Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2010
331-2
Die Evolution als Comic oder Ein vierdimensionaler 'Orbs pictus'
61
2010
Dagmar Schmauks
kod331-20157
* Jens Harder: Alpha ... directions. Hamburg: Carlsen 2010. 352 S., ISBN 978-3-551-78980-8 Review Article Die Evolution als Comic oder Ein vierdimensionaler Orbis pictus. * Dagmar Schmauks “Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.” Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 75 1. Zielsetzung und Aufbau des Comics Man kann sich kaum eine anspruchsvollere Aufgabe denken als die, überwiegend durch Zeichnungen die gesamte Geschichte des Weltalls vom Urknall bis heute darzustellen. Jens Harder hat sie mit seinem Evolutions-Comic “Alpha” souverän gelöst, wobei er selbst darauf hinweist, dass die Wiedergabe von 14 Milliarden Jahren in rund 2000 Bildern “eben nur ein Bild alle sieben Millionen Jahre” erlaubt (340). Der größte Gewinn des Lesers besteht darin, dass er nicht zeitraubend weit verstreute Fachliteratur durcharbeiten muss, sondern allein durch das genüssliche Betrachten der Bilder eine keineswegs oberflächliche Kenntnis der wichtigsten Entwicklungsschritte sowie der zugrundeliegenden Kräfte und Prozesse gewinnt. Die Einteilung des Comics folgt den Erdzeitaltern, wobei Vorausblicke auf spätere Ereignisse die lineare Ordnung zu einem ein echten “Text” verknüpfen (man erinnere sich, dass der lateinische Ausdruck “textum” zunächst “Gewebe” heißt). Die Epochen sind farblich voneinander abgesetzt, indem jede außer Schwarz und Weiß nur eine Farbe aufweist. Als sachlichen Grund für diese Wahl kann man anführen, dass wir viele frühere Lebewesen nur durch Fossilien und Einprägungen (Fußspuren usw.) kennen, und diese materiellen Belege teilen uns nichts über deren Farbe mit. Als Darstellungen erinnern die Bilder oft an alte Holzschnitte, die sie auch häufig inhaltlich zitieren. Vor allem wird der Leser immer wieder an den Orbis sensualium pictus (1658) von Comenius erinnert, der ein ebenso ehrgeiziges Ziel verfolgte: Er wollte die damals bekannte Welt vollständig darstellen - von Gott über die Elemente, Pflanzen und Tiere bis zum Menschen und seinen Kulturprodukten. Während aber Comenius überwiegend seine Gegenwart darstellte und nur vereinzelt Rückblicke etwa auf die Sintflut einschaltete, hat Harder das Medium Comic ganz konsequent dazu benutzt, die K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 158 Entwicklung nachzuzeichnen, so dass die Zeit als vierte Dimension hinzukommt. Dabei steht er durchgehend auf dem Fundament der Evolutionstheorie (die erste Auflage erschien 2009, im Darwin-Jahr! ). Die Seiten sind sehr unterschiedlich gegliedert, wobei die Bandbreite von doppelseitigen Bildern (etwa eine weiträumige Karbon-Landschaft, 222f) bis zu Arrangements von bis zu 15 Einzelbildern reicht (etwa die Geschichte der Jagd, 335). Die meisten Einzelbilder sind gerahmt, wohingegen die großen Bilder vor allem aus der Zeit des Urknalls ungerahmt sind - ein graphisches Zeichen des noch herrschenden Chaos. Ferner treten Verzahnungen von Bildern auf, so schreitet der griechische Meergott Poseidon von einem stillen Meer zu einer brandungsumtosten Steilküste hinüber (293). Besonders deutlich wird die Verflechtung von Urbildern und Abbildern auf einer Doppelseite (24f), die das buddhistische Rad des Werdens mosaikartig mit Darstellungen von dynamischen Strukturen (Punktmengen, Strahlenbündel, Wirbel) und von technisch-naturwissenschaftlichen Elementen (Atommodellen, Induktionsspule) verknüpft. Ebenso vielfältig sind die inhaltlichen Beziehungen zwischen den Bildern einer Seite. Sie zeigen gleichzeitig lebende Wesen oder zeitliche Entwicklungsformen, aber auch Ähnlichkeiten zwischen Natur und Technik sowie die Lebewesen selbst zusammen mit ihren späteren Darstellungen. Die abendländische Leserichtung (von links nach rechts und von oben nach unten) wird daher immer wieder durchbrochen, denn der Blick kehrt etwa von den antiken Götterbildern wieder zurück zu den Schöpfungsprozessen, die sie abzubilden beabsichtigten. Die Abfolge der Bilder hat ihre eigene Dramaturgie, immer wieder wechseln stille Landschaftsbilder und Detailskizzen mit höchst dramatischen Szenen, die aus dem bekannten Bilderfundus einschlägiger Urzeit-Thriller schöpfen. Dies wird besonders deutlich bei den zahlreichen Szenen von Saurierkämpfen und -fressgelagen, aber auch die riesigen Seeskorpione der Urmeere (190) eignen sich durchaus als archetypische Angstauslöser und als Vorbild für Film-“Monster”. Die kurzen Texte beschränken sich auf das, was die Bilder selbst nicht mitteilen können, sie nennen also die Namen der Lebewesen, machen Zeitangaben und verdeutlichen Kausalbezüge zwischen Einzelbildern. Als zusätzliche Textsorte ist jedem Kapitel eine Zeittafel nachgeschaltet worden, welche die wichtigsten geophysikalischen Ereignisse und biologischen “Neuerungen” noch einmal kompakt und aufeinander bezogen zusammenstellt. Ein Leser, der seine visuellen Eindrücke überprüfen oder vertiefen möchte, findet hier die gewünschten Informationen ohne langes Suchen. Der Anhang enthält nicht nur eine kurze Biographie Harders und einige seiner frühen Zeichnungen (341ff), sondern auch die wichtigsten Bild- und Diagrammsorten, die ihn inspiriert haben. Wir erkennen, mit welchen Strategien die Zeichner unterschiedlicher Epochen die Phasen der Lebensentstehung visualisiert haben. Während eine Bibel aus dem 16. Jahrhundert lediglich Momentaufnahmen der sechs Schöpfungstage aneinander reiht (345), überträgt Haeckel im 19. Jahrhundert das weit aussagekräftigere Modell des Stammbaums aus der Genealogie der Adelshäuser in die Biologie (346). Technisch gesehen handelt es sich um gerichtete Graphen, welche die Abstammungsbeziehungen zwischen verschiedenen Arten nachzuzeichnen vermögen. Der Anhang endet mit einem Vorschlag für Manga- Liebhaber, den Comic vom üblichen “Ende” her zu rezipieren (351), woraufhin die heutige Mannigfaltigkeit der Lebensformen schließlich zur Singularität zusammenschnurren wird. Die Evolution als Comic oder Ein vierdimensionaler Orbis pictus 159 2. Kognitionswissenschaftliche und semiotische Aspekte Die ersten rund 100 Seiten skizzieren die Vorgeschichte der biologischen Evolution. Aus dem Anfangszustand, in dem die physikalischen Gesetze noch nicht gelten, entstehen nach Einsetzen der Gravitation (34) die ersten Sterne (45). Wenn sie als Supernovae explodieren, lassen sie schwerere Elemente für die nächste Sterngeneration zurück. Danach wäre eine “ortsneutrale” Darstellung nicht mehr aufschlussreich, und so richtet sich der Blick von nun an ausschließlich auf unsere kosmische Heimat. Schrittweise bilden sich die Milchstraße (53), die Sonne (56), durch Verdichtung der rotierenden Staubscheibe die Erde (69) und durch Abspaltung unser Mond (74). Wieder vergehen viele Jahrmillionen, bis sich im Urozean organische Moleküle bilden (110), die sich zu immer längeren Ketten vereinigen (113). Schließlich entstehen die ersten einzelligen Lebewesen, die wachsen und sich teilen können (118). Sie “erfinden” die Doppelhelix (127) und verbinden sich zu mehrzelligen Wesen (152), die sich später unter dem wachsenden Erfolgsdruck in die heute noch bestehenden drei Reiche aufspalten, nämlich Pflanzen, Pilze und Tiere (154). Diese Reiche sind auf vielfältige Art miteinander verzahnt; ein Beispiel ist die Ko-Evolution von Blütenpflanzen und Bestäubungsinsekten (286, 319). Die Darstellung der biologischen Evolution ist kognitionswissenschaftlich gesehen ein einprägsames Beispiel für das Zusammenspiel von explizitem und implizitem Lernen. Während nämlich der Leser chronologisch der Entwicklung der Lebensformen folgt, lernt er implizit sehr viel über die grundlegenden Strategien der Evolution, weil er recht bald bestimmte Verlaufsmuster wahrnimmt. Es vertieft sich nicht nur das eher abstrakte Wissen, dass Leben stets eine durchaus “unwahrscheinliche” Gegenbewegung zur Entropie ist, sondern auch die weitaus existentiellere Einsicht, wie bedroht es ständig ist. Gewaltige Katastrophen raffen immer wieder einen Großteil der Lebewesen dahin, vor allem globale Eiszeiten (155, 181, 191, 328), Vulkanausbrüche (244, 280) und Einschläge von Meteoren (298). Aber bisher haben immer einige Arten überlebt, und sobald sich die Lage wieder stabilisiert hat, fächern sie sich in Unterarten auf (“Radiation”) und besetzen die frei gewordenen Nischen. Dabei nützt das Aussterben vorherrschender Arten oft anderen, so konnten sich die vorher “unauffälligen” Säuger erst nach Verschwinden der Saurier über alle Erdteile ausbreiten (249, 296, 304ff). Wer die gesamte Evolution darstellen will, muss notwendigerweise unseren üblichen anthropozentrischen Blickwinkel weitestgehend aufgeben. Folglich werden zentrale Menschheitsthemen neu und nüchtern als “biologische Innovationen” gerahmt, besonders klar und witzig in der lapidaren Aussage “Als wirksame Katalysatoren werden Sex und Tod eingeführt” (149). Indem die Evolution immer neue Körperteile und Verhaltensweisen “erfindet”, macht sie ihre Produkte immer unabhängiger von deren oft lebensfeindlicher Umgebung, etwa durch Augen, Beine (171, 215, 226), Wirbelsäule (188) und Lungenatmung (215) sowie durch Eierlegen (230), Brutpflege (290) und Lebendgebären (309). Dabei wird deutlich, dass viele Neuerungen von verschiedenen Tierstämmen immer wieder neu “erfunden” wurden, beispielhaft das Fliegen von den Insekten (217), Sauriern (255), Vögeln (276) und schließlich von den Fledertieren (311). Allerdings ist die schrittweise Eroberung der drei Lebensräume Wasser, Festland und Luft keine Einbahnstraße, denn sowohl einige Reptilien (252) als auch die Wale und Delphine (315) kehren schließlich wieder ins Meer zurück. Während in der Regel kurze Sätze das bildlich umgesetzte Geschehen erläutern und den Blick des Lesers lenken, muss dieser einen weiteren Meilenstein der Evolution ausschließlich den Bildern entnehmen, nämlich den Übergang von der Kugelzur Bilateralsymmetrie. Im Dagmar Schmauks 160 Präkambrium bestaunt man die fragile Schönheit der einzelligen kugelsymmetrischen Radiolarien (122f), deren Formenvielfalt man von den Haeckelschen Kupferstichen her kennt (wobei zu beachten ist, dass es sich nur um die Innenskelette lebender Einzeller handelt, während die Scheinfüßchen und anderen Organellen fehlen). Eine demgegenüber eher unscheinbare Zeichnung deutet an, wie sich ein ursprünglich zylinderförmiges Wesen abplattet und seitliche Beine entwickelt (160). Bereits im Kambrium hatte sich dieser neue Bauplan weitestgehend durchgesetzt und gipfelte im “Erfolgsmodell” der Gliederfüßer (167, 170). Um diese Innovation besser würdigen zu können, wäre der kurze Hinweis hilfreich gewesen, dass kugel- oder radialsymmetrische Körper zwar optimal zum Schweben im Wasser sind, für eine gerichtete Vorwärtsbewegung aber die spiegelbildliche Symmetrie entschieden vorteilhafter ist. Vor allem die Gestalt der Trilobiten, der Leitfossilien des Kambriums, hat sich schon seit über 500 Millionen Jahren bewährt, und heute wird eine (unbedrohlich kleine) Art ihrer Verwandten als “Urzeitkrebse” im Tierhandel angeboten. Semiotisch besonders reizvoll ist Harders Strategie, die natürlichen Abläufe selbst immer zusammen mit den Darstellungen zu zeigen, die sich die Menschen aller Epochen von ihnen gemacht haben. Sein Ziel dabei war es, “erstmals alle visuellen Vorstellungen über die Entwicklungen ab dem angenommenen Nullpunkt zur Entstehung des uns bekannten Universums zu bündeln”, also eine Art “Bilderbibel” auf dem Boden der Evolutionstheorie zu schaffen (339, vgl. Abschnitt 3). Durch diese Vorgehensweise wird die Evolution eng verwoben mit der Kunstgeschichte, wobei die beiden Chronologien nicht parallel geführt werden. Für die Querbezüge zwischen dem (oft nur indirekt erschließbaren) Urbild und dessen historischen Abbildern greift Harder auf alle bekannten Bilderwelten zu - von Höhlengemälden über christliche Darstellungen der Genesis bis zu zeitgenössischen Comics. Im Kryptozoikum illustriert Hokusais “Große Woge” die Entstehung der Weltmeere (92). Zugleich mit den ersten Bäumen und Blütenpflanzen sehen wir Caspar David Friedrichs “Einsamen Baum” und Van Goghs “Sonnenblumen” (285), und inmitten kämpfender Saurier der Kreidezeit taucht Godzilla auf (295). Das Überleben einiger Tierarten nach globalen Katastrophen wird mit Holzschnitten von Noahs Arche gekoppelt (301ff), die römische Wölfin vertritt die aufkommenden Säuger (309) und Dürers “Feldhase” die ersten Nager (310). Bei Betrachtung solcher Paarungen wird es oft geschehen, dass der Leser selbst weitere Querbezüge entdeckt oder sich reizvolle Visualisierungen ausdenkt. Ferner wird der Blick für die vielfachen Wechselwirkungen geschärft, an die man vorher nicht ausdrücklich gedacht hatte. So hätte sich das irdische Leben ohne das Entstehen eines Magnetfeldes, das die kosmische Strahlung stark abmildert, nicht entwickeln können (85). Weitere physikalische Einflussfaktoren sind die Tageslänge (86, 167), der Zustand der Ozonschicht (137) sowie die Kontinentaldrift, welche die Erdteile immer wieder in heißere oder kältere Klimazonen verschob, so dass sich Flora und Fauna immer neu anpassen mussten (191, 194). Manche Einflüsse sind beiderseitig, so reichern die Pflanzen die Atmosphäre mit Sauerstoff an, was wiederum andere Lebewesen fördert oder beeinträchtigt (136, 143, 225). “Sehenswert” im wörtlichen Sinne sind ferner die Gegenüberstelllungen von natürlicher und technischer Evolution. Ein doppelseitiges Tableau zeigt kämpfende Trilobiten zusammen mit einem Dutzend Szenen aus der menschlichen Waffengeschichte (174f). Es führt vor, dass alle bekannten Kulturen immer leistungsfähigere Waffen schufen, um andere Menschen zu bekämpfen oder zu foltern. Als bildlicher Beleg dieser zerstörerischen Kreativität steht im Zentrum der linken Seite - in der Pose des Heiligen Sebastian - der mittelalterliche Wundenmann, der das gesamte damalige Waffenarsenal von der Schlagwaffe bis zur gerade erst Die Evolution als Comic oder Ein vierdimensionaler Orbis pictus 161 entwickelten Kanonenkugel in seinem Körper trägt. Harder stellt diese frühe illusionslose Synopse auf ein evolutionäres Fundament, indem er zeigt, dass innerartliche Aggressionen ebenso wie der Rüstungswettlauf zwischen Jäger und Beute schon im Erdaltertum begannen (172f). Sobald etwa die Jäger spitze Stachel und Zähne entwickelten, reagierten die Beutetiere mit Panzerplatten und erhöhter Fruchtbarkeit. Bionisch orientierte Bildpaarungen vergleichen Augen mit Kameraobjektiven (171), Außenskelette mit schützenden Gebäuden (176) und Knochenbälkchen mit Spannbrücken (228). Folgerichtig ist ein VW-“Käfer” eingebettet in eine Vielzahl von Käferpanzern (287). Historisch gesehen ist dieser Simulationsansatz jedoch nicht immer zielführend, so belegen die Bilder früher Flugmaschinen (254), dass die technische Nachahmung des Schwingenfluges in eine Sackgasse führt. Während es solchen Querbezügen vor allem um Strukturähnlichkeiten geht, leisten andere Reihungen zeitliche Rückblicke oder Vorausschauen. So können wir beim Entstehen von Flözen schon einen Blick auf Fördertürme, Kohlekraftwerke und Kachelöfen werfen (224, 318), und das Schleudern des ersten Speers setzt sich fort in Tells Apfelschuss und modernen Maschinengewehren (335). Bereits bei den allerersten Organismen verblüfft und entzückt deren Formenvielfalt (122), wobei die Menge der Grundstrukturen begrenzt ist. Mehrere Bildsequenzen zeigen, dass epochenübergreifende Symbole des Menschen in biologischen Formen wurzeln, die wiederum bei ganz verschiedenen Arten auftreten. So findet sich die Spirale bereits in den Außenskeletten von Kopffüßern und in gewundenen Widderhörnern (206). Als Symbol für ständige Entwicklung von einem Ausgangspunkt aus ist sie von jungsteinzeitlichen Triskelen über antike Kapitelle bis zu Jugendstilornamenten in vielen Kulturen nachweisbar. Dass einige Abläufe und Zusammenhänge bislang nur vermutet werden und nicht bewiesen sind, versteht sich von selbst, wenn es um derart riesige und oft nur indirekt erschließbare Zeiträume geht. Weil der Text bewusst lakonisch gehalten ist, um nicht unzulässig präzise zu werden, sind nur wenige Formulierungen direkt anfechtbar. So heißt es in der Trias: “Da grundlegende Mechanismen wirken, werden vergleichbare Habitate stets aufs Neue mit ähnlichen Bauplänen konfrontiert” (249). Das Verb “konfrontieren” stellt hier den kausalen Zusammenhang auf den Kopf, denn es sind die sich durch Mutationen auffächernden Baupläne, die mit dem gegebenen Habitat konfrontiert werden und sich in ihm bewähren müssen. Ein paar Wendungen erscheinen innerhalb eines solide recherchierten Werkes je nach Lesergeschmack als besonders griffig oder aber als etwas zu flapsig, etwa “der Chemiebaukasten klappt auf” (30), “das vulkanische Rührwerk schafft unablässig neues Magma aus den Tiefen herauf” (83), “das Karussell des Wasserkreislaufs [springt an]” (97) oder “die Kontinentaldrift nimmt allmählich Fahrt auf” (138). Einige bildliche Analogien sind recht gewagt, so die Gegenüberstellung des zerbrochenen Urkontinents mit einem zerbrochenen Wandspiegel (156). Eher irreführend ist es, die Kettenbildung organischer Moleküle mit der Kopplung von Güterzugwaggons zu vergleichen (113), denn nur die erstere schafft irgendwann einen qualitativen Sprung. Während die weitaus meisten Formulierungen eine erfreuliche Distanz zu anthropozentrischem Denken belegen, fällt eine Aussage in dieses Denkschema zurück, nämlich dass im Kambrium der Mond “in einen gebührlichen Abstand gerückt” sei (167). Ähnlich widersprüchlich ist die Feststellung, die ersten organischen Moleküle seien in einer “gleichgültigen Umwelt” immer wieder zerfallen (112), denn wie könnte eine empfindungslose Umwelt wohl anders als “gleichgültig” sein? Es scheint fast, als wirke hier der Kummer über den Verlust eines Weltbildes nach, in dem sich ein Schöpfergott noch aufmerksam um jedes seiner Geschöpfe sorgte. Dagmar Schmauks 162 3. Der Comic als Bilderbibel der Evolutionstheorie Wer Lebewesen nicht unreflektiert in “nützliche und schädliche” oder in “schöne und hässliche” einteilt, wird von der Liebe zum Detail begeistert sein, mit der auch unscheinbare Wesen überzeugend in ihrem Lebensraum und bei ihren artspezifischen Tätigkeiten gezeigt werden. Unter diesem Blickwinkel ähneln Harders Bilder besonders deutlich den Blumen- und Insektenbildern der Maria Sibylla Merian sowie Jean-Henri Fabres Zeichnungen von Pilzen und Insekten. Bei der Lektüre werden einige sehr allgemeine Einsichten immer wieder vertieft, die wir zwar schon besaßen, aber vielleicht noch nicht hinreichend mit Anschauungen verknüpft hatten. Die erste betrifft die (wenn auch nur lokale) Sonderstellung der Erde: Es wird klar, wie viele kosmische Zufälle aufeinander folgen mussten, damit unser Heimatplanet heute so vielfältiges Leben trägt, das alle Klimazonen erobert hat. Ebenso wie die Sonne innerhalb der Milchstraße in einer begünstigten Zone liegt, nimmt die Erde im Sonnensystem eine bevorzugte mittlere Position ein, nämlich zwischen den für organisches Leben zu heißen oder zu kalten Nachbarplaneten (68). Wir müssen also davon ausgehen, dass diese “lebensfreundlichen” Eigenschaften innerhalb von Tausenden von Kubiklichtjahren eine Ausnahme sind. Unter diesem Aspekt lohnt es sich, noch einmal zum Anfang zurückzublättern. Die erste Doppelseite erscheint auf den ersten Blick völlig leer, erst später bemerkt man den winzigen roten Punkt, der die hypothetische Singularität abbilden soll (1). Dieses Pünktchen bläht sich auf, entwickelt eine wabernde Struktur und explodiert im Urknall (14f). Die berühmt-berüchtigte metaphysische Frage “Warum ist überhaupt etwas? ” bekommt hier ein witziges bildliches Pendant, denn was wäre gewesen, wenn es gar kein Pünktchen gegeben hätte oder das Pünktchen von Ewigkeit zu Ewigkeit ein Pünktchen geblieben wäre? Neben der abschmetternden Antwort “Dann würde niemand solche (törichten) Fragen stellen” bleibt doch ein tiefes Staunen, das Aristoteles zufolge der Ursprung jeder wirklichen Philosophie ist. Als zweite Einsicht wird deutlich, dass die so selbstverständlich scheinende Unterscheidung von Prozessen und Objekten eine Frage der zeitlichen Auflösung der Beobachtung ist. Im Comic sehen wir in ungeheuerer Zeitraffung die frühen Kontinente zerbrechen und sich neu zusammenfügen, so dass sie treibenden Eisschollen auf einem Fluss ähneln. Immer wieder falten sich bei Zusammenstößen der Erdteile neue Gebirge auf und werden durch die Erosion immer wieder abgetragen, so dass uns die scheinbar feste Erdkruste plötzlich als eine höchst zerbrechliche dünne Hülle über den Kräften im Erdinneren erscheint. Und schließlich erkennen wir immer genauer unsere enge Verwandtschaft mit allen anderen irdischen Lebewesen. Viele Beispiele belegen, dass Teile unseres heutigen Bauplans bis zu den ersten Lebewesen zurückreichen, und dass unter den Anforderungen bestimmter Lebensräume geeignete Körperteile und Fähigkeiten immer wieder entstehen. Gerade dieses Zusammenspiel von Verwandtschaft und Vielfalt macht das irdische Leben so staunenswert. Der aktuelle “Census of Marine Life” (Herbst 2010) erlaubt etwa die Hochrechnung, dass auf jede der derzeit bekannten rund 200.000 Arten von Meereslebewesen vier weitere Arten kommen, die wir noch nicht kennen - wobei zu befürchten ist, dass durch menschliche Einflüsse viele Arten schon ausgestorben sein werden, bevor wir sie überhaupt entdecken. Das durch “Alpha” zugleich vertiefte und mit Anschauungen gefüllte Wissen könnte im Idealfall also auch mehr Achtsamkeit bewirken. Der Mensch ist nach vier Milliarden Jahren biologischer Evolution sozusagen “als letzter gekommen”, hat aber seit der Jungsteinzeit nur wenige Jahrtausende gebraucht, um sich über die ganze Erdoberfläche auszubreiten und sie nach seinen Bedürfnissen umzugestalten. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass diese Die Evolution als Comic oder Ein vierdimensionaler Orbis pictus 163 Entwicklung meist auf Kosten anderer Lebewesen geht. Aufmerksame Betrachter werden sich daher über einige Zeichnungen freuen, die als witzige und sarkastische Kommentare in den Ablauf der Evolution eingestreut sind. Als etwa im Silur die ersten Urfische stabile Panzerplatten ausbilden, um sich gegen die vorherrschenden Kopffüßer zu verteidigen, wird die Erwähnung von “sich anbahnenden Bedrohungen” durch drei Bilder aus ferner Zukunft verdeutlicht, nämlich eine Tunfischdose, ein enges Goldfischglas und eine Ölbohrinsel (195). Vor allem die Bohrinsel wirkt sehr prophetisch, war doch Harders Buch (in der ersten französischen Fassung) bereits gedruckt, als Deepwater Horizon am 20. April 2010 explodierte, versank und eine gigantische Ölpest verursachte. Die gelungene Kombination von ernsthaftem Lehrbuch und künstlerischer Darstellung macht “Alpha” zu einer rundum empfehlenswerten Lektüre - insbesondere auch für Leser, die sich beruflich mit Bildern und verschiedenen Techniken der Visualisierung beschäftigen. Man darf also auch darauf gespannt sein, wie Harder im geplanten Folgeband “Beta” die Geschichte des modernen Menschen nachzeichnen und schließlich in “Gamma” die Zukunft ins Bild setzen wird.