eJournals Kodikas/Code 32/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2009
321-2

Rap-Rhetorik

61
2009
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Der Beitrag sucht einen kleinen Baustein zur "Rhetorik des Rap" beizusteuern, er wirft einen Blick auf die HipHop-Szenen im deutschsprachigen Teil der Schweiz und unterzieht die Sprache in ihren 'Liedern' (rap lyrics) einer überwiegend linguistisch instrumentierten kritischen Analyse. Auf dem Boden kulturwissenschaftlicher Theoriebildung skizziert er die gruppensoziologischen Bedingungen und die szenespezifischen Ausprägungen einer umstrittenen Poesie als Ausdruck juvenilen Identitätsanspruchs und Gruppenbewußtseins. Dabei konzentriert er sich auf die Essenzen des Rap-Diskurses, die Themen der Songs, die darin vorherrschenden Sprechakttypen, die semiokulturellen Referenzen und die sich in spezifischen Sprachmustern niederschlagende Rap-Rhetorik.
kod321-20109
Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 105 Abb. 18: Marc Quinn: Alison Lapper: (http: / / www.guardian.co.uk/ artanddesign/ 2004/ mar/ 17/ art.fashion [17.11.08]) Abb. 19: Marc Quinn: Peter Hull (http: / / www.vivoinunpaeseincivile. org/ wp-content/ gallery/ dafault/ thumb s/ thumb s _7-marc-quinnpeter-hull-1999.jpg [17.11.08]) 5 Marc Quinn: Antike Skulpturen Abschließend noch eine ähnliche, allerdings nicht fotografische, sondern skulpturale Visualisierung des anderen Körpers, wie sie sich in der Serie The Complete Marbles (1999-2001) des englischen Künstlers Marc Quinn findet. In weißen, glatten und klassisch schönen Marmorskulpturen der Malerin Alison Lapper (Abb. 18), des Punkrockers Mat Fraser oder des Schwimmers Peter Hull (Abb. 19) subvertiert Quinn die neoklassizistische Perfektion des Ideals eines vollständigen, unversehrten und klassisch schönen Körpers. Während dort das Ideal reproduziert wird, zeigen sich hier - und dies unterscheidet Quinn z.B. von Witkin - Bilder spezifischer Individuen, die nicht unter einem wie auch immer gearteten Ideal subsumierbar sind. Diese Körper überschreiten die Regeln der visuellen Kultur, indem sie unterschiedliche Strategien hybridisieren, wie Quinn dies mit seiner marmornen Inszenierung des Schönheitsideals antiker Skulpturen mit ‘anderen’ Körpern vorführt. Der Überfluss an Bedeutung schafft eine Gegenästhetik, die jenseits der Grenzen von normal/ anormal anzusiedeln ist. 6 Conclusio: Zur Unberechenbarkeit des Monströsen Die Exponierung des anderen Körpers in einer Komposition verschiedenster visueller Kulturen und Gattungen ruft die Frage nach Normierung bzw. Anormalisierung oder kurz: nach dem Normalitätsdispositiv auf den Plan, vor dessen Hintergrund diese Bilder ihre eigenartige Ambivalenz entfalten. Lennard J. Davis wie auch Georges Canguilhem, die sich beide aus Beate Ochsner 106 historischer Perspektive mit dem Phänomen der Normalität auseinandergesetzt haben, begreifen Normalität als kulturelles, soziales Konstrukt, das Homogenität bevorzugt und physische Abweichung stigmatisiert. Der ‘Vorteil’ dieser einheitlichen und Einheit stiftenden Konstellationen liegt dabei - so unsere Vermutung - in ihrer mathematisch-statistischen Berechenbarkeit und Verdatung (vgl. Link 1996) sowie der daraus resultierenden Reproduktionsmöglichkeit. In ihrer Konkretheit und Unkalkulierbarkeit lassen sich die hier aufgezeigten Bilder körperlicher Andersheit jedoch kaum in mathematische Raster einordnen. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fungiert die Fotografie als privilegiertes Medium der Differenzierung zwischen Normalität und Anormalität. Als wissenschaftliches Instrument, das für Akkuratheit und Präzision steht, bietet sie den stillgestellten Körper dem medizinischen und dem öffentlichem Blick an, der sich mit Hilfe der Bilder der/ des Anderen ihrer eigenen (körperlichen und moralischen) Normalität versichern. In diesem Sinne setzen die homogenen Konstellationen den devianten Einzelfall dem berechenbaren, disziplinierten Kollektiv gegenüber. Normalität wird zur entkörperlichten Abstraktion, die im krassen Gegensatz zum im höchsten Maße konkreten, körperlichen, sich der sinnlichen Wahrnehmung in spektakulärer Weise darbietenden anormalen Körper gedacht wird. Literatur Baer, Ulrich 1994: “Photography and Hysteria: Toward a Poetics of the Flash”, in: Yale Journal of Criticism 1 (1994): 41-77 Burns, Stanley B. 1979a: “Early Medical Photography, II”, in: New York State Journal of Medicine 6 (1979): 943-947 Burns, Stanley B. 1979b: “Early Medical Photogaphy in America (1839-1883)”, in: New York State Journal of Medicine 5 (1979): 788-795 Burns, Stanley B. 1979c: “Early Medical Photography, III”, in: New York State Journal of Medicine 8 (1979): 1256-1268 Burns, Stanley B. 1979d: “Early Medical Photography, IV”, in: New York State Journal of Medicine 12 (1979): 1931-1938 Burns, Stanley B. 1980: “Early Medical Photography, V”, in: New York State Journal of Medicine 2 (1980): 270-282 Burns, Stanley B. 1983: Early medical photography in America, New York: The Burns Archive Burns, Stanley B. 1996: “The Nude in Medical Photography”, in: Journal of Biological Photography 1 (1996): 15-26 Canguilhem, Georges 1974: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser Dahlke, Karin 1998: “Spiegeltheater, organisch. Ein Echo auf Charcots Erfindung der Hysterie”, in: Schuller, M., C. Reiche & G. Schmidt (Hrsg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg: LIT, 213-242 Davis, Lennard J. 1995: Enforcing Normaley: Disability, Deafness and the Body, London: Verso Didi-Huberman, Georges 1982: L’invention de l’hystérie, Paris: Macula Gernsheim, Alison: “Medical Photography in the Nineteenth Century”, in: Medical and Biological Illustration III (1961): 85-92 / 147-156 Link, Jürgen 1996: Versuch über den Normalismus, Opladen: Westdt. Verlag Millett, Ann 2008: “Performing Amputation: The Photographs of Joel-Peter Witkin”, in: Text and Performance Quarterly 28 (1/ 2): 8-42 Ochsner, Beate 2009: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, München: Synchron Oldenburg, Volker 1996: Der Mensch und das Monströse, Essen: Die blaue Eule Parry, Eugenia 2001: Joel-Peter Witkin, London/ New York: Phaidon Russo, Mary 2000: “Freaks”, in: Gelder, K. (ed.): The Horror Reader, London/ New York: Routledge, 90-96 Sabatier, Jean-Marie 1973: Les classiques du cinéma fantastique, Paris: Balland Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 107 Schaeffer, Jean-Marie 1987: L’image précaire. Du dispositif photographique, Paris: Seuil Williams, David 1996: Deformed Discourse: The function of the Monster in Mediaeval Thought and Literature, Montreal: McGill-Queen’s University Press Anmerkungen 1 Vgl. Alison Lapper-Feature auf YouTube, im Internet unter: http: / / www.youtube.com/ watch? v=6nulqXwC0nU [02.01.09] 2 Die Fotografie befindet sich in einem Artikel mit dem Titel Staring at ‘The Disabled’ and seeing nothing, in: Paradigm oz vom 29.7.2007, im Internet unter: http: / / paradigmoz.wordpress.com/ 2007/ 07/ 29/ staring-at-the-disabled-and-seeing-nothing-art-that-confrontsoffends-and-entertains/ [14.03.09]. 3 “Les monstres […] ne sont monstres que parce qu’on les exhibe.” (Sabatier 1973). 4 Der Wissenschaftler Carl Bock erkundete den in Laos beheimateten Krao-Stamm, was soviel wie ‘Affenmenschen’ in der Landessprache bedeute und die Bezeichnung missing link rechtfertigen solle. 5 Baer nimmt - ähnlich wie Didi-Huberman in L’Invention de l’Hystérie - die Iconographie photographique zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Arbeiten besonders in ihrem Fotografieverständnis: Baer tendiert dazu, eine allegorische Leseart der Fotografie in der Iconographie zu favorisieren, während Didi-Huberman sich auf die Verdienste der fotografischen Illustration bei der ‘Erfindung der Hysterie’ konzentriert. Dabei geht er von drei ineinandergeschobenen, gleichberechtigten Diskursen aus; der Diskurs der Fotografie, derjenige der Medizin (bzw. der Hysterie) sowie derjenige der Kunst. Es stellt sich natürlich die Frage, ob es zu dieser Zeit, d.h. in unserem Fall vor allem zur Zeit der Iconographie photographique de la Salpêtrière, sprich in den Jahren 1876-80 (und nicht im Rahmen der Nouvelle Iconographie photographique, d.h. ab 1888! ) bereits einen wie hier angedeuteten autoreflexiven Diskurs der Fotografie gibt oder aber wir, die heutigen Leser, dies vielmehr automatisch hineinbzw. herauslesen, was im übrigen durchaus nicht illegitim erscheint. 6 “[…] just as psychoanalysis understands hysterical catalepsy to refer to an event outside memory, the photograph refers to a moment that never entered consciousness.” (Baer 1994: 63). 7 “They are symbolic bodies made graphically ‘real’ and material by photography, here emphasized as a hybrid of artistic fiction and science that takes such themes to an excessive level.” (Millett 2008: 26). Rap-Rhetorik Eine semiolinguistische Analyse schweizerischer rap-lyrics Ernest W.B. Hess-Lüttich Der Beitrag sucht einen kleinen Baustein zur “Rhetorik des Rap” beizusteuern, er wirft einen Blick auf die HipHop-Szenen im deutschsprachigen Teil der Schweiz und unterzieht die Sprache in ihren ‘Liedern’ (rap lyrics) einer überwiegend linguistisch instrumentierten kritischen Analyse. Auf dem Boden kulturwissenschaftlicher Theoriebildung skizziert er die gruppensoziologischen Bedingungen und die szenespezifischen Ausprägungen einer umstrittenen Poesie als Ausdruck juvenilen Identitätsanspruchs und Gruppenbewußtseins. Dabei konzentriert er sich auf die Essenzen des Rap-Diskurses, die Themen der Songs, die darin vorherrschenden Sprechakttypen, die semiokulturellen Referenzen und die sich in spezifischen Sprachmustern niederschlagende Rap-Rhetorik. The paper aims at providing a contribution to a future rhetoric of rap. It looks at the various scenes of the HipHop culture in the German speaking part of Switzerland. It then investigates the language of rap lyrics, mainly by linguistic and stylistic description. Based on a cultural theory approach, it sketches group sociological conditions and the group specific forms of a controversial type of poetry, seen as an expression of juvenile group identity. It focuses on the essence of rap discourse, the main topics of the songs, the main speech act types, the semiocultural references, and the specific linguistic patterns of the rhetoric of rap. 1 Gegenstand und Ausgangsfragen Seit es die sog. HipHop-Kultur auch den Kulturteil der seriösen Gazetten (Die Zeit, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung usw.) geschafft hat und das sonst eher betuliche Fernsehformat des ZDF ‘Das kleine Fernsehspiel’ ihr (im Oktober 2008) gar eine eigene Serie widmete, seit sich ihre deutsche Ikone Bushido eine Art Biographie hat schreiben lassen, die sich zäh in den Spiegel-Bestsellerlisten hält, und seit etwa die kalkulierte Homophobie ihrer Songtexte periodisch die Mediendebatte befeuert, ist sie längst auch im deutschsprachigen Raum legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen in diversen sozial-, medien-, sprach-, kultur- und textwissenschaftlichen Disziplinen geworden (cf. exemplarisch: Dufresne 1997; Klein & Friedrich 2003; Androutsopoulos ed. 2003; Kimminich ed. 2004). Andernorts ist sie das nun schon länger. Denn das Phänomen ist ja so neu nicht. HipHop gilt als (oft mythisierende) Bezeichnung für eine Mitte der 1970er Jahre in dem New Yorker Stadtteil Bronx entstandene Form der Straßenkunst, die ursprünglich vor allem, grob gesagt, in einer Kombination von illegalen Graffiti (name tags), rhythmisiertem Geräusche-Mix (sampling), K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 110 melodiefreiem Sprechgesang (rap) und akrobatischem Tanz (breakdance) gelenkiger afroamerikanischer Jugendlicher bestand. Mittlerweile wird HipHop nicht nur auf alle möglichen anderen Lebensbereiche (Mode, Sport etc.) und Ausdrucksformen (Film, Video etc.) übertragen und zu einem semiotisch komplexen Stil jugendlicher Subkultur ausdifferenziert, sondern hat sich (spätestens seit Mitte der 1990er Jahre) als ‘Jugend-Bewegung’ in Windeseile weltweit verbreitet bis in die letzten Alpentäler und arabischen Geheimpartykeller. “Inzwischen ist HipHop zum globalen Soundtrack des 21. Jahrhunderts aufgestiegen”, schreibt Jonathan Fischer im Spiegel (41/ 2008: 197) und erzählt von seinen Unterdisziplinen, von den filmischen Dokumenten seiner Anfänge und von den vergessenen oder reich gewordenen Protagonisten. Weit weniger Aufmerksamkeit haben die regionalen oder gar lokalen Ausprägungen und subkulturellen Ausdifferenzierungen jenseits des US-amerikanisch dominierten HipHop- Mainstreams gefunden, auf den sich auch die Autoren der (meist soziologisch-pädagogisch oder anglistisch-kulturwissenschaftlich interessierten) Sekundärliteratur bislang überwiegend beziehen, ohne in der Regel über einen eigenen direkten Zugang ‘zum Milieu’ zu verfügen. Für die Gewinnung empirisch seriöser Befunde indes ist ein solcher Zugang hilfreich, sofern man sich nicht damit begnügen will, was ohnehin bereits den Weg in die Feuilletons und Fanzines gefunden hat. Erst ihr persönlicher Kontakt zur ‘Szene’ in der Schweiz hat es Susanne Hess ermöglicht, mir jenes Material für meine Beobachtungen zusammenzutragen, auf das sich meine Neugier richtete, als ich mich Dekaden nach meinen frühen Studien zur (deutschen) Jugendsprache in den 1980er Jahren (cf. Hess-Lüttich 1983 a, b) aus dem hier gegebenen Anlaß (s. Vorwort zu diesem Band) wieder einmal den heute aktuellen Besonderheiten kommunikativen Gebarens und ästhetischen Selbstausdrucks jugendlicher Subkulturen zuwenden und nach möglicherweise signifikanten Veränderungen fragen wollte. 1 Dazu bietet nämlich, soweit ich sehe, die im engeren Sinne semiotisch-linguistische Literatur, zumindest bezogen auf die deutschsprachige Schweiz, nur rare Hinweise. Die dort geltende hochspezifische Sprachkonstellation (Multilingualität, ‘mediale Diglossie’, Migrantenanteil, Symbol-, Prestige- und Distanzfunktion der Dialekte etc.) läßt möglicherweise auch eine spezielle regionale oder gar lokale Ausprägung des anglisiert-globalisierten HipHop- Jargons erwarten. Diese Hypothese möchte ich im folgenden anhand einer semio-linguistischen Untersuchung einiger ausgewählter Song-Texte (rap lyrics) einer vorläufigen Prüfung unterziehen. Dabei verzichte ich hier aus Raumgründen auf die Einbettung dieser Pilotstudie in die aktuelle Jugendsprachforschung und den an anderen Stellen geleisteten Aufriß ihrer Erträge (cf. z.B. Dürscheid & Spitzmüller eds. 2006 a, b; Neuland ed. 2003 a, b; id. 2008). Stattdessen konzentriere ich mich nach einem kurzen Seitenblick auf ausgewählte Beiträge zur europäischen Rap-Forschung und zu den subkulturellen Bedingungen der spezifischen Szene- Kommunikation auf das Material selbst, das heißt auf die Frage, ob sich im hier zugrunde gelegten Corpus ausgewählter Rap-Songs aus der deutschschweizerischen HipHop-Szene typische oder gar regionalspezifische thematische, pragmatische und kulturelle Muster herausgebildet haben. 2 Methodische Vorüberlegungen Damit sucht die Studie zugleich methodisch zu vermitteln zwischen zwei konkurrierenden Zweigen der Jugendsprachforschung: dem einerseits eher soziolinguistisch orientierten Rap-Rhetorik 111 Zweig, der ihren Gegenstand als sprachliche Varietät bestimmt, die durch bestimmte Kriterien der Lexik und der Wortbildung (z.B. Anglizismen), der Phraseologie (z.B. Zitate aus der Werbesprache), der sozio-thematischen Domänen (z.B. Musik, Mode) und bestimmte quantitative Distributionen zu charakterisieren sei (cf. Androutsopoulos 1998: 36 ff.), und dem andererseits eher ethnographisch motivierten Zweig, der ihren Gegenstand als generationellen Soziolekt auffaßt, der durch soziale Kategorien des Alters (Adoleszenz) und des Geschlechts (Gender) rollentypologisch geprägt sei. Während der eine Ansatz auf das bewährte Methodenbesteck des strukturlinguistischen Instrumentenkastens vertraut, verläßt sich der andere lieber auf das durch teilnehmende Beobachtung von Gesprächen und eventuell dazu flankierend durch Fragebögen erhobene empirische Material. Geht es dem einen primär um die für Jugendsprache als alterspezifische Varietät konstitutiven Sprachstrukturen, interessiert den andern das Kommunikationsverhalten Jugendlicher in ihren je konkreten Cliquen, Szenen, Netzwerken, in denen sich ihre Identität über geteilte Symbolsysteme ausbildet und die ihnen die Orientierung in einer als überkomplex empfundenen Wirklichkeit erleichtert (cf. Schlobinski & Schmid 1996: 213). Beide Herangehensweisen schließen einander nach meinem Dafürhalten nicht nur nicht aus, sondern können sich fruchtbar ergänzen in einer integrativen Jugendsprachforschung, “die nicht nur mehr oder minder isolierte sprachliche Oberflächenphänomene oder Exotismen registriert, die vielmehr die Funktionsweisen sprachlicher Äußerungen in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen der Jugendlichen erforschen will” (Neuland 1987: 70). Dies gilt umso mehr für eine so komplexe Sprachsituation wie die in der deutschsprachigen Schweiz, der sich ‘die’ Jugendsprachforschung erst in jüngster Zeit zugewandt hat und die sich dabei einen gewissen Methodenpluralismus zunutze zu machen versteht, der es erleichtert, der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit, der medialen Diglossie (Dialekt vs. ‘Schriftdeutsch’ als medial, nicht sozial, definierte modes of discourse), der Soziosemiotik der Varietäten und den szenetypischen Kommunikationskulturen Rechnung zu tragen (cf. Werlen 2006). Interessant wäre dabei etwa zu beobachten, ob und (wenn ja) inwieweit die Verbindung eines so inter- und transnational geprägten Jargons wie der in den HipHop-Szenen mit dem in den jugendlichen Musik-Gruppen essentiellen (und funktional ausgrenzenden) Dialektgebrauch harmoniert oder kollidiert. Denn einerseits ist die Kommunikation in der Subkultur weitgehend durch den Zitat- und Versatzstückcharakter übernommener sprachlicher Schematismen geprägt, was durch das kultursoziologische Konzept der Bricolage eher beschönigend beschrieben wird, andererseits steht dem das problematische Verhältnis der Sprecher zur Standardsprache entgegen, der die Versatzstücke überwiegend entstammen. Wenn also die (bislang noch entgegen anderslautenden Regierungserlassen durch das Schulsystem in der Praxis beförderte) negative Haltung der deutschschweizerischen Jugendlichen zur deutschen Standardsprache, die laut repräsentativen Erhebungen mit der negativen Einstellung zu ‘den Deutschen’ korreliert (Scharloth 2006: 85), die einfache Übernahme standardsprachlicher Elemente inhibiert, wäre auf die Art ihrer Transformation und die daraus entstehenden eigenen Stilmuster zu achten. Was Neuland selbst beim Vergleich zwischen Jugendlichen aus dem Westen und dem Osten Deutschlands beobachtet hat, nämlich daß sich neben der Generation auch die Regionalität als “besonders bedeutsam für die Ausbildung von Jugendkulturen und Jugendsprachstilen” erweist (Neuland 1998: 88), dürfte hier vermutlich in verschärfter Form gelten. Während also Jugendliche in Deutschland gerne Dialektausdrücke als Verfremdungs- oder Distanzierungsinstrument nutzen, wäre das in Schweizer Jugendszenen mangels Markierungs- Ernest W.B. Hess-Lüttich 112 charakter dysfunktional. Typischerweise kommen dort genau umgekehrt eher Elemente der Standardsprache zum Zwecke der Ironisierung, Distanzierung, Aktualisierung (im Sinne der Prager Schule) zum Einsatz (cf. Dürscheid & Spitzmüller 2006: 34). Andererseits wird die bislang relativ strikte mediale Diglossie von Jugendlichen in Textarten ‘informeller Schriftlichkeit’ (wie e-mails, SMS-Botschaften, Zettelnachrichten, Beiträgen zu Chat-Foren und Einträgen in sozialen Netzwerken wie Facebook etc.) aufgelöst zu einer vom jeweiligen Dialekt wesentlich geprägten Mischform, in der orthographische und grammatische Regeln an Geltung einbüßen. Der damit einhergehende Kompetenzverlust auch in formellen Textarten (z.B. studentischen Referaten, Bewerbungen) läßt sich täglich beobachten und hat (auch im Lichte der den Befund bestätigenden P ISA -Studien) die Erziehungsdirektoren der Kantone jüngst zu entsprechenden Konsequenzen mit Erlassen zur besseren Pflege der Standardsprache veranlaßt, die freilich (nach den Beobachtungen von Maturitätsexperten) von den Lehrern bislang noch weitgehend ignoriert oder unterlaufen werden. Die ebenso verbreitete Beobachtung der progredienten Anglisierung des Deutschen unter Jugendlichen, die zur Gründung von allerlei Sprachpflege-Vereinen zur Erhaltung der Reinheit der deutschen Sprache geführt hat (die es bekanntlich nie gab), müßte im Hinblick auf neue empirische Befunde differenziert werden. Frühe Überlegungen zur “Grammatik des Anglodeutschen” (Hess-Lüttich 1984: 320 ff.) werden von Androutsopoulos (1998) wieder aufgenommen und ergeben auf empirischer Grundlage für die gegenwärtige Situation ein genaueres Bild über den Gebrauch von Anglizismen “als Kennzeichen von spezifischen Lebenswelten und Interessen einerseits, als Mittel einer gruppensprachlichen Abgrenzung andererseits” (ibid. 578). In der Schweiz wurden allenfalls 10 % der Einträge in einschlägigen Wörterbüchern als Anglizismen eingestuft, die zudem hochgradig stereotypisiert seien und (wie z.B. ‘kuhl’ < cool, ‘tschegge’ < checken, ‘Turi’ < tourist) kaum als spezifisch jugendsprachlich gelten könnten (Dürscheid & Spitzmüller 2006: 21). Allerdings weisen sie im Bereich der Genuszuweisung und sonstigen morphologischen Integration einige Besonderheiten auf, die freilich noch systematischer Untersuchung harren (cf. Schmidlin 2003; Watts 2003). 3 Die Subkultur des HipHop und ihre Ausdrucksformen In der Kultursoziologie wurde die Subkultur des HipHop vor allem durch Kennzeichen wie Performativität, Theatralität, Maskulinität, Medialität, ‘Glokalität’, Hybridität etc. zu bestimmen gesucht. Ihre (mediale, transnationale, z.T. auch kommerzielle) Erfolgsgeschichte seit den 1970er Jahren braucht angesichts der dazu reichlich vorliegenden Studien hier nicht nachgezeichnet zu werden. Bislang wird darin HipHop oft eher affirmativ beschrieben z.B. als “ästhetische Praxis, die sich der Kulturtechniken des Textens, Malens, Tanzens und Musikmachens bedient und diese zu einem komplexen Sprachgeflecht formt” (Klein & Friedrich 2003: 101). Damit sind zugleich die vier wesentlichen Ausdrucksformen des HipHop benannt (cf. u.a. Jacke et al. eds. 2006; Kimminich et al. eds. 2007): Musik, Sprache, Bild, Tanz, deren subkulturtypische Ausprägungen meist unter so wohlfeilen Etiketten wie DJing (Disc-Jockey und sein sampling und scratching), MCing (master of ceremony und sein schnelles rhythmisches Sprechen gereimter Sprachschnipsel), Graffiti (illegales Besprayen öffentlicher Flächen durch tags [Namenskürzel] oder pieces [Bilder, meist Kopien] und breakdance (spezieller Tanzstil, dessen locking und popping und power moves besondere Rap-Rhetorik 113 Übung verlangen). Das Verfahren des musikalischen sampling (bzw. bricolage) wird dabei umstandslos auf den Sprachgebrauch übertragen, der sich besonders im Sprechgesang des Rap manifestiere, der von manchen als “schöne Kunst” (Verlan ed. 2003), ja als “progressive Universalpoesie” schlechthin (Peters 2002) empfunden wird. Seine Ursprünge gehen offenbar auf westafrikanische Rituale rhythmisierter Sprechgesänge (griots) in den dort verbreiteten Tonsprachen zurück und haben im Laufe ihrer Aneignung und Anverwandlung durch afroamerikanische (und hispanische) Ghetto-Jugendliche in den US-Metropolen manche Ausdifferenzierung erfahren in Subgenres wie Battle- Rap, Freestyle, Party-Rap, Story-Telling, Message-Rap, Gangsta-Rap mit ihren je eigenen Motiven (Wettkampf, Spiel, Unterhaltung, Politik, Provokation) und Stilmitteln (dozens, boasting, dissing) (cf. Karrer & Kerkhoff 1996; Peters 2002). Bei ihrer Übernahme ins Deutsche entwickeln solche Subgenres und ihre Stilmittel freilich manche Besonderheiten, weil die je lokale Verankerung als Schlüssel zur globalen Verbreitung des Rap gilt (Stichwort ‘Glokalität’). Dies ist in Deutschland inzwischen Gegenstand einer Reihe von Publikationen (s.u. Literaturverzeichnis), für die Schweiz liegen dazu m.W. noch kaum Untersuchungen vor. Die ersten Jams der helvetischen HipHop Mitte der 1980er Jahre zitierten noch ausschließlich amerikanische Raps (cf. Nicolay & Waibel 2006). Nach einem ersten Höhepunkt im CH-Fresh-Festival 1990 begann deren ‘Eingemeindung’ ins Deutsche, d.h. in die lokalen Dialekte der einheimischen HipHoppers, die sich bald auch Namen in ihrem jeweiligen Idiom zulegten (Sektion Kuchikäschtli, Tinguely dä Chnächt, Chlyklass etc.). Heute verstehen sich manche Gruppen auch als Teil einer politischen Gegenkultur, in der mit eher schlicht gestrickten Versen gegen die rechtskonservative Partei SVP agitiert wird: 1, 2 hol dr an politiker 1, 2 hol’ Dir einen Politiker 3, 4 gibam as paar tritt und denn 3, 4 gib ihm ein paar Tritte und dann 5, 6 lohn an as bitzli liida 5, 6 lass ihn ein bißchen leiden und wenn er di no wiiter nervt Und wenn er Dich noch weiter nervt, bring na zum schwiiga Bring ihn zum Schweigen (Gimma: Hol dr an politiker feat, LIV 2006) [Quelle u. dt. Übers.: Susanne Hess] Die so Angesprochenen sind in ihrer Gegenwehr freilich auch nicht eben zimperlich und plakatieren ihre xenophoben Kampagnen gern mit im HipHop-Stil gekleideten Models und dem Slogan “Gewalt durch ausländische Jugendliche”. Die Sprache dient in den HipHop- Gruppen (wie in der Jugendsprache und in Gruppensprachen überhaupt) als intern gruppenstabilisierendes Bindemittel derer, die dazugehören (wollen), als Mitgliedschafts-Marke und Abgrenzungsmittel nach außen. Durch die Berührung des Codes (s.u. das Glossar) mit den lokalen Dialekten, den andern Landessprachen und den Migrantensprachen gewinnt der Schweizer Rap ein zusätzliches Register-Reservoir. Dabei geht es nicht nur um die Aufnahme des authentischen Alltagsjargons in den Rap, sondern um die unbekümmerte Aktualisierung der diversen Register in unerwarteter, zuweilen irritierender, manchmal grob verletzender, aber stets möglichst unterhaltsamer Mixtur (cf. Androutsopoulos 2003: 120). In der Frage des dafür am besten geeigneten Dialektes scheint es regional unterschiedliche Vorlieben zu geben, die von den Rappern selbst genau registriert werden. So zitieren Anz & Kramer 2001: 5) im Tagesanzeiger (v. 28.02.2001) z.B. (u.a.) die Rapperin BigZis mit ihrer (für den Druck behutsam bearbeiteten) Bewertung: “Ich finde Baseldeutsch flowmässig immer noch am grössten. Zürichdeutsch ist halt hart und rough. Berndeutsch dagegen ist ganz nett und lieb und langsam …”. Ernest W.B. Hess-Lüttich 114 4 Deutschschweizer rap lyrics Die folgenden Anmerkungen können als kleine Zulieferung zu der laufenden vergleichenden Untersuchung europäischer Rap-Texte gelten, die sich Androutsopoulos & Scholz (2006) mit ihrer verdienstvollen Zusammenstellung eines Corpus von je 50 in den 1990er Jahren aufgenommenen Songs aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien vorgenommen haben, auf der Suche nach spezifisch ‘europäischen’ Formen des Genre, zu denen auch die Schweiz ihren (wenn auch bislang weitgehend unbemerkten) Beitrag leistet. Wenn wir uns grob an dem dort vorgeschlagenen Projekt-Design orientieren, fragen wir insbesondere (i) nach dem soziokulturellen Rahmen, der sozialen Basis und medialen Infrastruktur helvetischer Raps, (ii) nach deren hauptsächlichen Themen oder kulturellen Referenzen sowie (iii) nach den genretypischen sprachlichen Mustern, den rhetorischen Verfahren, den Register-Varianten und (englischen) Zitatausdrücken in (deutschsprachigen) Ko-Texten. Wenn für die großen Länder ringsum je 50 Texte repräsentativ sein können, genügen für die kleine Schweiz vielleicht die Hälfte, dankenswerterweise landesweit gesammelt von Susanne Hess 2007 (dort auch als Volltext einsehbar/ abrufbar) aus den Nuller Jahren (2000-2007). 2 Zu dem ersten Fragenkomplex haben wir schon einiges gesagt. Hier nur ergänzend noch dies: im Unterschied zu den amerikanischen Ghetto-Ursprüngen ist HipHop in der Schweiz kein Phänomen der sozialen Unterschicht. Allerdings trifft auch für die Schweizer Szene zu, was Daniel Rellstab für das Genderplay in den HipHop-Foren des Internet beobachtet hat: “Die Gender-Politik gerade im Mainstream-Rap läuft exakt entlang traditioneller Geschlechtergrenzen und zementiert diese mit Hilfe überzeichnender Inszenierungen dessen, was eine Frau, was ein Mann denn sei” (Rellstab 2006: 204 f.). Das ist milde formuliert. Man kann es auch deutlicher sagen: die offen homophobe Botschaft vieler Rap-Texte hat mittlerweile Gegenbewegungen provoziert, die einige der prominenteren Rapper inzwischen aus kommerziellen Rücksichten etwas zurückhaltender werden lassen. Besonders die Gangsta-Rapper aber meinen immer noch die schwulenfeindlichen Reflexe ihrer Clientèle bedienen zu sollen. So ruft der Berliner Rapper G-Hot im Song “Keine Toleranz”, wie Johannes Möhring in der Augsburger Allgemeinen v. 10.04.08 berichtet, zu Gewalt gegen “Schwuchteln” auf und wehrt sich (in Anspielung auf Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit) dagegen, daß diese “Tucken” ihn regieren. Er sieht sich bald genötigt, sich auf Youtube von seinem Song zu distanzieren, nicht ohne hinzuzufügen, die Schwulen “könnten ihn mal”. Daß ‘schwul’ heute auf den Schulhöfen als das Schimpfwort schlechthin gebraucht (und von Wikipedia mit der Zweitbedeutung “blöd, scheiße, uncool” registriert) wird, hat seinen Ursprung im deutschsprachigen HipHop. Das aggressive Macho-Image gerade der erfolgreichen Rapper wird häufig durch ihren ‘Migrationshintergrund’ noch zusätzlich befeuert, den sie (in Deutschland zu 60 %) mit ihrem Publikum teilen. Mit dem ihnen aus eigenem familiären Erleben vertrauten Machismo können sich viele kids der Szene mühelos identifizieren, und er hilft ihnen, ihre eigene Angst, Unsicherheit, Perspektivlosigkeit vorübergehend zu verdrängen oder zu kompensieren. In der Schweiz kam nach den ersten deutschsprachigen Raps (angefangen mit “Murder by Dialect” 1992 von Black Tiger etc.), nicht überraschend, die Kommerzialisierung schnell voran. Die szene-internen Fanzines weichen schnell den Internet-Foren (www.aightgenossen.ch, www.hiphop.ch, www.hiphopstore.ch), die (nicht immer) besten Barden vermarkten ihre Songs auf MySpace und YouTube, im Radio widmen sich HipHop-Magazine wie bounze (Radio Virus), Xplicit Contents (Radio X Basel) oder Am Anfang stand das Wort (Radio Rabe Bern) dem Genre, im Fernsehen präsentiert die Moderatorin Jubaira Bachmann bei (dem Rap-Rhetorik 115 schweizerischen Zweig von) V IVA dazu ihre eigene (gleichnamige) Show, mit teuren Tickets dürfen die Fans an den zahlreichen ‘Events’ (wie Slang-Nacht in Zürich) teilnehmen. Dort lauschen sie den Songs mit den immergleichen Themen: (i) Selbstausdruck, rhetorisch oft inszeniert mit dissing- und boasting-Elementen: “Ech blas mi uf wenni rappe wie en Luftballon” [Ich blase mich auf, wenn ich rappe, wie ein Luftballon]; (ii) Lob der Szene, Partytime: “Ych liebs z’rocke, mit mine jungs bim bier z’hocke” [Ich liebe es zu rocken, mit meinen Jungs beim Bier zu sitzen], “D party goht ab und d stimmig isch lanciert … Stiffi gsichter wot ych hüt zobe kaini gse, Hip-hop isch fesch” [Die Party geht ab, die Stimmung ist gehoben … Steife Gesichter will ich heute abend keine sehen, HipHop ist fesch]; (iii) Gefühl, Liebe, Sex (Love-Rap): “lueg tüüf i dini auge und weiss genou was los isch / du bisch dr stereoeffekt, ohni di isch aus mono” [Ich schau tief in Deine Augen und weiß genau was los ist / Du bist der Stereoeffekt, ohne Dich ist alles mono]; (iv) Agitprop (Message-Rap): “si ghöre nüt u säge es git meinigsfreiheit / es störe d’lüt ar dämo, ma überhört di lüt / wöu si wi gstörti düe und s’meh nötli brüücht” [Sie hören nichts und sagen, es gebe Meinungsfreiheit / Es stören die Leute bei der Demo, man überhört die Leute / weil sie sich wie Kranke benehmen und man mehr Geld bräuchte]. Diesen vier Themengruppen lassen sich mindestens drei Sprachhandlungsklassen gegenüberstellen (Androutsopoulos & Scholz 2006 unterscheiden acht Themengruppen und sieben Sprechakttypen, aber die Grenzen sind oft nicht eindeutig zu ziehen; für unsere Zwecke genügt eine vereinfachte Systematik). Da sind (i) die auf das eigene Handeln bzw. den Handelnden bezogenen (aktional-autoreferentiellen) Sprechakttypen, mit denen die Rapper ihr Reimeschmieden besingen oder ihre sonstigen Vorzüge preisen: “läseds nume rede nume schiine wi d’sunne wäni rhyme / vliicht wird mau öppis drus wi frisch gleiti eier” [Laßt sie nur reden, nur scheinen wie die Sonne, wenn ich reime / Vielleicht wird mal was daraus wie frisch gelegte Eier], “min dick isch so fett, de bruch ich en sattelschläppr / wänn ich im meer würd ligge, ja da chönnet d schiffer achette” [Mein Schwanz ist so dick, daß ich einen Sattelschlepper dafür brauche / wenn ich am Meer liegen würde, ja dann könnten die Schiffer daran anketten]; dann (ii) die an den Adressaten gerichteten (direktional-konativen) Sprechakttypen, mit denen die Rapper ihr Publikum in Schwung oder ihr Gegenüber (bzw. die Konkurrenz) durch dissing in wütende Wallung zu bringen suchen: “sind ir mit uns derbi stiged ihr druff i / guet, denn ich und dr MC Ronny lade üch i / wenn mir reim um reim zum beschte gän / für alli di wo mit uns feschte wänn” [Seid Ihr mit uns dabei, steigt ihr darauf ein / Gut, denn ich und MC Ronny laden Euch ein / Wenn wir Reim um Reim zum Besten geben / Für alle, die mit uns Feste feiern wollen], “hobby hitler wirsch ufpumt wia technotronic / logisch das is sowas vo fun und komisch / i lohn di misbruucht zrugg wia das stugg vo subsonic” [Hobby Hitler wirst aufgepumpt wie ein Technotronic / Logisch, das ist sowas von lustig und komisch / Ich lasse Dich missbraucht zurück wie das Stück von Subsonic]; schließlich (iii) die lokalisierenden (circumstantial-deiktischen) Sprechakttypen, mit denen die MC’s sich raum-zeitlich verankern, Treffs annoncieren oder Reklame für ihren Markennamen oder den ihrer Gruppe machen: “doch du bisch mit mir do und checksch mi raimstiu / d schwiiz isch chlai und nu am ry ha i mi haimspiu” [Doch Du bist mit mir hier und verstehst meinen Reimstil / Die Schweiz ist klein, und nur hier am Rhein habe ich mein Heimspiel]; “jede chennt dr zitpuncht, jede chennt dr ort / 8i Bahnhof place to be für jede wo in Liëstal wohnt” [Jeder kennt die Zeit, jeder kennt den Ort / um acht Uhr am Bahnhof: the place to be, für jeden, der in Liestal wohnt]; “Freeze am mic wo ifahrt we am ballermann zangria … [Freeze im Mic, der reinhaut wie Sangria beim Ballermann]. Ernest W.B. Hess-Lüttich 116 Der Bezug auf den eigenen (Künstler-)Namen, den der befreundeten oder konkurrierenden Gruppen sowie auf den aller möglichen Marken und Produkte ist überhaupt ein beliebtes Spiel im Spiel, das manchmal nur PR-Zwecken dient, manchmal aber auch ein hohes Maß an Insider-Wissen voraussetzt, um den Anspielungen folgen zu können. Explizite lokaldeiktische Verweise auf den eigenen Standort oder den der Gruppe sind in schweizerischen Raps jedoch selten, weil sie von einem Publikum als redundant empfunden würden, das sie aufgrund ihres Dialektes ohnehin sofort exakt ‘verortet’. Während in den umliegenden Ländern dialektale Elemente in den Rap-Texten eine Ausnahme darstellen, sind sie für die deutschschweizerischen stilprägend; nur eine Minderheit (unter 10 %) bedient sich der Standardsprache (und dies auch nur, wie der ‘Deutsch- Rapper’ Curse sich rechtfertigt, weil die sich leichter reimen ließe). Wenn Dialekt als Aufmerksamkeit heischende stilistische Abweichung ausfällt, müssen andere Mittel deren Funktion übernehmen: z.B. ironisch eingestreute standarddeutsche Einsprengsel oder auch, dann aber meist nicht ironisch, solche aus den anderen Landessprachen: “Ersch no supermega style, oder? / yeah … voyez! voyez! bouncige scheiss” [Erst noch Supermega-Style, ne? / Yeah, seht nur! seht! Bounciger Mist]. 5 Kritische Schlußbetrachtung Die Nähe zur gesprochenen Alltagssprache schlichtesten Anspruchs ist unüberhörbar, poetisch stilisierte Sprache allenfalls im selbstironisch-distanzierendem Zitat erlaubt (oder es wirkt kitschig und unfreiwillig komisch). Dennoch schwelgen die Feuilletons im hymnischen Lobe der lyrischen Begabungen, während die linguistische Sekundärliteratur entzückt die rhetorische Raffinesse bestaunt, mit der in den rap lyrics der “gesamte Reichtum der eigenen Sprache kreativ ausgelotet und in ungewöhnliche, manchmal auch irritierende Verbindung gesetzt wird” (Androutsopoulos 2003: 120). Manchmal hört man, was man hören will. Rhetorische Verfahren der Metapher und Metonymie, des Vergleichs, des Spiels mit Homonymen oder Akronymen, mit Homophonen, Deletionen oder Permutationen finden sich auch in der prosaïschsten Alltagsrede zuhauf, ohne daß deshalb jede Äußerung gleich der Aufnahme in die Anthologien für würdig erachtet wird. Nicht jede sorglose Übernahme aus dem englischen Szene-Jargon (wie flow oder funk, track oder release) oder aus dem gruppentypischen Slang-Repertoire (shit, bitch, homies, pimps, motherfucker, fags) zeugt schon von polyglotter Virtuosität. Die mutige Helvetisierung des Vorgefundenen zu englisch-dialektalen Mischkomposita (verslavet) oder der großzügige Einsatz englischer Phraseolexeme und formelhafter Versatzstücke (wie better be ready, the place to be, life on stage, “das esch de last call for alcohol”) verströmen im graubündischen Chur nicht automatisch die Atmosphäre kosmopolischer Weltläufigkeit, sondern eher die copy&paste-Routine des Samplers, der unbekümmert mischt, was ihm vor die Linse gerät und ihm für seine Zwecke gerade verwertbar erscheint. Da wird den eigenen musikalischen Vorbildern konsequenterweise zuweilen auch dadurch Ehre und Respekt erwiesen, daß man nicht nur die vorgestanzten genre-typischen Muster mit eigenem Material auffüllt, sondern daß man auch gleich ihre Melodien ohne Verweis übernimmt (was dem Kult-Rapper Bushido, alias Anis Ferchichi, Ende März 2010 von Juristen, die über die HipHop-Technik der Mischung von ‘Klangquellen’ offenkundig nicht hinlänglich informiert waren, als schnödes Plagiat ausgelegt wurde: er hatte in 13 Fällen Passagen aus Stücken der französischen Gruppe Dark Sanctuary zu Schleifen geformt (geloopt) und nur Rap-Rhetorik 117 seine Beats und Raps darübergelegt - unter Respekt gegenüber dem Vorbild hatten die Richter möglicherweise etwas anderes verstanden als Bushido (oder auch manche literarischen Autoren, die wie Helene Hegemann nicht für die Originalität ihrer Sprache, sondern die Authentizität ihrer Erfahrung gelobt werden wollen - die dann im Falle ihres Bestsellers Axolotl Roadkill leider aber auch nur aus zweiter Hand war). Authentizität und Respekt gelten jedoch als globale Grundwerte des HipHop, die seine lokalen Szenen im Innersten zusammenhält. Über diesen Normenkomplex, den code of conduct des HipHop, werden auch die identitätsstiftenden Mechanismen der Gruppenbildung gesteuert, die über Zutritt oder Ausschluß entscheiden. Wenn es zutrifft, daß “Rap in jedem Falle als globale identitätsstiftende kulturelle Praxis” gilt, die “je nach Land, in welchem Rap rekontextualisiert wird, unterschiedliche Gruppen anspricht und unterschiedliche identitätsstiftende Funktionen übernehmen kann” (Scholz 2004: 64), dann stünde es einer kulturwissenschaftlichen Erforschung der Szenen gut an, die Zeichen und Formen ihres sozio-symbolischen Selbstausdrucks in den verschiedenen Regionen kritischer als bislang in den Cultural Studies zumeist geschehen unter die Lupe zu nehmen. Was pädagogisch wünschbar sein mag (egalitäre Struktur, kulturelle Hybridität, doing art für jedermann ohne spezifisches Können), muß deshalb nicht automatisch auch ästhetisch von Belang sein. Aber ist das letztlich nicht egal, solange wir alle ohne weiteres wieder einstimmen können in den Kult-Song zur Party (2001), den Refrain von Black Tiger und MC Ronny? 3 doch du bisch mit mir do und checksch mi raimstiu d schwiiz is chlai, und nur am ry ha i mi haimspiu es list sich us dr hand, bald im ganze land bekannt schwiitzerdütsche rap, vo wäge dyaläggt sig kantig text mit handlig erzüge e köhrgangverwandliig auso, los di vo uns leite, nur so erhalte mir die spanniig [Doch Du bist mit mir hier und verstehst meinen Reimstil Die Schweiz ist klein, und nur hier am Rhein habe ich ein Heimspiel. Es liest sich aus der Hand, bald im ganzen Land bekannt, Schweizerdeutscher Rap, von wegen, Dialekt sei kantig, Texte mit Handlung erzeugen eine Gehörgangsverwandlung Also, laß Dich von uns leiten, nur so erhalten wir die Spannung.] 6 Glossar Aight - Kurzform von engl. alright: in Ordnung; wird häufig von Rappern in Texten am Ende einer Zeile benutzt und steht für richtig, ok oder ganz genau oder als Bestätigung. Atze - (Subst.) Ausdruck für Freund bzw. Kumpel im Berliner Raum oder für Rapper, die kein Gangsta-Rapper- Image pflegen (z.B. Frauenarzt) B-Boy/ B-Girl - (Subst.) von engl. Break-Boy bzw. -Girl, ein männlicher oder weiblicher Breakdancer Backspin - Tanzschritt im Breakdance und Scratchbewegung Bar - (Subst.) engl. Takt, Eine Textzeile aus einem Song Battle - (Subst.) von engl. battle, Kräftemessen zwischen zwei Gegnern, sowohl zwischen MCs als auch zwischen B-Boys, Sprayern und Beatboxen. Bewertet wird meist durch eine Jury oder das Publikum Beat Juggling - ist das Manipulieren zweier gleicher oder verschiedener Platten um eine neue Melodie zu erzeugen Beef - (Subst.) Streit oder Feindseligkeiten zwischen Personen Bitchmove - etwas nur unfaires tun biten - (Verb) von engl. to bite: beißen; abkupfern, kopieren/ nachahmen von Texten, Styles und/ oder Flows anderer MCs oder Writer, wobei vorgegeben wird, die erbrachte Leistung sei ein eigenes Produkt bling-bling - Glänzender Schmuck