eJournals Kodikas/Code 33/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2010
331-2

Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik. Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen. UTB Band 1127, 4., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2009. 488 S., 14 Abb., ISBN 978-3-8252-1127-1

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2010
Heinz Hafner
kod331-20197
Reviews 197 Fluchen und Schimpfen - Malediktologische Beobachtungen”, in: Kodikas/ Code 31: 327-337 Jay, Timothy 2000: Why we curse. A neuro-psychosocial theory of speech. Philadelphia: Benjamins Schmauks, Dagmar 2008: “Zickenkrieg und Hengstparade. Tiernamen als geschlechtsbezogene Schimpfwörter in den Boulevardmedien und im Internet”, in: Kodikas/ Code 31: 313-326 Schmauks, Dagmar 2009: Denkdiäten, Flachflieger und geistige Stromsparlampen. Die kognitive Struktur von Redewendungen zur Dummheit. Aachen: Shaker Schmauks, Dagmar 2010: Dummheit. Schimpfen. Ein Ratgeber. Obernburg am Main: Logo Verlag Stephens, Richard, John Atkins and Andrew Kingston 2009: “Swearing as a response to pain”, in: Neuro- Report 20, 12: 1056-1060 Dagmar Schmauks (Berlin) Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik. Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen. UTB Band 1127. 4., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2009. 488 S., 14 Abb., ISBN 978-3-8252-1127-1 Moderne Literatur - ein neuer Zugang Es spricht zweifellos für Andreottis Werk dass es sich seit über 25 Jahren als Grundlagenwerk bewährt hat. Die erste Auflage aus dem Jahr 1983 umfasste knapp 300 Seiten, die nun 2009 erschienene vierte Auflage ist auf knapp 500 Seiten angewachsen. Ein Vergleich lässt sofort erkennen, dass es sich dabei nicht nur um einen Zugewinn an Ausführungen in quantitativer Hinsicht handelt, sondern auch um einen qualitativen. Der Zuwachs in die Breite entsteht durch nicht wenige Textsorten und Gattungsformen, die in der vierten Auflage neu behandelt werden. Dazu gehört etwa Pop, Beat, Rap und Slam Poetry als neue Gattungsformen der “modernen” Lyrik, oder eine lohnenswert breit entfaltete Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Trivialliteratur. Aber auch die theoretische Grundlegung ist nun breiter gefasst. Symptomatisch heißt nun neu das erste Kapitel “‘Moderne Literatur’. Eine Bestimmung nach neuen, ganzheitlichen Kriterien”, während die alte Auflage noch mit “‘Moderne Literatur’. Eine Bestimmung nach neuen, strukturellen Kategorien” (wir unterstreichen) betitelt war. In der Tat treten in der Neuauflage genuin struktural ausgerichtete Kategorien bei den historischen und interpretatorischen Betrachtungen des Autors etwas in den Hintergrund. Oder anders ausgedrückt: Die einzelnen, am Strukturalismus ausgerichteten Textbetrachtungen, die sich an den theoretischen Konzepten wie etwa “Term”, “Sem”, “Isotopie”, “tertiäres System” usw. orientieren, nehmen nun proportional weniger Platz ein, im Vergleich zu den allgemeineren, grundsätzlichen, die auf die Begrifflichkeit der “konventionellen” Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Wissenschaftstheorie ausgerichtet sind. Das soll aber nicht heissen, dass die strukturale Betrachtungsweise nicht an Klarheit und Deutlichkeit gewonnen hätte. Ganz im Gegenteil, auch an Tiefe hat das Werk gewonnen. Viele Sachverhalte werden nun noch differenzierter und begrifflich noch klarer gefasst. Als Beispiel sei etwa der Vergleich zwischen der bürgerlichen Ballade und der Moritat als “Anti- Ballade” der Moderne erwähnt. In beiden Auflagen dient “Belsazar” (Heine) als Beispiel für eine bürgerliche Ballade. In der kurzen Interpretation der Erstausgabe erläutert Andreotti die Heldenfigur, die sich an “der kosmischen Ordnung “ vergehe, und wie ihr “Eingriff in die transzendente Ordnung” ihr Scheitern verursache. In der Neuauflage wird der narrative Aufbau mit Hinführung, Steigerung zum dramatischen Höhepunkt und dem “Umschlag in die Peripetie” erläutert; sodann führt Andreotti den Gedankengang weiter und zeigt, wie sich die Ballade an das “Schuld-Sühne-Prinzip” anlehne, an eine Struktur “unzähliger traditioneller Texte, von der antiken Tragödie bis hin zum zeitgenössischen Kriminalroman” (S. 365). Eine ähnliche Vertiefung und Ausdifferenzierung erfährt dann die “Ballade vom Wasserrad” (Brecht). Hier gelingt es Andreotti aufzuzeigen, wie Brecht ein “Heldenparadigma” mit zwei oppositionellen Gestus aufbaut (“aufsteigen” vs “niedergehen”) und wie diese auf die “Ergebung in die vermeintliche Schicksalshaftigkeit der Welt” rekurrieren und nachvollziehbar machen, was seitens der Leser zu einem kritischen Hinterfragen der beiden Gestus (oder Haltungen) führe, also zu Re- Reviews 198 flexion und Ideologiekritik. In seiner ersten Auflage argumentierte der Autor hingegen noch sehr allgemein auf dem Hintergrund eines vage gefassten “Mythos vom Helden als einer autonomen Figur”. Dieses Beispiel zeigt auch, dass die neue Auflage an Lesbarkeit gewonnen hat. Dazu tragen auch die zahlreichen kurz gefassten Zusammenfassungen in einem geschobenen Kästchen und in Schemata bei ebenso wie die zahlreichen anregenden Arbeitsvorschläge am Schluss jedes Kapitels. Sie gewähren einen intensiven, ja streckenweise sogar “interaktiven” Lesegenuss. Nach wie vor solide ist die präzise, geschickte und insistierende Leserführung durch den Verfasser. Man spürt sofort, dass hier ein erfahrener Lehrer die Feder führt, der weiß, wie Lernenden auch komplexe Sachverhalte nahe gebracht werden können. Sehr brauchbar ist schliesslich das fast hundertseitige Glossar, in dem die im Buch verwendeten literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffe erläutert werden. Alles in allem also eine fruchtbare Lektüre, für Lehrpersonen der Sekundarstufe II, für Studenten, aber auch für motivierte Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II und nicht zuletzt auch für praktizierende Autorinnen und Autoren (das Kapitel mit den zehn Kriterien guter literarischer Texte ist vor allem ihnen gewidmet), ja überhaupt für ein interessiertes, breites Publikum. Heinz Hafner (Frauenfeld)