Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2010
331-2
Markus A. Hediger, Benjamin Stein & Hartmut Abendschein (eds.): Literarische Weblogs (= spa_tien. zeitrschrift für literatur 5), Bern: edition taberna kritika 2008, 130 S., ISBN 978-3-905846-00-3
61
2010
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Peter Dängeli
kod331-20173
Reviews 173 Friedrich W. Block, Christiane Heibach & Karin Wenz (eds.) 2001: p0es1s. Ästhetik digitaler Literatur / Aesthetics of digital literature (= K ODIKAS / C ODE Special Issue 24), Tübingen: Gunter Narr Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2001/ 2005: “Net-Art. Neue Aufgaben der Medienästhetik und Telesemiotik”, in: Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.), Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Ansätze der Medienästhetik und Telesemiotik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag [2001]; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [2005], 9-32 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2003: “Netzliteratur - ein neues Genre? ”, in: Acta Germanica. German Studies in Africa (= Jahrbuch des S AGV ) 30/ 31 (2003): 139-156 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2006: “Net-lit - a new genre? Contemporary digital poetry in the German speaking countries - a survey”, in: Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.), Media systems - their evolution and innovation (= K ODIKAS / C ODE Special Issue 29), Tübingen: Gunter Narr, 321-336 Ernest W.B. Hess-Lüttich & Peter Dängeli (Bern) Markus A. Hediger, Benjamin Stein & Hartmut Abendschein (eds.): Literarische Weblogs (= spa_tien. zeitschrift für literatur 5), Bern: edition taberna kritika 2008, 130 S., ISBN 978-3- 905846-00-3 Das Sonderheft der Berner Literaturzeitschrift mit dem hübschen Titel spa_tien versammelt zwölf Texte zum Thema Literarische Weblogs von Autoren, die jeweils ein eigenes Weblog führen und beim Internetportal “litblogs.net”mitarbeiten (www.litblogs.net). Die meisten Texte entstammen diesen Weblogs. Das Vorwort von Markus Hediger stellt zunächst die Frage, was ‘literarische Weblogs’ eigentlich seien, um sie dann aber sogleich wieder fallen zu lassen. Die gibt dafür Alban Nikolai Herbst mit seinen “Thesen zu einer möglichen Poetologie des Weblogs”: es unterscheide sich vom Printmedium durch seine Unmittelbarkeit und Sozialität. An die Stelle der Einsamkeit des Dichters trete die community, ein Publikum erhalte unmittelbar Einblick ins künstlerische Schaffen und könne jederzeit mit dem Autor in Kontakt treten. Als “eine Art im Internet öffentlich geführtes Tagebuch meist privaten, weniger häufig themengebundenen Inhalts” und oft mit der Möglichkeit der Kommentierung, werde ein Weblog nicht schon dadurch zu einem ‘literarischen Weblog’, daß es literarische Texte veröffentliche, also Statthalter eines Printmediums im Netz sei, sondern erst dann, wenn es sich zu einer Publikationsform entwickle, die sich selber zum poetischen Gegenstand mache, “indem auch die sie basierende Technologie poetisiert und in die Gestaltung einbezogen” werde (S. 18). Der Prozeß der Entstehung werde selber zum Gegenstand des Kunstwerks: ein Buch sei immer schon ‘fertig’, ein literarisches Weblog fortlaufend im Entstehen begriffen. Dem Einwand, daß das kulturelle Gedächtnis durch den Transfer auf neue Medien aufgrund ihrer größeren Flüchtigkeit ausgelöscht werde, sucht Herbst zu begegnen, indem er darauf hinweist, daß die stets mitverarbeiteten Inhalte sich jederzeit aus ihrem Zusammenhang lösen ließen und dann getrennt und herkömmlich publiziert werden könnten. Flüchtig sei demnach das literarische Weblog nur insofern es als Gestalt Kunst sein wolle. Markus A. Hediger ist in den literarischen Weblogs die zentrale Stellung des Ausdrucks Ich aufgefallen, durch dessen privilegierte Stellung es dem Leser zufalle, sich ein Bild des Autors zu machen, wodurch dieser ein machtvolles Instrument zur Hand habe (S. 32). Inwiefern unterscheiden sich Weblogs diesbezüglich von anderen literarischen Gefäßen? Als definierendes Merkmal für die Literarizität eines Weblogs ist die Verwendung der Ich-Perspektive wenig geeignet, weil nicht ausreichend distinkt. Hartmut Abendschein will sich durch die Interviewform zwar von einer schriftlich manifestierten Poetik des Weblogs distanzieren (S. 41), aber in den Ausführungen zu seinem Weblog T ABERNA K RITIKA kommen dennoch einige Charakteristika von Weblogs zur Sprache. Die unterschiedlichsten Texte, die innerhalb eines langen Textflusses und durch wechselseitige Dynamiken entstehen, sollen dabei doch einigen Regeln gehorchen. Die technische Verknüpfung durch Links trete dabei in den Hintergrund, elementar seien die mentalen Verknüpfungsprozesse, die bei der Rezeption der Texte abliefen. Verknüpfung, Recherche, Poetisierung und Einbezug guter Kommentare sollen im Weblog den kreativen Prozess begünstigen. Michael Perkampus, Betreiber des Weblogs P.-’s Veranda, schildert im Plädoyerstil die Entwicklungen, welche dem klassischen Literatur- Reviews 174 betrieb ins Haus stünden. Dank Weblogs sei es jedermann möglich, selbstverfaßte Texte zu veröffentlichen. In der Konsequenz lösten sich die Modelle “Autor/ Lektor” und “Buch/ Verlag” immer mehr auf. Die Entscheidung, was Texte guter Qualität seien, liege nun beim Leser. Leser wie Autor würden “in diesem Zustand der Freiheit völlig autark” (S. 50). Dies sucht Perkampus anhand seiner eigenen Schreibpraxis zu illustrieren. Beim Feilen an mehreren Textfassungen ging er dazu über, jeden Arbeitsschritt sogleich zu veröffentlichen. Als Nebenprodukt würden dadurch Materialien der Analyse oder Interpretation zugänglich gemacht, die früher den Rezipienten nie greifbar gewesen seien. Der Verf. hat offenbar nie eine historisch-kritische Ausgabe in der Hand gehabt. Der Überschwang seines Sendungsbewußtseins als Pionier literarischer Weblogs trübt ein wenig seinen Blick auf die Realität. Sollen die poetischen Beiträge zu “Schlüsseln in einem gigantischen Datenstrom” werden, wie es der Beitrag prophezeit, müßte dieser ansatzweise überblickbar sein, was mit der ungebremst steigenden Zahl der Schreibenden und mithin Datenproduzierenden immer unwahrscheinlicher werden dürfte. Für Sudabeh Mohafez ist Schreiben und Lesen immer noch etwas, das in Einsamkeit geschieht. Den sozialen Aspekt ihres Wirkens sieht sie allem voran in Lesungen, Interviews und gemeinsamen Auftritten mit mehreren Schreibenden. Das Verfassen eines literarischen Weblogs eröffne ihr aber die Möglichkeit, Verbindungssituationen im Schreiben zu schaffen. Das Medium begünstige zudem Schnelligkeit, Kürze, Spontaneität, Interaktion in der Schriftlichkeit, gegenseitige Inspiration und Schreibtraining im Sinne einer “Warmmachübung am Morgen” (S. 64). Die Frage ist, wen solche Übungen interessieren sollen. Helmut Schulze reiht vierzehn annähernd gleich lange und willkürlich abgetrennte Absätze aneinander, die den Leser eher ratlos machen. Der manirierte Verzicht auf syntaktische Struktur und thematischen Gehalt, auf Interpunktion (soweit Satzzeichen nicht lexikalisiert werden: “fragezeichen”) und Argumentation soll offenbar eher literarischen als diskursiven Anspruch begründen. Konsequent verzichtet er denn auch auf eine Kostprobe aus seiner Werkstatt. Wenigstens syntaktisch einigermaßen kohärent präsentiert sich demgegenüber Andrea Heinisch-Glücks “Geschriebenes über das Schreiben im Netz”. Ein Dialog kreist um die Frage der Realität, zwischen Ort und Nicht-Ort wird unterschieden. Der Titel verlockt den Leser, den Zusammenhang zum Thema zu suchen, was ihm im Glücksfalle zwischen den Zeilen gelingt. Wie literarische Texte in Weblogs entstehen können, erhellt der Beitrag von Andreas Louis Seyerlein trotz seiner Kürze besser. In die literarische Schilderung des Schreibprozesses bindet er den resultierenden Text gleich ein (gekennzeichnet durch Kursiva) und läßt den erdichteten Käfer metaphorisch in die grenzenlose Onlinewelt flattern. Neda Bei fand zum Weblog über das Bedürfnis, die Arbeit an einem literarischen Projekt zu dokumentieren. Ihre eigenen Weblogs erfüllen die Funktion eines Archivs und der Recherche durch Diskurs mit anderen. Drei Aspekte sind dabei für Bei wichtig: das Medium Weblog lasse zum einen in größerem Umfang als der traditionelle Literaturbetrieb Experimentierraum offen; die kontinuierliche öffentliche Schreibarbeit bringe durch Interaktion Unbewußtes zutage; der mit einer Plattform verbundene “Aktualisierungssog” motiviere zum stetigen Verfassen von Texten. Diese motivationale Komponente war auch für Benjamin Stein entscheidend für seine Wiederannäherung an die Literatur. Inwiefern allerdings die spezifischen Eigenschaften des Weblogs diesen Neustart des “poetischen Motors” begünstigen, bleibt in seinem Beitrag offen. Mannigfaltige Verbindungen preist das halbfiktive Künstlerduo Rittiner & Gomez an. Auf dem Weblog I SLA V OLANTE verbinden sie Texte und Bilder, Papier und Internet, Eigenes und Beigesteuertes. Das Fehlen jeglicher künstlerischer und kommerzieller Einschränkungen mache für sie den Reiz aus. Mit wenigen Handgriffen werde zudem eine manuelle Produktion auf Papier augenblicklich weltweit zugänglich. Die Möglichkeit, Beiträge für immer zu löschen, sei ein entscheidender “Vorteil gegenüber all den ‘realen’ Werken”. Das mag innerhalb des Weblogs seine Gültigkeit haben, bezogen auf Internet scheint das in Zeiten der umfassenden Datenarchivierung durch Suchmaschinen und andere Web-Dienste eher illusorisch. Mit dem letzten Beitrag des Bandes von Jörg Meyer mit seinen Gedanken zu einer Poetologie des literarischen Weblogs rundet sich der Kreis. Auch Meyer empfindet sich selbst als Weblog- Pionier, zumal er bereits ein Web-Tagebuch ge- Reviews 175 führt habe, bevor die technischen Voraussetzungen dafür existierten. Sein Beitrag kreist um das Ideal autonomer Texte, die für sich allein stehen können. Daß solche Texte nur in den seltensten Fällen entstehen, wirft die Frage nach Fiktion oder Nicht-Fiktion und der Identität des Autors auf. Es scheint, als sei ögyr - mit diesem Anagramm bezeichnet sich Meier in seinem Weblog - selbst nicht immer sicher, wie ein Text diesbezüglich einzuordnen sei. Gerade in dieser “angenehmen Verworrenheit” liege ein Vorzug des Weblogs. Im Ganzen bleibt diffus, wie genau und mittels welcher Kriterien sich literarische Weblogs von anderen Weblogs bzw. von anderen literarischen Texten abgrenzen lassen. Wollen literarische Weblogs als Genre auch (text)wissenschaftlich ernst genommen werden, müßten sie zunächst einmal nach ihrer Struktur analysiert werden. Dazu gibt es bereits erst Ansätze (cf. Blood 2002; Herring et al. 2005). Auch die Inszenierung des Autors sollte bei einer solchen Analyse Berücksichtigung finden (cf. Paulsen 2007). Ein Aspekt der Poetologie literarischer Weblogs wird dabei sicher die Interaktivität und Vernetzung sein, aber ob diese Einflüsse so stark ausgeprägt sind, wie dies hier angedeutet wird, müßte gezeigt, nicht nur behauptet werden. Es wäre interessant, ob die Beobachtung, daß Weblogs viel weniger von Verlinkungen und Interaktivität Gebrauch machen, als allgemein angenommen (Herring et al. 2005: 142), auch für literarische Weblogs zutrifft oder nicht. Es wäre überdies reizvoll, den Vorteil der Vernetzung während der Textgenese, gerade im Hinblick auf die Zielgruppe des “weniger Internet-affinen Publikums” möglichst Weblog-nah zu illustrieren, also Kommentare zu Texten mitzudrucken oder Texte unter Kommentierung öffentlich entstehen lassen. Mit ihrem Band Literarische Weblogs greifen die Autoren ein Thema auf, zu dem bislang es noch kaum Sekundärliteratur gibt. Wer einen ersten Einblick ins Gebiet der literarischen Weblogs erhalten will, wird die zwölf abwechslungsreichen Aufzeichnungen der Autoren über ihre Weblog-Praxis aufschlußreich finden. Aber Hedigers Warnung, eine abschließende Spezifizierung literarischer Weblogs suche der Leser vergeblich, erweist sich nach der Lektüre der Beiträge als berechtigt. Die Ansichten der Autoren lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. Umso dringender stellt sich die Frage, ob der Band (vielleicht außer Lesevergnügen) auch einen fachlichen Nutzen biete. Ein Ziel der Herausgeber war es, literarische Weblogs einem Publikum außerhalb des überschaubaren Kreises, der das Schaffen auf “litblogs.net” ohnehin verfolgt, vertraut zu machen. Die inhaltliche und stilistische Bandbreite der Beiträge vermittelt ihm einen gewissen Einblick in die Verschiedenartigkeit literarischer Weblogs, die u.a. als pragmatische Hilfen zur Organisation des Schreibprozesses, als motivierender Schreibantrieb, literarischer Quasi-Live- Act oder autonomer Hort im Literaturbetrieb skizziert werden. Inwieweit das Büchkein die derzeitigen Entwicklungen auf dem Gebiet literarischer Weblogs (es gibt ca. 60 allein im deutschsprachigen Raum) allgemein spiegelt (und nicht nur im Umfeld der “litblogs.net”-Autoren) bleibt offen. Die Sorge, Vorabpublikationen online könnten negative Auswirkungen auf die Verkaufszahlen der später gedruckten Werke haben, wird meist mit dem Hinweis auf die bescheidenen Besucherzahlen literarischer Weblogs zerstreut. Ein zwiespältiger Trost. Literatur Blood, Rebecca 2002: The Weblog Handbook: Practical Advice on Creating and Maintaining Your Blog, Cambridge: Perseus Herring, Susan C., Lois Ann Scheidt, Elijah Wrigth & Sabrina Bonus 2005: “Weblogs as a bridging genre”, in: Kevin Crowston (ed.) 2005: Genres of Digital Documents, Bradford: Emerald, 142-171 Paulsen, Kerstin 2007: “Von Amazon bis Weblog. Inszenierung von Autoren und Autorschaft im Internet”, in: Christine Künzel & Jörg Schönert (eds.) 2007: Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann, 257-270 Rodzvilla, John (ed.) 2002: We’ve Got Blog: How Weblogs Are Changing Our Culture, Cambridge: Perseus Ernest W.B. Hess-Lüttich & Peter Dängeli (Bern)