eJournals Kodikas/Code 33/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2010
331-2

Oksana Havryliv: Verbale Aggression. Formen und Funktionen am Beispiel des Wienerischen. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 220 S., ISBN 978-3-631-59165-9

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2010
Dagmar Schmauks
kod331-20193
Reviews 193 Oksana Havryliv: Verbale Aggression. Formen und Funktionen am Beispiel des Wienerischen. Frankfurt a.M.: Peter Lang. 220 S., ISBN 978-3-631-59165-9 Wer je die Laute eines Kormorans gehört hat, dem gerade ein Fisch aus dem Schnabel gerutscht ist, oder die einer Sau, der eine Stallnachbarin einen Leckerbissen weggeschnappt hat, wird kaum bezweifeln, dass Schimpfen und Beschimpfen zwei Sprechakte sind, deren Wurzeln weit in die Phylogenese zurückreichen. Aber obwohl aggressive Äußerungen sicher immer schon Teil der menschlichen Vokalsprache waren und in jeder uns bekannten Sprache häufig sind, machte erst in den 1970er Jahren der Philologe Reinhold Aman diese Art der Sprachverwendung als “Malediktologie” zu einem eigenständigen Untersuchungsbereich der Psycho- und Soziolinguistik und dokumentiert die Forschungsergebnisse seit 1977 in seiner Fachzeitschrift Maledicta. Die Monographie Verbale Aggression von Oksana Havryliv analysiert die aggressiven Sprechakte “Beschimpfung”, “Fluch”, “Drohung”, “Verwünschung” und “aggressive Aufforderung” am Beispiel des Wienerischen. Während den vielen regionalen Schimpfwörtersammlungen meist die empirische Grundlage fehlt, arbeitet Havryliv auf der Basis von lexikalischem Material, das sie durch mündliche Einzel-Intensivinterviews und ausgewertete Fragebögen gewonnen hat, ferner wurden Texte der deutschsprachigen modernen Literatur einbezogen. Ursachen von Aggression und Kennzeichen pejorativer Lexik Die Einleitung stellt die grundlegenden Theorien zu den Ursachen und Formen aggressiven Verhaltens vor. Im Unterschied zu monokausalen Theorien geht Havryliv davon aus, dass jeder Mensch ein bestimmtes Aggressionspotential hat, das bei Vorliegen personenspezifischer Schlüsselreize zu aggressiven Handlungen führen kann. Untersuchungen zufolge sind 90% unseres aggressiven Verhaltens verbaler Natur, wobei zu vermuten ist, dass sprachlich weniger gewandte Personen schneller zu physischer Aggression übergehen. Als Ursachen aggressiver Äußerungen werden sowohl unschöne Eigenschaften anderer wie Ungeduld und mangelnde Rücksichtnahme genannt als auch Rahmenbedingungen des städtischen Alltags wie Hektik, Lärm und Schmutz. Schimpfwörter bzw. pejorative Lexeme zählen zu den emotiven Ausdrücken, die Gefühle des Sprechers signalisieren. Im Gegensatz zum Lob beinhalten sie eine negative Stellungnahme zum Bezeichneten. Quantitativ sind sie in vielen Sprachen zahlreicher als positive Bewertungen, qualitativ zeichnen sie sich durch höhere Bildhaftigkeit und Kreativität aus. Typische Angriffspunkte von Beschimpfungen sind Aussehen, Charakter und Verhalten des Adressaten, wobei die Vorwürfe sich kulturspezifisch unterscheiden. Auch Gruppen werden derart beschimpft, man denke an Berufs-, Regional- und Nationalschelten. Alle Wortbildungsmethoden werden eingesetzt, besonders produktiv sind Präfixe (“Volltrottel”) und Kompositabildung (“Dummschwätzer”). Bei den metaphorischen Pejorativa sind Tiernamen von “Aasgeier” bis “Zecke” am häufigsten, während man bei den metonymischen Pejorativa am liebsten tabuisierte Körperteile zur Bezeichnung der ganzen Person verwendet wie “Arschloch” oder “Sack”. Detailanalysen der aggressiven Sprechakte Den Hauptteil von Havrylivs Monographie nehmen Detailanalysen der aggressiven Sprechakte ein, wobei jedem Sprechakt ein Kapitel gewidmet ist. Das Layout ist sehr leserfreundlich, da die Wienerischen Ausdrücke und Redewendungen durch Kursivsetzung hervorgehoben sind und meist auch als Liste angeboten werden. Leser, die vor allem ihren Wortschatz erweitern wollen oder eine Lieblingswendung suchen, werden also schnell fündig. Der häufigste aggressive Sprechakt ist die Beschimpfung, durch die der Sprecher dem Adressaten eine negative Eigenschaft wie Dummheit, Faulheit oder hässliches Aussehen zuschreibt. Ist der Adressat abwesend oder außer Hörweite, so liegt das Ziel des Sprechers nur im Abreagieren eigener negativer Emotionen, während er einen anwesenden Gegner auch beleidigen oder provozieren will. Im Beisein von Dritten dienen abträgliche Bemerkungen meist der Verunglimpfung des Adressaten. Die häufigen Sachschelten wie “Dreckskarre! ” oder “Scheißcomputer! ” scheinen wie in einem animistischen Weltbild davon auszugehen, das widerspenstige Objekt habe eigene und Reviews 194 durchaus bösartige Absichten. Noch viel deutlicher wird dies, wenn man dem aufmüpfigen Gerät einen Schlag oder Tritt versetzt. Weitere Sonderfälle sind die Kollektivbeschimpfung (“Gesindel! ”) und die Selbstbeschimpfung (“Meine Güte, war ich blöd”! ). Typisch für Beschimpfungen ist die Vielfalt der syntaktischen Formen und der benutzten Lexeme sowie pragmatisch gesehen die Tatsache, dass einzelne Beschimpfungen oft in Schimpftiraden (monologisch) oder Schimpfduelle (dialogisch) ausufern. Im Unterschied zur Beschimpfung bezieht sich der Sprechakt Fluch nicht auf einen Adressaten, sondern auf eine missliche Situation, die im ärgerlichsten Fall vom Sprecher selbst verursacht wurde. Während das historisch frühere Verfluchen eine höhere Macht einbezieht, sind heutige Flüche durchaus profan. An die Seite religiöser Ausdrücke (“Verdammt! ”) sind daher immer mehr skatologische (“Scheiße! ”) oder sexuelle (“Fuck! ”) getreten. Geflucht wird ausschließlich zum Abreagieren negativer Emotionen, folglich auch ohne die Anwesenheit anderer Menschen. Die Drohung ist wieder an einen Adressaten gerichtet und beschreibt eine zukünftige Handlung des Sprechers. Diese Handlung kann aggressiv sein (“Ich hau dir gleich eine rein! ”) oder anderweitig unerwünscht (“Du kriegst Fernsehverbot! ”). Häufig wird eine Bedingung der Form “Wenn du nicht x tust, geschieht y” genannt. Irreale Drohungen beschreiben völlig übersteigerte (“Ich erwürge dich! ”) oder gänzlich unmögliche Handlungen (“Ich schieß dich auf den Mond! ”). Von den Autoritätsbzw. Kräfteverhältnissen hängt es ab, ob der Bedrohte wie gewünscht handelt, die Drohung ignoriert oder eine Gegen-Drohung äußert. Die Verwünschung stammt wie die Verfluchung aus einem magischen Kontext, mit ihr wird auf den Adressaten oder jemanden aus seinem Umfeld ein Unheil herabgewünscht. Verwünschungen sind also zugleich Anweisungen an einen (irrealen) Hörer, wie er im Sinne des Sprechers ins Weltgeschehen eingreifen soll. Die Bandbreite der erhofften Schäden reicht wieder vom Angemessenen (“Fall aufs Maul! ”) über das Unverhältnismäßige (“Der Schlag soll dich treffen! ”) bis zum Irrealen (“Zerspring! ”). Während Verwünschungen im Deutschen selten und wenig produktiv sind, weisen anderen Sprache wie das Jiddische eine weit größere Vielfalt auf. Die aggressive Aufforderung ist selten rein direktiv, sondern meist mit expressiven Elementen vermischt. Oft kombiniert man Aufforderungen mit Beschimpfungen, und in Konfliktsituationen werden sogar eigentlich neutrale Aufforderungen wie “Lass mich in Ruhe! ” negativ aufgeladen. Am häufigsten fordert man, der Adressat möge verschwinden oder wenigstens schweigen. Beim Ersinnen irrealer Handlungen lässt man sich wieder bevorzugt von tabuisierten Bereichen inspirieren (“Fick dich in den Arsch! ”). Da zu allen untersuchten Sprechakten auch scherzhafte Varianten belegt sind, untersucht ein sehr wichtiger Abschnitt des Buches sie noch einmal separat als fiktive verbale Aggressionen. Der Terminus bezeichnet Äußerungen mit aggressivem Wortlaut, die aber scherzhaft oder spielerisch gemeint sind, man denke an die sehr wohlwollende Begrüßung “Na, du alter Hallodri! ”. Schon Kinder lieben dieses Sprachspiel und werden - falls die Beziehung stabil ist und der Tonfall stimmt - angesichts der Drohung “Ich knabber dein Ohr ab! ” begeistert kreischen. Je enger die Beziehung zum Adressaten ist, desto eher darf man Ausdrücke wählen, die ansonsten politisch völlig inkorrekt sind. Umgekehrt ist nicht alles, was lieb klingt, auch nett gemeint, so wird “Freundchen” ähnlich wie “mein lieber Herr” durchaus auch drohend oder herabmindernd verwendet. Zusammenfassend entscheiden immer viele Faktoren darüber, wie ein Ausdruck aufgefasst wird, vor allem Tonfall, Körpersprache, Kontext sowie die bisherige gemeinsame Geschichte der Beteiligten. Ein weiteres Kapitel untersucht, wie man Tabuwörter entschärfen kann. Viele Euphemismen wie “Armleuchter” und “Scheibenhonig” sind fest etabliert, weitaus seltener verwendet man beliebige Ausdrücke wie “Du Bratpfanne! ” zum Schimpfen. Das letzte Kapitel erhellt, welche besonderen Probleme die Übersetzung von Schimpfwörtern mit sich bringt. So greift eine wörtliche Übersetzung immer dann zu kurz, wenn die Zielsprache ihre Schimpfwörter bevorzugt aus einer anderen Sachsphäre entnimmt. Und selbst innerhalb der gleichen Sphäre können die Bewertungen erheblich voneinander abweichen. Ein einprägsames Beispiel sind die Haustiere: Da in der Ukraine der Ochse mit der positiven Eigenschaft “arbeitsam” verknüpft wird, ist sein ukrainischer Name als Schimpfwort unbrauchbar. Reviews 195 Sprechaktübergreifende Aspekte, Querverbindungen und weiterführende Fragen Dieser Abschnitt hebt interessante sprechaktübergreifende Aspekte hervor, verknüpft den Inhalt des Buches mit weiteren aktuellen Forschungen und macht einige Vorschläge, welche Themen für künftige malediktologische Untersuchungen ergiebig sein könnten. Havrylivs Untersuchungen ergaben weder geschlechtsnoch schichtspezifische Unterschiede in Häufigkeit und Heftigkeit aggressiver Äußerungen, was als Folge der Emanzipation und der Aufweichung sozialer Grenzen erklärt wird. Die Alterskohorten hingegen unterscheiden sich, vor allem weil Jugendliche von ihren Mitschülern gerne einzelne Wendungen oder ganze Sprechakttypen übernehmen, die im deutschen Sprachraum bis vor wenigen Jahrzehnten gar nicht vorkamen, insbesondere sog. “Ahnenschmähungen” des Typs “Ich fick deine Mutter! ”. Kulturübergreifend gilt nämlich, dass gerade die stärksten Tabus am liebsten übertreten werden, und dass bevorzugte Schimpfwörter die wunden Punkte einer Kultur spiegeln. Deswegen kann man es als hellsichtige Selbstkritik auffassen, dass der deutsche Wortschatz von “Erbsenzähler” bis “Mäusemelker” zahlreiche Ausdrücke enthält, die Pedanterie anprangern. Während Verfechter einer sauberen Sprache die pejorative Lexik natürlich als Kulturverfall beklagen, ist sie für Psychologen und Linguisten ein besonders aufschlussreicher Bereich der Alltagssprache. Kinder lernen schon in zartem Alter, dass sie mit bestimmten Wörtern - lange bevor sie diese inhaltlich verstehen! - mühelos die ungeteilte Aufmerksamkeit von Erwachsenen erlangen. Und im hohen Alter können selbst Personen mit schweren Wortfindungsstörungen, denen längst die Namen von Verwandten und Alltagsgegenständen entfallen sind, wenigstens immer noch schimpfen, um ihre scheußliche Situation auszudrücken. Havryliv hebt als wichtige Funktion aller untersuchten Sprechakttypen die heilsame seelische Entlastung des Sprechers hervor, die das Ausstoßen aggressiver Ausdrücke bewirkt. Dies bestätigen auch die Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Timothy Jay (2000). Ihnen zufolge sind aggressive Äußerungen ein elementarer Impuls, der angesichts heftiger negativer Emotionen wie Angst oder Überraschung ausgelöst wird und dann als Sicherheitsventil hilft, physische Aggressionen zu vermeiden. Jay überprüfte experimentell, wie häufig das Fluchen und Schimpfen, das Motzen und Meckern ist: Es nimmt rund 5% der Gespräche am Arbeitsplatz und stolze 10% der Gespräche in der Freizeit ein. Allerdings warnen Havryliv und Jay gleichermaßen davor, frustrierte oder habituell cholerische Adressaten durch Beschimpfung zu provozieren, da diese dazu neigen, ohne verbalen Schlagabtausch gleich zu Tätlichkeiten überzugehen. (Dass es ungesund sein kann, ohne Bundesgenossen wesentlich stärkere Artgenossen zu attackieren, versteht sich wohl von selbst.) Die Stressabfuhr des Sprechers jedenfalls lässt sich bis hinunter auf die physiologische Ebene nachweisen, denn britische Forscher haben kürzlich festgestellt, dass Personen eine deutlich höhere Schmerztoleranz haben, wenn sie während des Versuchs laut schimpfen und fluchen dürfen. “The observed pain-lessening (hypoalgesic) effect may occur because swearing induces a fight-or-flight response and nullifies the link between fear of pain and pain perception (Stephens u.a. 2009: 1056)”. Havrylivs Versuchspersonen stammen aus drei unterschiedlich gebildeten Gruppen, wobei Gruppe 1 mit “Personen ohne Abitur” schon sehr hoch angesetzt ist. Aktuelle Untersuchungen zu Gewalt in Großstädten identifizieren als problematischste Gruppe die männlichen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss. Es wäre daher ergiebig, diese Gruppe noch einmal genauer in den Blick zu nehmen - vielleicht könnte sogar ein gezieltes “Schimpftraining” ihre Fähigkeit auf- und ausbauen, verbale Aggression an die Stelle physischer zu setzen? Angesichts der allgemeinen Verbreitung des Schimpfens und der genannten positiven Wirkungen für den Seelenfrieden des Sprechers scheint nämlich die Hoffnung mancher Sprachwächter naiv, man könne durch grundsätzliche Verbote den Menschen diese Sprechakte ganz abgewöhnen. So fände die Autorin dieser Rezension es viel vergnüglicher, eine kreative Schimpfkultur wiederzubeleben, etwa durch öffentliche Wettbewerbe zur Suche nach dem “Superschimpfer”. Hier müsste natürlich sichergestellt werden, dass nicht die gröbsten Äußerungen gewinnen, sondern die geistreichsten. Der Befund, dass sich der Dialekt besonders gut zum scherzhaften oder liebevollen Schimpfen Reviews 196 eignet, deckt sich mit Untersuchungen aus anderen Sprachgemeinschaften. So belegt Hess-Lüttich (2008) diese beziehungspflegende Funktion des Schimpfens anhand von vielen plastischen Schimpfwörtern aus der Schweiz und ergänzt als weiteren Vorteil des Dialekts, dass nicht-eingeborene Adressaten oder Zuhörer die geäußerte Bosheit gar nicht verstehen. Kognitionswissenschaftlich fällt auf, dass der riesigen und immer weiter wachsenden Fülle von Schimpfwörtern eine vergleichsweise kleine und stabile Anzahl beklagter Eigenschaften gegenübersteht. Hier finden sich auch geschlechtsspezifische Vorwürfe, da etwa sexuelle Leichtfertigkeit bei Frauen als schwerer Makel gilt, bei Männern hingegen eher widerwillig bewundert wird. Dies bestätigen auch die vielen Schimpfwörter mit Bezug auf Tiere; so klingt “Betthase” zwar recht niedlich, ist aber durchaus abwertend gemeint (vgl. Schmauks 2008). Noch wesentlich derber ist der Ausdruck “läufige Hündin”, während gegenüber Männern “Du bist ein Hund! ” umgekehrt oft als Lob geäußert wird. Bei beiden Geschlechtern gleich häufig angekreidet werden Dummheit, Ungeschick und Versagen. Sichtet man hier die einschlägigen Redensarten, so stellt man fest, dass sie eine differenzierte “Volkspsychologie” ausdrücken, die Dummheit auf eine Vielzahl eng verflochtener Ursachen zurückführt (Schmauks 2009 und 2010). Im einfachsten Fall ist das Gehirn nicht vorhanden, zu klein, zu schwach oder beschädigt (“Hohlkopf”, “Gehirn einer Laus”, “Schwachkopf”, “einen Hau haben”). Komplexere Metaphern vergleichen dummes Denken u.a. mit fehlgeschlagener Fortbewegung (“auf dem Holzweg sein”) oder mit ungeschicktem Handeln (“Seerosengießer”). Es könnte sich also lohnen, auch andere Vorwürfe genauer zu analysieren, vielversprechend sind etwa die mannigfachen unterstellten Schönheitsfehler. Zu fragen ist ferner, welche Wechselwirkungen zwischen der gesprochenen Sprache und den zahllosen Internetseiten bestehen, die unter Titeln wie “Fertigmachsprüche” oder “Beschimpfungen” eine Fülle aggressiver Äußerungen verzeichnen. Sie enthalten zum einen mehr oder weniger rüde “Erstschläge” verbaler Duelle wie a) Mein Arsch und dein Gesicht könnten gute Freunde werden. b) Versteck dich, da kommt die Müllabfuhr. Umgekehrt lernen weniger schlagfertige Gegner saftige und auf Wunsch sogar gereimte Retourkutschen wie a) Hat einer die Null gewählt, dass du dich meldest? b) Noch so’n Spruch - Kieferbruch! Ein weiterer untersuchenswerter Aspekt sind die ästhetischen Merkmale der Schimpfwörter, die umso wichtiger werden, je stärker man gerade bei scherzhaften Schimpfduellen seine Wortgewandtheit und Kreativität beweisen will. Besonders beliebt sind Stabreime (von “Kalbskopf” über “Zimtziege” bis “Stinkstiefel”), Vokalwiederholungen (“Vollhorst”, “Dummtuss”), Imitationen des kindlichen Lallens (“Heiopei”, “Du hat wohl einen Lititi? ”) sowie Wendungen, die schon Zungenbrechern ähneln (“Schwachstrahlstruller”). Ästhetisch und kognitiv gleichermaßen reizvoll schließlich sind Beleidigungen, die man nicht sofort als solche erkennt. Ein leuchtendes Vorbild ist immer noch die verschleierte Frechheit (a), die Sigmund Freud in seiner klassischen Analyse des Witzes zitiert. Die rhetorische Frage (b) ist ein moderneres Beispiel und (c) schon ein kompletter kleiner Sketch. a) Eitelkeit ist eine seiner vier Achillesfersen. b) Und was sagen Sie als Unbeteiligter zum Thema Intelligenz? c) Darf ich Deine Mutter zum Fasching einladen? - Warum das denn! ? - Ich möchte als Hurensohn gehen... Für “Piefkes” und andere Nicht-Österreicher schließlich wird Havrylivs Buch auch die interkulturelle Kompetenz stärken, insbesondere da ein nach Sprechakten gegliederter Anhang noch einmal alle empirisch erhobenen Ausdrücke alphabetisch verzeichnet. Meine eigene Lieblingswendung ist die Aufforderung “Hupf in Gatsch und schlag Wellen! ” - einfach weil der kognitive Abstand zwischen dem kleinen Matschloch und dem dramatischen Wellenschlag so bizarr ist, dass vermutlich beide Beteiligte grinsen müssen. Und das ist ein sehr wünschenswertes Ziel solcher Sprechakte. Literatur Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008: “HimmelHerrgott- Sakrament! Gopfridstutz! Und Sackelzement! Vom Reviews 197 Fluchen und Schimpfen - Malediktologische Beobachtungen”, in: Kodikas/ Code 31: 327-337 Jay, Timothy 2000: Why we curse. A neuro-psychosocial theory of speech. Philadelphia: Benjamins Schmauks, Dagmar 2008: “Zickenkrieg und Hengstparade. Tiernamen als geschlechtsbezogene Schimpfwörter in den Boulevardmedien und im Internet”, in: Kodikas/ Code 31: 313-326 Schmauks, Dagmar 2009: Denkdiäten, Flachflieger und geistige Stromsparlampen. Die kognitive Struktur von Redewendungen zur Dummheit. Aachen: Shaker Schmauks, Dagmar 2010: Dummheit. Schimpfen. Ein Ratgeber. Obernburg am Main: Logo Verlag Stephens, Richard, John Atkins and Andrew Kingston 2009: “Swearing as a response to pain”, in: Neuro- Report 20, 12: 1056-1060 Dagmar Schmauks (Berlin) Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik. Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen. UTB Band 1127. 4., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2009. 488 S., 14 Abb., ISBN 978-3-8252-1127-1 Moderne Literatur - ein neuer Zugang Es spricht zweifellos für Andreottis Werk dass es sich seit über 25 Jahren als Grundlagenwerk bewährt hat. Die erste Auflage aus dem Jahr 1983 umfasste knapp 300 Seiten, die nun 2009 erschienene vierte Auflage ist auf knapp 500 Seiten angewachsen. Ein Vergleich lässt sofort erkennen, dass es sich dabei nicht nur um einen Zugewinn an Ausführungen in quantitativer Hinsicht handelt, sondern auch um einen qualitativen. Der Zuwachs in die Breite entsteht durch nicht wenige Textsorten und Gattungsformen, die in der vierten Auflage neu behandelt werden. Dazu gehört etwa Pop, Beat, Rap und Slam Poetry als neue Gattungsformen der “modernen” Lyrik, oder eine lohnenswert breit entfaltete Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Trivialliteratur. Aber auch die theoretische Grundlegung ist nun breiter gefasst. Symptomatisch heißt nun neu das erste Kapitel “‘Moderne Literatur’. Eine Bestimmung nach neuen, ganzheitlichen Kriterien”, während die alte Auflage noch mit “‘Moderne Literatur’. Eine Bestimmung nach neuen, strukturellen Kategorien” (wir unterstreichen) betitelt war. In der Tat treten in der Neuauflage genuin struktural ausgerichtete Kategorien bei den historischen und interpretatorischen Betrachtungen des Autors etwas in den Hintergrund. Oder anders ausgedrückt: Die einzelnen, am Strukturalismus ausgerichteten Textbetrachtungen, die sich an den theoretischen Konzepten wie etwa “Term”, “Sem”, “Isotopie”, “tertiäres System” usw. orientieren, nehmen nun proportional weniger Platz ein, im Vergleich zu den allgemeineren, grundsätzlichen, die auf die Begrifflichkeit der “konventionellen” Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Wissenschaftstheorie ausgerichtet sind. Das soll aber nicht heissen, dass die strukturale Betrachtungsweise nicht an Klarheit und Deutlichkeit gewonnen hätte. Ganz im Gegenteil, auch an Tiefe hat das Werk gewonnen. Viele Sachverhalte werden nun noch differenzierter und begrifflich noch klarer gefasst. Als Beispiel sei etwa der Vergleich zwischen der bürgerlichen Ballade und der Moritat als “Anti- Ballade” der Moderne erwähnt. In beiden Auflagen dient “Belsazar” (Heine) als Beispiel für eine bürgerliche Ballade. In der kurzen Interpretation der Erstausgabe erläutert Andreotti die Heldenfigur, die sich an “der kosmischen Ordnung “ vergehe, und wie ihr “Eingriff in die transzendente Ordnung” ihr Scheitern verursache. In der Neuauflage wird der narrative Aufbau mit Hinführung, Steigerung zum dramatischen Höhepunkt und dem “Umschlag in die Peripetie” erläutert; sodann führt Andreotti den Gedankengang weiter und zeigt, wie sich die Ballade an das “Schuld-Sühne-Prinzip” anlehne, an eine Struktur “unzähliger traditioneller Texte, von der antiken Tragödie bis hin zum zeitgenössischen Kriminalroman” (S. 365). Eine ähnliche Vertiefung und Ausdifferenzierung erfährt dann die “Ballade vom Wasserrad” (Brecht). Hier gelingt es Andreotti aufzuzeigen, wie Brecht ein “Heldenparadigma” mit zwei oppositionellen Gestus aufbaut (“aufsteigen” vs “niedergehen”) und wie diese auf die “Ergebung in die vermeintliche Schicksalshaftigkeit der Welt” rekurrieren und nachvollziehbar machen, was seitens der Leser zu einem kritischen Hinterfragen der beiden Gestus (oder Haltungen) führe, also zu Re-