eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2009
321-2

Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild

61
2009
Beate Ochsner
Der Artikel beschäftigt sich mit der Geschichte der Inszenierung monströser Körper. Anhand ausgewählter Bildbeispiele werden verschiedene Visualisierungsstrategien sowie Lesarten aufgezeigt, wie sie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen Teratologie und Bildmedien entwickelt haben. Das präsentierte Material reicht von medizinischen und Freakfotografien aus dem 19. Jahrhundert über verschiedene Arbeiten zeitgenössischer Fotografen bis hin zu zeitgenössischen Skulpturen. Im Vordergrund der Analyse stehen die soziale und vor allem mediale Produktion monströser Körper(bilder) sowie der Effekt der 'biological realness' (Mary Russo), als die mit Hilfe verschiedener Bildstrategien sich dem Betrachter aufdrängende und ihn zum Urteil zwingende Eigenheit der ausgestellten Körper.
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Technische Bilder 89 Abb. 2: Screenshot aus der CSI-Episode Pledging Mr. Johnson (1.4.) als Bild anwesend. Zwischen Zuschauer und Film besteht eine räumliche und zeitliche Distanz, der Vorgang der Durchleuchtung und deren Darstellung fallen zeitlich auseinander. Das filmische Negativ bedarf noch einer chemischen Behandlung, bevor es die auf ihm enthaltenen Vorgänge repräsentieren kann. Zudem besteht ebenfalls noch eine Distanz zwischen der medizinischen und der medialen Apparatur (Baudry 1986). Angesichts dieser technischen und wahrnehmungsbedingten Ausgestaltung kann davon ausgegangen werden, dass das Dispositiv zusätzlich medialen und wissenschaftlichen Diskursen einen festen Platz einräumt und diese stabilisiert. Hinsichtlich ihres Dispositivs differiert die technische Anordnung der Endoskopie erheblich von den kinematographischen Vorgaben des Röntgenfilms. Die beteiligten Technologien schreiben eine völlig neue Anordnung von Medium, Aufzeichnung und Körper vor, die sich grundlegend von derjenigen der Kinematographie unterscheidet: - Die zeitliche Distanz zwischen Aufnahme und Repräsentation ist aufgehoben. Schon während der Aufnahme wird das Bild des Körperinnern auf einen Bildschirm geworfen. - Die Materialität des Speichers ist eine andere: Im Gegensatz zum Einzelbild auf Zelluloid handelt es sich hier um digitale bzw. elektronische Speicherverfahren. - Ebenfalls obsolet erscheint die durch die Wahrnehmungsanordnung bewirkte Distanz zwischen Leinwand und Zuschauer: Technische Grundlage der Darstellung ist nicht mehr die Einheit von Projektor und Leinwand, sondern der Computerbildschirm, der die medialen Implikationen des Fernsehbildschirms mit sich bringt. Gleich dem Fernsehen offeriert der endoskopische Bildschirm ‘live’ aus dem Körperinnern. Hinzu kommt das Zusammengehen von medialer und medizinischer Apparatur, wie auch José van Dijck anmerkt, wenn z.B. durch dieselbe Körperöffnung eine Kamera wie auch chirurgisches Instrumentarium geschoben werden. So verschmelzen Operationssaal und Bildschirm räumlich unter dem Zeichen einer Fernsehästhetik. The trick of virtual endoscopy is that it resembles a video film taken with an actual camera inside the body, yet, in fact, it is an projection of the interior, extrapolated from digital data. The real body is represented as spatial information, resulting in a high-resolution visualization that is neither a photo nor a model, but an animated reconstruction of computer data (Dijck 2005: 15). Zusammenfassend muss hier festgestellt werden, dass sich die Endoskopie als ‘direktes’ bildgebendes Verfahren erheblich von der Röntgenkinematographie unterscheidet. Als Folge des Wegfalls einstmaliger technischer Distanzen erscheint eine größere Verfügbarkeit und schnellere Verbreitung der Bilder. Wie in Hinblick auf die Röntgenkinematographie bereits andeutet, wird der Spektakelwert der Bilder erhöht. Die weite digitale Verfügbarkeit der Bilder unterstützt einen bidirektional ausgerichteten Austausch zwischen Wissenschaftsdisziplin und Unterhaltungsindustrie. Demgemäß werden schon die medizinischen Bilder des Körperinnern als performative Ausrüstung ansonsten traditionell erzählter Fernsehserien gerne eingesetzt. Besonders die amerikanische Fernsehserie CSI - Crime Scene Investigation ist ein hervorragendes Angela Krewani 90 Abb. 3: Screenshot aus der ReGenesis-Episode The Source (1. 10) Abb. 4: Nanorobot in the bloodstream Beispiel für die Kombination von kriminalistischem Erzählen und spektakulären Visualisierungen des Körperinnern. Im Gegensatz zu den einfachen Narrationsstrukturen der Serie, die einem ‘who dunnit’ Prinzip mit pro Folge abgeschlossener Handlung folgt, bilden die visuellen Elemente experimentelle und komplexe Muster aus. Lichtgebung, Montage und Kameraführung fallen aus dem ansonsten standardisierten Repertoire des Genres Fernsehserie und sie bereiten auf die spektakulären Bilder aus dem Körperinnern vor. Ähnlich wie der Röntgenfilm, der sich der angeblichen wissenschaftlichen Aufklärung verschrieb, folgt auch die Narration einem vorgeblich wissenschaftlichen Impetus: Handlungsschauplatz ist die pathologische Abteilung der Polizei, die Fälle aufzuklären hat. Folglich beginnt jede Folge mit dem Fund einer Leiche, deren Todesursache bzw. Mörder gefunden werden muss. In diesem Zusammenhang bieten sich die Bilder der forensischen Pathologie an, da sie zentrale Momente der Handlung darstellen. Ein ähnliches, wenn auch komplexeres Muster verfolgt die kanadische Serie ReGenesis, deren Handlungsort ein staatliches Labor für Mikrobiologie ist. Hauptfigur Dr. David Sandstroem, der wissenschaftliche Leiter des Labors, ist als Figur komplexer ausgestaltet als diejenigen in CSI. Insgesamt folgt die Serie einem komplexeren narrativen Muster mit offenen, nicht abgeschlossenen Handlungssträngen. Auch hier bieten sich Bilder des Körperinnern sowie mikrobiologische Filmaufnahmen an. Insgesamt arbeitet ReGenesis mit einer komplexeren Bildästhetik, die neben den mikrobiologischen und medizinischen Bildern mit ‘split screens’ und ‘fast backwards’ arbeitet. Die Flexibilität und Ubiquität wissenschaftlicher Repräsentationen im öffentlichen Raum spricht meines Erachtens für eine anwachsende Durchlässigkeit einstmals getrennter Kommunikationsbereiche von wissenschaftlichen Disziplinen und öffentlichen Diskursen. Auch bestärkt durch die Digitalisierung und die damit einhergehende Ubiquität von Bildern ist eine Affinität von ‘dokumentarischem’ Bild und ‘spektakulärem’ Bild entstanden, die keine Unterscheidung der Bilder mehr ermöglicht. 4 Bilder der Nano-Medizin Virulente Beispiele für die Ununterscheidbarkeit zwischen öffentlichem Spektakel und wissenschaftlicher Dokumentation bieten weite Teile der Nano-Medizin bzw. der Nanotechnologie. In ihrer öffentlichen Repräsentation erscheint die Nanotechnologie als ein hochgradiges Zwitterprodukt zwischen wissenschaftlicher Disziplin und öffentlichem Diskurs. Durch die Größe des Forschungsobjekts und die zentrale Stellung medialer Bildkonstruktion in Form der Mikroskope und der daran anhängenden technischen Bildverfahren innerhalb derer ein Rastertunnelmikroskop Oberflächen abtastet und diese in Datensätze verwandelt, rücken Bilder in das Zentrum der Wissenskonstruktion (Hacking 1985). Ich möchte hier die These wagen, dass eine Relation zwischen Technische Bilder 91 technischer Komplexität der Bilder und diskursiver Instabilität herrscht. Je komplexer und interdisziplinärer die Bildgestaltung ausfällt, desto empfänglicher bzw. angreifbarer wird sie für fremde Diskurse bzw. ein Bildrepertoire aus dem öffentlichen, populären Gedächtnis. Das ist in vielen Fällen auf die technische Genese der Bilder zurückzuführen. Viele Softwareingenieure kommen aus dem Bereich der filmischen Bildgestaltung und nehmen sich das Repertoire computergenerierter Filme zum Vorbild. Insbesondere die Nanotechnologie bedient sich eines Bildrepertoires, auch im Inneren ihrer eigenen Disziplin, das dem science fiction-Film zu entspringen scheint und auch oft mit deutlichen Verweisen auf diesen arbeitet. Die Eingabe des Begriffs ‘Nano-Medizin’ in Google ergab eine Reihe von Einträgen, die häufig auf den Film Fantastic Voyage verwiesen. Ich zitiere hier aus einem Beispiel, das sich auf der Homepage der amerikanischen Nasa befindet: It’s like a scene from the movie ‘Fantastic Voyage’. A tiny vessel - far smaller than a human cell - tumbles through a patient’s bloodstream, hunting down diseased cells and penetrating their membranes to deliver precise doses of medicines (http: / / science.nasa.gov/ headlines/ y2002/ 15jan_nano.htm [04.10.08]). Der anfängliche Vergleich wie auch die Sprache des Zitats verweisen eher auf den ‘Thriller’ denn eine wissenschaftliche Prozedur, wie auch das begleitende Bildmaterial sich problemlos in vorhin angesprochene Fernsehserien einfügen ließe. Abschließend muss danach gefragt werden, wie sich die Dynamiken zwischen populärem Bildgedächtnis und wissenschaftlicher Disziplin speisen. In Hinblick auf die Etablierung der Chemie als Wissenschaftsdisziplin kann festgestellt werden, dass visuelle Repräsentationen in dem Prozess eine wesentliche Rolle gespielt haben. Mit fortschreitender Seriosität der Disziplin wurden die Bilder in den Hintergrund gedrängt und fielen wesentlich weniger spektakulär aus (Knight 1993). Eine ähnliche Entwicklung ist in den noch relativ jungen Disziplinen Mikrobiologie und Nanotechnologie zu beobachten. Die relative Durchlässigkeit der Bilder mag auch mit dem noch nicht sehr etablierten Status der Wissenschaft zu tun haben, die ähnlich wie das Beispiel der Chemie im späten 19. Jahrhundert, in ihren Repräsentationsformen noch nicht durchgängig kanonisiert ist. Literatur Baudry, Jean Louis 1986: “Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus”, in: Rosen, Philip (Hrsg.) 1986: Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York: Columbia University Press, 286-298 Baudry, Jean-Louis 1986: “The Apparatus: Metapsychological Approaches to the Impression of Reality in Cinema”, in: Rosen, Philip (Hrsg.) 1986: Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York: Columbia University Press, 299-318 Cartwright, Lisa 1995: Screening the Body: Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis: University of Minneapolis Press Curtis, Scott 2005: “Die Kinematographische Methode. Das ‘Bewegte Bild’ und die Brownsche Bewegung”, in: montage 14.02.2005: 23-43 Dijck, Jose van 2005: The Transparent Body: A Cultural Analysis of Medical Imaging, Seattle: University of Washington Press Fox Keller, Evelyn 2002: Making Sense of Life. Explaining Biological Development with Models, Metaphors, and Machines, Cambridge/ MA: Harvard University Press Galison, Peter 1997: Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago: University Of Chicago Press Angela Krewani 92 Gunning, Tom 1990: “The Cinema of Attractions: Early Film, the Spectator and the Avant-Garde”, in: Elsaesser, Thomas (Hrsg.) 1990: Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London: BFI Publishing, 56-62 Hacking, Ian 1985: “What Do We See Through the Microscope? ”, in: Churchland, Paul M. & Clifford A. Hooker (Hrsg.) 1985: Images of Science: Essays on Realism and Empiricism, with a Reply from Bas C. Van Fraassen. Images of Science: Essays on Realism and Empiricism, with a Reply from Bas C. Van Fraassen. Science and Its Conceptual Foundations, Chicago: University of Chicago Press, 132-153 Hoffmann, Kay 2002: “Die Welt mit dem Röntgenblick sehen. Das Kinematographische Wunder der Röntgenstrahlen”, in: Polzer; Joachim (Hrsg.) 2002: Aufstieg und Untergang des Tonfilms, 6. 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Based on carefully picked examples, different strategies of visualization and readings are shown as they have developped between teratology and media since the beginning of the 19th century. The chosen material includes medical and freak photography of the second half of the 19th century as well as contemporary photographies and sculptures. First of all, the analysis concentrates on the mediatic and social production of (images of) monstrous bodies as well as the mise-en scène of the so-called ‘biological realness’ (Mary Russo) which forces the spectator to look at and judge upon the peculiarity of the the exposed bodies. Der Artikel beschäftigt sich mit der Geschichte der Inszenierung monströser Körper. Anhand ausgewählter Bildbeispiele werden verschiedene Visualisierungsstrategien sowie Lesarten aufgezeigt, wie sie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen Teratologie und Bildmedien entwickelt haben. Das präsentierte Material reicht von medizinischen und Freakfotografien aus dem 19. Jahrhundert über verschiedene Arbeiten zeitgenössischer Fotografen bis hin zu zeitgenössischen Skulpturen. Im Vordergrund der Analyse stehen die soziale und vor allem mediale Produktion monströser Körper(bilder) sowie der Effekt der ‘biological realness’ (Mary Russo), als die mit Hilfe verschiedener Bildstrategien sich dem Betrachter aufdrängende und ihn zum Urteil zwingende Eigenheit der ausgestellten Körper. “I’m differently beautiful because my body looks different to other people’s.” So die englische Künstlerin Alison Lapper (Abb. 1-4) in einem auf YouTube veröffentlichen Feature über ihre Person, ihre künstlerischen und politischen Arbeiten. 1 In ihrer Beschäftigung mit dem menschlichen Körper sowie seinen Bildern setzt Lapper gleichermaßen Fotografie, Computergrafik und Malerei ein, wobei die kulturelle Produktion von Differenz (und mithin von Normalität) im Vordergrund steht. Gleich und doch nicht gleich zieht der physisch andere Körper die Blicke auf sich: “You cause people to watch and to make judgement.” (Ebd.) Zahlreiche Exponate der englischen Künstlerin zeigen Selbstportraits, deren Ästhetik sich aufgrund offensichtlicher Ähnlichkeit an der Venus-Statue als dem Ideal weiblicher Körper orientieren: “I’ve labelled myself Venus de Milo in some of my works. She lost her arms; I was born without mine. Yet no-one would describe her as disabled, as they do me, even though I’m real and I can answer them back.” (Ebd.) Die im Jahr 2000 entstandene fotografische Arbeit Untitled (2000) lässt die Inspirationsquelle unschwer erkennen, wobei der in der sanften S-Kurve des griechischen Ideals geformte Körper das klassische ästhetische Prinzip in der Differenz zwischen den Bildern hervorhebt (Abb. 5). Die harten Kontraste der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Beate Ochsner 94 Abb. 5: Untitled (Lapper, 2000) 2 Abb. 1-4: Stills aus dem Feature über Alison Lapper (http: / / www.youtube.com/ watch? v=6nulqXwC0nU, [02.01.09]) Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 95 Schwarz-Weiß-Aufnahme lassen die weiße Haut der Portraitierten hervortreten und verleihen dem fotografischen Körper eine nahezu marmorne Skulpturalität. In ihren Installationen kombiniert Alison Lapper ihre fotografischen oder malerischen Arbeiten mit Gipsabdrücken sowie frühen klinischen Aufnahmen ihres Körpers, die seine Deformität dokumentieren, benennen und klassifizieren. Auf diese Weise sichert der ‘aus den Fugen’ des protonormalistischen Dispositivs geratene Körper das System körperlicher Normalität, um sich selbst als defizitär auszuschließen. Was nun bringt eine Frau dazu, sich freiwillig auf diese Art zur Schau zu stellen und sich (erneut) den Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen? Ähnlich wie andere behinderte Künstler - so z.B. die irische Performancekünstlerin Mary Duffy oder der englische Schauspieler Matt Frazer - stellt Lapper ihren ‘anderen’, monströsen Körper aus, um auf diese Weise die pervasiven medizinischen und schaulustigen Blicke zu reproduzieren, die ihn aus Legitimationsgründen zum gesellschaftlichen Spektakel erklären. Im Rahmen ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Thema Freaks bzw. der disability-Forschung konstatiert die amerikanische Forscherin Rosemary Garland-Thomson, dass Behinderung über die medizinischen Kontexte hinaus und vergleichbar mit den Kategorien des Geschlechts oder der Rasse zu einer Verhandlungssache gesellschaftlicher Repräsentations- und Diskurssysteme geworden ist (vgl. Garland-Thomson 2000: 181). Auf diese Weise gerät der fehlgebildete Körper zum kulturellen Artefakt, zum Produkt sozialer, ästhetischer und diskursiver Praktiken. Als solches Kunststück stellt Alison Lapper sich selbst bzw. ihren eigenen Körper bewusst aus, um auf die Konstruiertheit seiner ästhetischen Vorbilder wie auch die soziale Fabrikation seiner Spektakularität zu verweisen. Dass ich im folgenden Text die Begriffe des monströsen und des anderen Körpers synonym verwende (wie auch Alison Lapper in ihrem Kurzfilm) ist keinesfalls mit einer Negativwertung verbunden, vielmehr geht es mir um die auffallende Nähe der Diskurse. Leider kann ich nicht ausführlich auf die spannende Begriffsgeschichte des Monsters eingehen, darum nur so viel: Monster oder - mit Thomas Macho gesprochen - “exilierte Dissidenten der Normalität” sind die Anderen des Systems, das sie als defizitär markiert, um das Eigene als Normalität zu sichern (vgl. Ochsner 2009). Diese Funktion kommt in ganz ähnlicher Art und Weise auch den auf den Fotografien abgebildeten anderen Körpern zu, die in der Zur-Schau-Stellung zu Monstern im Sinne Jean-Marie Sabatiers werden: “Monster sind nur Monster, weil wir sie ausstellen.” 3 Seit der Antike wird das Andere (des Menschlichen) - das Monster, der Fremde oder der Kranke - in unterschiedlichen medialen Konzeptionen exponiert. Seit dem 19. Jahrhundert spielt die medizinische Fotografie in diesem Kontext eine wichtige Rolle: Unter Einhaltung strikter visueller Konventionen - ein neutraler Hintergrund, der die Aufgenommenen objektiviert und sie in der Abstraktion vergleichbar macht, die Beigabe von Requisiten, die das soziale Standing andeuten, Frontal- oder Profilaufnahme, Ganzkörper- oder Gesichtsdarstellung etc. - sowie durch erklärende wissenschaftliche Texte vervollständigt, bestätigt die fotografische Konstruktion einer medizinischen Autorität über den pathologischen Körper den szientifischen Diskurs. Nun wenden die zeitlich aufkommende Freak- oder Monsterfotografie wie auch zeitgenössische Fotografien von Diane Arbus, Joel-Peter Witkin, Nick Knight oder auch Gerhard Aba vergleichbare Visualisierungsstrategien an mit dem Ziel, entweder die Glaubwürdigkeit mit Hilfe wissenschaftlicher Authentizität zu erhöhen oder aber - in ästhetischer und historischer Deplatzierung - die Monstration der Zur-Schau-Gestellten zu reflektieren. Die verschiedenen Typen von Fotografien spielen dabei eine als “effet de monstre” zu bezeichnende Wirkung aus, die auf die rhetorische Figur der Katachrese verweist, von David Beate Ochsner 96 Abb. 6: Krao, das missing link, zusammen mit ihrem Besitzer Farini (http: / / sideshowbarker.blogspot.com/ [17.11.08]) Williams in seiner ausgezeichneten Studie über die Funktion des Monsters als apophatische Monstration oder ‘showing forth’ bezeichnet: Wo das Fehlen des eigentlichen Ausdrucks - das Monster verweist auf keine ihm vorgängige Signifikation - die Repräsentation verhindert, wird sie durch die reine Monstration ersetzt, die die Funktion der Repräsentation als solche reflektiert. In der Geste des reinen Zeigens, des Monstrierens, spielen nun nicht nur die mittelalterlichen Monster ihr Potential aus: “[T]he monster’s proper function is to negate the very order of which the monster is a part, and to critique the philosophical principles that sustain order itself” (Williams 1996: 14). Dieses besondere soziale und sozialkritische Potential in ausgewählten Bildern ‘monströser’ Körper medial zu hinterfragen, ist Anliegen der folgenden Überlegungen. 1 Beispiel 1: Krao, das Missing link Nur kurze Zeit nach ihrer Erfindung hielt die Fotografie Einzug in unterschiedliche Bereiche der Wissenschaft wie z.B. der Medizin: Neben vorwiegend archivarischer Funktion konnte sie gar zu einem wissenschaftlichen Instrument avancieren, das dem Auge des Mediziners bislang verschlossene Gebiete, mithin eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit eröffnete. Nicht nur die sehr früh für die Medizin entdeckte Mikrofotografie feierte Erfolge, rasch begann man sich auch in den Bereichen der Dermatologie und Orthopädie sowie, generell, im Bereich physischer und psychischer Devianzen für die akkurateren und “more lifelike” Repräsentationen (Squire, zit. nach Gernsheim 1961: 147) zu interessieren und so entstanden, neben verschiedenen fotografisch illustrierten Buch- und Zeitschriftenpublikationen, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an zahlreichen Krankenhäusern fotografisch illustrierte Sammlungen human-pathologischer Absonderlichkeiten, die ihre Faszination an der Zur-Schau- Stellung ‘lebender’ wie auch ‘toter’ Monstrositäten kaum verheimlichen können. Auf Suche nach der menschlichen Vor-Geschichte bedienten sich auch die Anthropologen und Ethnologen wie der berühmte Rudolf Virchow der Fotografie: Interessanterweise handelt es sich - wie in den Verhandlungen, dem Publikationsorgan der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, nachzulesen - nicht nur um von Wissenschaftlern oder Berufsfotografen zu szientifischen Zwecken aufgenommene Bilder, vielmehr bestaunte man entsprechende ‘Fälle’ life in Panoptiken und auf Jahrmärkten oder erstand die käuflich zu erwerbenden Freakfotografien ihrer berühmtesten Vertreter. Manchmal konnte man die Ausstellungsobjekte gar einer Untersuchung unterziehen und in diesem Rahmen, Aufnahmen anfertigen lassen. So auch im Falle Kraos, deren Berühmtheit in erster Linie auf ihre geschickte Vermark- Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 97 Abb. 8: La Nature, Mai 1883 (http: / / www. bl.uk/ learning/ images/ bodies/ printlarge48 01.html, [17.11.08]) Abb. 7: P.T. Barnum & General Tom Thumb (http: / / www.racontours.com/ Pic% 27s/ NS/ tom-thumb.gif [26.1.10]) tung und Inszenierung als Darwin’s missing link - wohl eine Idee ihres Besitzers Farini 4 - zurückzuführen ist (Abb. 6). (Zum Vergleich eine Aufnahme Tom Thumbs in der erhöhenden Präsentationsweise, die auf Requisiten wie europäische Uniformen, Adelsprädikate (Major Tom Thumb) etc. rekurriert (Abb. 7)). Auch die bereits im Mai 1883 in La Nature veröffentliche Richtigstellung der verwegenen Annahme, Krao repräsentiere das fehlende Verbindungsglied, vermag die Sensations- und Schaulust nicht zu minden, und als ‘Lückenbüßer’ der Genealogie muss Krao weiterhin als hybrides Wesen zwischen Mensch und Affe die sich in diesem Übergang vollziehende Perfektionierung des Menschen und gleichzeitig seine Differenz zum Tier bezeugen. (Abb. 8) Im Fluss des vom Kontinuitätsdenken beherrschten 19. Jahrhunderts verschwinden die vom Teratologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire als ‘arrêt du développement’, als pathologischer Stillstand der Entwicklung bezeichneten Anomalien (wie eben auch das missing link); allein die Fotografie vermag das Momentum abermals zu arretieren, dies jedoch nur, um es im Rahmen biologischer, medizinischer oder evolutionstheoretischer Verhandlungen oder einfach um des Amüsement willens erneut und endgültig festzustellen: Das entstellte Monster wird im Bild gestellt und geriert ein Wissen, “das erst in seinen Verkehrungen das Monströse als Verkehrtes hervorbringt.” (Oldenburg 1996: 38) Diese Verkehrungen liegen letztlich im Diskurs eines auf stetigen Fortschritt programmierten szientifischen Denkens begründet, das diskontinuierliche Entwicklungen zwar nicht ausschließt, sie jedoch als graduelle Phänomene oder Devianzen des Normalzustande bzw. einer normal verlaufenden Evolution verortet. Die dem Verschwinden entgegenwirkende Fotografie hebt den Verlauf der Zeit auf und vermag auf diese Weise mögliche ‘Lücken’ (in der Evolution) durch eine ‘natürliche’, d.h. ohne Eingriff des Menschen hergestellte Präsenz zu substituieren: Das fotografisch fixierte Objekt - in unserem Falle Krao - wird gleichsam rückwirkend als Beweis der an ihm aufgestellten (Hypo-)These gelesen, es fungiert als Supplement einer so nie gelebten Vergangenheit und indiziert gleichzeitig deren Verlust (vgl. Oldenburg 1996: 38). In ihrer gleichzeitigen Bezeugung der Objektivität der Aufnahme und der Authentizität des Objekts entwickelt sich die Fotografie zum wissenschaftlichen Instrument. Doch geschieht dies, wie Jean-Marie Schaeffer bereits 1987 konstatiert, lediglich aufgrund eines semiotischen Kurzschlusses zwischen indexalischer Beate Ochsner 98 und ikonischer Funktion (vgl. Schaeffer 1987): Im Gegensatz zum Indiz, das sich auf Manifestationen des realen Raum-Zeit-Verhältnisses bezieht, verweist das Ikon an sich nicht auf existierende Dinge; es handelt sich, nach Pierce, um ein Zeichen der Essenz. Was nun allzu häufig die Interpretation der Fotografie kompliziert, ist die Tatsache, dass der Empfänger die beiden Funktionen im fotografischen Dispositiv kurzschließt: Auf diese Weise zeugt die indizielle Funktion, die auf die reale Existenz der Aufnahme verweist, plötzlich von der Authentizität des abgebildeten Objektes, während die ikonische Funktion dessen essentielle Eigenschaften darstellt. So zeugt die Fotografie Kraos von der Authentizität des missing links, das als Momentum einer individuellen Entwicklung auf die Evolution des Menschen übertragen wird. Rudolf Virchow mag nun der missing link-Story keinen Glauben schenken, gleichwohl interessiert er sich für die fotografische Fixierung des ontogenetischen Zeitpunkts der Abweichung: Das von der Evolution abweichende ‘damals’ (der Störung) soll sich - im Vokabular Thierry de Duves - dem ‘jetzt’ der Fotografie einschreiben. De Duve fügt eine weitere Spreizung zwischen ‘hier’ und ‘dort’, so dass zwei sich kreuzende Linien mit den jeweiligen Punkten ‘damals’ - ‘hier’ bzw. ‘jetzt-dort’ entstehen. Virchows Ansatz basiert auf einer Kreuzung beider Serien, und man stellt fest, dass diese Beziehung sich jeweils in einem Bruch mit dem hic et nunc der ‘normalen (Entwicklungs-)Zeit’ vollzieht. In seiner Funktionalisierung der Fotografie als pathologische Entwicklungshemmung an einem bestimmten Zeitpunkt der Evolution vollzieht sich so, wie im von de Duve beschriebenen Übergang von der Momentaufnahme zur Pose, eine Transformation von Raum in Zeit und umgekehrt: Die damalige Abweichung soll sich im Jetzt der Fotografie (und, im semiotischen Kurzschluss) hier des (dort) anderen Körpers vollziehen. 2 Beispiel 2: Die Inszenierung der Fotografie im “crucifiement” Mit dem Einzug Jean-Martin Charcots in die Salpetrière beginnt auch der Aufbau des dortigen Fotoateliers. Von der Mehrzahl der Aufnahmen, die zumeist der Dokumentation und Authentifizierung dienen, unterscheiden sich die sog. ‘Kreuzigungsfotografien’ nicht allein aufgrund der Pose und der ihrer Bezeichnung geschuldeten ikonographischen Verankerung in der christlich-religiösen Kunstgeschichte, sondern gleichermaßen in Bezug auf einen spezifischen Umgang mit dem Medium der Fotografie. Während man relativ schnell feststellt, dass einige Aufnahmen effektvoll aufgerichtet wurden, um den Eindruck einer Kreuzigungsszene zu verstärken und dem Phasentitel Crucifiement gerecht zu werden (vgl. Abb. 9), so ist aus dem Text zu erfahren, dass man auf eine Aufnahme verzichtete, wenn die Patientin die gewünschte Pose nicht in vollendeter Manier hervorbringt. Die hysterisch erstarrten Körper zeigen dabei eine auffallende strukturelle Ähnlichkeit zur fotografischen Stillstellung, interessant ist hier die zeitliche Dimension: Atemstillstand und gänzliche Immobilität des hysterischen Körpers gehen seiner fotografischen und textuellen Stillstellung voraus, und so wird der hysterische Körper bereits vor seiner medialen Repräsentation als Allegorie des fotografischen Prozesses lesbar (vgl. Baer 1994). 5 Das der Fotografie des Körpers vorgängige Bild der Hysterie wird in der Aufnahme wiederholt und gleichzeitig supplementiert. 6 Mit Roland Barthes wäre zu folgern, dass die Charcot’schen Kreuzigungsfotografien den Blick auf ein psychologisch Unbebzw. Nichtgewußtes freigeben, das außerhalb des fotografischen Wiederholungsprozesses nicht existiert. Dies bestätigt auch Didi-Hubermans These, Charcot habe die Hysterie erfunden, um sie nach- Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 99 Abb. 9: Iconographie photographique de la Salpetrière, Band 1, 1876, Abb. VI, VII, IX. träglich kunstgeschichtlich zu verankern. Wie Karin Dahlke aufzeigt (Dahlke 1998: 214), führt die intermediale Ver-Setzung des fotografischen Mediums in einen kunstgeschichtlichen Inszenierungsrahmen zur Aufhebung der fotografischen Spezifika; Reproduktion und Produktion nähern sich einander an und die Fotografie (bzw. die Hysterie) mutiert zu einem Vorzeichen ihrer selbst, um sich im eigenen Bild zu bestätigen. 3 Nick Knight oder: Die Neue(n) Mode(ls) ‘Nur eine Provokation? ’ Alexander Mc-Queen, Chefdesigner bei Givenchy, eröffnet bei der Londoner Fashion Week 1998 mit speziellen, ganz ‘anderen’ Modellen: Neben einer Frau ohne Arme und Beine, einem Mann ohne Unterleib trat auch die ohne Schienbeinknochen zur Welt gekommene und daraufhin beidseitig unterschenkelamputierte Sportlerin Aimee Mullins auf den Laufsteg. Die Medien- und Modewelt reagierte zumeist schockiert: Eine ‘Gratwanderung zwischen Schock und Schick’ wollte die Süddeutsche Zeitung gesehen haben, von ‘Ausbeutung’ schrieb der Figaro. Der deutsche Modemacher Wolfgang Joop nannte den Auftritt von Aimee Mullins in einem NZZ-Gespräch ‘ein Bild verletzter Endzeitromantik, das Harte kombiniert mit dem Zarten’. Die Konkurrenz tat McQueen als ‘Voyeuer und Provokateur’ ab. Aimee Mullins hingegen trug die bizarre Schau einen Supermodelstatus ein: Mit dem Untertitel Ich bin eine ganz normale Frau präsentierte die Titelseite des ZEIT-Magazins vom 5. November 1998 eine Fotografie von ihr, aufgenommen vom Londoner Fotografen Nick Knight, der sich mit einigen der hier gezeigten Aufnahmen (Abb. 10-12) an einer Ausstellung mit dem Titel Bilder, die noch fehlten beteiligte, die u.a. im Deutschen Hygienemuseum in Dresden zu besichtigen war. “Natürlich werden einige das hier als Freak-Show empfinden. Das lässt sich nicht vermeiden”, kommentiert der bereits erwähnte ‘Mann ohne Unterleib’, Beate Ochsner 100 Abb. 10, 11 und 12: Alison Lapper, David O’Toole und Aimée Mullins, fotografiert von Nick Knight, in: ZEITmagazin, 5. Februar 1998. Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 101 der Tänzer und Choreograph David Toole. Die ZEIT zweifelt am dauerhaften Erfolg dieses Programms: “Doch wenn London weiterhin der Nabel der Fashionwelt sein will, reicht es nicht, sich zweimal im Jahr von McQueen, der für seine Show am Sonntag beinamputierte Models engagiert hatte, und einer Handvoll halbetablierter Zöglinge schocken zu lassen.” 4 Joel Peter Witkin: Vom Dokument zur theatralen Performance Die amerikanische Wissenschaftlerin Ann Millet beschreibt Joel-Peter Witkins Arbeiten als corporeal tableau-vivants that showcase body difference, taboo, and abnormality. […] [He] dissects and sutures together multiple visual genres, such as art history, popular culture, pornography, theatre, medical exhibits and photography, and freak show displays. He targets the visual conventions with which these genres display the body and, specifically, how they produce the disabled or ‘abnormal’ body as spectacle (Millet 2008: 1). Freilich wurde die Verflechtung verschiedener visueller Dispositive von der Kunstgeschichte bis zur Freakshow häufig mit dem Vorwurf belegt, Witkin betreibe nichts anderes als eine provokative Zur-Schau-Stellung anormaler Körper nach dem Vorbild der medizinischen Fotografien des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich ist der amerikanische Fotograf stark beeinflusst von der fotografischen Sammlung des Ophtalmologen Stanley B. Burns (Burns 1979a, b, c, d, 1980, 1983, 1986). Die Überkreuzung fotografischer und medizinischer Themen im Hinblick auf Objektivität des Bildes und Objektivierung der Modelle ruft ebenso großes Interesse bei ihm hervor wie die ästhetische Konstruktion der Bilder von Krankheit und Tod, von Dissektionen, allgemeiner chirurgische Praxis und anatomischen Anomalien, dem, was man noch im Mittelalter als lusus naturae, in der Renaissance als menschliche Kuriositäten und noch heute als Freaks bezeichnet: So wird beanstandet, die Behinderung der zu Schauobjekten degradierten Menschen als gesellschaftliches Spektakel, als bizarre Unterhaltungsshow zu inszenieren, die der Schaulust sanktionsfreien Lauf lasse. Nun ist kaum von der Hand zu weisen, dass die flagrante Andersheit der auf vielfältige Weise ins Bild gesetzten Körper den Blick anzieht und ja, Witkin produziert den anderen Körper als Spektakel. Gleichwohl eröffnet die an der von einer monströsen Vielfalt begeisterten Renaissance geschulte Inszenierung mit ihren zahlreichen Zitaten der verschiedensten Vorbilder einen Raum für Reflexion. Abb. 13: Speziell bei der Fotografie David O’Tooles finden sich Verweise auf die Posen Johnny Ecks, jenes Mannes ohne Unterleib, der auch im berühmten Film Freaks von Tod Browning spielte. (http: / / drnorth. wordpress.com/ 2009/ 08/ 12/ johnny-eck-in-tarzan-escapes/ [8.2.10]) Beate Ochsner 102 Abb. 14: Joel-Peter Witkin, Humor and Fear, New Mexico, 1999 (http: / / www.edelmangallery.com/ archive7.htm [17.11.08]) Im Gegensatz zur gängigen Praxis in der medizinischen Fotografie feiert Witkin die Abweichung von der Norm, anstelle eines neutralen Hintergrundes kombiniert er eine Vielzahl von Inszenierungsstrategien, die aufgrund der persönlichen Spuren (des Fotografen, nicht des Objekts) keine Abstraktion oder Vergleichbarkeit zulassen. Diese Manipulationen machen die Unterschiede und gleichzeitig Konventionen medizinischer Bildproduktion augenscheinlich: Witkin unterläuft die Konstruktion von Autorität in der medizinischen Bildproduktion, macht ihre niemals unschuldige Inszeniertheit und die ihr inhärenten Widersprüche in seinem strategische Konzept einer symbolischen Spektakularisierung der sog. anormalen Körper sichtbar. In ironischer Zitation verschiedener Dispositive aus Medizin, Freakshow, Theater, Jahrmarkt oder Kunst stellt er das Andere nicht einfach aus, sondern lässt - wie die folgenden Bilder zeigen mögen - die Andersheit in ihrer “biological realness” (Russo 2000: 93) performieren. Diese Akzentverschiebung von passivem Objekt zu aktivem Subjekt sowie die in der unabgeschlossenen Signifikation negierte Finalität der Bedeutung erscheinen wesentlich in den Arbeiten Witkins. Joel-Peter Witkins Arbeit Humor and Fear (Abb. 14) aus dem Jahr 1999 verweist bereits im Titel auf eine ambivalente Konzeption, der eine ebenso zwiespältige Rezeption antwortet. Trotz der Fülle visueller Details, verschiedener Requisiten sowie der erotisch-provozierenden Körperhaltung wird der Blick des Betrachters von den Beeinträchtigungen des Modells angezogen: Die Beinstümpfe und die deformierten Hände werden objektiviert oder, so kritisiert Rosemarie Garland-Thomson, nach dem Modell der medizinischen Fotografie fetischisiert. Dabei gehe die vielfältige Persönlichkeit der Abgebildeten verloren, und die Behinderung werde zum gesellschaftlichen Ereignis. Das Buch, in dem das Bild publiziert wurde, gehorche - so Garland-Thomson weiter - auch in dem Aspekt seinem medizinischen Vorbild, als den verschiedenen Aufnahmen Berichte und Diagnosen hinzugefügt werden. Die Kombination von Text und Bild entspricht nun nicht nur der medizinischen Praxis, auch die Freakshowbetreiber gaben ihren Exponaten sog. (freilich zumeist erfundene) True-Life- Booklets an die Hand, die die Neugierde des Betrachters bezüglich der Herkunft, der medizinischen Diagnose etc. befriedigen sollen. Bei Witkin erfährt man auf diese Weise, dass die junge Frau ihre Beine aufgrund eines toxischen Schocksyndroms, verursacht durch einen Tampon, verlor (Parry 2001: 115). Das wissenschaftliche Rendering in fotografischer Detailtreue macht aus der jungen Frau (respektive ihrem Bild) ein medizinisches Fallbeispiel, das einem diagnostischen Blick ausgesetzt wird - so die Aussage der medizinischen Inszenierungsstrategie. Und doch, trotz oder vielleicht aufgrund der direkten Zitate und Verweisungen, verweigern Witkins Bilder die Zustimmung zur oben beschriebenen Inszenierung: So schaut die junge Frau zur Seite, sie erwidert den Blick des Betrachters nicht, was den medizinisch- Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 103 Abb. 15: Joel-Peter Witkin, Man without legs, Leo (1976) (http: / / oseculoprodigioso.blogspot.com/ 2007_05_01_ archive.html [17.11.08]) fotografischen Konventionen widerspricht, im Rahmen derer der Patient entweder direkt in die Kamera blickt oder aber durch eine Binde vor den Augen anonymisiert wird: Doch während die Verhüllung des Gesichtes in den medizinischen Fotografien weniger den Dargestellten, denn dem Betrachter nutzt, der dem Blick des Exponates nicht standhalten muss, mag der nur leicht zur Seite gewendete Blick der Amputierten entweder auf die Scham des Models oder aber das voyeuristische Dispositiv der Komposition, mithin auf die Strategien ihrer eigenen visuellen Inszenierung zu deuten. Das folgende Bild mit dem Titel Man without legs, Leo (1976) stammt aus der Serie Evidences of Anonymous Atrocities (Abb. 15): Es zeigt einen in einer Art Käfig sitzenden Mann ohne Beine, dessen unscharf abgebildeter Kopf an eine schwarzen Ledermaske erinnert, während die Haltegurte Bondage-Gurten ähneln. Diese Inszenierung als wildes Tier hat ihre Wurzeln in der Freakshow und reicht von den Beispielen des missing link über die Wilden aus Borneo, die Aztekenkinder oder Sara Baartmann, die schöne wilde Hottentott Venus. Durch den Schatten bzw. aufgrund verschiedener Manipulationen (Bleichen, Sepiafärbung, Scratchen etc.) durch Witkin selbst erscheint Leos Haut dunkler, als sie ist, was rassistische Assoziationen unterstützt. Und tatsächlich kann man nun mit Ann Millet fragen, ob diese durchaus problematische Ästhetisierung von ‘disability’ als marginalisierte Identität die Inszenierung des ‘disabled body’ nicht doch (erneut) als ‘the freakish other’ reinstauriert? Vielleicht, in dem 1994 von Jérôme de Missolz gedrehten Film L’image indélébile über die Arbeit Joel-Peter Witkins aber zeigt Leo sich für die Bezahlung dankbar, die ihm zwei Wochen U-Bahn-Betteln ersparen konnte. Ein weiteres Beispiel mit dem Titel Abundance (1997) zeigt eine Torso-Frau aus Prag, die - so die Information im Buch - von ihrer Mutter verlassen wurde und zusammen mit einem großen Hund in einem Appartement lebt (Abb. 16). Die Konzeption des Bildes mit den Requisiten der Atelierfotografie deplatziert die Amputierte aus ihrem alltäglichen Sozialleben, im Rahmen dessen sie als behindert, als deformiert gilt und lässt sie auf einer Bühne performieren. Wenn diese Performanz auch durch die Immobilisierung auf einer Art Klavierstuhl eingeschränkt erscheint, so übertrifft die multireferentielle Darstellung (ornamentaler Charakter des Körpers, Allegorie des Überflusses und der Fruchtbarkeit, Erotisierung) die physische Unbeweglichkeit: “Fused with the urn, she is posed as a spectacular, hybridized body showcased in a hybridized photograph - one that fuses and confuses the bodily displays of science and art” (Millett 2008: 27).