eJournals Kodikas/Code 33/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2010
331-2

Simon Meier: Beleidigungen. Eine Untersuchung über Ehre und Ehrverletzung in der Alltagskommunikation (= Essener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung 20), Aachen: Shaker Verlag 2007, 140 S., ISBN 978-3-8322-6265-5

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2010
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod331-20165
Reviews Simon Meier: Beleidigungen. Eine Untersuchung über Ehre und Ehrverletzung in der Alltagskommunikation (= Essener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung 20), Aachen: Shaker Verlag 2007, 140 S., ISBN 978-3-8322-6265-5 Simon Meiers Studie über “Beleidigungen” basiert auf seiner Magisterarbeit am Essener Institut für Kommunikationswissenschaft. Magisterarbeiten werden normalerweise und meist zu Recht nicht publiziert. Das Essener Institut hat sich jedoch zur Aufgabe gemacht, herausragende Forschungsbeiträge des akademischen Nachwuchses in einer eigenen Reihe herauszugeben, wenn sie es nach strengen Maßstäben verdienen. Dies ist hier der Fall. Meier klärt in einem theoretischen Teil zunächst überzeugend die Begrifflichkeit und kommunikationstheoretischen Grundlagen seines Vorhabens, Beleidigungen als kommunikative Prozeßelemente der Ehrverletzung zu beschreiben, die er im zweiten, empirischen Teil anhand gut gewählter Beispiele aus der Literatur exemplarisch veranschaulicht. In einer kurzen methodologischen Vorbemerkung betont der Verf. unter Verweis auf Ungeheuers Unterscheidung zwischen kommunikativem und extrakommunikativem Umgang (Ungeheuer 1972) die verschiedenen Verhaltensweisen des Vollzugs und der Beobachtung (S. 7). Er möchte sich vornehmlich dem Vollzug widmen, also der Betrachtungsweise der Beteiligten während der Situation, in der eine Äußerung als Beleidigung empfunden wird. Ein hoher Anspruch, den er denn auch schnell wieder ein wenig relativiert, da diesen durch wissenschaftliche Beobachtung vollständig einzulösen kaum möglich ist (S. 8). Ein Überblick über die verschiedenen Disziplinen (genannt werden Rechtswissenschaft, Psychologie, Linguistik, Soziologie, Interaktionsforschung, Sozialanthropologie und Geschichtswissenschaften), die sich mit ‘Beleidigungen’ beschäftigen, deutet die interdisziplinäre Verankerung des Themas an. Der Sozialpsychologe und Interaktionsforscher Erving Goffman etwa hat bereits Anfang der 1970er Jahre betont, daß, wie der Verf. beifällig in Erinnerung ruft (Goffman 1974), “die Bedeutung von Zwischenfällen, wie sie sich den Beteiligten selbst darstellt, wesentlich von den Anschlusshandlungen abhängt, durch die jene erst vermittelt wird” (S. 17). Folgerichtig definiert er den Begriff der Ehre in interaktionistischer Weise (S. 23): Ich habe ‘Ehre’ bereits allgemein als Achtungsanspruch definiert. Aus der Sicht des Ehrenträgers beruht seine Ehre auf dem Wert, den er sich selbst zumisst, und gemäss dem er auch von anderen Personen behandelt zu werden erwartet. Ehre besteht jedoch nicht allein in diesem Wert, sondern auch in dem aus diesem ableitbaren Anspruch, der durch die Achtung anderer, die sich in ehrgemässer Behandlung manifestiert, erfüllt wird - sei es in Worten und Taten, durch ‘zuvorkommende’ Ehrerbietung oder Rücksichtnahme. Dabei könne von einer ‘inneren Ehre’ und einer ‘äußeren Ehre’ gesprochen werden, also von einem Achtungsanspruch und von der Erfüllung dieses Anspruchs durch Achtung. Meier betont die Zugehörigkeit des einzelnen zu einer Gruppe mit den dazugehörigen Normen und Erwartungshaltungen sowie die Einbettung des einzelnen Phänomens in einen Interaktionsprozeß. Beleidigungen werden also nicht nur als verbale Äußerungen untersucht, sondern unverkürzt als kommunikative Prozesse. Die plausible Begründung dafür ist, daß Beleidigungen erst durch die Auffassung und Reaktion des Gesprächspartners als solche wahrgenommen werden. Die kommunikationstheoretischen Ansätze von Gerold Ungeheuer (Ungeheuer 1987), der von einer prinzi- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews 166 piellen Zweiteiligkeit spricht, und das Eindrucksmodell von Karl Bühler (Bühler 1978), das den Hörer stets miteinbezieht, bilden hier natürlich den Argumentationshintergrund (ähnliche Überlegungen in Hess-Lüttichs Dialoglinguistik von 1981, die ebenfalls in diese Richtung zielen, bleiben hier entbehrlich). Den Sinn von Beleidigungen sieht der Autor als ein interaktives Konstrukt: Alfred Schütz’ Sinnbegriff (Schütz 1974) steht hier Pate, wonach der subjektive Sinn eines Handelns als ein ‘Umzu-Motiv’ betrachtet werden kann, das subjektiv und nur dem Handelnden zugänglich ist, während das ‘Weil-Motiv’ hauptsächlich für den Beobachter verständlich ist. Dies führt dazu, daß der Hörer den Sinn der Mitteilung durch das Aufsuchen der ‘Um-zu-Motive’ des Sprechers zu deuten sucht, was durch den subjektiven Sinn des Sprechers dem Hörer aber nur mittelbar zugänglich ist. Es sei entscheidend, daß sich “der Sinn eines Verhaltens, einer Handlung, einer Äusserung im Prozess des Verhaltens, des Handelns, der Kommunikation konstituiert, und zwar durch die Sinnsetzung und deutung der Beteiligten selbst” (S. 41). Auf dem so bereiteten Boden widmet sich der Verf. dann im zweiten Teil seines Büchleins ausgewählten literarischen Beispielen, was er in realistischer Einschätzung des linguistischen mainstreams zunächst methodologisch zu rechtfertigen sich bemüßigt sieht. Mit Ungeheuer (1980), der die “Konstruktion von literarischen Dialogen als Projektion der kommunikativen Gesamterfahrung des Autors” sieht (S. 56), reflektiert Meier die Probleme einer empirischen Untersuchung natürlicher Gespräche gerade beim Aufzeichnen von Beleidigungssequenzen, da ein Tonmitschnitt kaum ausreichend für eine umfassende Untersuchung sei. Zudem würden in einem literarischen Text auch die psychosozialen Hintergründe, die bei Beleidigungen ausschlaggebend sein können, dem Leser plausibilisiert. In freier Orientierung an Batesons heuristischem Schema zur qualitativen Beschreibung schismogenetischer Prozesse (Bateson 1981) analysiert Meier zu Beginn die Rollenverhältnisse der Beteiligten und betrachtet die korrektiven Schritte, die in verschiedenen Stilen durchgeführt werden können und die mit der sozialen Beziehung der Betroffenen variieren. Dann unterteilt er die Kommunikationsebenen grob in eine verbale, eine paralinguistische und eine nonverbale Ebene. Beleidigungen können außer durch die verletzende Kraft in den Worten selbst auch auf der paraverbalen Ebene (etwa durch prosodische Markierungen) und auf der nonverbalen (durch Mimik, Gesten und Gebärden) als solche erkannt werden. Hämisches Grinsen oder das abrupte Zuwenden des Rückens können dazu führen, eine Äußerung als Beleidigung aufzufassen, aber auch dazu genutzt werden, dem Gesprächspartner das eigene Beleidigtsein zu anzeigen. Alle Codierungsebenen können also dazu dienen, beleidigende Äußerungen zu kontextualisieren und sie als solche zu erkennen. Für die Beurteilung einer beleidigenden Äußerung sind die kommunikativen Schritte charakteristisch, die Meier nach den Konventionen der Dialoglinguistik grob unterteilt in die beleidigende Äußerung per se, die Reaktion und die Reaktion auf die Reaktion. Dazu bietet er etliche Beispiele, von wortlosen Reaktionen über Gegenbeleidigungen, Entrüstung oder Ausdruck des Gekränktseins, bis zu Entschuldigungen im Goffmanschen Sinne korrektiver Tätigkeiten. In jedem Falle sind beleidigende Äußerungen in Hintergrundserwartungen eingebettet, die auf Normen, Erwartungen und Werte der Beteiligten verweisen. In diesem Sinne kann auch hier wieder von Achtungsansprüchen gesprochen und eine Reaktion auf Beleidigungen als Angebot im Prozeß der Aushandlung der eigenen Ehre verstanden werden. Dies setzt jeweils die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (Schütz) zur Entwicklung einer sozialen Identität voraus. Zu den psychosozialen Faktoren kommen äußere Einflußfaktoren hinzu. Öffentlichkeit, Publikum, die Gruppe der Umstehenden spielen ihre Rolle, Sinn, Wirksamkeit und Folgen von Beleidigungen zu beeinflussen und über die Angemessenheit der Reaktion zu urteilen. Aufgrund der gesellschaftlichen Normierung von Bedeutungen werden den meisten Fällen die Gründe für das jeweilige Beleidigtsein des Gegenübers erkannt und Entschuldigungen genau an diesen Stellen eingesetzt. Im Fazit seiner bestechenden Studie hebt der Autor noch einmal seinen Ansatz hervor, die Beleidigung als kommunikatives Geschehen zu beschreiben und deshalb statt einzelner Äußerungen Beleidigungssequenzen zu analysieren, sowie seine Prämisse, daß die Ehre einer Person durch Interaktion erzeugt werde und diese wiederum präge. Die Verwendung literarischer Texte und die weit gestreute Herkunft seiner Beispiele aus verschiedenen Epochen und Kulturen, welche Reviews 167 sich gleichwohl in den Erfahrungshintergrund heutiger Leser einzupassen vermögen, legen nahe, daß selbst ritualisierte Formen der Verletzung und Wiederherstellung der Ehre wie etwa im Duell auf alltagsweltlichen Grundlagen beruhen. Die von Historikern und Sozialanthropologen untersuchten Strukturen der Ehre und Ehrverletzung sind also nicht auf archaische Gesellschaften beschränkt. Der Einschätzung des Betreuers der Arbeit, H. Walter Schmitz, sei hier nicht widersprochen, wenn er in seinem Vorwort schreibt: “Mit seiner […] strengsten Anforderungen wissenschaftlichen Arbeitens genügenden Untersuchung hat Simon Meier erstmalig eine kommunikationswissenschaftliche Theorie der Beleidigung vorgelegt, die dem Forschungsstand wie allen andern Ansprüchen auf überzeugende Weise zu genügen weiß” (vi). Literatur Bateson, Gregory 1981: “Bali: Das Wertesystem in einem Zustand des Fließgleichgewichts”, in: id.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 156-181 Bühler, Karl 1978: Die Krise der Psychologie, Frankfurt/ Main etc.: Ullstein Goffman, Erving 1974: “Der korrektive Austausch”, in: id.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 138-254 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 1980: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1981: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008: “HimmelHerrgott- Sakrament! Gopfridstutz! und Sacklzement! Vom Fluchen und Schimpfen - Malediktologische Beobachtungen”, in: Kodikas/ Code 31.3-4 (2008): 327-338 Schütz, Alfred 1974: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Ungeheuer, Gerold 1980: “Gesprächsanalyse an literarischen Texten”, in: Hess-Lüttich (ed.) 1980: 5-22 Ungeheuer, Gerold 1987: “Vor-Urteile über Sprechen, Mitteilen, Verstehen”, in: id.: Kommunikationstheoretische Schriften I: Sprechen, Mitteilen, Verstehen, Aachen: Rader, 290-338 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Sonja Neef: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin: Kadmos 2008, 360 S., ISBN 978-3- 86599-037-2 Das Buch der an der Bauhaus-Universität zu Weimar tätigen Kultur- und Medienwissenschaftlerin Sonja Neef basiert auf ihrer Habilitationsschrift, die eine Entwicklungsgeschichte der Handschrift nachzuzeichnen und dabei zugleich Materialität, Funktionalität, Strukturalität von Schrift und Schriftkultur zu reflektieren strebt. Schreiben in der heutigen hoch technisierten Kommunikationsgesellschaft sei auf durch Computerprogramme erzielte Operationen eingeschränkt, nicht mehr das Produkt unserer Hand, sondern ein durch Algorithmen erzeugtes Raster von Nullen und Einsen auf Bildschirmen oder anderen Oberflächen (S. 23). Die physische Materialität, die für die Anfertigung von Schrift notwendig ist, setze jedoch die Hand des Menschen voraus, die sich in Spur und Abdruck, in Ikon und Index manifestiere. Die Handschrift gilt der Autorin als Zeuge einer Abwesenheit, die sich durch ein anwesendes Zeichen vergegenwärtige. Ihr Ziel besteht freilich nicht darin, das Schreiben ‘mit der Hand’ in einen Gegensatz zu den technischen Schreibweisen zu setzen, sondern das Binärschema zur Ausdifferenzierung dessen zu nutzen, was Handschrift eigentlich ist, und zu verstehen, und wie sie medienkulturell operiert; sie trauert der Handschrift also nicht etwa nach, sondern es geht ihr vielmehr darum, einen Rundgang durch die historische Entwicklung der Handschrift zu machen, von der rudimentären Fährte auf dem Boden bis zu dem digitalisierten Word-Prozessor auf dem PC - kurz: Handschrift vom Bildschirm her zu denken. In der vier einleitenden Kapiteln des Buches (vielleicht etwas unnötig aufgedonnert unterteilt in “Exergum”, “Präambel”, “Prolegomenon” und “Vor-Rede”, die sich über gut 170 Seiten dehnen) sucht die Autorin den Begriff von Handschrift zu explizieren, indem sie ihn unter zwei komplementären Prinzipien betrachtet: als “Abdruck” und “Spur” einerseits, als “Ikon und Index” andererseits. Sie schaut zurück auf die Anfänge der Handschrift an und beschreibt ihre Konfrontation mit den jeweils ‘neuen technischen Medien’: die Hand, der Griffel, die Feder, die Buchdruckkunst, die Schreibmaschine,