eJournals Kodikas/Code 33/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2010
331-2

Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation

61
2010
Robin Kurilla
kod331-20149
* Schriften der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft, Passau: Stutz 2009, 234 Seiten, 978-3-88849- 181-8 Review Article Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation * Robin Kurilla Für die einen ist Kultur ein Zauberwort, mit dem “anything goes”. Für die anderen ist sie eine Chimäre, die sich meckernd jeder näheren Bestimmung partout entzieht. Mit seinem 2009 bei Karl Stutz erschienenen Buch “Kultur, Kollektiv, Nation” kommt Klaus P. Hansen auf 234 Seiten beiden Lagern entgegen. Denn Hansen wahrt zwar die Offenheit des Kulturbegriffs, konkretisiert ihn aber zugleich, indem er Kollektive als Kulturträger identifiziert. Damit schafft Hansen als Alternative zum Raum ein Vehikel für die Verortung von Kulturen, wobei er lediglich die indes oft attestierte Kulturhomogenität emeritiert. Für diesen Verzicht wird der Leser mit einer klaren Sprache entlohnt, die ihm mit ironischem Unterton zu verstehen gibt: “Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? ” Das allerdings weckt Misstrauen. Sollten Generationen von Teilnehmern an der Diskussion um den Kulturbegriff solch eine konzise, einleuchtende und auf der Hand liegende Lösung schlichtweg übersehen haben? Es muss sich einfach um neue Schläuche und alten Wein handeln. Hansen kommt ohne einen Untertitel aus. Dafür liefert er eine prägnante Einleitung mit präziser Zielsetzung. Deren Anfang bildet der von Hansen synthetisierte gemeinsame Nenner unterschiedlicher Kulturbegriffe, die 1952 von Kroeber und Kluckhohnzusammengestellt worden sind: “[…] Kultur [umfasst] erstens Gewohnheiten […], die zweitens sozialer Natur sind.” (9) Unterschiede in der Begriffsbestimmung ergeben sich für Hansen erst bei der Konkretisierung des Kulturbegriffs. Ethnische Kollektive bildeten derweil den exklusiven Anknüpfpunkt der traditionellen Kulturforschung, der erst in jüngster Zeit durch nichtethnische Bezugsobjekte wie Jugend-, Sub- und Unternehmenskulturen ergänzt worden sei. Trotz dieser Ausweitung bleibt Hansen das Verhältnis zwischen Kultur und Kulturträger in der theoretischen Diskussion zu unterbelichtet. Die bisher zentrale Bestimmung von Kulturträgern anhand des Raumes greift ihm zu kurz. Als Alternative zum Raum bietet Hansen daher das Kollektiv, dessen genauere Bestimmung und Situierung im Verhältnis zur Kultur das Ziel des Buches ist. “Es möchte sich dem weiten Feld der Kollektivität nähern und in ihm nach Strukturen Ausschau halten. Es will nach Ebenen der Kollektivität , nach Kollektivformen und Kollektivarten fahnden. Des weiteren will es sich der […] Frage widmen, wie sich Kollektive voneinander abgrenzen.” (11f) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Robin Kurilla 150 Das erste der acht Kapitel präsentiert Kollektive als Forschungsgegenstand der eigens dafür konzipierten und zwischen Soziologie und Kulturwissenschaft platzierten Disziplin “Kollektivforschung”. Kollektive setzen sich für Hansen in Differenz zu anderen sozialen und materiellen Konglomeraten von Einzelteilen aus solchen Elementen zusammen, die zugleich sowohl Element anderer Formationen sind als auch für sich existieren. Mitglieder eines Tennisclubs können zugleich auch Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft sein. Folglich “[…] ist […] Identität eine Addition oder besser ein Amalgam von einerseits vorgegebenen und andererseits frei gewählten Kollektiven.” (20) An Simmel und den individualisierungstheoretischen Diskurs erinnernd avanciert “Multikollektivität” entsprechend zum Wesensmerkmal des Menschen. Zur Illustration der unter diesem Titel laufenden Mehrfachverwendung der Elemente von Kollektiven bringt Hansen ein Gen- oder Schaltkreismodell in Anschlag. Sowohl Gene als auch Mobiltelefontasten zeichnen sich dadurch aus, dass sie in verschiedenen Kontexten je unterschiedliche Verknüpfungen eingehen können. Demgemäß definiert Hansen Kollektiv als durch die “[…] partielle Gemeinsamkeit der ihm zugerechneten Individuen konstituiert. Diese Definition erreicht einen hohen Allgemeinheitsgrad, weil sie zum einen Kollektive allein durch Gemeinsamkeit konstituiert sieht - so kommen Blondinen und Indianer zu ihrem Recht - und zum anderen weil keine Gemeinsamkeit ausgeschlossen wird, egal ob sie biologisch, sozial oder geistig ist.” (27) Als Kollektivklassen nennt Hansen Schicksals- und Interessenkollektive wie auch Abstraktionskollektive, die sich ausschließlich durch ihre jeweilige partielle Gemeinsamkeit auszeichnen, die ihrerseits aber noch keinen Konstitutionsfaktor faktischer Sozialität bildet. Erst wenn sich Abstraktionskollektive etwa zu einem Tennisclub zusammenschließen, spricht Hansen von Virulenzkollektiven, bei denen die Mitglieder in “praktischem Kontakt” miteinander stehen. Abstraktionskollektive können zu Virulenzkollektiven werden, wenn entsprechende Virulenzbedingungen gegeben sind. Dabei kann es sich um äußeren Zwang, innere Überschaubarkeit, formale “Hüllen” organisierter Kollektive, Segmentierung, Identität oder Solidarität handeln. Kapitel II gilt Hansen als “Rehabilitierung des Pauschalurteils”. Bei kollektiver Wahrnehmung seien “Verallgemeinerungen und Pauschalurteile die einzig möglichen und daher unverzichtbaren Erkenntnisinstrumente” (61). In der Alltagswelt nähmen diese die Form von Stereotypen an und dienten als komplexitätsreduzierende Erkenntnismittel zur Vereinfachung der Kommunikation. Im Unterschied zum Alltag ermittle die wissenschaftliche Stereotypenbildung den statistisch vertretbaren Verallgemeinerungsgrad. Hier wie dort bleibe es jedoch unzulässig, vom Allgemeinen auf das Individuum zu schließen, ohne dessen Besonderheiten in Rechnung zu stellen. Um die “Bedingungen gültiger Verallgemeinerung” aufzuzählen, unterscheidet Hansen zunächst Primärvon Sekundärstandardisierungen in Kollektiven. Sekundärstandardisierungen sind im Gegensatz zu Primärstandardisierungen nicht notwendig für die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv. In Methodensachen reserviert Hansen die Deduktion für Abstraktionskollektive, um Aussagen über die Beziehung von Primär- und Sekundärstandardisierungen herleiten zu können. Deduktiv gewonnene Erkenntnisse hätten jedoch in den Kulturwissenschaften bis zu ihrer empirischen Prüfung nur eingeschränkte Gültigkeit. Dazu veranschlagt Hansen sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren. “Die qualitative Methode gibt der Individualität und dem individuellen Überschuss mehr Raum, was zu Korrekturen Anlass geben kann, während das quantitative Gegenstück auf solche Differenzierungen bewusst verzichtet.” (71) Ob deduktive Schlüsse gerechtfertigt sind oder nicht, hänge davon ab, ob die Sekundärstandardisierung - bspw. die Sportlichkeit in einem Tennisclub - tatsächlich aus der Primärstandardisierung folgt oder aber prä- oder pankollektiven Zufällen zuzuschreiben ist. Bei Fällen, in denen sich aus der Primärstandardisierung gegensätzliche Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation 151 Tendenzen ableiten lassen, will Hansen durch den Begriff der Segmentstandardisierung die Reichweite von Verallgemeinerungen eingeschränkt wissen, um deren Validität zu wahren. “Das Aufspüren von Segmentstandardisierungen und die punktgenaue Zuschreibung der Ergebnisse zu passenden Segmenten verringert Pauschalität. Es verhindert auch, dass man das tragische Schicksal jenes Statistikers erleidet, der in einem Fluss ertrank, der im Durchschnitt einen halben Meter tief war.” (73) In expliziter Abgrenzung vom Verfahren des statistischen Querschnitts, das auf Repräsentativität abzielt, setzt Hansen entsprechend auf die “Exemplarität” von Stichproben. Darunter fällt, dass nicht nur zusammengesetzte Kollektivformen oder “Megahüllen”, sondern auch kleinere Einheiten als Zurechnungsbasis in Frage kommen. Das dritte Kapitel beginnt mit einer Kategorisierung “traditioneller Homogenitätsvermutungen”, deren Geschichte Hansen durch ihre Begründungsstrategien charakterisiert. Unter den Vertretern “moderner Homogenitätsvermutungen” identifiziert Hansen drei Modelle: Kulturstandard, Kulturdimension und Modalität. Unabhängig davon, ob diese Spielarten sich auf Werte und Normen, Geisteshaltungen oder affektive Dispositionen beziehen, schreibt Hansen auch ihnen die traditionelle Homogenitätsvorstellung zu. Erste Zweifel an dieser Vorstellung ergäben sich erst mit dem postkolonialistischen Diskurs, der in Rushdies genereller Verleugnung von prägenden Instanzen wie Nationen oder ethnischen Kollektiven kulminiere. Statt in diesen Chor mit einzustimmen und von Homogenität gänzlich auf Differenz umzustellen, formuliert Hansen: “Eigenständigkeit und Besonderheit kann vielmehr auch in Differenzen liegen.”(108) So speise sich bspw. das Heimatgefühl nicht aus der Homogenität bspw. deutscher Symboliken, sondern gestalte sich vielmehr als Produkt eines vertrauten Konglomerats von etwa deutschen und nicht-deutschen Symbolträgern. “Ethnische Kollektive und Nationen präsentieren sich […] als Unikatskonglomerate” (114), die ihre Einheit aus der individuellen Kombination von heterogenen Bausteinen beziehen, wobei von solchen Konglomeraten neben Individuen auch Kollektive vereint werden. Daher spricht Hansen von Kollektiven zweiten Grades, die sich durch ihre “Polykollektivität” auszeichnen. Hier “[…] finden [wir] die ganze Palette aus Zwillings-, Komplementär-, neutralen, verschachtelten und rivalisierenden Beziehungen.” (116) Polykollektivität kennzeichnet bei Hansen vornehmlich dieheterogene Basis von Kollektiven zweiter Ordnung, die von “Regelung und Verwaltung” als homogenem Überbau vor dem Zerfall geschützt wird. Dazu bediene sich der Überbau Gesetzen und Sprache, mithilfe derer sich Interaktionen und Verständigung zwischen Individuen und Kollektiven regeln ließen. Kapitel IV skizziert Sprache, Umgangsformen und Interaktionsordnungen als Elemente des homogenen Überbaus. Bei Hansen obliegt der Nation die Aufgabe, die Kommunikation in ihren Reihen zu sichern und zu gestalten. Trotz seiner Einsicht in die politische Natur von Nationalsprachen siedelt Hansen Sprachgemeinschaften nicht im engen Raum nationaler Territorien an, sondern stellt überdies Dialekte, “transnationale” Nationalsprachen und die Möglichkeit, Fremdsprachen zu lernen, in Rechnung. Die Argumentation mündet in die Zuordnung von Sprache zu Abstraktionskollektiven dritten Grades oder “pankulturellen Formationen”, denen “Dachkollektive” als Kollektive zweiten Grades untergeordnet sind. Homogenität der Sprache heißt für Hansen jedoch nicht gleich auch Homogenität des Denkens. Entsprechend werden Mentalitäten an sinnhafte Diskurse gebunden, nicht aber an Sprache, die lediglich das Baumaterial für Sinn liefere. “Sprache ist der Stoff des Denkens, nicht aber das Denken selbst, und weil das so ist, kann sie eine pankollektive Funktion erfüllen.” (132) “Die Homogenität der Kommunikation steht also in Diensten der Heterogenität. Das wäre nicht möglich, wenn auch der Homogenität der Kommunikationsmittel eine Homogenität des Denkens resultierte.” (133) Anders als die Sprache bergen für Hansen Robin Kurilla 152 Umgangsformen eine normative Komponente, da sich die Umgangsregeln nicht nur auf die Gestaltung der Zeichen beziehen, sondern deren Verwendung fordern. Unabhängig davon, ob spezielle Umgangsformen exklusiv in einer Nation anzutreffen sind, seien sie mitkonstitutiv für die nationale Homogenität. Die nur auf der Basis von Kommunikationsmitteln mögliche normative Gestaltung der Interaktionsorganisationorientiere sich oftmals an anderen Dachkollektiven, wobei eine der eigenen Polykollektivität entsprechende Variante der Lösungen anderer zu erwarten sei, die jedoch bei strukturverwandten Dachkollektiven eher ähnlich als verschieden ausfalle. Die Demokratie wirke als pankulturelles Phänomen homogenisierend auf einzelne Nationen. Allerdings erscheint es Hansen nahezu unmöglich, ihre Einflüsse von anderen Prägungsinstanzen polykollektiver Unikatsformationen zu scheiden. Mit üblicherweise als Gegentendenz zu verfehlten Zurechnungen zu Rate gezogenen repräsentativen Querschnitten entferne sich der Forscher lediglich von der Empirie. Auf das Postulat homogener Prägung verzichtend unterscheidet Hansen daher die Homogenität der Ursache von der Homogenität der Wirkung, schreibt dem “Schicksalskollektiv Nation” einen partiellen Homogenisierungseffekt zu und will auch extranationale Prägungsfaktoren berücksichtigt wissen. Kapitel V thematisiert Phänomene zwischen heterogener Basis und homogenem Überbau, die beide zum Unikatscharakter eines Dachkollektivs beitragen. Dazu zählt Hansen Geschichte, nationale Mythen und nationale Identität, nationale Agenden wie auch nationalspezifische Differenzen. In Bezug auf die Geschichte kommt Hansen zu dem Schluss, dass “Gegenwart spaltet, und Vergangenheit homogenisiert.” (159) Ein vergangenes Ereignis werde nur dann virulent, wenn es durch gegenwärtige aktualisiert werde. Dann dringe es in die Basis ein und werde von unterschiedlichen Kollektiven je verschiedenartig interpretiert und u.U. politisch instrumentalisiert. Anschließend glätteten sich allmählich die Wogen, so dass das Ereignis einheitlich interpretiert und in den homogenen Überbau integriert werden könne. Nationale Identität ist für Hansen ein inhaltsleeres Phänomen des Überbaus, das nur unter bestimmten Bedingungen virulent wird. Indessen bildeten nationale Mythen die Elemente der nationalen Identität, die je nach Kollektiv potenziell anders kombiniert würden und daher zur heterogenen Basis gehörten. Demgemäß spricht Hansen von nationalen Identitäten im Plural. Die nationale Agenda gestaltet sich für Hansen als homogener Themenmix, der heterogen aufbereitet und rezipiert wird, was sich auf die Polykollektivität des Dachkollektivs zurückführen lasse. Nationalspezifische Differenzen hingegen spalteten eine Nation in Lager, wobei die Art der dabei entstehenden Polarisierung charakteristisch für die Nation werde. In Kapitel VI kommt die heterogene Basis in knapper Form zur Sprache. Von natürlichen und zivilisatorischen Bedürfnissen schließt Hansen auf eine Funktionsverwandtschaft bei gleichzeitiger Modifikation von Praktiken in verschiedenen Dachkollektiven. “In Deutschland ahnt der Student, dass seine vorsichtige E-Mail den Meister von Wichtigerem abhält; in den USA hingegen schätzt man ihn als Ratgeber für alle Fragen des Lebens, den man zur Not auch mitten in der Nacht anruft.” (178) Kapitel VII verortet Interkulturalität zwischen pankollektiven Formationen. Zu pankollektiven Formationen gehören etwa die Menschenrechte oder der Respekt vor dem Alter. Umfasst ein Dachkollektiv mehrere voneinander unabhängige Formationen, spricht Hansen von einem Formationsverband. “Nicht die Staatsgrenzen bilden [bei interkultureller Kommunikation] das entscheidende Hindernis, sondern die Formations- und Verbandsgrenzen.” (193) Zudem gestalte sich Interkulturalität vornehmlich als Interkollektivität, was die Disziplin “Interkulturelle Kommunikation” zugunsten eines traditionellen substantialistischen Kulturbegriffs übersehe. Wie bei Kollektivbeziehungen innerhalb eines Dachverbandes legten Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation 153 allerdings die Beziehungsbedingungen auch bei Kollektivbeziehungen zwischen mehreren Dachverbänden das Beziehungsergebnis nicht von vornherein fest. Entsprechend weist Hansen jede vorschnelle Polarisierung aufgrund der Zugehörigkeit zu verschiedenen Dachkollektiven zurück. Interkulturelles werde in sogenannten Kollektivbeziehungen zweiten Grades eher selten zum Problem, sofern die Nationen zum gleichen Formationsverband gehörten. Etwaige Meinungsdifferenzen verdankten sich eher der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Subkollektiven denn der zu unterschiedlichen Dachkollektiven. Kommunikationsprobleme sieht Hansen dabei erst in Situationen auftreten, in denen die formale Ähnlichkeit von Kollektiven nicht mit einer inhaltlichen korreliert. Erst hier verlange die Empirie nach Begriffen von Andersartigkeit und Fremdheit, die laut Hansens Fassung der Interkulturellen Kommunikation jede Beziehung zwischen Nationen überschatten müssten. “Ob sich grenzüberschreitende Kommunikation schwierig gestaltet, entscheidet sich nicht auf der Ebene der Dachkollektive, wie die Interkulturelle Kommunikation behauptet, sondern auf der höheren der Pankollektivität. Je größer der Abstand der pankollektiven Formationen, desto mehr nimmt die Verwandtschaft ab und Andersartigkeit und Fremdheit zu.” (200) Das letzte Kapitel widmet sich Interkultureller Wahrnehmung. Hansen veranschlagt kollektive Wahrnehmungskategorienwie Lehrer, Politiker oder Beamter als Bedingung der Möglichkeit kollektiver Wahrnehmungen. Logisch fungieren diese Kategorien in zwei Typisierungskonstellationen - von der Allgemeinheit auf ein Kollektiv und reziprok zwischen zwei Kollektiven. Wechselseitige Stereotypisierungen bilden laut Hansen eine pragmatische Gestalt aus, deren Silhouette sich im Interaktionkontext entlang interaktionsrelevanter Aspekte formt. Somit befinden sich interaktionserleichternde Funktionen von Stereotypen im Bereich des Möglichen, nicht aber gleich auch des Notwendigen. Der interkulturelle Wahrnehmungsalltag speise sich gemeinhin aus der habituellen Interpretationsgrundlage der partiellen Andersartigkeit, mit der andere Nationalidentitäten in der Regel erfasst würden. In Situationen interethnischen Kontakts schrieben die Beteiligten die attribuierten Eigenschaften so weit es geht der nationalen Identität zu, wobei “[…] der verbleibende Rest ohne Rückgriff auf andere Kollektive direkt unter Individualität verbucht […]” (211) werde. Sobald indessen jedoch inhaltsleere Wahrnehmungskategorien aktiviert würden, transformierten sie die übliche Andersartigkeit in absolute Fremdheit, die Hansen à la Jung und Hobbes als “Rudiment einer archaischen Empfindung” (209) deutet. Solche Kategorien entindividualisierten ihren Gegenstand, da sie im Gegensatz zu fest umgrenzten Kategorien der Andersartigkeit durch den Fremdheitsrahmen alle individuellen Besonderheiten ausmerzten, indem sie nur ein Differenzierungskriterium in Rechnung stellten, also Fremdes aufs Äußerste pauschalisierten. “Soziologen und Blondinen” ist der Titel des letzten Subkapitels am Ende des Buches. Anstelle von Blondinen findet sich im Text jedoch eine Gegenüberstellung von Soziologen und Kulturwissenschaftlern, mit der Hansen die Stärken und Potenziale seines Ansatzes unterstreicht. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Betrachtung von Kollektiven dazu anspornt, soziologische Einsichten in die Heterogenität von Gesellschaft mit kulturwissenschaftlichen Homogenitätspostulaten zu verbinden. “Zur Verbesserung kulturwissenschaftlicher Methodik genügte es, das Bauprinzip ethnischer Kollektive modellhaft zu beschreiben und eine Anatomie seines Funktionieren [sic] zu entwerfen. Die entscheidende Basis dieses Modells, die Soziologie und Kulturwissenschaft vielleicht versöhnen kann, war die Gegenüberstellung von homogenen und heterogenen Ebenen und die Erkenntnis, dass das Homogene die Interaktion des Heterogenen kontrolliert.” (223) An der seiner Meinung nach noch in den Kinderschuhen steckenden Gruppensoziologie verdeutlicht Hansen zudem den Bedarf an Kollektivforschung. Daran anschließend heißt es in den letzten Zeilen: “Von […] Überein- Robin Kurilla 154 stimmungen zwischen einzelnen Kollektiven ausgehend, könnten die Kulturwissenschaften die Wege gleicher Standardisierungen kartographieren, die keine Netzwerke des Kontaktes abbildeten, sondern solche geistiger Verwandtschaft. Daraus entstünde ein ganz anderer, aber nicht weniger interessanter Kosmos. Er wäre groß genug, eine ganze Forschergeneration in Arbeit und Brot zu setzen.” (226) Dass es Hansen damit ernst ist, lässt sich allein an seinem Engagement zur Förderung von Dissertationen und anderen Vorhaben zur interdisziplinären Erforschung menschlicher Kollektivität ablesen, das sich institutionell in der Hansen-Stiftung und in der Reihe “Schriften der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft”, deren ersten Band “Kultur, Kollektiv, Nation” bildet, niederschlägt. Zweifelsohne liefert das Buch seiner Zielsetzung gemäß eine gute Einführung in das Feld der Kollektivität, wie es Hansen vorschwebt. Als Amerikanist bezieht er seine Beispiele allerdings hauptsächlich aus dem angloamerikanischen und deutschen “Raum”, was die Argumentation jedoch allenfalls minimal verzerrt. Kraft seiner klaren Sprache, die sich fernab philosophischer Erblasten bewegt und stattdessen eine neue Begriffsoberfläche liefert, eignet sich das Buch ideal als Lehrbuch für Studienanfänger. Dafür spricht auch die klare Argumentation, der humorvolle Ton, der lakonische Umriss gängiger Kritiken an klassischen und modernen Kulturtheoretikern, die sparsame Zitationsweise und die formbildenden Wiederholungen, die allerdings von “Fortgeschrittenen” zum Teil getrost überlesen werden können. Vor allem als leicht verständliche Einleitung in die Gefahren empirischen Arbeitens wird Hansens Buch einige seiner für Studienanfänger nur schwer zugänglichen Mitstreiter aus den Reihen der Statistik aus der Bahn drängen. Der Verzicht auf philosophischen Tiefgang und Kontextualisierung der angerissenen Theoretiker lässt allerdings die Frage aufkommen, ob Hansen sich nicht der Art Pauschalisierung schuldig macht, die er selbst anprangert. So homogenisiert er etwa die klassischen Kulturhomogenisierer und schert auch Bhabha, Rushdie, Said, Beck und Geertz über einen Kamm. Gegen ein Abstrahieren von Unterschieden zu Vergleichs- und Kategorisierungszwecken ist im Prinzip nichts einzuwenden. Nur fragt sich, ob die Abstraktionsobjekte mit der von Hansen vollbrachten Ordnungsleistung einverstanden wären oder ob sie ihn einer übermäßigen Simplifizierung zu Lasten des Gegenstandes bezichtigten. Ähnliches gilt für die neue Terminologie. Zwar erspart sie alte Probleme. Doch besteht die Gefahr, dass sich diese unbemerkt durch die Hintertür einschleichen und erst in späteren Phasen der Theoriebildung zu Aporien führen. Von genauen Lesern ist überdies zu erwarten, dass sie sich an der hauptsächlich exemplarischen Einführung der Termini stoßen und kanonisierte Definitionen für bspw. “kollektive” oder “interkulturelle Wahrnehmung” fordern. Auch übersieht Hansen, wie pauschal seine eigene Wahrnehmung von Soziologen und Kulturwissenschaftlern ist. Denn allein die Vielzahl an Bindestrichsoziologien lässt Zweifel daran aufkommen, dass Soziologen einstimmig “- und nur davon leben sie - die Verschiedenartigkeit, also Heterogenität von Gesellschaft” (223) betonen. Mit Hansen formuliert lassen sich in den Abstraktionskollektiven der Soziologen und Kulturwissenschaftler verschiedenartige Subkollektive finden, die sich durch eigensinnige Bereichsegoismen als konstitutive Gemeinsamkeiten auszeichnen. Dazu gehören neben den universitären Bindestrichkonstellationen auch Zeitschriften, Gremien unterschiedlicher Lokation, “Drittmittelverbände” etc. Diese Konstellation dürfte Hansens Hoffnung auf den Durchbruch einer lange notwendigen Disziplin der Kollektivforschung zumindest relativieren. Schließlich wird nicht im luftleeren Raum einer Rezension entschieden, ob es sich bei Hansens Begriffsgerüst um neuen Wein handelt. Vielmehr entscheidet die kollektive Wahrnehmung mächtiger Instanzen - im Sinne Hansens: der Diskurs in scientific communities im Plural - darüber, ob die neuen Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation 155 Schläuche den Wein mit einer speziellen Note saborieren, ob Form und Material der Schläuche sich gut zur Konservierung des Weins eignen, ihm zu melancholischer Klarheit verhelfen und sich gut neben anderen Schläuchen lagern lassen, ohne weder räumlich noch optisch als Fremdkörper zu erscheinen.