Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2010
331-2
Sonja Neef: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin: Kadmos 2008, 360 S. ISBN 978-3-86599-037-2
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2010
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod331-20167
Reviews 167 sich gleichwohl in den Erfahrungshintergrund heutiger Leser einzupassen vermögen, legen nahe, daß selbst ritualisierte Formen der Verletzung und Wiederherstellung der Ehre wie etwa im Duell auf alltagsweltlichen Grundlagen beruhen. Die von Historikern und Sozialanthropologen untersuchten Strukturen der Ehre und Ehrverletzung sind also nicht auf archaische Gesellschaften beschränkt. Der Einschätzung des Betreuers der Arbeit, H. Walter Schmitz, sei hier nicht widersprochen, wenn er in seinem Vorwort schreibt: “Mit seiner […] strengsten Anforderungen wissenschaftlichen Arbeitens genügenden Untersuchung hat Simon Meier erstmalig eine kommunikationswissenschaftliche Theorie der Beleidigung vorgelegt, die dem Forschungsstand wie allen andern Ansprüchen auf überzeugende Weise zu genügen weiß” (vi). Literatur Bateson, Gregory 1981: “Bali: Das Wertesystem in einem Zustand des Fließgleichgewichts”, in: id.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 156-181 Bühler, Karl 1978: Die Krise der Psychologie, Frankfurt/ Main etc.: Ullstein Goffman, Erving 1974: “Der korrektive Austausch”, in: id.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 138-254 Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 1980: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1981: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008: “HimmelHerrgott- Sakrament! Gopfridstutz! und Sacklzement! Vom Fluchen und Schimpfen - Malediktologische Beobachtungen”, in: Kodikas/ Code 31.3-4 (2008): 327-338 Schütz, Alfred 1974: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Ungeheuer, Gerold 1980: “Gesprächsanalyse an literarischen Texten”, in: Hess-Lüttich (ed.) 1980: 5-22 Ungeheuer, Gerold 1987: “Vor-Urteile über Sprechen, Mitteilen, Verstehen”, in: id.: Kommunikationstheoretische Schriften I: Sprechen, Mitteilen, Verstehen, Aachen: Rader, 290-338 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Sonja Neef: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin: Kadmos 2008, 360 S., ISBN 978-3- 86599-037-2 Das Buch der an der Bauhaus-Universität zu Weimar tätigen Kultur- und Medienwissenschaftlerin Sonja Neef basiert auf ihrer Habilitationsschrift, die eine Entwicklungsgeschichte der Handschrift nachzuzeichnen und dabei zugleich Materialität, Funktionalität, Strukturalität von Schrift und Schriftkultur zu reflektieren strebt. Schreiben in der heutigen hoch technisierten Kommunikationsgesellschaft sei auf durch Computerprogramme erzielte Operationen eingeschränkt, nicht mehr das Produkt unserer Hand, sondern ein durch Algorithmen erzeugtes Raster von Nullen und Einsen auf Bildschirmen oder anderen Oberflächen (S. 23). Die physische Materialität, die für die Anfertigung von Schrift notwendig ist, setze jedoch die Hand des Menschen voraus, die sich in Spur und Abdruck, in Ikon und Index manifestiere. Die Handschrift gilt der Autorin als Zeuge einer Abwesenheit, die sich durch ein anwesendes Zeichen vergegenwärtige. Ihr Ziel besteht freilich nicht darin, das Schreiben ‘mit der Hand’ in einen Gegensatz zu den technischen Schreibweisen zu setzen, sondern das Binärschema zur Ausdifferenzierung dessen zu nutzen, was Handschrift eigentlich ist, und zu verstehen, und wie sie medienkulturell operiert; sie trauert der Handschrift also nicht etwa nach, sondern es geht ihr vielmehr darum, einen Rundgang durch die historische Entwicklung der Handschrift zu machen, von der rudimentären Fährte auf dem Boden bis zu dem digitalisierten Word-Prozessor auf dem PC - kurz: Handschrift vom Bildschirm her zu denken. In der vier einleitenden Kapiteln des Buches (vielleicht etwas unnötig aufgedonnert unterteilt in “Exergum”, “Präambel”, “Prolegomenon” und “Vor-Rede”, die sich über gut 170 Seiten dehnen) sucht die Autorin den Begriff von Handschrift zu explizieren, indem sie ihn unter zwei komplementären Prinzipien betrachtet: als “Abdruck” und “Spur” einerseits, als “Ikon und Index” andererseits. Sie schaut zurück auf die Anfänge der Handschrift an und beschreibt ihre Konfrontation mit den jeweils ‘neuen technischen Medien’: die Hand, der Griffel, die Feder, die Buchdruckkunst, die Schreibmaschine, Reviews 168 die elektrischen und elektronischen Apparate, der Fotokopierer, das Faxgerät, der digitale Scanner usw. Des weiteren richtet sich Neefs Interesse auf jene Regionen, in denen dieser Rundblick zirkulär wird, indem das sehr Neue und das sehr Alte aufeinandertreffen (z.B. Leonardo da Vincis Manuskriptfragmente auf T-Shirts usw.); später kommt sie auf Anne Franks Tagebuch zu sprechen, auf Graffity und Tattoos. Den theoretischen Bezugsrahmen liefern Jacques Derridas Argumente über das Verhältnis von Sprache und ihrer medialen ‘Performance’. Eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis von Neefs These besteht darin, den genauen Unterschied zwischen den Begriffen “Abdruck” und “Spur” herauszuarbeiten. Der eine bezeichne die mechanische bzw. digitale Kopie, den standardisierten Abdruck (“empreinte”), der andere impliziere über das Schreiben mit der Hand hinaus das Identitätsprinzip, das dem Menschen in evolutionärem und biologischem Sinne innewohne. Die Frage nach der Autographie, dem Zug (“trace”) der physischen, einzigartigen und authentischen Schreibhandlung, werde hier neu gestellt (S. 25). Handschrift behaupte wie keine andere Schrift physische Authentizität und Singularität. Dazu lautet Neefs These, daß es “nicht ein final dichotomisch strukturiertes Binärpaar von Druckschrift im Sinne von mechanischen, technischen oder digitalen Schreibweisen einerseits und Handschrift im Sinne einer individuellen, unikaten und singulären Spur andererseits” gebe, sondern die Prinzipien von “Abdruck” und “Spur” seien historisch wie systematisch “immer schon” ineinander verzwirnt (S. 25). Über den Ursprung von Schrift gibt es zahlreiche Theorien und Mythen. Dazu zitiert die Autorin Carlo Ginzburg, der in seinem Buch Spurensicherung feststellt, daß Schrift menschheitshistorisch in jenem Moment entstehe, als der Jäger die Fährte des von ihm gejagten Tieres aufnimmt, in dem Moment, in dem der Jäger zu ‘lesen’ beginne. Es ist gewiß diese Fähigkeit, ein Anwesendes als Zeichen für ein Abwesendes zu begreifen und zudem aus der Art des Zeichens Rückschlüsse auf die Art des Abwesenden zu ziehen, was zur Erfindung der Schrift geführt hat. (Ginzburg erinnert in diesem Zusammenhang an einen chinesischen Mythos, wonach man die Erfindung der Schrift einem hohen Würdenträger zuschreibt, der im sandigen Flussufer die Fußabdrücke eines Vogels beobachtete). Damit weist Neef auf die Ambivalenz von “Ikon” und “Index” hin, um die philosophischanthropologischen Prinzipien der Schrift besser zu verstehen. Als Schrift ist der Abdruck eines Vogelfußes im sandigen Flussufer ein Zeichen dafür, daß dort ein Vogel lief, der, indem er seine Klaue in den Sand drückte, eine Spur hinterlassen hat. Der Abdruck ist Ikon einer Spezies und zugleich Index des Vogels als eines Einzelwesens (Metonymie). Zeichenhafte, also ‘lesbare’ Schrift wird dieser Abdruck erst, nachdem der Fuß aus dem Sand gehoben ward: dann tritt er als Ikon und Index in Erscheinung. Erst in der Abwesenheit des Vogels nimmt seine Anwesenheit Gestalt an. So lassen sich die beiden Prinzipien von Abdruck und Spur bzw. von Ikon und Index in der Geschichte von Schrift und Handschrift immer wieder beobachten. Der Abdruck ist die Basisoperation des mechanisierten Schreibens, die Spur ist der Beweis einer Präsenz, deren einzelne Merkmale sich durch gezogene Linien äußern läßt, die als Ikon und Index ebenderselben gelten. Neef beschreibt den Unterschied zwischen Schrift, Schriftlichkeit und Schriftsystem auch aus pädagogischer und linguistischer Sicht, vor allem aber aus paläontologischer Perspektive. Die Paläontologie befaßt sich mit der Materialität von Schreibinstrumenten und sucht ihren Gegenstand im “palaios”, dem “Alten”, der “Urschrift”. Sie rekonstruiert die historische Evolution von Handschreibtechniken, die in Lehm, Sand, Wachs, Holz, Stein oder auf Papyrus, Pergament, Papier, Leinwand, Schiefertafel, Schreibpad usw. “über Jahrtausende hinweg von Medienwechsel zu Medienwechsel tradiert” wurden (S. 27) und untersucht die Beziehung zwischen Handschrift und Kulturpraktiken. Neef stellt die manchmal vertretene These in Frage, daß Handschrift eine ‘aussterbende Kulturtechnik’ sei, was der allgemeinen Entmanualisierung von Kultur und Technik seit dem Zeitalter von Industrialisierung und Massenmedialisierung geschuldet sei. Demgegenüber verteidigt sie den Standpunkt, daß bei allen Errungenschaften, die zu dieser Entmanualisierung zu führen scheinen, die Hand als neuro-motorisches Dispositiv nicht nur für die Genealogie des Schreibens, sondern für die Evolution des Menschheitsgeschlechts ihre Geltung bewahre. Dabei stützt sie sich auf André Leroi-Gourhains opus magnum Hand und Wort, in dem dieser die Hand “vom Archanthropus bis zum modernen Menschen als Reviews 169 zentrale Triebfeder des Menschenwerdens” betrachte (S. 28). Für die Autorin ist ‘Handschrift’ nicht nur eine Schrift, die mit der Hand geschrieben wird, von Hand gefertigt sind auch die Einritzungen in Baumrinden oder die gestempelten Hieroglyphen der mesopotamischen Schriftkultur. Auch den Hieroglyphen der Rosette liegen zwei Basisoperationen zugrunde. Eine Schreibtechnik ist das Ritzen, Stechen oder Graben von Inschriften mit einem Stilus, der sich eindrückt (daher glujein = ritzen). Die andere - und dabei kommt die ‘Spur’ der Handschrift ins Spiel - trägt Schreibflüssigkeit auf eine Schreiboberfläche auf und erzeugt damit Aufschriften (S. 75). Diese Unterscheidung ist grundlegend, wenn man der historischen Evolution der Handschrift folgen will: Handschrift als ‘Spur’ gehört zu den Aufschriften, Handschrift als ‘Abdruck’ zu den Inschriften in Pyramiden, Tempeln oder Grabanlagen. So begründet sich der Unterschied zwischen dauerhaften “monumentalen” (monere = bedenken) Inschriften und “dokumentarischen” (docere = unterrichten) Aufschriften. Anhand dieser Differenzierung beschreibt Neef die Entwicklung der sinaitischen, phönizischen, griechischen und etruskischen Schrift sowie die Entstehung der Kurrentschrift, der Majuskel- und Minuskelschrift. Ein anderes Kapitel widmet die Autorin der Beschreibung der historischen Evolution von Schreibtechniken, stellt den Übergang von traditionellen Schreibtechniken auf Papyrus über moderne wie den Buchdruck bis zu den digitalisierten wie beim Word-Prozessor dar und erläutert die Entwicklung zur Industrie- und Mediengesellschaft, die nach Schnelligkeit, Ästhetik und Effektivität beim Schreiben verlangt. Die Frage nach Handschrift und Schriftkultur gewinnt ohne Zweifel an Bedeutung im Kontext der heutigen globalisierten und technisierten Mediengesellschaft. Das Interesse an der Medienkultur, an ihrer Transformation und Materialität, gehört auch zu einem der dynamischsten Forschungsgebiete der Diskursanalyse. Lesenswert ist das Buch für jeden, der ein kritisches Verständnis von Schriftkultur erstrebt, es weckt Lust darauf, nicht nur wieder einmal in eine der klassischen Studien zur Schriftentwicklung (wie Haarmann 1991 oder Robinson 1996) zu schauen oder zeichentheoretisch gegründete Reflexionen über Schriftkultur (wie die hier nicht zitierte gründliche Studie von Stetter 1997) heranzuziehen, sondern selbst wieder zum Füllfederhalter zu greifen und ‘eigenhändig’ Linien zu ziehen und ein paar Zeilen zu schreiben. Literatur Daniels, Peter T. & William Bright (eds.) 1996: The World’s Writing Systems, New York/ Oxford: Blackwell Haarmann, Harald 1991: Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt/ New York: Campus Robinson, Andrew 1996/ 2004: Die Geschichte der Schrift, Bern: Haupt; Düsseldorf: Albatros Stetter, Christian 1997: Schrift und Sprache, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Peter Gendolla & Jörgen Schäfer (eds.).: The Aesthetics of Net Literature. Writing, Reading and Playing in Programmable Media, Bielefeld: transcript 2007, 388 S., ISBN 978-3-89942-493-5 Mit dem hier zu besprechenden Band über The Aesthetics of Net Literature geben der Sprecher des hochproduktiven kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche der Universität Siegen, Peter Gendolla, und sein Kollege Jörgen Schäfer zum zweiten Mal gemeinsam einen Band der gleichnamigen Schriftenreihe heraus, die ihrerseits bereits 24 Bände umfaßt und der Untersuchung von Veränderungen des Mediensystems zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert gewidmet ist. Der vorliegende 16. Band dieser Reihe ging aus einer vom Kolleg im November 2004 in Siegen durchgeführten Konferenz über “Netzliteratur. Umbrüche in der literarischen Kommunikation” hervor und versammelt 17 Beiträge, die zum Zwecke internationaler Wahrnehmung überwiegend ins Englische übertragen wurden. Ihnen gemeinsam ist das Interesse an (Um-) Brüchen der ‘literarischen Kommunikation’ in computerisierten, vernetzten Medien. Computer können längst nicht mehr im Sinne überkommender Kommunikationsmodelle der Publizistikwissenschaft als einfache Kanäle der Nachrichtenübermittlung gelten, sondern greifen in den Pro-