eJournals Kodikas/Code 32/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2009
323-4

Semiosen der Verletzung

121
2009
Thomas Sing
Ausgehend von einigen Werken des amerikanischen Fotografen Clayton James Cubitt, dessen Schaffen die Nachbarschaften von Gewalt, Sexualität, Sadomasochismus, Erotik und Pornographie immer wieder neu und kreativ erkundet, soll ein theoretisches Modell einer prozessualen dreistelligen 'Semiotik des Konkreten' entwickelt und anschließend auf die Literatur übertragen werden. Unter Bezug auf Charles Sanders Peirces "Ten Classes of Signs" und deren Implikationen für Ästhetik (Max Bense) und Erzähltheorie (Hans Vilmar Geppert) soll dabei gezeigt werden, dass Realitätseffekte (verstanden als rhematisch indexikalische Sinzeichen: konkrete und dabei offene, rätselhafte Realitätsindizes) (1.) einen integralen Bestandteil ästhetischer, narrativer und 'erlebter' Semiosen ausmachen und (2.) trotz (oder gerade wegen) ihrer textuell-singulären Eigenrealität analytisch nur in ihrer Prozessualität als Zeichenfunktionen dieser ästhetischen Semiosen fassbar sind.
kod323-40259
Semiosen der Verletzung Ein dreistellig-funktionales Modell zur Analyse von Realitätseffekten in Fotografie und Literatur Thomas Sing Ausgehend von einigen Werken des amerikanischen Fotografen Clayton James Cubitt, dessen Schaffen die Nachbarschaften von Gewalt, Sexualität, Sadomasochismus, Erotik und Pornographie immer wieder neu und kreativ erkundet, soll ein theoretisches Modell einer prozessualen dreistelligen ‘Semiotik des Konkreten’ entwickelt und anschließend auf die Literatur übertragen werden. Unter Bezug auf Charles Sanders Peirces “Ten Classes of Signs” und deren Implikationen für Ästhetik (Max Bense) und Erzähltheorie (Hans Vilmar Geppert) soll dabei gezeigt werden, dass Realitätseffekte (verstanden als rhematisch indexikalische Sinzeichen: konkrete und dabei offene, rätselhafte Realitätsindizes) (1.) einen integralen Bestandteil ästhetischer, narrativer und ‘erlebter’ Semiosen ausmachen und (2.) trotz (oder gerade wegen) ihrer textuellsingulären Eigenrealität analytisch nur in ihrer Prozessualität als Zeichenfunktionen dieser ästhetischen Semiosen fassbar sind. The work of American photographer Clayton James Cubitt is known for exploring the boundaries between violence, sexuality, BDSM, erotism and pornography from a creative and always innovative point of view. This shall be the inspiration for a theoretical model of a “semiotics of the concrete” to be then applied on literature, particularly on the writings of D.A.F. de Sade. The model relates on Charles Sanders Peirce’s “Ten Classes of Signs” and their implications for aesthetics (Max Bense) and narratology (Hans Vilmar Geppert) to thus show that reality effects (as rhematic-indexical sinsigns: concrete and at the same time open, enigmatic reality indices) are firstly an integral component of aesthetic, narrative and ‘experienced’ semiosis and secondly can be analyzed as sign functions only in their processuality despite (or rather because of) their self-referential textual reality. Einleitend und als Motto meiner Überlegungen zur semiotischen Funktionsweise konkreter Text- und Bildeffekte möchte ich diesem Aufsatz einen Abschnitt aus Jean Baudrillards Essay Es ist das Objekt, das uns denkt… voranstellen: Das Wesen des Fotos besteht nicht darin, ein Objekt oder Ereignis zu illustrieren, sondern sich selbst zum Ereignis zu machen. So wie das Wesen eines Textes nicht darin besteht, ein Bild zu kommentieren, sondern selbst ein buchstäbliches Ereignis zu sein, welches genau dadurch in eine geheime Komplizenschaft mit der Buchstäblichkeit des Bildes eintritt. Dadurch nämlich, daß das Ereignis, das Foto, der Text einander grundsätzlich fremd bleiben, können sie attracteurs étranges füreinander spielen und in derselben einzigartigen Illusion konvergieren (Baudrillard 1999b: 43). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Thomas Sing 260 Abb. 1: Clyaton Cubbit Cream 04 Abb. 2: Clyaton Cubbit Blue 05 Abb. 3: Clyaton Cubbit Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, rechte Bildhälfte 1. Schock, punctum, Index - Spuren des Konkreten Dass die Unterschiede zwischen Literatur und Fotografie eminent sind, ist zunächst offensichtlich - die Fotografie steht als indexikalischste der Literatur als der symbolischsten Darstellungsform gegenüber, die Kluft ist größer noch als beispielsweise zwischen Film und Literatur -, doch betrachtet man beide als Zeichensysteme, so werden sie nicht nur in vielen Punkten vergleichbar, sondern erhellen sich bestenfalls gegenseitig, oder anders gesagt, bzw. gefragt: Vielleicht kann uns die Indexikalität des Fotos etwas über die Literatur lehren, so wie beispielsweise umgekehrt Linguistik und Semiologie - später auch Semiotik - starken Einfluss auf viele Theorien über die Symbolizität der Fotografie genommen haben. Diese Bilder des amerikanischen Fotografen Clayton James Cubitt 1 habe ich in den letzten Monaten einigen Kollegen, Studenten und Freunden gezeigt, und die erste Reaktion war meist Zusammenzucken, Wegschauen, Erschrecken usw. oder um es gleich mit Peirce zu sagen: Der Dynamical Interpretant dieser Fotos war “shocking” 2 , den Begriff wörtlich und damit im semiotischen Kontext einmal etwas missbräuchlich genommen. Semiosen der Verletzung 261 Abb. 4: Zeichen, Objekte, Interpretanten Beim semiotisch geschulten Betrachter sind solche “Schocks” in der Regel schnell abgeklungen, und die Analyse bzw. Semiose nimmt ihren Gang. Auf dem dritten Bild beispielsweise erkennen wir Similaritäten (die Position des Fußes entspricht der in einem High Heel), damit zusammenhängend die Kodes (bestimmte Schuhe für bestimmte Anlässe etwa), die Verweisstrukturen (fehlende Behaarung und Form des Fußes lassen auf eine Frau schließen; die Segmentation der Linien im Boden etwa, oder der Schatten, oder die Beziehung zwischen Zigarettenkippe und Asche, evtl. eine Metonymie von Zigarette und Pflaster), wir übersetzen in Fachterminologie, kurz gesagt: wir interpretieren “usual” im Denken oder später in der Diskussion dann vielleicht “pragmatistic” am wissenschaftlichen Konsens orientiert. Bei entsprechender Präferenz, nebenbei gesagt, wäre natürlich auch die “sympathetische” Reaktion möglich, Identifikation oder Erregung, davon lebt schließlich ein ganzer Industriezweig. Clayton Cubitt kann man da sicher nicht einordnen, dafür sind die Zeichenspiele seiner Bilder zu dicht, zu herausfordernd bzw. zu rhematisch. Sie lassen viel mehr Möglichkeiten der Rezeption zu als nur Stimulation oder Abscheu. Aber genau das macht sie interessant. Dass ich bereits einleitend die gesamte Trichotomie des Dynamischen Interpretanten, der realen Zeichenfolge also, eingeführt habe, gibt einen Hinweis auf die Perspektive, aus der ich das Thema angehe: aus der des Rezipienten. Das heißt, wir haben vorerst nur den wahrgenommenen Effekt, um auf seine Realität zu schließen, bzw. die Folge repliziert die Ursache, das Konkrete als Texteffekt existiert erst durch das, was es in mir auslöst. Über die Fotografie in das Thema des Konkreten einzusteigen bot sich an, denn die Frage nach der in der Fotografie transportierten Realität, ihrem Dynamical Object, stellt sich ihr als visuell abbildendem Medium in besonderem Maße und die Geschichte der Theorien über Thomas Sing 262 Abb. 5: Das Konkrete und die Spur, Zeichenthematik und Realitätsthematik Fotografie ist vor allem eine Geschichte der Diskurse über die Modalität ihres Objektbezugs. Dreistellig-semiotisch übersetzt findet man diese Theoriegeschichte z.B. in Philippe Dubois’ Buch Der fotografische Akt, in dem er drei große historische Phasen nachzeichnet und ausmacht: Erstens die Fotografie als “Spiegel des Wirklichen” im 19. Jahrhundert, zweitens als “Transformation” und “Codifizierung” (Dubois 1998: 49) des Wirklichen vor allem im Poststrukturalismus des 20. Jahrhunderts, und drittens zeitgleich - hauptsächlich durch Roland Barthes - als Spur des Wirklichen. Anders und semiotisch gesagt: Realität wird im Bild ikonisch, symbolisch oder (das wäre Barthes’ Standpunkt) indexikalisch repräsentiert. Der zentrale Begriff, den Barthes für diesen Realitätsindex in seinem Buch Die helle Kammer ausarbeitet, ist der des punctum, einer Art Kurzschluss zwischen dem Betrachter und der Realität, die sozusagen an der Fotografie haftet. Einer Realität, die zwar nicht mehr unmittelbar anwesend ist, aber einmal anwesend gewesen sein muss, genau in dem Moment nämlich, als das Foto gemacht wurde und als die “natürliche[ ] Einschreibung der Welt auf die lichtempfindliche Fläche” statt fand (so Dubois 1998: 54). Bei Roland Barthes (1985: 36) liest sich das folgendermaßen: “Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)”. Die Fotografie führt also zu einer Art Übersprung - nicht zwischen Betrachter (spectator) und ihr selbst, sondern zwischen Betrachter und der Realität der Fotografie, semiotisch: ihrem Dynamical Object, welches mich wie ein Pfeil trifft, d.h. wie ein Index oder ‘Realitätsvektor’. Die Photographie, so Barthes (ebd.: 124) weiter, “wird Feststellung und Ausruf in einem; sie führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt.” In Peircescher Terminologie könnte man sagen: Das Dynamical Object des Mediums, sein Realitätsgehalt also, und zwar als spezifisch zweistelliges “Concretive”, affiziert den Dynamical Interpretant (die Zeichenfolge) scheinbar direkt und in einer Weise, welche die Medialität des Zeichens implodieren lässt und nichts bedeutet als es selbst bzw. die Erschütterung, die es in mir hervorruft. Dass es sich bei einem solchen Realitätseffekt um einen komplexen semiotischen Vorgang handelt, liegt auf der Hand, auch wenn - oder vielleicht gerade weil - sich der Verdacht aufdrängt, dass die Semiose im Kurzschluss zwischen Realität und Betrachter zusammenbricht. Doch vielleicht muss man diesen Zusammenbruch (bei dem das Medium sich einen Moment lang zu verflüchtigen scheint 3 ) als wesentliches Moment von Semiose überhaupt denken. Wenn man auf der Suche nach einem Konkreten in einem semiotischen System ist, macht es Sinn, erst einmal nach dessen Spuren zu suchen. Die Spur ist (nach Peirce, Bense und Geppert) ein dicentisch indexikalisches Sinzeichen (3.2 2.2 1.2) 4 , ein Zeichen mit vollständiger objektbezogener Realitätsthematik also (2.1 2.2 2.3), und als solches - so meine Vermutung - schon sehr nahe an dem, was wir als konkreten Texteffekt bezeichnen können. Semiosen der Verletzung 263 Abb. 6: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, rechte Bildhälfte, Spuren und Objekte Semiotisch geht die Spur im Effekt nicht auf, aber sie induziert ihn, als eine Art ‘Aufmerksamkeitsvektor’, der wahrscheinlich eine zentrale Position im Verständnisvorgang überhaupt einnimmt: Die Spur ist zeichenthematisch die vertikale Achse im Schema der Zeichenklassen, ihre Dualisierung ergibt realitätsthematisch die Horizontale. Sie ist die Zeichenklasse der Mengen und der Abgrenzungen - im kunsttheoretischen Zusammenhang die Klasse des Rahmens -, und ihre strukturierende Deixis macht es möglich, eine ansonsten amorphe Realitäts- und Zeichenmasse zu segmentieren, zu ordnen und letztlich zu verstehen. Suchen wir in Cubitts folgendem Bild nach Spuren, so werden wir schnell fündig: Die untere Spur ist rasch geklärt: Verletzung und Objektbezug sind klar präsentiert, das Objekt ist sogar virtuell verdoppelt. An der Spur der Asche lässt sich noch erkennen, wo die Zigarette sich befand, bevor sie ausgetreten wurde. Thomas Sing 264 Interessanter und effektiver ist die obere Spur, die sich gedoppelt präsentiert und deren Objektbezug in beiden Fällen nicht sichtbar ist. Das Pflaster verweist einerseits auf eine Verletzung (die leichte dunkle Färbung deutet auf Blut) und die (nicht sichtbare, aber unterstellte) Verletzung indiziert ein Objekt, das nicht im Bild zu sehen ist. Unser Erfahrungswissen sagt uns mit ziemlicher Sicherheit, dass es sich dabei um einen Schuh handeln muss. Für den Realitätseffekt, ist es m.E. dabei erst einmal unwichtig, ob das Objekt dieser Verletzungen gezeigt wird oder nicht. Ihre Indexikalität wirkt zwingend, auch ohne Objekt. Aber für die Narrativierung bzw. Narrativierbarkeit macht es sicher einen Unterschied: Die Erzählung - als dicentische Form - wird wahrscheinlich am ehesten die rhematischen Zeichen aufgreifen können, d.h. diejenigen, die am wenigsten disponiert sind. Was jedoch an den Concreta ohne präsentiertes Objekt sofort ins Auge springt (und dennoch auch für die anderen gilt), ist ihre performative rhetorische Dynamik: Das Präsentamen (also das Object) wird erst durch die Repräsentation geschaffen. Das klingt wie eine Platitude, und vielleicht gilt diese Performativität tatsächlich für jedes Zeichensystem, aber ich betone sie deshalb, weil sie die entscheidende Bewegung in einer Reihe von Tropen ist, die m.E. im Zentrum eines jeden Realitätseffektes stehen: Metonymie, Metalepse und Katachrese. Ich werde auf diese Tropen später genauer eingehen; zunächst möchte ich Clayton Cubitts Bild Schritt für Schritt semiotisch analysieren. 2. Gefühle, Ereignisse, Geschichten - Semiosen des Konkreten Bei meiner Analyse beziehe ich mich auf Charles Sanders Peirces “Zehn Hauptzeichenklassen” 5 , die für eine Erzählsemiotik ein hervorragendes Instrumentarium bieten. Für Peirce selbst war die den zehn Hauptzeichenklassen zugrunde liegende Einteilung in drei Hauptzeichentrichotomien von 1903 (neben sieben weiteren) die fundamentalste Zeicheneinteilung überhaupt; Max Bense hat sie in Stuttgart vor allem in den 70er Jahren vielfach weitergedacht 6 , unter anderem hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Ästhetik, und mein Augsburger Lehrer Hans Vilmar Geppert hat sie, an Peirce und Bense geschult, immer wieder für die Literaturwissenschaft, speziell die Erzählsemiotik, fruchtbar gemacht. 7 1.) 3.2 2.2 1.2 - die Spur Ich spiele nun alle möglichen Semiosen an der oberen Spur einmal durch, mit der ich - als dicentisch-indexikalischem Sinzeichen, also als realisiertem, wahren oder falschen, auf ein Object bezogenen Verweis - beginne. 1.a.) 3.1 2.2 1.2 - das Konkrete/ der Realitätseffekt Der semiotische Kern des Konkreten liegt m.E. direkt daneben: Wie bei der Spur handelt es sich um ein konkretes Sinzeichen mit indexikalischer Verbindung zu seinem Präsentamen, die Zeichenfolge bleibt jedoch rhematisch offen. Die Spur als Dicent war assertorisch, wahr oder falsch, das Konkrete dagegen wäre problematisch, hinsichtlich Wahrheit oder Falschheit unentscheidbar. Peirces Beispiel für diese Zeichenklasse ist der spontane Schrei (“spontaneous cry”, CP 2.256), den man plötzlich hört, aber nicht lokalisieren kann. Diese Suspension, diese Unmöglichkeit einer eindeutigen Interpretation macht viel von der Faszination aus, die Realitätseffekte mit sich bringen. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu untersuchen, in wie weit ganze literarische und vor allem filmische Genres (Horror, Trash, Semiosen der Verletzung 265 Abb. 7: die zehn Hauptzeichenklassen nach Peirce Thomas Sing 266 Abb. 8: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, rechte Bildhälfte, Semiosen Semiosen der Verletzung 267 Grind, usf.) von dieser Zeichenklasse leben. 8 Im Kontext der Narrativik ordnet Geppert (2006a: 27) “das Finden genuiner Singularität” dieser Klasse zu. 9 1.b.) 3.1 2.1 1.2 - die Evidenz der Anschaulichkeit Wirkt dieses Konkrete nun auf den Betrachter, d.h.: gibt es zwischen dem Zeichen und mir eine Art Schnittmenge (die zuständige Figur hier wäre die Metapher), so wird der Index zum Icon. Das ausschlaggebende Zeichen selbst bleibt nach wie vor präsent (sin) und die Art meiner Reaktion offen (rhe). Anders gesagt: Ich kann mir vorstellen, wie sich eine aufgeriebene Ferse anfühlt. Bense (1979: 44) nennt das “iconische Evidenz” bzw. “unmittelbare[ ] Anschaulichkeit”. 1.c.) 3.1 2.1 1.1 - die Evidenz des Gefühls Die Vorstellung dieses Schmerzes für sich wäre dann ein rhematisch-iconisches Qualizeichen, die am wenigsten generierte Klasse, die Klasse der puren Möglichkeit vor oder nach jeder Realisierung, also ein lediglich mögliches Zeichen (1.1) eigener Erfahrung (2.1) in offenem Kontext (3.1). Wenn Peirce über diese pure Firstness spricht, dann bezeichnender Weise in Worten wie “freshness, life, freedom” (CP 1.302), “present and immediate”, “fresh and new”, “initiative, original, spontaneous”, “vivid, conscious, and evanescent” (Peirce 1992: 248f.) usf. - Das ursprüngliche Bild, eigentlich Auslöser meiner Semiose, ist in dieser Zeichenklasse der puren Innerlichkeit, wenn man so sagen kann, bereits wieder verblasst. Hier gibt es nur ein diffuses Gefühl von etwas, das Schmerz sein kann. Tatsächlich gefühlter Schmerz wäre jedoch bereits wieder mehr, nämlich verweisender Index und konkretes Sin-Zeichen; vgl. Peirce (1998: 189f.). Als ich begann, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, meinte ich das Konkrete genau in der Klasse des rhematisch-indexikalischen Sinzeichens (Nr. 1.a.) fassen zu können. Inzwischen glaube ich, diese Sicht fasst es zu eng. Sieht man es nämlich als Effekt - als Texteffekt bzw. Realitätseffekt -, also als etwas, das immer nur im Vollzug einer Rezeption zustande kommt, dann muss man es eher als unter diesen vier Kategorien verteilt, bzw. zwischen ihnen hin und her oszillierend betrachten. Letztlich ist jede Semiose, ja überhaupt der Peircesche Zeichenbegriff im Ganzen als prozessual zu sehen, und jede starre Kategorisierung würde das Prinzip Peircescher Semiose sicher verfehlen. Spielen wir die Semiose einen Moment weiter in die andere Richtung, die ich die ‘Semiosen der Narration’ nennen möchte. 2.) 3.2 2.2 1.3 - die Narration Die für die Erzähltheorie bedeutendste Kategorie ist die der dicentisch-indexikalischen Legizeichen. Geppert (2006a: 27) nennt sie die “Semiosen des Erzählens”, genauer: Es handelt sich so gesehen beim Erzählen um eine reihende Zuordnung von vorgeprägten Elementen, die ihrerseits etwa imaginativ erzeugt und/ oder aus einem Repertoire genommen, ästhetisch verändert und kombiniert werden können: Man kann auch mit Sachen oder Strichen oder gezeichneten Figuren usw. ‘erzählen’. Im weitesten Sinne begriffen ist dann jedes Formulieren, Montieren, Zusammenstellen von bereits Festgestelltem ein Erzählen (Geppert 2006a: 27). Die Fotografie kann man in diese Aufzählung sicher einreihen. Schon innerhalb eines einzigen Bildes ergeben sich - sei es durch bewusste Inszenierung beabsichtigt oder durch Thomas Sing 268 Abb. 9: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, linke und rechte Bildhälfte, Narrativierung 1 Zufall begünstigt - “Zuordnungen” von “Elementen”, wie z.B. zwischen dem Pflaster und dem Austreten der Zigarette mit dem nackten Fuß. Eine solche Zuordnung kann dann (und somit wird sie dreistellig) Mutmaßungen, Interpretationen, Geschichten, usw. hervorrufen, z.B. ‘Unfall’, ‘Provokation’, ‘Mutprobe’, ‘hartes Mädchen’, usw. Noch eindeutiger wird diese narrative Semiose, wenn man das Bild als Teil jener Sequenz zeigt, in der sie der Fotograf präsentiert. Durch den syntgamatischen Bezug werden Kohärenzannahmen evoziert. Man stellt Zusammenhänge her, erfindet eine Geschichte - das Bild wird zur Einheit, zum Narratem einer Erzählung, die Bilder interpretieren sich gegenseitig. 2. .) 3.2 2.3 1.3 - die Narrateme Diese Narrateme (bzw. Ereignisse oder Motive) 10 für sich betrachtet, also ohne Rücksicht auf ihre Verkettung, sind dann die dicentischen Symbole. Das wären die einzelnen Propositionen, d.h. die Sätze bzw. laut Max Bense die “epische[n] Aussagen” (Bense 1998: 368) mit “symbolische[r] Evidenz” (Bense 1979: 46). Im Kontext der Narrativik müsste man sagen: die kleinsten Erzähleinheiten. 2. .) 3.3 2.3 1.3 - die Regeln und die Interpretation Argumentische Formen sind dann z.B. die formalen Kriterien, auf die sich der Fotograf bezieht (Wahl der Kamera, der Brennweite, der Belichtungszeit, Bildausschnitt, z.B. Goldener Schnitt, usw.). Auch die Regeln der Interpretation gehören in diese Zeichenklasse. Semiosen der Verletzung 269 Abb. 10: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, Narrativierung 2 Springen wir wieder zurück zum dicentisch-indexikalischen Legizeichen (Nr. 2.), der Klasse der Narration also, gelangen wir direkt zu einer der interessantesten Zeichenklassen, der Max Bense den Großteil seiner semiotischen Überlegungen gewidmet hat und die ich hier ebenfalls nur äußerst verkürzend skizzieren kann: die Achse der ästhetischen Zeichenfunktion. 3.) 3.1 2.2 1.3 - die ästhetische Zeichenfunktion Diese liegt nun ihrerseits nur einen Schritt von der Zeichenklasse des zunächst vermeintlich Konkreten (3.1 2.2 1.2) entfernt (1.2 1.3) und weist im Vergleich mit den anderen Klassen zwei Besonderheiten auf, die bereits einen Hinweis auf ihre prominente Stellung im Gesamtsystem liefern: 11 1. Als Diagonale im System der Hauptzeichenklassen ist sie die einzige, die vier direkt benachbarte Klassen hat: das Konkrete (rhe-in-sin) und die Erzählsemiosen (dic-in-leg), und dann - dazu komme ich gleich - die Zeichenkompetenz (rhe-sy-leg) und die möglichen Welten (rhe-ic-leg). 2. Sie ist die einzige Zeichenklasse, deren Zeichenthematik (3.1 2.2 1.3) mit ihrer Realitätsthematik (3.1 2.2 1.3) identisch ist. Es handelt sich damit um die “offenen autoreflexiven Logiken von Zeichen” (Geppert 2006a: 27). Hier bedeutet das: das Foto in seiner selbstbezüglichen Eigenrealität, z.B. wenn ich es rahme und auf einer Ausstellung zeige. Dass das Mädchen auf dem Bild einmal als Objekt vor Thomas Sing 270 Abb. 11: die ästhetische Zeichenfunktion und ihrer vier benachbarten Zeichenklassen Abb. 12: die ästhetische Zeichenfunktion: Identität von Realitätsthematik und Zeichenthematik der Kamera referenziell existiert haben muss, ist zwar eine Eigenart der Fotografie im Vergleich mit anderen, rein fiktionalen Kunstsorten, spielt aber für den semiotischen ästhetischen Zustand des Kunstwerks keine Rolle (für den Realitätseffekt dann schon, der bei der Fotografie wahrscheinlich stärker zum Tragen kommt als beispielsweise in der Literatur). Es geht auch in der Fotografie nicht - oder zumindest nicht in erster Linie - darum, Wirklichkeit abzubilden; nicht das Objekt determiniert das Bild, sondern das Bild determiniert das Objekt, und zwar indem es dieses - indexikalisch - ‘festschreibt’. 12 Bense (1979: 100f.) spricht vom Objektbezug des ästhetischen Zustands als von einer “zufällige[n], okkasionelle[n] Wirklichkeit, die indexikalisch, nicht ikonisch aktual ist”. 13 3.i.) 3.1 2.3 1.3 - die Zeichenkompetenz Im Gegensatz zum dicentischen Narratem oder Satz, der eine Feststellung macht, formt die rhematische Variante die “Möglichkeitsform aller Zeichenkompetenz” (Geppert 2006a: 27), d.h. “das Verfügen über konventionalisierte Zeichenmöglichkeiten” (ebd.). Ich muss die Regeln der Bedeutungszuweisung also erst einmal kennen. In der Sprache bzw. Literatur liegt das auf der Hand, doch für das Foto gilt auf formaler und auf inhaltlicher Ebene letztlich dasselbe: Ich muss die Darstellungskonventionen dieses Mediums kennen und auch die Tatsache, dass man beispielsweise ein Pflaster benutzt, um eine Wunde zu bedecken - oder in diesem Fall vielleicht: Um vor weiterer Verletzung zu schützen, muss dies gelernt bzw. gewusst werden. 3.I.) 3.1 2.1 1.3 - die möglichen Welten Die letzte direkte Anknüpfung an die ästhetische Zeichenfunktion wäre das rhematischikonische Legizeichen, dem Geppert (2006a: 27) das “Entwerfen möglicher Welten” zuweist. Damit würde man an die Evidenzen der Anschaulichkeit (3.1 2.1 1.2) und des Gefühls (3.1 2.1 1.1) anknüpfen (1.3 1.2 1.1). Ebenso sind Querverbindungen in dieser Dar- Semiosen der Verletzung 271 vielfach möglich, eigentlich müsste man ein solches Schema wirklich dreistellig, d.h. dreidimensional konzipieren. 3. Metalepse, Metonymie, Katachrese - Rhetorik des Konkreten Kehren wir noch einmal zu Barthes’ punctum zurück und zu der Inneren Erfahrung, die es induziert: Im Gegensatz zu dem, was Barthes studium nennt (damit ist die reflektierende Auseinandersetzung mit einem Foto, seinen Kodes, usf. gemeint, der voll generierte dreistellige Dynamische Interpretant, den Peirce “usual” nennt) wäre das punctum eine Rezeption, die dem einstelligen sympathetischen (also ‘gefühlsmäßigen’) und/ oder dem zweistelligen percussiven Dynamischen Interpretanten entsprechen würde, der bei Peirce auch “shocking” heißt, und der das punctum m.E. treffend charakterisiert: “[D]ie Lektüre des punctum (des ‘getroffenen’ Photos, wenn man so sagen kann) ist hingegen kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung” (Barthes 1985: 59). Was den Realitätseffekt des punctum nun narratologisch interessant macht, ist die Deixis, die es entfalten kann, und zwar im Sinne sozusagen einer Anschließbarkeit der Erzählungen. Barthes weiter (ebd.): “So blitzartig das punctum auftauchen mag, so verfügt es doch, mehr oder weniger virtuell, über eine expansive Kraft. Diese Kraft ist oft metonymisch.” Barthes illustriert diese (man könnte sagen: zentrifugale) Metonymie an einer Fotografie von André Kertész aus dem Jahr 1921, auf der ein Junge einen blinden Zigeunergeiger führt: “Was ich nun erblicke, mit diesem ‘denkenden’ Auge, das mich der Photographie etwas hinzufügen läßt, ist die Chausssee aus gestampfter Erde; die Beschaffenheit dieses Erdwegs gibt mir die Gewißheit, in Mitteleuropa zu sein; ich erkenne den Referenten […], ich erkenne, mit jeder Faser meines Leibs, die kleinen Ortschaften wieder, durch die ich vor langer Zeit auf Reisen in Ungarn und Rumänien gekommen bin” (Barthes 1985: 55). Der Kurzschluss zwischen dem Referenten des Bildes und seinem Betrachter hat also eine Semiose in Gang gesetzt, welche die ursprüngliche (zweistellige) Relation (Referent und Rezipient) aufgreift und (dreistellig) narrativiert. Metonymische Verknüpfungen verbinden dabei auch Sequenzen, so zum Beispiel Clayton Cubitts Serien. Je expliziter allerdings die Sequenz ist, in die ein solches Bild bereits von vornherein eingebunden ist (man könnte auch sagen: je dominanter der Diskurs, der es trägt, schon ist), umso schwächer scheint mir umgekehrt der jeweilige Realitätseffekt zu werden. Die Metonymie, welche diese Narrativierung ermöglicht, ist eine indexikalische Figur 14 : die der Verbindung bzw. Angrenzung (auch die des Kurzschlusses) zweier Sachverhalte, Zeichen oder Zeichenkomplexe innerhalb eines Kontextes. Im Hinblick auf das Konkrete in einem sekundären semiotischen System könnte man diese Definition vielleicht sogar zuspitzen zu der Annahme, das Concretum sei genau diejenige textuelle Suggestion bzw. genau dasjenige textuelle Potenzial, welches das Zeichen (als Repräsentamen) (1.) mit seinem Referenten einen Moment lang zusammenfallen lässt 15 , und (2.) in dieser Verdichtung bzw. als diese Verdichtung eine Spannung erzeugt, die mich - mit Barthes Worten - “trifft”, und man kann hinzufügen: oder auch nicht. Das “oder auch nicht” scheint mir dabei entscheidend zu sein. Im Zentrum dieser Bewegung (die man sich tatsächlich wie den Schuss eines Pfeils vorstellen kann) steht ein retrosemiosicher Vorgang: Das konventionelle Legizeichen (als intelligibles Sprachzeichen beispielsweise, oder etwa als eine formale Tradition, Technik, usf.) ‘degeneriert’ (das Wort ist Thomas Sing 272 in der semiotischen Theorie nicht abwertend, ja nicht einmal im Sinne von ‘rückläufig’ gemeint) 16 zum einfachen, ‘singulären’ Sinzeichen, welches mich treffen kann (‘shocking’) oder eben nicht. Zu fragen ist an dieser Stelle auch, inwiefern zwei weitere Tropen strukturell am Zustandekommen konkreter Texteffekte beteiligt sind: die Metalepse und die Katachrese. Wenn die Metonymie die Figur ist, welche für ‘Verdichtung’ und ‘Expansion’ des Konkreten verantwortlich wäre, und zwar zunächst einmal als textuelle Strategie, dann wäre die Metalepse das Äquivalent auf Interpretantenseite: Die Metalepse wäre nämlich die Grundannahme, dass die textuelle “assertorische” Narration (das Dicent-Symbol / der Dicent- Index, also das, was wir lesen, bzw. sehen) auf offene, unbekannte extratextuelle Möglichkeiten rekurriere, also auf Rhema-Indices oder Rhema-Icons. Die Katachrese könnte man dann als die grundsätzliche Dynamik des Gesamtvorgangs einführen: Als Oszillation zwischen Text (dic-in-leg bzw. dic-sy-leg) und Realitätseffekten (rhe-ind-sin), welche die volle (indexikalische, also ‘konkretisierende’) Potentialität von Zeichen generiert. Wie Gerald Posselt (2005: z.B. 41; 149; 183; 210) in einer neuen umfangreichen historischen und systematischen Untersuchung zu diesem Tropus ausführt, ist die Katachrese die performative Figur schlechthin. Der performative Charakter der Katachrese liegt dabei in ihrer Eigenschaft der - verstanden als Verschiebung - Refiguration des Gesamtsystems durch die Generierung neuer Bedeutungen. Dies leistet die Katachrese durch die Benennung des Unbenennbaren bzw. den uneigentlichen Verweis auf das Unbenennbare durch die missbräuchliche Benennung mit einem bekannten Namen. Aktualisiert man die Funktionsweise dieses - so Posselt (ebd.: 195) - “Gewaltakt[s]” der Katachrese für das Konkrete, so müsste man sagen: Die Katachrese arbeitet mit konventionellen Zeichen, die aber in ihrem metonymisch-metaleptischen Vollzug erst aufgebrochen und dann neukodiert werden. Das bedeutet, dass das Konkrete im Text erst einmal nichts außer es selbst bedeutet; es versperrt sich der Lektüre; aber dadurch, dass es sich selbst als Wirklichkeit präsentiert, gibt es sich wiederum der Aufnahme in den Diskurs (sin ? leg) preis. 4. Hypothesen, Sade & Sadomaso - (Un-)Logik des Konkreten Das gilt für konkrete Bildeffekte ebenso wie für konkrete Texteffekte. In einem weiteren Essay über die Fotografie und ihr Verhältnis zur Realität kommt Baudrillard (1999a: 27) wieder auf die Literatur zu sprechen und ihre gleichsam magische Fähigkeit, “etwas von der materiellen, objekthaften Autonomie der Dinge ohne Eigenschaften wieder[zufinden], von der erotischen Kraft und der übernatürlichen Unordnung einer Nullwelt”. Diese ‘Magie des Konkreten’, wenn man so will, kann in Baudriallards Sinn nur zustande kommen, wenn das entsprechende Zeichen, welches sie trägt, ‘frei’ ist, also nicht ein Einzelfall unter vielen vergleichbaren oder eine Ableitung aus einer Regel darstellt. Vielmehr muss es - wiederum nach Baudriallrd - ganz in der Zeichenklasse des Konkreten aufgehoben sein. Es ist faktisches Index-Sin, dass aber rhematisch offen ist. Das heißt, es stellt ein rätselhaftes Resultat dar, das erst einmal für sich steht, dessen Zusammenhang aber kreativ entworfen werden kann. Damit lässt sich ein Bezug zur letzten Peirceschen Hauptzeichentrichotomie herstellen, welche Gewissheit über die Natur der Gesamtsemiose gibt (“As to the Nature of the Assurance of the Utterance”, CP 8.374) und zwar: “Assurance of Form”, “Assurance of Experience” und “Assurance of Instinct” oder gemeinhin: Deduktion, Induktion und Abduktion. Semiosen der Verletzung 273 Deduktion und Induktion kommen ohne rhematische Zeichen aus. Bei der ersteren degeneriert ein Argument retrosemiosisch zu einem oder mehreren Dicents (Regel - Fall - Resultat). Die letztere generiert aus mehreren Dicents in einer Semiose ein Argument (Fall - Resultat - Regel). Die Spezifik der Abduktion liegt nun darin, dass sie immer von einem rhematischen, d.h. offenen bzw. ‘rätselhaften’ Resultat ausgehen muss, welches nur Aussagekraft erlangen kann (also zum Dicent - zum ‘Fall’ - generieren kann), indem eine Regel hypothetisch angenommen wird. Ob die Hypothese stimmt, muss dann wieder induktiv überprüft werden und kann sich schließlich zur Regel verfestigen, aus der deduktiv abgeleitet wird. 17 Ich glaube, dass sich an dieser Zeichentrichotomie die Funktionsweise des Konkreten noch einmal gut zeigen lässt und möchte dies abschließend an einigen Stellen aus Donatien Alphonse François de Sades Werk tun, der Sexualität und Gewalt so exzessiv wie kein anderer vor (und wahrscheinlich auch nicht nach) ihm thematisiert hat, und an dessen Texten die verschiedensten Emanationen von konkreten Texteffekten - oder eben deren Ausbleiben - beobachtet werden können. Der größte Teil des de Sadeschen Werkes kommt tatsächlich ohne konkrete Texteffekte aus, ohne dass uns - in Barthes Sinne - etwas ‘trifft’. De Sades Bücher mussten immer schon den Vorwurf über sich ergehen lassen, sie seien langweilig: Ausufernde Diskurse, die einander oft ähnlich sind, wechseln einander mit exzessiven, mechanisch anmutenden Orgien ab; doch genau das ist das Prinzip der Libertinage und genau in dieser wechselseitigen Verkettung liegt der Grund, warum selbst die schlimmsten Verbrechen und Ausschweifungen irgendwann gar keinen Effekt mehr erzielen, weil sie (bis auf wenige Ausnahmen eben) nur noch als völlig unselbständige Ableitungen (Deduktionen) des großen dominanten Diskurses seiner Werke auftreten, nämlich des alles verschlingenden Rationalitätsdiskurses einer zu Ende gedachten Aufklärung. Nahezu jede Orgie ist gerahmt von Argumenten, deren Resultat sie darstellt, und deren logische Verknüpfung lang und breit diskutiert wird. Die Verbrechen der Libertins sind conclusiones aus Syllogismen, deren formale Natur für ihre Richtigkeit bürgt. Wenn man beispielsweise aus dem Grundsatz, alle Natur habe Zerstörung nötig, um Neues erschaffen zu können, das Verbrechen grundsätzlich als natürlich und somit jeden einzelnen Mord als gerechtfertigt ableitet (vgl. z.B. Sade J/ J, V: 222f.), ohne sich auf irgendwelche Metaprinzipien (Ethik etwa) zu berufen, dann ist das formal korrekt. An einer anderen Stelle der Juliette (Sade J/ J, VII: 101) heißt es sogar, es sei schlechthin unmöglich, die Natur überhaupt zu beschädigen, da sie selbst die Mittel bereithalte, um Schaden anzurichten. Dass sich Eigenrealität und konkreter Texteffekt der libertinen Verbrechen in Grenzen halten, wenn diese in einen solchen argumentativen Zusammenhang eingebunden sind, liegt auf der Hand: Das Zeichen verliert sein Rätsel, seine Überraschungsfähigkeit, seine Spontaneität und seine metonymisch-expansive Kraft, die es zu einer Realität sui generis machen könnte, auf die ich mich als Leser einlassen könnte. Die libertinen Figuren sind in sich vollständige geschlossene Logiken, die den Text in keiner Weise stören, unterbrechen, sich von ihm absetzen, ihn neu ansetzen lassen usw., wie konkrete Texteffekte das tun würden, bei denen der Rezipient durch die Konfrontation mit einer Zusammenballung bzw. Verdichtung von Zeichen, die dem Diskurs erst einmal unverdaulich gegenüberstehen, geradezu provoziert wird. Solche Stellen gibt es auch bei de Sade (dass beide Formen bei ihm vorkommen, ist der Grund, dass ich ihn als literarisches Beispiel gewählt habe), und genau diese Stellen sind es, die ihn interessant, bzw. nach Foucault (1974: 260-264): modern machen. Und, nebenbei gesagt, sieht man an diesen Stellen auch gut, wie abhängig das Zustandekommen konkreter Texteffekte von ihrer Disposition ist, von der Folie, von der sie sich absetzen. Thomas Sing 274 Interessanterweise sind es stets die Frauenfiguren (und von ihnen auch nur eine Handvoll), deren Weg sich von den formal immer gleichen Vernünfteleien der anderen Libertins trennt und die stellenweise eine Alterität ins Spiel bringen, die den Text wie ein Virus infiziert, Leerstellen erzeugt, an denen jeder Sinn schweigt (Baudrillards Begriff “Nullwelt”, den ich vorhin zitiert hatte, drängt sich hier auf) und die Zeichen zu einer Eigenrealität kristallisieren lässt, deren Dichte so enorm und angespannt ist (ich erinnere an Roland Barthes’ punctum, “kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung”, s.o.), dass man in sie beinahe wie in eine Stolperfalle tritt, beispielsweise wenn gegen Ende der Juliette (Sade J/ J, X: 178) der Wunsch geäußert wird, einmal Sex in einem Spital voll Syphiliskranker zu haben. Solche Stellen bringen den libertinen Diskurs durch ihre völlig unverdauliche Singularität selbst innerhalb des Sadeschen Werkes zum Stocken. Im vierten Buch der Juliette (Sade J/ J, VIII: 94) ruft Olympe, eine der interessantesten weil modernsten Gefährtinnen der Titelheldin: “Gleich einem feurigen Streitroß stürze ich auf den Pfeil zu, der mich durchbohrt.” Dieses Zitat ist das Zentrum eines langen Geständnisses an Juliette, das in seinen delirierenden Bildern der Selbstentäußerung und -verschwendung an die Romane von Georges Bataille denken lässt. Diese Stelle kann man als einen ersten Frontalangriff gegen die rationalistische Ökonomie der Libertins lesen, und von ihr aus erschließt sich de Sades Modernität: Sie ist eine Modernität im Zeichen von Verletzung und Verletzbarkeit als Voraussetzung einer zweckfreien Kommunikation, welche erst einmal nur für sich selbst steht und von der ich mich affizieren lassen kann oder nicht. Barthes’ Konzept des punctum, der Realität der Fotografie, die mich ‘trifft’, ist bei Sade hier literarisch auserzählt. Es geht um das Andere, das Unaussprechliche, eine Todesgewandtheit, die den libertinen Grundsätzen der Selbsterhaltung und Machtsteigerung derart fremd ist, dass sie zu einer Realität kondensiert, die vom Text nicht mehr eingeholt werden kann. Das Andere ist weder generalisierbarer empirischer ‘Fall’, noch Ableitung eines Grundsatzes. Diese Stellen bilden die blinden Flecken der Narration, die vom Diskurs selbst nicht einmal mehr wahrgenommen werden und vom Leser höchstens abduktiv erschlossen werden können. Über 200 Jahre später, nach der Lektüre Baudelaires, Nietzsches, Batailles, um nur drei von vielen zu nennen, haben wir - frei nach Max Bense - als externe Interpretanten Worte und Konzepte, um diese Concreta in einer die rhematischen Zeichen superierenden Interpretation abzufangen. Noch einmal zurückbezogen auf Sexualität und Gewalt, kann man den Umschlag von Rationalität zu Moderne bei de Sade auch betrachten als einen Umschlag von libertinem (semiotisch argumentischem) Sadismus hin zu freier (semiotisch offener) Erotik, die sich im sadomasochistischen Exzess von ihrer Bindung an alle libertinen Grundsätze, Regeln usw. löst, und damit eine konkrete Selbstbezüglichkeit gewinnt, welche jede Bedeutungsfunktion im Text erst einmal hinter sich lässt. In einem Aufsatz über Si(g)ns of the Flesh. Law, Violence and Inscription upon the Body stellt Christopher Stanley 1997 für sadomasochistische Praktiken genau diese Eigenrealität fest: [ ] the bodies are alienated but not in submission to law but rather in submission to desire and therefore the individual body becomes a site of power without reference to determination by external law. The law cannot see sadomasochism even though it is brought within its gaze. (Stanley 1997: 162) Dass diese Autoreferenz für jede Thirdness, für jedes Gesetz, für jede Regel also eine Gefahr darstellt, liegt auf der Hand. Dass Literatur immer eine Refiguration, eine Umerzählung eines Prätextes ist, weiß die Theorie längst. Die Zeichen ändern sich mit jedem Gebrauch. Und Semiosen der Verletzung 275 Abb. 13: Clayton Cubitt Blue 02 vielleicht haben konkrete Texteffekte - als rhematische rätselhafte Resultate, also als Zeichen, die zur Abduktion anregen und somit die einzigen Zeichen wären, die “eine neue Idee in Umlauf bringen” könnten - einen großen Anteil an diesen Umerzählungen. Ich zumindest bin davon überzeugt. Die Zensoren aller Länder und Zeiten sind das auch. Die Josefine Mutzenbacher hat die deutschen Gerichte über 20 Jahre lang beschäftigt, Henry Millers Opus Pistorum und Bret Easton Ellis’ American Psycho wären zwei weitere berühmte - aber bei weitem nicht alle - Fälle (Ellis Indizierung fand erst 1995 statt und wurde erst 2001 höchstrichterlich und abschließend aufgehoben). 18 Die Gesellschaft scheint - immer noch - in der konkreten, um ihrer selbst willen praktizierten Sexualität, bzw. ihrer literarischen und medialen Darstellung eine Bedrohung zu sehen. 19 Das scheint erst recht für sadomasochistische Inszenierungen zu gelten, 20 deren Dramaturgie jeder autoritären Struktur nicht nur (wie die Erotik) fremd gegenübersteht, sondern welche das Gesetz im role play zu einem System sekundärer Ordnung (1.) verdoppelt und (2.) durch den Rückbezug auf die eigene Begierde überschreibt. Die Zeichen bleiben erhalten (bestes Beispiel: Max Mosley, der Präsident des Welt-Automobilverbandes FIA, dem letztes Jahr - zu Unrecht - eine Naziorgie vorgeworfen wurde, die Bilder waren in allen Zeitungen) - aber die Semantik ändert sich, ja verkehrt sich geradezu. Gerald Posselt (2005: 94) spricht in seinem Rhetorikbuch in einem ganz anderen Kontext (Nietzsches Metaphysikkritik nämlich) von einer “katachrestischen Usurpation und Resignifikation”; die Formulierung scheint mir in meinem Zusammenhang einschlägig zuzutreffen. Auch die Metalepse könnte man hier wieder in Anschlag bringen, versteht man sie mit Quintilian als transsumptio, als “Übernahme”: Das Begehren ‘übernimmt’ die Macht, indem es ihre Zeichen ‘kapert’. Das Konkrete ist dabei eine wesentliche Schnittstelle, ein fragiles Übersprungsmoment sozusagen, in welchem das Zeichen nichts bedeutet als es selbst. 21 Clayton Cubitts Bild mit den blauen Flecken auf dem Po irgendeines Mädchens, das am Anfang meines Aufsatzes steht, spielt gekonnt mit dem Spannungsbogen zwischen Macht und Lust, in dem das Bild als konkretes, aber nicht eindeutig einzuordnendes Ereignis bestehen bleibt. Zumindest bis wir Cubitts Serie mit dem Titel Blue weiter betrachten. Thomas Sing 276 Im Gesamtzusammenhang der Serie wird nämlich die Hypothese immer klarer, dass es sich nicht um Missbrauch, rohe Gewalt oder dergleichen handelt, sondern “nur” um ein Liebesspiel. Und natürlich handelt es sich wieder “nur” um eine Interpretation, und wie haltbar sie ist, wird sich - wie bei jeder Interpretation - zeigen müssen. In jedem Fall ist sie eine Art Reflex auf Stellen, die sich einer klaren Bedeutungszuweisung entziehen, weil sie sozusagen in sich selbst ruhen, nirgends im Kontext verankert sind, aber dennoch eine Magie besitzen, der man sich als Leser oder Betrachter kaum entziehen kann. Insofern ist Interpretation auch - und vielleicht gerade - für das Konkrete in semiotischen Systemen unvermeidlich. Literaturverzeichnis Barthes, Roland 1968: “L’Effet de Réel”, in: Communications 11 (1968): 84-89. [Dt. Übs. zit. n.: Ders.: “Der Real(itäts)effekt”, auf: http: / / www.nachdemfilm.de/ no2/ bar01dts.html, Stand: April 2009] Barthes, Roland 1985: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baudrillard, Jean 1999 a: “Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität…”, in: ders. 1999: Im Horizont des Objekts. Fotografien 1985-1998, ed. Peter Weibel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz: 20-35. 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Anmerkungen 1 Die Fotos können in Farbe und in ihrem Kontext auf dem Portfolio des Fotografen betrachtet werden: http: / / www.claytoncubitt.com (Stand: April 2009). 2 Dieser Begriff und die folgenden stammen aus Peirces Überlegungen zu den “Ten Main Trichotomies of Signs”, die er 1908 in einem Brief an Lady Welby zusammenfasst (CP 8.342-8.379; dt. in: Peirce 1958: 154-167). Die Tabelle ist ebenfalls anhand dieser Aufzeichnungen konstruiert und geht in dieser Form auf Entwürfe aus Hans Vilmar Gepperts Augsburger Semiotik-Vorlesungen aus den Jahren 2001-2004 zurück. 3 Vgl. Barthes (1985: 55): “hier weist die Photographie wirklich über sich selbst hinaus: […] Sich als Medium aufzuheben, nicht mehr Zeichen, sondern die Sache selbst zu sein”. 4 Zur Notation und dem Verhältnis von Zeichenthematik und Realitätsthematik vgl. Bense 1976. 5 Vgl. Nomenclature and Divisions of Triadic Relations, as Far as They Are Determined, in: Peirce (1998: 289-299). Für eine konzise Zusammenfassung mit umfangreichem einführendem Literaturverzeichnis siehe Geppert 2006a. 6 Vgl. Bense 1975, 1976, 1979 und 1998. 7 Vgl. Geppert 2003, 2006 und 2009. 8 Der Zusammenhang zwischen Spur und konkretem Effekt ist z.B. wunderbar metaphorisch auf den Punkt gebracht in Rob Zombies H OUSE OF 1000 C ORPSES (H AUS DER 1000 L EICHEN , USA 2003), in dem die späteren Opfer einer psychopathischen, aber dennoch irgendwie sympathischen Familie degenerierter Farmer zu Beginn des Films durch eine Geisterbahn geschleust werden, deren Spur geradezu allegorisch für den Leidensweg steht, den sie im Verlauf des Films an konkreten Stationen mit konkreter Schockwirkung durchmachen werden. 9 Vielleicht liegt es auch an diesem Konkreten, dass man nur allein mit Genuss lesen kann. Das gilt übrigens auch für die Fotografie, wie Jean Baudrillard (1999a: 26) so treffend feststellt: “Die Einsamkeit des fotografischen Subjekts in Raum und Zeit korreliert mit der Einsamkeit des Objekts und mit seinem eigensinnigen Schweigen”. 10 Zur narratologischen Terminologie siehe Martínez/ Scheffel (2003, v.a. Tabelle S. 26). 11 Eine ausführliche Einbettung der semiotischen ästhetischen Zeichentheorie in die Literatur- und Erzähltheorie findet sich in Geppert 2006: 25f. 12 Die Lütticher groupe ì (Dubois u.a. 1974: 34) formuliert diese Eigenrealität in ihrer Allgemeinen Rhetorik so: “Die referentielle Funktion der Sprache [= Index, T. S.] wird also vom Dichter […] nicht zerstört und kann es nicht werden. Da aber die darin enthaltenen Bedeutungen nur noch auf Distanz wahrgenommen werden und gänzlich an der Einführung der Zeichen ‘aufgehängt’ sind, kann die Sprache des Schriftstellers lediglich Illusion schaffen, d.h. ihr eigenes Objekt produzieren. Die poetische Sprache ist als solche ohne referentielle Funktion, sie ist nur insoweit referentiell als sie nicht poetisch ist. Das bedeutet, daß die Kunst - man weiß es seit langem und vergisst es immer wieder - jenseits der Unterscheidung zwischen wahr und falsch liegt”, d.h. semiotisch: dass sie rhematisch funktioniert, nicht dicentisch oder gar argumentisch. Weiter (ebd.): “Die letzte Konsequenz dieser Verfremdung (distorsion) der Sprache ist, daß sich die poetische Sprache als Kommunikationsakt disqualifiziert. In Wahrheit kommuniziert sie nichts, oder vielmehr: sie kommuniziert nur sich selbst. Man kann auch sagen, daß sie mit sich selbst kommuniziert, und diese Intra-Kommunikation ist nichts anderes als das eigentliche Prinzip der Form. Indem der Dichter in jede Ebene der Rede und zwischen die einzelnen Reden den Thomas Sing 278 Zwang multipler Entsprechungen einschiebt, schließt er die Rede in sich selbst ab und dieses Abgeschlossensein nennt man Werk.” 13 Zur Abhängigkeit des Objekts von seinem Zeichen betont Bense an anderer Stelle (1976: 109), “daß Objektbegriffe nur hinsichtlich einer Zeichenklasse relevant sind und nur relativ zu dieser Zeichenklasse eine semiotische Realitätsthematik besitzen, die als ihr Realitätszusammenhang diskutierbar und beurteilbar ist, wobei hier unter ‘Diskutierbarkeit’ die ontologische Zuschreibbarkeit einer gewissen (externen) ‘Welt’ und unter ‘Beurteilbarkeit’ die logische Zuständigkeit (semantischer) ‘Wahrheitswerte’ verstanden werden soll.” 14 Vgl. z.B. Chandler (2002: 139) und Geppert (2006b: 53). 15 Barthes 1968: “In semiotischer Sicht ist das ‘konkrete Detail’ durch die ‘direkte’ Kollusion (Kurzschließung) eines Referenten und eines Signifikanten konstituiert.” 16 Genauer Bense 1975 (85f.): “Diese scheinbar rückläufige ästhetische Semiose ist keineswegs als desuperierende, sondern stets als superierende zu verstehen, da im Interesse der Erreichbarkeit eines singulären und innovativen, fragilen und unwahrscheinlichen Zustandes der Distribution der Mittel der ästhetische Zustand letztlich nur als hierarchisches Superisationssystem möglich ist. Das bedeutet, daß in jedem künstlerischen Produktionsprozeß jede scheinbar rückläufige Semiose vom externen Interpretanten (I e ), d.h. vom Künstler selbst und darüber hinaus auch vom Betrachter in einem abschließenden superierenden und hierarchisierenden Interpretanten, also in einer Semiose steigender Semiotizität und Repräsentation […] abgefangen wird.” 17 Zur Deduktion, Induktion und Abduktion siehe Peirce (1992: 186-199), Deduction, Induction and Hypothesis von 1878, worin sich auch das legendäre Beispiel mit den Bohnen findet), bzw. zusammenfassend Nöth (2000: 67f.) oder Bense (1976: 100f.). Eine ausführliche Darstellung und Ausarbeitung findet sich in Eco (1999: 295-336). 18 Zur Zensur in Deutschland vgl. Ohmer 2000 und 2004. 19 Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) stuft pornographische Medien in Bezug auf § 15 Abs. 2 JuSchG immer noch als “schwer jugendgefährdend” ein: “Ein Medium ist pornographisch, wenn es unter Hintansetzen aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und wenn seine objektive Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf Aufreizung des Sexualtriebes abzielt.” 20 Vgl. McClintock (1993: 224). 21 Quintilian (zit. n. Posselt 2005: 138): “Denn das Wesen der Metalepsis liegt darin, daß sich zwischen dem, was übertragen wird, und dem, worauf es übertragen wird, eine Art Mittelstufe findet, die selbst nichts bezeichnet, sondern nur einen Übergang bietet.”