Bei den vorliegenden Bänden handelt es sich um die ersten beiden der auf insgesamt fünf Bände angelegten philosophischen Sprachtheorie von Johannes Heinrichs, die wiederum den zweiten Teil seiner Philosophischen Semiotik darstellt. Der Autor bezeichnet diese als vollständig überarbeitete Neuauflage der 1980/ 81 in zwei Teilen erschienenen “Reflexionstheoretischen Semiotik”. Wie schon zur Erstauflage setzt sich diese aus einer Handlungstheorie (“Handlungen” (2007)) und einer Sprachtheorie zusammen. Diese knüpft unmittelbar an die Handlungstheorie an, in der “als die höchstreflektierte Gattung des Handelns […] das Ausdruckshandeln herausgestellt wurde und innerhalb dessen das Zeichenhandeln” (I, 24). Die wiederum höchstreflektierte Form des Zeichenhandelns stellt Heinrich zufolge die Sprache dar, deren logische Grundlagen den Gegenstand seiner ehrgeizigen Sprachtheorie bilden. Ehrgeizig ist Heinrichs’ Vorhaben neben seinem Umfang vor allem in inhaltlicher Hinsicht: Die vorgelegte Sprachtheorie “handelt von der Sprache der Menschheit” (I, 15) und untersucht darum vor allem “deren universale Strukturen” (I, 19) - eine Aufgabe mit durchaus sozialer Relevanz, denn “beim Menschen folgen aus dieser Logosfähigkeit universale Rechte” (ebd.). Die Möglichkeit der Entdeckung universaler Strukturen sieht Heinrichs durch seine besondere, ‘reflexionslogisch’ genannte Methode gesichert, welche “die Selbstthematisierung des menschlichen Bewusstseins allgemein und damit auch des Reflexionsvermögens selbst” (I, 38) unternimmt und darauf abzielt, Sprache “aus den Grundgegebenheiten des Selbstbewusstseins genetisch in ihren Strukturen zu rekonstruieren” (I, 42). Damit wendet sich Heinrichs ausdrücklich gegen sprachanalytische Positionen im Zeichen des linguistic turn und ihr Axiom von der Unhintergehbarkeit der Sprache, da Sprache ständig auf die vorsprachlichen Bewusstseinsstrukturen zurückverweist, aus denen sie hervorgeht. Die Sprachlogik, die den Gegenstand der vorliegenden Sprachtheorie bildet, rekonstruiert daher “die innere, prozessuale, d.h. vollzugstheoretische und dynamische Reflexionslogik der Sprache selbst” (I, 66), die, so Heinrichs’ These, über allen einzelsprachlichen Unterschieden steht. Bereits vorgreifend sei angemerkt, dass Heinrichs Grundansatz und sein Versuch der philosophischen Grundlegung einer semiotischen Sprachtheorie viele interessante und diskussionswürdige Punkte enthält. Problematisch wird dies jedoch spätestens in der konkreten Durchführung, die, von der Unübersichtlichkeit abgesehen, an vielen Stellen gleichermaßen gezwungen wie beliebig anmutet. Doch zunächst sei die Herleitung und Begründung der reflexionslogischen Methode nachgezeichnet. Ihren Ausgang nehmen Heinrichs’ Überlegungen von zwei einander ergänzenden Definitionen von Sprache: “Sprache ist solches Zeichenhandeln, das sich im Handlungsvollzug durch die gleichzeitige Verwendung von syntaktischen Metazeichen selbst regelt” (I, 25) und darüber hinaus “die intersubjektive Ausdrucks- und Äußerungsform des sich reflektierenden menschlichen Bewusstseins, seiner Reflexionsfiguren mit Hilfe von Zeichen und Metazeichen” Reviews 363 Zwar ist die Behauptung “Die Literatursprache speise sich aus dem täglichen Sprachgebrauch” (S. 288) unumstritten; aber es gibt sicher einen Unterschied sowohl für Muttersprachler - die sich tagtäglich der Umgangssprache bedienen, um sich mit den literarischen Texten auseinanderzusetzen - als auch für Fremdsprachenlerner, die die Fremdsprache lernen oder studieren und sich deren nur als Fachsprache bedienen. Zudem soll darauf verwiesen werden, dass nicht alles Umgangssprachliche bzw. Mündliche zu Papier gebracht werden kann. Diese feinen Unterschiede zwischen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit bzw. zwischen Umgangssprache und Literatursprache sind nicht von den Herausgebern übersehen worden, weil sie unterschiedlichen Gesetzen gehorchen. Im Großen und Ganzen aber könnte man Bréals Ansätze als Stützpunkte bzw. Grundlagen für manche Germanistikabteilungen in Entwicklungsländern betrachten: Man denke im französischen Sprachraum außer der Phonetik, des Hörverständnisses u.a. an die beiden wichtigen Übersetzungsdisziplinen “Version” und “Thème”, die die Kenntnisse des Lerners vertiefen sollten. Hier sind Techniken (bspw. in der deutsch-französischen Übersetzungsübungen [“Version”]) wie “Chasséscroisés” heute noch von höchster Bedeutung. IV. Andere Wirkungsfelder a) Michel Bréal und der Beginn der experimentellen und angewandten Phonetik Hier hat Bréal viele Projekte in die Wege geleitet. Wenn er selbst nicht daran beteiligt ist, hat er dazu geholfen, die Recherchen anderer Forscher mit Mitteln oder durch Ünterstützung des Ministeriums, dessen Mitglied er war, zu ermöglichen. Viele Wissenschaftler sind ihm in den Fußstapfen getreten und haben seine Ideen weiterentwickelt. Er hat mit der experimentellen Phonetik einem neuen Forschungsgebiet den Weg gebahnt, das aber nicht weitergeführt wurde, weil seine vielen Schüler von ihm abgewichen sind. b) Michel Bréal und das deutsche Pädagogikmodell Er gilt seinerzeit als Koryphäe der französischen Sprachwissenschaft. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass seine Ideen über eine Ernnerung des französischen Schulsystems von seinen schulischen und Lebenserfahrungen in Deutschland herleiten. Dass er in Landau geboren wurde und dort die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht, machte ihn mit einigem vertraut. Wenn er Deutschland immer als Vorbild von Bildundssystem zitiert, da weiß er aus eigener Erfahrung, wovon er redet. Schlussfolgerung Mit einem viel zitierten Satz von Goethe soll von dem internationalen Ruf Bréals zu seiner Zeit und in der Gegenwart gezeugt werden: Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten; er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert. Und so ist jeder Übersetzer anzusehen: Dass er sich als Vermittler dieses allgemein-geistigen Handels bemüht und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr. 1 (Hervorhebungen nicht im Original) Zurück zum Ziel dieses Werkes - das es sei, dem In-Vergessenheit-Geraten-Sein von Bréals Arbeit besonders im deutschen Raum standzuhalten - ist zu behaupten, dass Bréal sein Leben der Anerkennung der deutschen Sprache gewidmet hat. Er hat Interesse an Deutschland (durch sein Schulwesen und seine Wissenschaftler) geweckt, nicht nur in Frankreich sondern auch in der ganzen Welt. Seine Wirkung über die Grenzen der Linguistik hinweg ist auch in anderen Domänen zu konstatieren. Er hat sich mit Leib und Seele für den Frieden eingesetzt; dieser Einsatz ist nicht auf beide Länder Frankreich und Deutschland oder auf Europa zu reduzieren, weil der 1914 in Europa ausgebrochene Krieg nach seinem Tod zum Weltkrieg wurde. Deshalb ist er ein Weltbürger, dem alle Hommagen und Ehren gebühren sollen. Wenn er nicht zu seiner Zeit anerkannt wurde, ist das teils auf die damalige politische Lage zurückzuführen und teils auf die Tatsache, dass Reviews 362 terscheidet sich von der seiner Vorgänger, Zeitgenossen, und Nachfolger: sie war auf den Menschen gerichtet. Zur “menschlichen” Semantik bei Bréal: Das Studium der Sprache kann sinnvoll sein, wenn es den sprechenden und kommunizierenden Menschen in den Mittelpunkt stellt. Bréal betrachtet die Sprache als Kommunikationsmittel und unterscheidet sich somit von den anderen Sprachwissenschaftlern, die die formale und funktionale Weiterentwicklung der Sprache erkunden wollten. Hiervon kam eine neue Disziplin zustande. Mit dieser “menschlichen” Semantik zeigt er die Wichtigkeit und seinen Vorzug der synchronischen Sprachforschung der diachronischen gegenüber. Sein Argument dafür ist, dass die Sprechaktkontrahenten nicht zu wissen brauchen, welche Bedeutung ein Wort im Laufe der Geschichte hatte, sondern für sie und deren Verständigung ist die aktuelle Bedeutung wesentlich. Wortsemantik zur Satzsemantik: Außerdem ist für Bréal die Zugehörigkeit eines Lexems zu einem Wort und eines Wortes zu einem Satz zu berücksichtigen, wenn man die Bedeutung erschließen will. Diese [Lexem und Wort] können nicht außerhalb ihres “Ko-Textes” und Kontextes erläutert werden, ansonsten machen sie keinen Sinn. Trotz allem bleibt die Frage, ob Michel Bréal der Erfinder oder Erneuerer der Semantik sei. Diese fußt in die Debatte des Ursprungs der Disziplin. Darauf wird im Folgenden nicht detailliert eingegangen. Nur soll auf manches Aufmerksamkeit gezogen werden. Bréal lässt sich in den ersten Schritten der späteren Semantik schulen (nach seiner Agrégation 1857 bei anderen bekannten Professoren), nämlich bei Franz Bopp und Albrecht Weber. Er wurde sicher von anderen Studien beeinflusst. In der Tat hat das Studium der historischvergleichenden Sprachwissenschaft bei beiden Professoren einen beträchtlichen Einfluss auf Bréal ausgeübt. Und vor ihm befand sich auch Christian Carl Reisig im Umkreis dieses Fachgebiets, der sich schon 1839 mit seinem Begriff der Semasiologie der allgemeinen Bedeutungslehre gewidmet hatte. Vielleicht geht Bréal von dieser “allgemeinen” Lehre aus, um von seiner Semantik eine eigenständige Disziplin zu machen. Er behauptet sogar: “C’est par le détail que les sciences vivent et se renouvellent” (S. 118). Das sollte nicht außer Acht gelassen werden. III. Bréal und die moderne Fremdsprachendidaktik Bemerkenswert sind Bréals Ansätze, die ihn als einen der hervorragendsten Fremdsprachendidaktiker am Ende des 19. Jahrhunderts anerkennen lassen. Er liefert bahnbrechende Tipps und Methoden für das Fremdsprachenlernen. Nach ihm sollte Akzent - beim Erlernen lebender Sprachen wie Englisch und Deutsch, im Gegensatz zu Latein als toter Sprache - auf das Mündliche gelegt werden, das den Vorrang vor dem Schriftlichen habe, denn der Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen sei leichter als der umgekehrte Weg. Dabei spiele die Aussprache eine besondere Rolle, denn La prononciation incomplètement apprise, ou (ce qui revient au même) la fausse prononciation est un mal qui accompagnera l’élève à travers les classes et à travers la vie. […] Il ne suffit pas de répéter, ni même de crier les mots: en vain vous éleverez la voix, votre écolier, habitué comme il est, les entend non comme vous les prononcez, mais comme il les prononce lui-même. (S. 282) Hier zeigt sich die lebenslange Wichtigkeit der richtigen Aussprache beim Lernprozess, die im Hören und in der Nachahmung bzw. Widergabe des Gehörten besteht. Der nächste Schritt ist das Vermitteln der Grammatik und des Wortschatzes, die nicht außerhalb seines “Kontextualisierung”-Konzepts erfolgen sollen, d.h. durch Satzmodelle (“phrases-types”). Die Literatur ist auch nicht in diesem Programm zu vernachlässigen. Durch sein pragmatisches Prinzip empfieht er die Lektüre altersgemäßer, umgangssprachlicher Texte und neu eingeführter didaktisierter fremdsprachlicher Zeitschriften. Diese neue Auffasung - mit dem provokativen Satz begründet, es gebe keine Trennung zwischen Umgangs- und Literatursprache - ist in Abrede zu stellen. Reviews 361 viel lustbetonter ist es natürlich, selbst tief in der Sprachschatzkiste zu grabbeln und immer neue Perlen aufzustöbern. Mir jedenfalls fielen gleich “Amöbenruhrgebiet”, “Kirschweinshaxe” und “Durchfallwind” ein. Fremdsprachliche Beispiele sind “backpackrat”, “woodstockexchange” und “lendemaintenance”. Polyglotte Spieler möchten vielleicht Sprachen verquirlen wie in “Rattengiftshop”, “Towerwolf” oder “Potaufeuerwehr”. Oder wie wär’s mit dem Erfinden suggestiver Filmtitel wie “Die Pleitegeierwally”, “Der Zauberbergdoktor” oder “Das Sommernachtstraumschiff”? “Buddenbrokeback Mountain” (jaja, unsauber…)? Auf alle Fälle ist das Reizwörterbuch reizvoll und reizt zum Mitspielen; sein Ertrag sind hoffentlich viele neue schöne Wortspielzeugnisse (79). Dagmar Schmauks (Berlin) Michel Bréal - Grenzüberschreitende Signaturen. Herausgegeben von Hans W. Giessen, Heinz-Helmut Lüger & Günther Volz. Landau: Verlag Empirische Pädagogik 2007. 412 S., ISBN 978-3-937333- 63-2 Einführung Dieses Werk versucht das Verdienst einer sehr wichtigen Persönlichkeit in Einzelheiten auszuarbeiten. Dass Bréals Tätigkeit in die Vergessenheit gerät, sogar in den Staaten, wo und für die er am meisten gewirkt hat, motiviert das Schreiben dieses Buches. Vom diesem Ziel ausgehend sollen die wichtigsten Kapitel grob präsentiert und einzelne Thesen diskutiert werden. I. Michel Bréal in seiner Zeit Von der Geburt in Landau über seine Schulzeit und seine Karriere hindurch kann niemand leugnen, dass Bréal ein Weltbürger sei. Die internationalen Ereignisse, in denen er geboren wurde und gewachsen war, prägten sein ganzes Leben. Seine Verdienste übertreffen das Gebiet der Linguistik, mit dem er sich beschäftigt hatte: seine Arbeit war nicht nur für die Linguisten bzw. Sprachwissenschaftler von Bedeutung, sondern diente auch der französischen und deutschen Gesellschaft insgesamt und überdies der ganzen Welt. Reforme im Schulsystem, die er als “Inspecteur général de l’enseignement supérieur” und Mitglied im “Conseil supérieur de l’instruction publique” unter dem berühmten Bildungsminister Jules Ferry eingeführt hatte, waren Beweise für den Pragmatismus seiner Forschungen. Besonders sein Einsatz für sozialpolitische (offene) Fragen (Frieden zwischen Deutschland und Frankreich z.B.; deshald erhielt er den ersten Friedennobelpreis) zeugt auch von der Nützlichkeit seiner Karriere. Daraus ist zu schließen, dass die Wissenschaft nicht am Rande oder außerhalb der Gesellschaft getrieben sein sollte (s.u.). Pragmatismus und Nützlichkeit seiner Karriere heißen mit anderen Worten, dass seine Recherchen in der Gesellschaft praktisch umgesetzt wurden. Darauf soll in den folgenden Kapiteln näher eingegangen werden. II. Michel Bréal und die neuere Sprachwissenschaft Er gehört zu den meist zitierten Autoren auf dem Gebiet der Semantik. Diese Tatsache bestätigt die Aktualität seiner Vorschläge und Thesen über die Linguistik. Dieser Erfolg kommt von seiner Ausbildung in Deutschland und seiner wissenschaftlichen Laufbahn in Frankreich. Dass er ein Mittler zwischen beiden Staaten im Bereich der Sprachwissenschaft war, ist nicht von ungefähr. Seine Zweisprachigkeit hat ihm ermöglicht, den Stand der Forschung in Deutschland zu überblikken und bezugnehmend auf die deutschen Wissenschaftler seine Ansätze zutage zu bringen. Es soll darauf hingewiesen werden, dass das Bildunssysten in Deutschland den Vorrang vor dem in Frankreich hatte. Deshalb war Bréal im Vergleich zu seinen französischen Kollegen immer auf dem Laufenden mit den neuesten Tendenzen des Faches. Er galt sogar als wissenschaftlicher Erneuerer. Was er neu in der Sprachwissenschaft einführt, ist mit dem vom ihm erfundenen Begriff der Semantik zu erörtern. Seine “Semantik” un- Reviews 360 Wegen ihrer witzigen Wirkungen findet man ähnliche Formen quer durch alle Medien. Unter dem Schlagwort “Musentempelhof” diskutierte der Tagesspiegel am 9.10.2007 den Vorschlag, der Staatsoper während ihrer Sanierung eine Ausweichspielstätte im stillgelegten Flughafen Tempelhof zu bieten. Die Süddeutsche Zeitung besprach am 14.10.2008 den gerade anlaufenden Film Die Geschichte vom Brandner Kasper unter der Überschrift “Kirschgeistreich”. Und das Theater Waschhaus in Potsdam veröffentlich monatlich ein “schleuderprogrammheft”. Namislow bietet einen ganzen Kosmos von 888 inspirierten Kofferwörtern. Manche davon wie Beischlafwandler (7) quengeln lautstark danach, zu ihnen eine Geschichte zu erzählen. Andere teilen Designern mit, auf welche Geräte und Produkte wir schon lange warten, insbesondere Gemütsbewegungsmelder (9), Tiefschlafsack (40), Müßiggangschaltung (54) und Truppenabzugshaube (65). Auch finden sich löbliche Berufe wie Pollenfluglotse (61), die das Allergiker- Leben erheblich erleichtern könnten. Viele Wörter beziehen sich unmittelbar auf das Tagesgeschehen. Haben die geschmähten Heuschrecken etwa einen Börsencrashkurs (18) besucht oder eine Lehre als Kapitalfluchthelfer (38) abgeschlossen? Kleine Sparer wünschen sich eher mehr Habsuchtprävention (72)! Manche Wörter schillern giftig wie eine Öllache: Soll “Mindestlohnverzicht” (37) etwa heißen, dass die Betreffenden nur für Gotteslohn arbeiten? Die Globalisierungsprozesskosten (36) werden wir jedenfalls alle tragen müssen! Auch im Bereich der Gefühle gibt es zahlreiche Aha-Erlebnisse. Wer kennt nicht die Totalschadenfreude (18) oder fühlt Stimmungstiefausläufer (11) näher rücken? Das moderne Leben erweist sich oft als Nervensägewerk (29), das im schlimmsten Fall eine Weltbildstörung (24) verursacht. Inmitten geschäftiger Absurditätigkeit (59) muss sich mancher gar eine Herzenswärmeisolierung (47) zulegen, um irgendwie zu überleben. Beklemmend sind Ausdrücke wie Tierzuchthaus (13) und Nutztierliebe (39), die unsere Beziehung zu anderen Lebewesen schonungslos beleuchten. Einige Wörter fassen wissenschaftliche Einsichten in knappster Form zusammen. So ist eine Halbmondlandung (15) auf der dunklen Seite des Mondes nur sinnvoll, wenn die Astronauten wissen, dass der scheinbare Größenwechsel des Mondes nur auf seiner wechselnden Beleuchtung beruht. “Samenzelleninsassen” (34) beschreibt präzise die klassische Präformationstheorie, die sich bis ins 19. Jahrhundert halten konnte. Ihr zufolge enthalten männliche Samenzellen winzige vollständige Menschlein, die bei der Zeugung in die Eizelle übertragen werden, die dem Embryo dann als Nährboden dient. In etlichen noch komplexeren Beispielen wurden drei Komposita verschmolzen, etwa in Friedenstaubenschlagsahne (45), Frühlingsrollentauschbörse (55) und Kontaktlinsengerichtsakten (55). Ehrgeizige Wortspieler könnten hier natürlich weitermachen und noch längere Wortriesenschlangen bilden. Sie finden sogar aufschlussreiche Begriffe für das eigene Tun: Man liegt in Kalauerstellung (73) oder ist gar ein Radikalauer (14). Ein Thema zum Nachdenken ist die Anordnung der Wortschöpfungen. Alphabetisch aufgelistet sind sie nicht, aber vielleicht chronologisch, so wie sie Namislow einfielen? Dafür spräche, dass sich auf manchen Seiten mehrere Wörter zu demselben Sachgebiet (Gesundheit, Bürokratie, Erotik oder dgl.) finden und man sich bei kreativen Prozessen oft an einem roten Faden entlang hangelt. Die vorliegende Anordnung macht zwar jedes neue Wort unvorhersehbar und daher spannend, hat aber einen praktischen Nachteil: Wer prüfen will, ob ein selbst gefundenes Kofferwort bereits dabei ist, muss das ganze Büchlein durchblättern. Sogar mit einem Fehlersuchscheinwerfer wird man kaum fündig, so dass niemand eine Druckfehlerteufelsaustreibung beantragen muss. Nur die “Rokokokusnuss” (33) müsste nach der Regel eine Rokokosnuss sein (wohingegen der alte Kalauer “Rokokokokotte” absichtlich stotternd alle Silben nennt). Im Nachwort fehlt auf Seite 92 die Zählung “2.” am Beginn des letzten Abschnitts. Das Reizwörterbuch ist ein echtes Mitmachbuch, denn so manchem Leser wird es im Griffel jucken, so bald wie möglich eigene Köfferchen zu packen. Das unterscheidet es erfreulich von allerlei pseudo-kreativen Hobbys wie “Malen nach Zahlen” oder sehr banale Kreuzworträtsel. Nichts gegen Sudoku oder Gehirnjogging, aber Reviews 359 ständlich zu machen. Aus Lesersicht wäre die durchgehende Beherzigung von zwei einfachen Regeln wünschenswert, nämlich - Je komplexer die Sachverhalte, desto einfacher die beschreibende Sprache. - Je mehr unverzichtbare Fachausdrücke, desto weniger überflüssige Fremdwörter. Vorbildlich gelingt es etwa Gumlich und Richter, sehr abstrakte physikalische Zusammenhänge amüsant und in griffigen Vergleichen zu beschreiben. In einigen anderen Artikeln hingegen ist der Satzbau mitunter unnötig verwickelt und dem Leser wird eine Menge Fachterminologie zugemutet. Ein recht ärgerliches Zeitzeichen ist leider das Wirken des Trennungsprogramms, das durchaus originell mit Fremdwörtern umgeht, etwa “mik-roskopisch” (51), “Ent-ropie” (53, 60, 64), “rep-räsentiert” (132), “Ext-rapolation” (137), “Kast-ration” (207) und “Portrait”. Dagmar Schmauks Ulrich Namislow: Reizwörterbuch. Für Wortschatzsucher. Mit einem Nachwort von Elke Donalies. Obernburg a.M.: Logo-Verlag 2008, 104 Seiten, ISBN 978-3-939462-07-1 In der Zeit als das Denken noch geholfen hat und die Menschen keine Handys, Fernseher und Computer hatten, spielten sie an Regentagen und langen dunklen Abenden vielerlei Spiele, für die man gar keine Elektrizität brauchte. Eines hieß “Wortkette” und hatte ganz einfache Regeln: - der erste Spieler sagt ein zusammengesetztes Wort, etwa “Zitroneneis”, - der nächste nimmt den zweiten Teil des genannten Wortes als ersten Teil eines neuen Wortes, etwa “Eiskeller” und - der dritte macht genauso weiter, etwa mit “Kellerfenster”. Dieses Spiel beruht darauf, dass man im Deutschen auf vielerlei Arten zusammengesetzte Wörter bilden kann. Beispiele wie “Kellerfenster” sind die einfachsten, denn hier werden die Teile - “Fenster im Keller” - nur aneinander gefügt. Die Werbung bevorzugt raffiniertere Zusammensetzungen, die den Blick des Betrachters fesseln und sich gut einprägen; man denke an <Kurlaub = Kur + Urlaub> und <Grusical = Gruseln + Musical>. In solchen Beispielen werden also die doppelt vorhandenen Buchstabenfolgen getilgt. Demgegenüber ist das süffisante Schimpfwort “Akadämliker” nur ein Kalauer, denn “Akademiker” und “dämlich” wurden in ihm recht willkürlich verschraubt - was aber die Wirkung nicht abschwächt. Für die Linguistik sind korrekte Verschmelzungen eine Spielart der sog. “Kofferwörter”: So wie ein Koffer verschiedene Gegenstände enthält, werden hier verschiedene Wörter zusammengepackt. Fachausdrücke sind etwa “Kontaminate”, “Amalgamierung”, “Portmanteau-Wörter” oder “haplologische Wortüberschneidung”. Elke Donalies stellt in ihrem Nachwort an griffigen Beispielen dar, wie man Kofferwörter bilden und feiner gliedern kann. Manchmal werden sie mit anderen Neuschöpfungen verwechselt, vor allem mit Akronymen wie <Milka = Milch + Kakao> sowie mit Verballhornungen vorhandener Wendungen - etwa die Bezeichnung des Papstes als “Global Prayer”. Kofferwörter im engeren Sinn bestehen aus zwei Wörtern, die sich “zusammenschieben” lassen, weil das Ende des ersten und der Anfang des zweiten identisch sind. Eine Werbekampagne der Post kombinierte vor Jahren Ortsnamen, um die verbindende Wirkung von Briefen sprachlich abzubilden. Innerdeutsche Beispiele wären “Wiesbadenweiler” und “Offenburghausen”, internationale “Amsterdamaskus” und “Bamakoblenz”. In den interessantesten Fällen sind die beiden Teile eines Kofferwortes inhaltlich auf vertrackte Weise verbunden. So bietet Michael Lohde in seinem Lehrbuch Wortbildung des modernen Deutsch dem Leser durch “Formularifari” (2006: 44) einen treffenden Ausdruck, um den dumpfen Groll bei der Steuererklärung auszudrücken. Der Wörterbuchverlag Pons vergibt jährlich den Medienpreis PonsPons für kreative Wortschöpfungen von Journalisten, darunter 2004 <Charismakler = Charisma + Makler> und <Powerpointillismus = Powerpoint + Pointillismus>. Reviews 358 Feldforschungen unverzichtbar. Diese sollten teilnehmend und minimal invasiv sein, es also vermeiden, dass durch “mitgebrachte” Kulturelemente wie industriell erzeugte Kleidung der Zerfall von Sozialstrukturen weiter beschleunigt wird. S WANTJE E HLERS bringt dem Leser “Zeitzeichen in der modernen Phantastik” nahe. Die phantastische Literatur hatte ihre Blütezeit in der Romantik und arbeitet mit Motiven, die der Alltagsvernunft widersprechen und daher existentiell bedrohlich sind, etwa Verwandlungen, Spaltungen, Doppelgänger und die Wiederkehr von Toten. Auch Raum, Zeit und Kausalität als Ordnungskategorien der erzählenden Literatur werden durchbrochen, nämlich durch Zeitsprünge, Zeitreisen und andere Anomalien. Das Zwei- Welten-Konzept von Solov’ev und Todorov erlaubt es, solche kognitiven Brüche genauer zu beschreiben. Detailanalysen von zwei Romanen illustrieren, welche Probleme beim Leben in zwei Zeiträumen und insbesondere bei den Grenzüberschreitungen auftreten können. Die Heldin von Stephanie und das vorige Leben (Herbert Rosendorfer) wird für mehrere Monate in das Jahr 1761 rückversetzt, nimmt aber ihr gegenwärtiges Wissen dorthin mit. In Hannelore Valencaks Das Fenster zum Sommer wird die Protagonistin Ursula nur wenige Wochen rückversetzt, ihr neues Leben nimmt aber einen anderen Verlauf, weil Ursula die Zukunft ein Stück weit kennt, zu wiederholen versucht und gerade dadurch verändert. M ADELEINE C OHEN leitet ihre “Zeitbilder in den letzten Liedern Itzik Mangers” mit der Gedichtzeile “Ich singe den Gesang vom Sonnenuntergang” ein und vergleicht zwei Gedichte, die fast 40 Jahre auseinander liegen. Der jiddische Dichter Manger (1901-1969) veröffentlichte sein frühes Gedicht “Lid” 1929 in der Sammlung Stern afn Dach (Sterne auf dem Dach). Es setzt Sonnenuntergang und Einbruch der Nacht parallel zum Ausbruch des Krieges, wobei sich die Hoffnungslosigkeit und das Entsetzen durch die Strophen immer mehr steigern. Zwar wollte Manger, dass alle Gedichte Lieder sind, aber da hier der schreckliche Inhalt in die Form eingeht, kann auch sie nur ungeordnet und fragmentarisch bleiben. Die 1967 erschienene Gedichtsammlung Stern in stoib (Sterne im Staub) stellt schon durch den parallelen Titel klar, dass sie als schließende Klammer eines Lebenswerkes gemeint ist. Mittlerweile aber fanden der Holocaust und der Untergang des osteuropäischen Judentums statt und die Sterne sind aus der Höhe in den Staub gefallen. Das Gedicht “Owntlid” (Abendlied) ist auch formal ein wirkliches Lied, das in stillen Bildern einen Abend festzuhalten versucht. Winzige Zeitfragmente wie das Murmeln eines Gebets und das Flügelzittern eines Schmetterlings werden für die Zukunft aufbewahrt und können so in jedem neuen Vortrag des Textes erinnert werden. Abschließend untersucht G ALILI S HAHAR den Zusammenhang von “ Zeit und Wunden”. Wunden und spätere Narben dienen in der Weltliteratur häufig als Zeichen für zeitliche Phänomene. Als Odysseus in Verkleidung heimkehrt, erkennt ihn nur seine Amme anhand einer Narbe am Fuß wieder, und während er mit ihr spricht, öffnet sich die Wunde erneut. Die Rückblende in der Erzählung spiegelt sich also im Wiederaufflackern eines früheren körperlichen Zustandes. Die jüdische Beschneidung, von Freud psychoanalytisch als “symbolischer Ersatz der Kastration” gedeutet, stellt absichtlich eine Wunde her, die den Menschen aus der Welt der Triebe herausführen soll und einen Bund mit Gott begründet. Folgerichtig erhält der Säugling bei diesem Ritual seinen Namen. Während alltägliche Wunden oft heilen, ihre Narben verblassen und sie schließlich vergessen werden, vermögen dauerhafte Stigmata die Erinnerung lebendig zu halten. Die Wundmale Christi wurden zu Zeichen des Heiligen und beeinflussten zahlreiche spätere Darstellungen. Zum Beispiel ist die unheilbare Wunde des Königs Amfortas im Parsifal-Mythos ebenso ein Zeichen heiligen Leidens wie die Wunde in Kafkas Erzählung Der Landarzt. Der Leser des Sammelbandes gewinnt einen sehr aufschlussreichen Überblick über viele Facetten der Zeit, wobei sich der Bogen von physikalischen Grundlagen über neuronale Verarbeitungsprozesse und die Kniffe der Zeitmanipulation in Romanen bis zu theologischen Aspekten spannt. Der Vergleich der Beiträge illustriert einprägsam, wie unterschiedlich stark Wissenschaftler darauf abzielen, sich gebildeten Laien ver- Reviews 357 Zeitschätzung). Hingegen ist es außerhalb von Laborsituationen selten wichtig, die gerade verstrichene Zeit genau anzugeben (= retrospektive Zeitschätzung). Experimente belegen, dass unsere Zeitwahrnehmung nicht auf einem einfachen Taktgeber beruht, der wie ein Metronom funktioniert. Vielmehr sind mehrere Taktgeber und Gehirnareale beteiligt, etwa das Kleinhirn für die Unterscheidung von Intervallen unter einer Sekunde und der Hippocampus für längere Intervalle. Bei jeder Fortbewegung sind Geschwindigkeit und zurückgelegte Strecke eng verwoben, was sich in Ausdrücken wie “Flugstunde” und “Lichtjahr” niederschlägt. Man postuliert daher einen Mechanismus der “Wegintegration”, der aus Geschwindigkeit und verstrichener Zeit die Wegstrecke berechnet. Folglich scheint die Annahme eines integrierten Raumzeitempfindens den experimentellen Befunden am besten zu entsprechen. S TEPHANIE K ELTER s Untersuchung “Zur mentalen Repräsentation von Geschehen” vergleicht die kognitiven Prozesse bei wahrgenommenem und sprachlich geschildertem Geschehen. Jede Wahrnehmung von Geschehnissen wird automatisch in die Zukunft “hochgerechnet”, entweder aufgrund einer beobachteten Gleichförmigkeit (“Extrapolation”) oder anhand gespeicherten Wissens (“wissensbasierte Antizipation”). Wahrnehmung beinhaltet Prozesse, die den kontinuierlichen Strom des Geschehens sowohl räumlich als auch zeitlich in sinntragende Einheiten gliedern. Dabei wird eine möglichst hohe Ebene angestrebt, so dass wir eine Handlung eher als “Kaffee trinken” beschreiben als durch eine Kette von Einzelhandlungen wie “Tasse ergreifen - zum Mund führen - leicht kippen …”. Wenn wir Beschreibungen von Geschehnissen lesen, treten ganz ähnliche mentale Prozesse auf. Auch hier setzen wir voraus, dass ein “Jetzt” stetig in der Zeit voranrückt und die Reihenfolge der Beschreibungen die Reihenfolge der Ereignisse abbildet. Voraus- und Rückblenden werden relativ zur Erzählzeit interpretiert und bedürfen ebenso wie Sprünge ausdrücklicher Hinweise wie “zwei Tage davor” oder “etwas später”. Ein linguistisch und kognitionswissenschaftlich besonders interessantes Thema sind die sehr unterschiedlichen Weisen, wie die verschiedenen Sprachfamilien mit den Kategorien Raum und Zeit umgehen. H ANS -F RIEDEMANN R ICHTER beginnt seinen Beitrag “Zeit in der althebräischen Sprache” mit einem Vergleich zwischen indogermanischen und semitischen Sprachen. Englisch verwandelt sich derzeit zügig von einer flektierenden zu einer isolierenden Sprache, in der die Lesart einer Äußerung durch Modalverben und Wortstellung festgelegt wird. Der Wechsel des Vokals bei gleichem Stamm wird im Deutschen immer seltener benutzt (vgl. etwa “backte” und “buk”), während er im Hebräischen weiterhin wichtig ist. Biblische Aussagen können nur dann angemessen in heutige indogermanische Sprachen übersetzt werden, wenn man sowohl den damaligen Sprachgebrauch als auch die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Sprachfamilien berücksichtigt. Im Gegensatz zu unseren eigenen kulturspezifischen Intuitionen kann man etwa im biblischen Hebräisch auch in der Zukunft das Perfekt gebrauchen, insofern das Eintreten eines Ereignisses jenseits aller Zweifel feststeht. Folglich werden Weissagungen über künftige Handlungen Gottes vorzugsweise in diesem “perfectum propheticum” ausgedrückt. A RNOLD G ROH analysiert “Kulturspezifische Zeitstrukturen” auf der Basis von Feldforschungen in Südostasien und Westafrika. Die zunehmende Globalisierung bewirkt für große Teile der Menschheit einen kulturellen Umbruch, der traditionelle Lebensformen auflöst. Insbesondere die Zeiteinteilung ändert sich grundlegend, denn an die Stelle natürlicher Rhythmen wie dem Einbringen reifer Feldfrüchte tritt der von der Uhrzeit bestimmte Tagesablauf der industriellen Kultur. In indigenen Kulturen nehmen die zum Lebensunterhalt nötigen Arbeiten oft nur vier Stunden täglich ein. Während pflanzliche Nahrung täglich gesammelt wird, dauern Jagdzüge länger und werden nur bei Bedarf unternommen. In jedem Fall ist der Einzelne eingebunden in eine soziale Gruppe gleichwertiger Mitglieder. In elaborierteren Gesellschaften hingegen arbeitet der Einzelne oft alleine und die Entscheidungen werden innerhalb einer Hierarchiestruktur gefällt. Schätzungen zufolge werden von den derzeit rund 7.000 Kulturen rund 90% in den nächsten 100 Jahren aussterben. Um zumindest deren kulturelles Wissen zu bewahren, sind längerfristige Reviews 356 viele Tatsachen haben wir bislang gar keine Erklärungen. Wir kennen keine physikalischen Gründe für den Urknall, wissen nichts über die “dunkle Energie”, welche die Ausdehnung des Weltalls beschleunigt, und haben keine Ahnung, warum die Zeit nur in einer Richtung verläuft. Unter dem Titel “Der Zeitpfeil und die Entropie” erklärt T HOMAS R ICHTER , “Warum der Kaffee kalt und der Schreibtisch unordentlich wird”. Dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge nimmt die Entropie in einem geschlossenen System nie ab. Der Terminus “Entropie” wurde unabhängig voneinander in Wärmelehre und Informationstheorie definiert, und erst Ludwig Boltzmann führte die beiden Ansätze zusammen. Während sich auf der Ebene der klassischen Mechanik die Richtung von Prozessen widerspruchsfrei umkehren lässt, ist es in der Thermodynamik nicht mehr sinnvoll, über einzelne Teilchen zu sprechen. Durch ein virtuelles Experiment lässt sich belegen, dass bereits minimale Änderungen einer Konstellation dazu führen, dass bei einem “Rückwärtslauf” nie mehr die Anfangslage erreicht wird. Da die Anzahl von Konstellationen endlich ist, entsteht zwar theoretisch irgendwann auch wieder der Anfangszustand (“Wiedereinkehreinwand”), faktisch ist aber die Zahl der Möglichkeiten so hoch, dass die benötigte Zeit die geschätzte Dauer des Weltalls überstiege. Lebewesen können nur deshalb lokal die Entropie verringern (also Kaffee kochen oder ihren Schreibtisch aufräumen), weil die Erde kein isoliertes System ist. Wir nutzen die Entropiedifferenz der Sonne gegenüber dem Weltall, letztlich also den Entropievorrat, der beim Urknall entstanden ist. “Tradierung von Wissen setzt Haltbarkeit von Information voraus” ist die Kernthese von K LAUS K ORNWACHS . Unser Wissen über frühere Kulturen stammt überwiegend aus schriftlichen Zeugnissen. Umgekehrt müssen wir künftigen Generationen nicht nur die Kontexte für Dokumente überliefern, sondern sie auch über bleibende Gefahren informieren, etwa Lagerstätten von radioaktivem Abfall, Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, Landminen und Weltraumschrott. Soll Wissen über viele Generationen tradiert werden, so wird die Lebensdauer der Datenträger zum entscheidenden Aspekt. Zumindest langlebige Wissensarten wie Erklärungs- und Grundlagenwissen erfordern eine Tradierung des heutigen Wissens und somit brauchbare Kopiermöglichkeiten vom Abschreiben bis zur digitalen Kopie. Die Tabellen zeigen, dass die Dokumente im Laufe der Geschichte zugleich immer zahlreicher als auch immer kurzlebiger wurden. Während Steintafeln (bis 10.000 Jahre) und Papyri (etwa 2.000 Jahre) zwar mühsam herzustellen aber sehr dauerhaft sind, bleiben heutige Datenträger wie Papier, CD und Chip nur wenige Jahrzehnte lang haltbar bzw. lesbar - lediglich die Stahlplatte der Voyager-Sonde soll im Vakuum eine Million Jahre überdauern und das Wissen über uns in die Tiefen des Weltalls tragen. R EINHARD K RÜGER untersucht “Unendlichkeit und Kosmos in Spätantike und Mittelalter. Die Grundlagen des mittelalterlichen Zeitbegriffs und der Zeitvorstellung”. Vor allem Alexandre Koyré prägte die Vorstellung, das Mittelalter habe die Kugelgestalt der Erde nicht gekannt und das Weltall als begrenzt aufgefasst, so dass Giordano Brunos Behauptung eines unendlichen Alls eine echte Denkwende der Renaissance ausgelöst hätte. Krügers Quellenanalysen zufolge lassen sich jedoch Beschreibungen eines unendlichen sphärischen Alls bis in die Antike zurückverfolgen. Schon in der aus dem zweiten Jahrhundert stammenden Textsammlung Corpus Hermeticum wird ein grenzenloser Flug durch kosmische Sphären beschrieben, wie ihn Bruno sehr viel später als eigene originelle Leistung darstellt. Man kann nachzeichnen, dass die vermeintlich erst neuzeitliche Kosmologie - also ein grenzenloser Kosmos und eine im Vergleich dazu winzige Erde - zu Brunos Zeit bereits eine lange Denktradition hatte, so dass sie keineswegs eine tiefe Bestürzung auslösen konnte. Auch Freuds spätere Behauptung, die Kopernikanische Wende sei eine der drei großen narzisstischen Kränkungen des Menschen, spiegelt darum kaum das Erleben von Brunos Zeitgenossen wider. Unter dem Titel “Zeitempfinden” bieten S TE - FAN G LASAUER und E RICH S CHNEIDER eine kompakte Übersicht über die experimentellen und theoretischen Forschungen in einem bestimmten Bereich der Zeitwahrnehmung, nämlich dem von Sekunden bis Minuten. Im Alltag müssen wir sehr häufig die Dauer bis zum Eintreten eines Ereignisses abschätzen, etwa wenn wir ein Ei kochen oder auf den Bus warten (= prospektive Reviews Arnold Groh (Hrsg.): Was ist Zeit? Beleuchtungen eines alltäglichen Phänomens. Berlin: Weidler 2008. 223 S., 30,00 , ISBN 978-3-89693-513-7 Wie A RNOLD G ROH in der Einführung zu seinem Sammelband betont, haben wir ähnlich wie Augustinus keine Antwort auf die umfassende Frage “Was ist Zeit? ” Wir wissen lediglich, dass wir nur im Zeitfenster der Gegenwart wahrnehmen und handeln können, während die Vergangenheit nicht mehr veränderlich und die Zukunft nur ein Feld von Wahrscheinlichkeiten ist. In unserem dreidimensionalen Lebensraum bewegen wir uns vergleichsweise frei, hingegen erleben wir Zeit so, als nähme uns der “Fluss der Zeit” mit in die Zukunft - wobei dieses passive Getragenwerden mit unseren Eingriffsmöglichkeiten verwoben ist. Bereits die frühesten bildlichen Darstellungen wollten bestimmte Augenblicke festhalten, um sie für die Zukunft zu bewahren. Viele sehr unterschiedliche Disziplinen von der Physik über die Neurowissenschaften bis zur Literaturwissenschaft untersuchen besondere Aspekte der Zeit. Der vorliegende Sammelband vereinigt zwölf Artikel, die zusammen ein aufschlussreiches Panorama heutiger Ansätze bieten. H ANS P OSER betrachtet “Zeit und Ewigkeit bei Plotin und Augustinus” unter der Leitfrage, wie sich die Auffassung von Zeit als Orientierungshorizont menschlichen Seins historisch gewandelt hat. Seit der Antike setzen Philosophen die zeitliche Erfahrungswelt in Gegensatz zu einer zeitlosen Sphäre. Platon schlug eine ewige Ideenwelt vor, von der die wandelbare Wirklichkeit nur ein Abbild ist, das von einem Demiurgen geschaffen wurde. Plotin nimmt statt des mythischen Demiurgen eine geistige Bewegung der Weltseele an, an der auch die Menschen teilhaben. Augustinus wiederum deutet Plotin aus christlicher Sicht und ersetzt diesen Blick “von außen” auf die Wirklichkeit durch die Perspektive eines Einzelwesens, das sich Gott gegenüber weiß und ihn als “zeitloses Jetzt” erfährt. Aus ewiger Dauer ist also die Aufhebung von Zeitlichkeit geworden, welche die Ewigkeit Gottes ist. H ANS -E CKHART G UMLICH stellt zu Beginn seines Beitrags “Das Phänomen Zeit in der Physik” fest, die Überheblichkeit der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, die sich die Erklärung aller Phänomene anmaßte, sei durch eine “neue Bescheidenheit” ersetzt worden, beispielhaft bei Werner Heisenberg. Physiker untersuchen nicht “die Zeit”, vielmehr tritt physikalische Zeit in vielen Gestalten auf. Unser Alltagsbewusstsein entspricht weiterhin der Newton’schen Mechanik mit einer absoluten Zeit, die unabhängig von allen Ereignissen stetig “fließt”. Der Speziellen Relativitätstheorie zufolge hingegen gibt es keine absolute Gleichzeitigkeit und die Zeit vergeht umso langsamer, je schneller sich das betreffende System bewegt. Die Allgemeine Relativitätstheorie postulierte, auch die Schwerkraft verlangsame den Zeitablauf. Zwei Atomuhren in Berlin und auf der Zugspitze würden nach 100.000 Jahren eine Differenz von einer Sekunde anzeigen, und in Schwarzen Löchern käme die Zeit völlig zum Stillstand. Auch die Quantenmechanik widerspricht unseren Intuitionen über Zeit. Im Mikrokosmos kann man nicht voraussagen, wie sich Teilchen verhalten werden, sondern nur Möglichkeiten aufzeigen, ferner breitet sich die Kenntnis von Zuständen unabhängig von der Entfernung aus (was Visionen einer “Teleportation” als Fortbewegung in Nullzeit beflügelt). Für K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Erik Heijerman 354 mir fehlt da etwas? ? ? B.N. Review Articles Ja oder nein? Schweizer Abstimmung Stöckl Lt. prot.xls sollte auch noch o.g. Beitrag gesetzt werden. Wo befindet sich dieser Beitrag? K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 352 Literatur Burkhardt, Armin 1996: “Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung”, in: Josef Klein & Hajo Diekmannshenke (eds.) 1996: Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation, Berlin / New York: de Gruyter, 75-100 Burkhardt, Armin 2002: “Politische Sprache. Ansätze und Methoden ihrer Analyse und Kritik”, in: Jürgen Spitzmüller et al. (eds.) 2002: Streitfall Sprache, Bremen: Hempen, 75-114 Burkhardt, Armin & Kornelia Pape (eds.) 2003: Politik, Sprache, Glaubwürdigkeit. Linguistik des politischen Skandals, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Dieckmann, Walther 1975: Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg: Winter Girnth, Heiko 2002: Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation (= Germanistische Arbeitshefte 39), Tübingen: Niemeyer Girnth, Heiko & Constanze Spieß (eds.) 2006: Strategien politischer Kommunikation. Pragmatische Analysen (= Philologische Studien und Quellen 200), Berlin: Erich Schmidt Hermanns, Fritz & Werner Holly 2007: “Linguistische Hermeneutik. Versuch eines Anfangs”, in: Fritz Hermanns & Werner Holly (eds.): Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens Tübingen: Niemeyer, 1-4 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008: “Sprache und Recht. Neue Studien zur Rechtskommunikation”, in: Kodikas/ Code. Ars semeiotica. An International Journal of Semiotics 31.1-2 (2008): 233-237 Kamps, Klaus 2006: “Regierung, Partei, Medien. Meinungsfindung in der ‘Mediengesellschaft’”, in: Klaus Kamps & Jörg-Uwe Nieland (eds.) 2006: Regieren und Kommunikation. Meinungsbildung, Entscheidungsfindung und gouvernementales Kommunikationsmanagement - Trends, Vergleiche, Perspektiven, Köln: von Halem, 110-138 Kilian, Jörg 1994: “Sprache in der Politik. Ein einführender Überblick”, in: Praxis Deutsch 21/ 125 (1994): 4-10 Roth, Kersten Sven 2004: Politische Sprachberatung als Symbiose von Linguistik und Sprachkritik. Zu Theorie und Praxis einer kooperativ-kritischen Sprachwissenschaft (= Reihe Germanistische Linguistik 249), Tübingen: Niemeyer Sprache und Politik 351 englische ‘Qualitätspresse’ zu einem kritischen Diskursereignis wie dem des Kriegsbeginns im Irak verhält (S. 148-167). Die Autorinnen zeigen unterschiedliche Akzeptanzwerbepraktiken auf in den Leitartikeln der beiden Tageszeitungen The Independent und The Times; dabei finden sie in den Leitartikeln der Times eine ziemlich einfach strukturierte Argumentation zur Akzeptanzwerbung für den Irakkrieg, die sich erkennbar an der von Bush und Blair orientiert. Im Independent werde demgegenüber komplexer und gegenüber dem US-amerikanischen Kurs kritischer argumentiert, was die Autorinnen nach Quellen und Qualitäten der Artikel in der Times fragen läßt. Ins orthographisch-semiotische Detail der journalistischen Möglichkeiten, eigene Meinungen zu artikulieren, geht Andrea Lehr mit ihrem Beitrag (S. 168-195). Sie befaßt sich mit der Funktion doppelter Anführungszeichen für die journalistische Einstellungsbekundung in politischen Pressetexten, die dem Ermessen des Berichterstatters unterliegen (cf. Kamps 2006: 127). Doppelte Anführungszeichen haben entweder Zitatfunktion, indem sie Aussagen von dritten als solche kennzeichnen, oder modalisierende Funktion, mit der die Einstellung des Journalisten zum Ausdruck kommt. Häufig sind beide Funktionen nicht zu trennen, da die Kennzeichnung des Geschriebenen als Aussage eines Dritten bewußt (oft auch unbewußt) Distanz zwischen die Aussage und die Position des Journalisten bringt und damit auch modalisierende Funktionen übernehmen kann. Ein Beitrag von Anita Fetzer über das politische Interview im britischen Fernsehen rundet den Band ab (S. 196-211). Zur genaueren Untersuchung dieses Genres erstellt sie ein Modell der Öffentlichkeitsbedingungen des politischen Interviews, in dem der Interviewer, der Interviewte und das Publikum in einem triadischen Interaktionsverhältnis zueinander stehen. Inwiefern die Mehrfachadressiertheit und der Inszenierungscharakter auf die Interaktion einwirken, ist an Medienreferenzen zu erkennen, mit denen beide Interviewpartner in verschiedenen Abschnitten des Gespräches auf die mediale Situation verweisen. Interessant dabei ist besonders die Feststellung der nicht prototypischen Referenzen in dem Teil des Interviews, in dem das Ansprechen von Publikum und Medium dazu dient, den Interviewpartner in die gewünschte Richtung zu lotsen. Entsprechende Strategien werden sowohl vom Interviewer als auch von Interviewten verwendet. Die Lektüre des Bandes macht erst richtig bewußt, was man immer schon geahnt zu haben glaubt, nämlich mit welch differenzierten sprachlichen Strategien Personen des politischen Geschehens zu kommunizieren verstehen und wie gezielt solche Strategien auch zur Manipulation und zur Durchsetzung zumeist spezifischer Interessen eingesetzt werden. Zugleich wird aber trotz der hilfreichen Einführung durch die Editoren auch deutlich, daß die oft dem einzelnen Exempel verhafteten Beiträge durch eine stärkere theoretische Fundierung noch einen festeren Boden gewinnen könnten für das Studium der Fallstricke politischer Kommunikation. Anmerkungen 1 Burkhardt, Armin & Kornelia Pape (eds.) 2003: Politik, Sprache, Glaubwürdigkeit. Linguistik des politischen Skandals, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 2 Girnth, Heiko & Constanze Spieß (eds.) 2006: Strategien politischer Kommunikation. Pragmatische Analysen (= Philologische Studien und Quellen 200), Berlin: Erich Schmidt. Ernest W.B. Hess-Lüttich 350 (S. 46-60) mit der Adressatenorientierung in der öffentlichen politischen Rede allgemein und besonders mit verbalen Adressierungsverfahren an vom Redner konstruierte Adressaten, über die er Hypothesen bilde, um sein Redehandeln an ihm zu orientieren. Anhand der dabei zu beobachtenden Phänomene sollen spezifische Adressatenprofile rekonstruiert werden. Schröter interessiert sich dabei aber auch für Adressatenrollen, die typischerweise in Reden in einer medial weniger präsenten und daher nur eingeschränkt öffentlichen Sphäre auftreten, und für die sprachlichen Verfahren, mit denen sich der Redner gegenüber den Adressierten positioniert und dadurch die eigene Einstellung zum Ausdruck bringt. In ihrem Beitrag über den politischen Skandal (S. 61-78), der gut auch in den oben besprochenen Band von Burkhardt & Pape gepaßt hätte, skizziert Susanne Beckmann zunächst die Triade des Skandalierten (der einer Verfehlung bezichtigt wird), des Skandalierers (der die Verfehlung öffentlich denunziert) und der vermeintlich unbeteiligten Öffentlichkeit, um darin das Strukturmuster des komplexen Handlungsverlaufs der Vorwurf-Rechtfertigungskommunikation in den einzelnen Phasen des Skandals modellhaft zu rekonstruieren. Im Zentrum steht die Phase der Skandalierung, in der vom Skandalierer der Öffentlichkeit unter Mehrfachadressierung mit dem Ziel der Erzeugung von Empörung eine Verletzung des sozial verbindlichen Wertesystems durch den Skandalierten präsentiert wird. Charakteristisch für den Skandal sei die “Konfiguration von verschiedensten nebeneinander und hintereinander realisierten negativen Bewertungshandlungen” wie Erlebnisbenennung und projektive Erlebnisthematisierung. Nach diesen exemplarischen Einblicken in die Sprechhandlungstypen des politischen Geschehens thematisiert der dritte Teil des Bandes konstitutive Merkmale politischer Textsorten. Martin Wengeler stellt (S. 79-96) in seiner Untersuchung von deutschen Kriegsbotschaften des 20. Jahrhunderts fest, daß es sich dabei um eine eigene Textsorte handle, die ein Muster von acht konstitutiven Bestandteilen aufweise. Als Beispiel nennt er das Element der Rechtfertigung und Legitimation der kriegerischen Maßnahmen, das mit den Topoi der Notwendigkeit und der Dringlichkeit auf die Handlungen des Gegners hinweist und ein kriegerisches Eingreifen als unumgänglich darstellt. Mit dem darauf folgenden Aufsatz über die Polit-Postkarte identifiziert Hajo Diekmannshenke in ersten Umrissen ein noch kaum beackertes Forschungsfeld (S. 97-120). Strukturelemente der Polit-Postkarte seien das Wechselspiel zwischen den Absenderintentionen, der Bildseite der Karte sowie dem Kartentext, die vom Rezipienten entschlüsselt werden. Etwas gewichtiger ist der Aufsatz von Thomas Niehr über die in jüngerer Zeit häufiger auftretende ‘biographische Qualifikationsschrift’ (S. 121-147). Niehr bezeichnet damit jene Bücher, die Politiker nach ihrem freiwilligen oder unfreiwilligen Ausscheiden aus dem politischen Geschehen zur nachträglichen Rechtfertigung ihres politischen Handelns schreiben (lassen). Als konstitutiv für die Textsorte bezeichnet Niehr die neben der Bezugnahme auf die gesamte Öffentlichkeit bestehende Adressierung an eine spezielle Teilöffentlichkeit, die oft aus den innerparteilichen Kontrahenten der Autoren besteht. Der Typus dieser Bücher habe also die doppelte Funktion, neben der Legitimation der eigenen Handlungsweisen die innerparteilichen Kontrahenten zu delegitimieren und dadurch die eigene Glaubwürdigkeit zu stärken. Nicht selten gehe die sachliche Delegitimation freilich in die persönliche Abrechnung über. Der vierte Teil des Bandes stellt den Zusammenhang her von Diskurs, Medien und Öffentlichkeit in den Strategien der politischen Kommunikation. Unter dem Titel “Akzeptanzwerbung in britischen Editorials” beschäftigen sich Una Dirks und Anne K. Schmidt mit dem Mediendiskurs allgemein und speziell mit der Frage, wie sich im Frühjahr 2003 die Sprache und Politik 349 bung des ideologisch gebundenen Wortschatzes, der andere untersucht komplexere Handlungsmuster in Texten und Diskursen und deren jeweilige pragmatische Verwendungszusammenhänge. Den verschiedenen Ansätzen gemeinsam aber ist der sprachkritische Impetus, auch wenn sprachtheoretische und methodologische Grundlagen für die Bewertung des politischen Sprachgebrauchs bis heute weitgehend fehlen. Es bleibt daher das Ziel einer politischen Sprachkritik, Verfahren zur angemessenen und analytisch nachvollziehbar begründeten Beurteilung politischen Sprechens bereitzustellen, um “dem Bürger sprachreflexive Kompetenzen zu vermitteln und den Politiker zur Einhaltung einer kommunikativen Ethik zu veranlassen” (Kilian 1994: 10). Vor diesem Hintergrund hat Heiko Girnth jetzt gemeinsam mit Constanze Spieß einen neuen Sammelband vorgelegt, der sich den Strategien politischer Kommunikation widmet. 2 Er soll die heutige Bandbreite und Bedeutung pragmalinguistischer Analysen der politischen Kommunikation aufzeigen. Wenn es zutrifft, daß politisches Handeln vornehmlich sprachliches Handeln ist, dann gehe es nach Auffassung der Herausgeber beim politischen Sprachhandeln immer “um Wirklichkeitsdeutungen und um die Konstitution von Wirklichkeit innerhalb bestimmter situativer und kontextueller Bedingungen” (S. 7) und da politisches Handeln mittels Sprache entworfen, ausgelöst und gesteuert werde, sei sie notwendige Bedingung politischer Tätigkeit. Das weitgespannte Interesse gilt dabei allen Arten des öffentlichen, institutionellen und privaten Sprechens und Schreibens über politische Fragen: ‘politische Kommunikation’ sei letztlich alles, was in den Kommunikationsbereich falle, in dem über Angelegenheiten öffentlichen Interesses und über politische Fragen kommuniziert werde. Das macht es nicht leichter, ‘politische Kommunikation’ von anderen Domänen gesellschaftlicher Verständigung abzugrenzen. Aber die Editoren versuchen in ihrer instruktiven Einleitung gleichwohl, einige für das politische Sprechen typische und für die öffentliche Kommunikation konstitutive Merkmale herauszuarbeiten: etwa die Dichotomie zwischen Eigen- und Fremdgruppe, die in der Mittel-Zweck-Relation zur Sprecherintention stehenden Kommunikationsstrategien, die Bedingung massenmedialer Vermittlung, der Inszenierungscharakter, die Mehrfachadressierung und die Dissensvs. Konsensorientierung der Sprecher. Auf solche und ähnliche Merkmale in den verschiedenen Dimensionen politischen Sprachhandelns zu achten, waren die Autoren des Bandes ermuntert, der sich in vier Teile gliedert. Der erste Teil ist theoretischen Aspekten und methodischen Ansätzen der Politolinguistik gewidmet. Zur Einstimmung wünscht sich Josef Klein in seinem Beitrag über “Pragmatik und Hermeneutik als Gelingensbedingung für die Politolinguistik (S. 17-26) eine engere Verbindung von handlungsorientierter Pragmatik und verstehensorientierter Hermeneutik, weil Handeln menschliches Verhalten unter Sinnzuschreibung sei und Verstehen die Grundbedingung für das Gelingen jeglicher Kommunikation (cf. jetzt auch Hermanns & Holly 2007: 1). Dem dürfte niemand widersprechen, wer sich die Taktiken politischer Kommunikation mit ideologisch und strategisch geleitetem Verstehen und Mißverstehen vergegenwärtigt, deren politolinguistische Analyse ja die Verbindung von Pragmatik und Hermeneutik erfordert. Constanze Spieß gibt dann im zweiten Artikel des Bandes (S. 27-45) einige methodische Hinweise dazu. Am Beispiel des Gebrauchs von Hochwertwörtern wie Gattungssolidarität im Bioethikdiskurs erläutert sie die Nutzung (pseudo-)argumentativer Bewertungen mit lexikalischen Mitteln, d.h. die Bedeutungsfixierung der Hochwertwörter erfolgt in wohlüberlegten Strategien, die dem Argument Akzeptanz und Legitimation verschaffen sollen. Im zweiten Teil des Bandes stehen einzelne Sprechhandlungstypen und komplexe Handlungsspiele des öffentlich-politischen Diskurses im Mittelpunkt. Melanie Schröter befaßt sich Ernest W.B. Hess-Lüttich 348 begegnen suchten. Solche Strategien könnten nach Pape als jeweils unterschiedliche Grade politischer Lügen bezeichnet werden. Mit der Presse beschäftigt sich Paul George Meyer (S. 141-154), der die Berichterstattung über den CDU-Spendenskandal in der seriösen britischen Tagespresse semantisch, pragmatisch und textlinguistisch analysiert. Dabei sind für ihn in der bewährten Tradition des britischen Kontextualismus drei Sphären von Belang: der verbale Kontext, die Sprechsituation und der Hintergrund (wobei die Sphäre der Sprechsituation in Pressetexten eigentlich entfällt). Er will Kohäsionsketten und Kohärenzrelationen herausarbeiten und aufzeigen, welche Referenzmittel verwendet werden, um auf verschiedene Aspekte des Themas zu referieren und Assoziationsfelder aufzudecken, die der Produzent beim Rezipienten aktivieren will. Im nächsten Beitrag schildert der Koblenzer Germanist (und Ex-Politiker) Josef Klein (S. 155-162), wie er als ehemaliger Bundestagsabgeordneter (der CDU) Opfer einer Medienkampagne zur intendierten Skandalisierung eines eigentlich nicht besonders skandalträchtigen Sachverhaltes wird. Klein erläutert die Quellen eines Zeitungsartikel und seine eigene Richtigstellung der darin enthaltenen Informationen, die er dem Journalisten im Vorfeld der Veröffentlichung zukommen ließ. Nun kann er zeigen, wie großzügig der Journalist in diesem Fall mit der Wahrheit und den tatsächlichen Sachverhalten umgegangen ist. Ebenso schön sind die Techniken zu erkennen, mit denen der Schreiber die falschen Zusammenhänge nicht etwa explizit formuliert (sodaß er dafür belangt werden könnte), sondern sie vielmehr so insinuiert, daß sie für den Leser eindeutig zu sein scheinen. Im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur politischen Sprachberatung, in denen er Politolinguistik ebenfalls als nicht nur rein deskriptive, sondern kritische Wissenschaft versteht, die einen entsprechend kritischen Umgang mit dem Datenmaterial nicht nur rechtfertige, sondern erfordere (cf. Roth 2004: 17), widmet sich Kersten Sven Roth im letzten Beitrag des Bandes einer denkwürdigen Bundestagsdebatte, in deren Anschluß ein politischöffentlicher Streit ausbrach, der als Skandal bezeichnet wurde. In seiner rhetorisch-linguistischen Analyse weist der Verf. nach, daß der Sturm der Empörung nicht erst in der Debatte spontan entstand, sondern aus wahltaktischen Gründen regelrecht inszeniert wurde. Roth sucht den Inszenierungscharakter der Parlamentsdebatte zu belegen, indem er zeigt, wie die Redner den Skandal antizipieren und ihn kommentieren, bevor er überhaupt stattgefunden hat. Er erläutert die komplexe Vorbereitung des Skandals im dramaturgischen Aufbau der Debatte von Rede zu Rede und die kunstfertigen rhetorischen Strategien, die dabei phantasievoll zum Einsatz kommen. Die in dem Band Politik, Sprache, Glaubwürdigkeit versammelten Beiträge (die noch um das Protokoll der 7. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Sprache und Politik ergänzt werden), bieten einen facettenreichen Zugang zum Thema des politischen Skandals. Ihre Reihenfolge und Anordnung leuchtet zwar nicht immer auf den ersten Blick ein - so hätte Volmerts fundierter Beitrag über die Arbeit des Aufklärungsausschusses zur ‘Flick-Affäre’ vielleicht besser ans Ende gepaßt als zwischen die Beiträge zur ‘CDU-Spendenaffäre’, während Hollys Überblick über den Skandal einen noch treffenderen Einstieg in den Band geboten hätte als Epplers Erinnerungen eines integren Politprofis - , aber insgesamt wird dem Leser ein guter Einblick in die verdienstvoll sprachkritische Arbeit der heutigen Politolinguistik vermittelt. Ein anderer Protagonist in der politolinguistischen Szene beschreitet einen etwas anderen Weg. Heiko Girnth unterscheidet in der neueren Forschung zwei Ansätze: einen eher lexikonorientierten und einen eher text- und diskursorientierten (Girnth 2002: 9 f.). Der eine hat seinen Ursprung in der semantischen Einzelanalyse politisch relevanter Wörter, der es vor allem um die “Geschichte der Schlagwörter” ging (Dieckmann 1975: 21) und die Beschrei-