eJournals Kodikas/Code 35/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2012
351-2

Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien

61
2012
Martin Brunner
Die Kürze mathematischer Darstellungen resultiert im Wesentlichen aus den Prinzipien der Herstellung und Verwendung von Diagrammen. Der vorliegende Artikel untersucht diese Methoden auf Basis der Semiotik von Peirce. Durch die Aussparung, Indizierung bzw. Symbolisierung von Wissen oder Diagrammen sowie die Notwendigkeit der multiplen Verwendung und Deutung der Darstellungsmittel werden hohe Ansprüche an Mathematik-Betreibende gestellt. The brevity of mathematical representations essentially results from the principles employed in the creation and use of diagrams. This treatise examines these methods through Peirce’s semiotics. Paring-down, symbolising, and indexing such knowledge or diagrams as well as the necessity of interpreting and utilising such means of expression in multiple ways place significant demands on mathematicians.
kod351-20025
Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien Martin Brunner Die Kürze mathematischer Darstellungen resultiert im Wesentlichen aus den Prinzipien der Herstellung und Verwendung von Diagrammen. Der vorliegende Artikel untersucht diese Methoden auf Basis der Semiotik von Peirce. Durch die Aussparung, Indizierung bzw. Symbolisierung von Wissen oder Diagrammen sowie die Notwendigkeit der multiplen Verwendung und Deutung der Darstellungsmittel werden hohe Ansprüche an Mathematik-Betreibende gestellt. The brevity of mathematical representations essentially results from the principles employed in the creation and use of diagrams. This treatise examines these methods through Peirce’s semiotics. Paring-down, symbolising, and indexing such knowledge or diagrams as well as the necessity of interpreting and utilising such means of expression in multiple ways place significant demands on mathematicians. 1 Einleitung Kürze ist ein Qualitätsmerkmal mathematischer Darstellungen. “Präzise und klar zu bezeichnen und abzukürzen, das sind die Hauptfunktionen mathematischer Symbole” (Davis, Hersh, 1985, S. 125). Die Länge von Dissertationen aus Mathematik beträgt meist nur einen Bruchteil von solchen aus anderen Fachbereichen. Was ist nun der Vorteil der Darstellungskürze? Was wird abgekürzt? Welche Eigenheiten mathematischer Zeichengebung bewirken Kürze? Mit solchen Fragen befasst sich der vorliegende Artikel. Die verwendete Begrifflichkeit basiert auf der Semiotik von Charles S. Peirce. Das maßgebliche Darstellungsmittel der Mathematik ist das Diagramm im Sinne von Peirce. Die Kürze mathematischer Darstellungen resultiert maßgeblich aus zeichenökonomischen Herstellungsprinzipien, aus der operationalen Struktur des Diagramms sowie der Vernetztheit der Diagramme. Die verwendeten Zeichen haben zudem Mehrfachfunktionen. Viele mathematische Inskriptionen erfordern, will man sie inhaltlich ausloten, die Interpretation nach verschiedenen Peirceschen Kategorien und damit nach verschiedenen semiotischen Sichtweisen. Beispielsweise sind die Darstellungsmittel im Dienste so genannter “Typen” multipel zu verwenden. Das erforderliche Wissen wird im Zusammenhang mit Diagrammen meist überhaupt nicht notiert. Auf Kontexte oder Diagramme, die für die sichtbaren Darstellungen von Bedeutung sind, wird häufig nur verwiesen. Die Darstellung von Prozessen in “Gleichzeitigkeit” oder die “flächenhafte” Notation von Informationen ermöglichen überhaupt erst viele Darstellungen und bewirken zusätzlich Kürze und Übersichtlichkeit. Im Endeffekt resultiert Darstellungskürze immer aus Fähigkeiten, über welche Mathematik-Betreibende selbst verfügen müssen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 35 (2012) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Brunner 26 2 Grundbegriffe Die in den nachfolgenden Überlegungen verwendete Begrifflichkeit basiert auf der Semiotik von Charles S. Peirce. Einige der Begriffe sollen deshalb kurz vorgestellt werden. Nach Peirce sind Zeichen in eine triadische Struktur - bestehend aus Objekt, Zeichen und Interpretant - eingebunden. Unter dem “Interpretanten” versteht man das von einem Interpreten erzeugte Zeichen oder die eigentlich bedeutungstragende Wirkung eines Zeichens. Das Wesentliche ist nun der iterative Charakter des Zeichenprozesses. Ein Interpretant kann selbst wieder als Zeichen fungieren und einen neuen Interpretanten ausformen. Zeichenrelationen sind bei Peirce also ein fortdauernder Prozess. Ein Zeichen, oder Repräsentamen, ist etwas, das für jemanden in einer gewissen Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es richtet sich an jemanden, d.h., es erzeugt im Bewusstsein jener Person ein äquivalentes oder vielleicht ein weiter entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für das Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern in Bezug auf eine Art von Idee, welche ich manchmal das Fundament (“ground”) des Repräsentamens genannt habe. (Peirce CP 2.228, 1897, zitiert bei Hoffmann 2001, S. 2) Zeichen sind aber nicht nur Mittel der Repräsentation, sie sind auch Mittel der Erkenntnis oder der Kommunikation. Sie sind nach Christoph Hubig (Hoffmann 2005, S. 35) zunächst “äußere Mittel”, die konkret und verwirklicht vor uns liegen und als solche begrifflich bestimmbar sind; gleichzeitig sind sie “innere Mittel”, gleichsam Werkzeuge des Geistes, die es uns beispielsweise erlauben, die Welt um uns zu konzeptualisieren oder zu organisieren. 3 Typreservoir und Kürze Die von Peirce 1906 eingeführten Begriffe “Token” und “Type” (Deutsch: “Token” und “Typ”) dienen, vereinfacht formuliert, zur Unterscheidung zwischen einer einzelnen Erscheinung (Vorkommnis) und den allgemeinen Erscheinungstypen. Beispiel: Betrachtet man die Darstellung 404664 und fragt man sich, wie viele Ziffern sich in ihr befinden, so sind zwei Antworten möglich. Zählt man die Token, so sind es sechs; zählt man hingegen die Typen, so sind es drei. Viele verschiedene Token können nach expliziten oder impliziten Regeln unter einem Typ subsumiert werden. Beispielsweise können verschiedenste Inskriptionen nach meist impliziten Schreibregeln als Token eines bestimmten Buchstabentyps fungieren: b , b , b, b b , b usw. Peirce (1906, CP 4.537) charakterisiert die Begriffe “Type” und “Token” so: Ein allgemeines Verfahren zur Abschätzung des Umfangs eines Textes oder eines gedruckten Buches ist das Zählen der Wörter. Es mag etwa zwanzig ‘the’ auf einer Seite geben und natürlich werden sie als zwanzig Wörter gezählt. In einem anderen Sinn des Wortes ‘Wort’ gibt es aber nur ein Wort ‘the’ in der englischen Sprache; und es ist unmöglich, dass diese Art Wort sich sichtbar auf einer Seite befindet oder gehört werden kann, da es kein einzelnes Ding oder Ereignis ist. Es existiert nicht, sondern bestimmt nur Dinge, die existieren. Eine solche definiert kennzeichnende Form möchte ich ‘Type’ nennen. Für einzelne Ereignisse, die einmalig geschehen und deren Identität auf das eine Geschehen begrenzt ist, oder ein einzelnes Objekt oder Ding an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, solch ein Ereignis oder Ding, das nur dort, wo und wann es erscheint, signifikant ist, so wie dieses oder jenes Wort in einer einzelnen Zeile einer einzelnen Seite eines einzelnen Exemplars eines Buches, möchte ich die Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 27 Bezeichnung ‘Token’ einführen. … Wenn man einen ‘Type’ nutzen möchte, so muss es als ‘Token’ verkörpert werden, der ein Zeichen des Types sein soll und dadurch des Objektes, das durch den Type gekennzeichnet wird. Die Unterscheidung von Token (Sinzeichen) und Typ (Legizeichen) charakterisiert Hoffmann (2005, S. 59) in Anlehnung an Peirce so: Insbesondere die Unterscheidung von Sin- und Legizeichen ist wichtig, um unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten und Wissensformen zu differenzieren. Wir können uns leicht vorstellen, mit Zeichen fremder Sprachen oder Schriften konfrontiert zu werden, deren Bedeutung wir nicht kennen. Trotzdem können wir diese Zeichen wahrnehmen. Was wir sehen, sind Sinzeichen, und wir können uns in Kommunikation mit Indizes ohne weiteres auf diese Sinzeichen beziehen und beispielsweise jemanden fragen: “Was bedeutet dieses Zeichen? ” Es macht einen Unterschied, ob wir ein sichtbares Zeichen allein als Sinzeichen oder als Replika eines Legizeichens wahrnehmen. Allein im letzteren Fall nehmen wir es als ein Zeichen mit einer bestimmten Bedeutung wahr. Die Wahrnehmung eines Zeichens als Legizeichen ist meines Erachtens genau das, was man später eine “theoriebeladene Beobachtung” genannt hat, eine Beobachtung, in die kollaterales Wissen (siehe unten Abschnitt 5.1) eingeht. Daneben aber muss es auch so etwas wie eine unvermittelte oder rein zweitheitliche Wahrnehmung geben, und das ist eben genau die, in der wir es ausschließlich mit Sinzeichen zu tun haben. Während Token sichtbar sind, sind es Typen nicht. Typen sind, wie oben angeführt, Zeichen im Zusammenhang mit der Erkenntnisfunktion (Hoffmann, 2005, S. 58). Erst dadurch, dass wir in der Lage sind, Zeichen als Typ wahrzunehmen, stehen sie für eine bestimmte Bedeutung. Je nach zugeordnetem Typ gelten unterschiedliche Regeln (explizit und implizit). Beispiel: Das wahrnehmbare Token “7” hat zunächst einmal überhaupt keine Bedeutung. Das Individuum, welches dieses Token beim Erlernen des mathematischen “Spiels” nach Regeln zu verwenden lernt, ist mit der Zeit in der Lage, verschiedene Typen mit diesem Token zu verbinden. Das Token “7” kann etwa als “Natürliche Zahl”, “Primzahl”, “Ungerade Zahl” usw. betrachtet werden. Es geht bei Typen also einmal um die Ersetzbarkeit von Token durch andere Token. Die Abstraktion erfolgt offensichtlich durch die Bildung von Äquivalenzklassen im Hinblick auf eine bestimmte Verwendung. Typen haben keine feste Form. Beispiele: 1. b ~ b oder 4 + 3i ~ 4 + 3i 2. 2 + 3i ~ 3 + 7i ~ a + bi 3. Mathematische Bedeutung entsteht erst durch eine bestimmte symbolische Verwendungsform der Token. Symbole denotieren Objekte aufgrund einer Gewohnheit oder Gesetzmäßigkeit. Eine Beziehung zwischen repräsentiertem Objekt und Zeichen kann für den Interpreten nur bestehen, wenn er zur Herstellung dieser Beziehung in der Lage ist. Peirce schreibt (Peirce SEM III 135, 1906, zitiert bei Hoffmann 2001, S. 9): Wenn ein Zeichen mit größerer oder geringerer annähernder Gewissheit so interpretiert wird, dass es das Objekt in Folge einer Gewohnheit (diesen Terminus verwende ich so, dass er natürliche Dispositionen mit einschließt) denotiert, dann nenne ich das Zeichen ein Symbol.” Martin Brunner 28 Wir erwerben Verwendungsformen von Token durch Tun nach Regeln. Durch regelmäßiges Tun von Gleichem entsteht Gewohnheit. In diesem Sinne sind die Verwendungsformen nach der obigen Definition symbolisch. Regeln gelten auf verschiedenen Ebenen. Schreibregeln betreffen beispielsweise nicht nur einzelne Token sondern auch das Zusammenwirken der Token. Beispiel: Verwenden wir drei Token schreibregelkonform im Sinne des Typs “gerade Linie”, so muss noch lange kein Dreieck entstehen. Erst durch die Befolgung weiterer Schreibregeln, wie etwa Regeln des Aneinanderfügens der Token oder Regeln hinsichtlich der Länge der Token entsteht ein Diagramm, das man Dreieck nennen kann. Durch die Befolgung von Regeln lernt man also ein Tokenensemble als Dreieck zu verwenden. Token, die wir im Hinblick auf einen Typ zu verwenden gelernt haben, werden im Verlauf des Lernprozesses meist weiteren Verwendungsweisen unterzogen. Token spielen bei verschiedenen Verwendungsweisen, wenn man so will, unterschiedliche Rollen. Token, die als Seiten des Dreiecks verwendet werden, spielen etwa im Zusammenhang mit dem Umfang eine andere Rolle als im Zusammenhang mit der Fläche. Eine Linie kann beispielsweise die Funktion einer Begrenzung, sie kann aber auch etwa jene einer Verbindung zwischen zwei Punkten haben. Nehmen wir zum Beispiel das Token o-Kreissymbol (Beispiel von Stjernfelt, 2007, S. 96). Es kann als Token des Typs “Kreis” oder des Typs “runde Scheibe” (das Innere beinhaltend) oder des Typs “rundes Loch” (das Innere nicht beinhaltend) oder des Typs “Kegelschnitt” oder des Typs “Jordankurve” usw. gelesen und verwendet werden. Mathematik-Betreibende verfügen mit der Zeit, sofern Lehr- und Lernprozesse erfolgreich sind, über ein ganzes Reservoir von Typen, die (gleichen) Token zugeordnet werden können. Sie sind durch dieses Reservoir in der Lage, eine differenzierte mathematische Welt zu erzeugen. Ihre Erkenntnismöglichkeiten sind maßgeblich durch das verfügbare Reservoir an Verwendungsweisen bestimmt. Aus der Vertrautheit mit Verwendungsweisen resultieren Sichtweisen als Wiedererkennung dieser Verwendungsweisen. Im Sinne von Hoffmann (Zitat oben) ist man so bei der Wahrnehmung von Zeichen als Typ zu “theoriebeladener Beobachtung” fähig. Wie eingangs erwähnt resultiert Darstellungskürze häufig aus den Mehrfachfunktionen der verwendeten Zeichen. Die multiple Verwendung von (gleichen) Token im Dienste unterschiedlicher Typen ist in diesem Sinne eine Ursache für Kürze. Token, die etwa als Seiten eines Dreiecks verwendet werden, können im Sinne von “Winkel”, “Umfang” oder “Fläche”, mit anderen Token zusammen im Sinne von “Höhen”, “Schwerlinien”, “Seitensymmetralen”, “Winkelsymmetralen” usw. verwendet werden. Natürlich müssen Mathematik-Betreibende zu dieser multiplen Verwendung von Token in der Lage sein. 4 Herstellungskürze durch Ikon und Diagramm Die Hauptaufgabe eines Ikons ist die Darstellung eines repräsentierten Objektes in Ähnlichkeit. “Es ist ein Zeichen, das sich nur kraft der ihm eigenen Merkmale auf das Objekt bezieht” (Peirce, CP 2.247, zitiert bei Nagl 1992, S. 44). In der Mathematik ist das Ikon “verkörperte” Relationalität. Eine Darstellung wie etwa eine Dreieckszeichnung ist für jene, die in der Lage sind Relationen zu erkennen, ein Ikon. Das Objekt des Ikons kann rein fiktiv sein. Das Ikon steht nicht eindeutig für dieses oder jenes existierende Ding … Sein Objekt kann, was seine Existenz angeht, eine reine Fiktion sein. Noch viel weniger ist sein Objekt notwendig ein Ding von einer Art, der wir gewohnheitsmäßig begegnen. Aber es gibt eine Sicherheit, die das Ikon im höchsten Grade gewährt. Nämlich dass dasjenige, was sich dem Blick des Geistes Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 29 darbietet - die Form des Ikons, die auch sein Objekt ist -, logisch möglich sein muss. (Peirce, 1906d, SEM III 136f., zitiert bei Hoffmann, 2005, S. 56) Die verwendeten Token des Ikons erlauben durch ihr Zusammenwirken und die repräsentierten Qualitäten die Formulierung von Relationen. Mit Qualitäten sind Eigenschaften wie Länge, Schriftgrad (Breite), Form, räumliche Ordnung (Nähe oder Distanz, oben - unten, Lage zueinander), Stellenwert usw. gemeint. Beispiel: Zwei gerade Striche können parallel oder nicht, länger oder kürzer sein. Token sind durch ihre relationale Funktion bestimmt. Diese hat Auswirkungen auf die geltenden Schreibregeln. Beispielsweise sind bei einem Dreieck in der Graphentheorie andere Schreibregeln als für Dreiecke in der Ebene wirksam. Es werden natürlich nicht immer alle Qualitäten der Token zur Formulierung von Relationen genützt. Beispielsweise wird in der Euklidischen Geometrie die Breite der Linien in dieser Hinsicht nicht verwendet. Das Diagramm ist eine Spezialform des Ikons. Erstens also ist ein Diagramm das Ikon einer Menge von rational aufeinander bezogenen Objekten. Mit rational aufeinander bezogen meine ich, dass es zwischen ihnen nicht nur eine jener Beziehungen gibt, die wir aus der Erfahrung kennen, aber nicht verstehen können, sondern eine jener Beziehungen, mit denen jeder, der überhaupt Schlüsse zieht, eine innere Vertrautheit haben muss.” (Peirce, 1906c, NATUR 320 = NEM IV 316) Aus Hoffmann (2005, S. 55). Das Diagramm geht über das reine Ikon hinaus. Dies soll an einem von Nagl (1992, S. 51) gegebenem Beispiel erläutert werden. Der Plan einer Stadt ist im Normalfall ein Diagramm. Er ist einerseits ein Ikon, da er die Struktur des Dargestellten reproduziert. Damit ein Besucher die Details des Stadtplans aber deuten kann, muss er gelernt haben, die in der Darstellung verwendeten Kürzel, die unterschiedlichen Zeichen für die Straßen, Straßenbahnlinien, U-Bahnstationen usw. zu verstehen. Versteht man gewisse Zeichen aufgrund fehlender Lernprozesse noch nicht, so kann man den Schlüssel dafür jederzeit finden, indem man die “Legende” der Karte, also die symbolischen, in Wörtern gegebenen Erläuterungen der ikonischen Darstellungsmittel des Stadtplans befragt. Das Diagramm bedarf, um als Zeichen verständlich zu sein, symbolischer Erläuterungen. Diagramme sind Ikone, in welchen neben Symbolen auch Indizes vorkommen. “Der Index … zwingt die Aufmerksamkeit auf das intendierte partikulare Objekt, ohne es zu beschreiben” (Peirce CP 1.369, zitiert bei Hoffmann 2001, S. 9). Paradebeispiele für Indizes sind nach Peirce etwa Naturzeichen wie Rauch als Index für Feuer oder organische Symptome als Indizes für Krankheiten (Nagl, 1992, S. 48). Der Finger, der auf etwas zeigt, ohne dabei irgendetwas Inhaltliches zu behaupten, ist ein weiteres Beispiel für die indexikale Relation. Das Darstellungsmittel der Mathematik ist das Diagramm. Beispiele für Diagramme sind etwa Zahlenlinien, Venn-Diagramme, Kartesische Graphen, Pfeildiagramme, Vektoren in der Gaußschen Zahlenebene, algebraische Gleichungen, Zahlendarstellungen, Formeln usw. Nach Peirce sind nicht nur geometrische Figuren, sondern auch algebraische Darstellungen oder Gleichungen Diagramme. Nach Hoffmann (2005, S. 130) kann auch jeder Satz oder jedes Urteil die Form eines Diagramms haben. Er bringt in diesem Zusammenhang das folgende Beispiel von Peirce: “Hesekiel liebt Hulda”. Es handelt sich bei diesem Satz nach Hoffmann um eine Verbindung eines Ikons, es wird ja eine Relation verkörpert, mit Indizes und einem konventionellen Symbol, also um ein Diagramm. Hesekiel und Hulda sind Indizes. Ohne Indizes ist es nach Peirce unmöglich zu bezeichnen, worüber man spricht (Hoffmann, 2005, S. 131). Kennen wir die Personen, so wären “Hesekiel” und “Hulda” zusätzlich Symbole in Martin Brunner 30 dieser Hinsicht. Die Existenz der indizierten Objekte kann in Diagrammen auch fiktiv sein (siehe Zitat oben S. 28). Es könnte auch das häufig zitierte Einhorn sein. In diesem Sinne ist auch jeder logische Schluss ein Diagramm. Es geht in ihm um die Relation von Sätzen (Hoffmann, 2005, S. 55). Nach Hoffmann (2005, S. 128) sind Diagramme letztlich für eine unendliche Menge von Interpretationen offen. Sie repräsentieren Relationen als Möglichkeiten. Sie ermöglichen daher auch die spielerische Veränderung der dargestellten Relationen. Die nach den Konventionen der Mathematik genützten Relationen können mit Hilfe von Operationen und der Beobachtung der Resultate deduktiv abgeleitet werden. Man kann dadurch Dinge erkennen, die man vorher nicht gesehen hat. Einfache Beispiele: Es ist nicht von vornherein klar, dass im rechtwinkligen Dreieck der Zusammenhang a 2 + b 2 = c 2 (Pythagoreischer Lehrsatz) oder h 2 = p·q (Höhensatz) gilt. Diagramme zeichnen sich daher allgemein und in der Mathematik speziell durch eine operationale Struktur aus, welche es erlaubt, sie selbst als Objekt zu studieren. Kürze ergibt sich in der Mathematik also auch durch die operativen Möglichkeiten, die Diagramme bieten. Mathematik-Betreibende müssen in der Lage sein, Diagramme nach den Konventionen der Mathematik als Experimentierfelder zu verwenden. Diagramme sind in diesem Sinne implizite Lernsysteme, welche Geübten ein fast unerschöpfliches Reservoir zur Ableitung von Kenntnissen bieten. Des Weiteren können veranschaulichte mathematische Sachverhalte im Hinblick auf das Zuzeigende äußerst knapp gehalten werden. Lesen ist daher im Zusammenhang mit mathematischen Texten eine komplexe Angelegenheit. Durch Wechsel zwischen den Diagrammen im Gesamten und Teildiagrammen durch entsprechende Transformationen und ergänzende Diagramme müssen Lesende das Dargestellte für sich nachvollziehbar machen. Beispiel: Wird in einem Satz über bestimmte Markovketten etwa die Darstellung verwendet, so kann es sein, dass man erst herausfinden muss, dass es sich dabei um die Ersteintrittswahrscheinlichkeit für den Zustand y zum Zeitpunkt v bei Start im Zustand x handelt. Für das Verständnis des Textes kann etwa die Transformationsmöglichkeit für die Übergangswahrscheinlichkeit von x nach y von Bedeutung sein. An dieser Stelle sei noch eine Nebenbemerkung gestattet. Ich persönlich fände es sinnvoll, anstelle von Darstellungen im Zusammenhang mit mathematischen Diagrammen von Herstellungen zu sprechen. Die Objekte der Diagramme können zum Einen rein fiktiv sein (Zitat S. 28). Man benötigt also keine “metaphysisch konstruierten” Objekte, als deren Abbildungen Diagramme zu betrachten sind. Dörfler (2010, S. 31) setzt sich mit diesem Sachverhalt auf Basis von Krämers (1991) Theorie der symbolischen Konstitution von Referenzobjekten mathematischer Zeichen auseinander. Er verweist eben darauf, dass Diagramme zunächst einfach Herstellungen sind. Er führt beispielsweise aus (Dörfler, 2010, S. 31): Wir wählen eine “Formel” als Festlegung einer Funktion (als eindeutige Zuordnung), die dann durch diese Formel “dargestellt” wird. … Dass dann verschiedene Herstellungen “dasselbe” herstellen, das sind schon die Ergebnisse mathematischer Untersuchungen der Herstellungen. Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 31 5 Kürze durch Diagrammkomprimierung und -vernetzung 5.1 Herstellungsprinzipien und Darstellungssysteme In den Diagrammen der Mathematik sind Regeln von Darstellungssystemen wirksam. Dörfler (2006, 210) gibt folgende kurze Einführung zum Begriff “Darstellungssystem”: Diagramme sind nicht isolierte, einzelne Inskriptionen, sondern gehören immer zu einem Darstellungssystem. Dieses liefert Mittel zur Erstellung der Inskriptionen (Symbole, Zeichen) nach gewissen Regeln und gibt auch Regeln für das Lesen und Verwenden der Diagramme vor. Ein Beispiel wäre das Darstellungssystem ‘Stellenwertprinzip’. Dadurch sind auch die einzelnen Diagramme untereinander verbunden, vernetzt, transformierbar (z.B.: Zahlenbeziehungen jeder Art). In diesem System kann man auch vom Typ eines Diagramms sprechen (etwa: Dezimalzahl, Matrix, Polynom). Im Sinne der vorhin diskutierten Herstellung wäre es sinnvoller, so wie dies Dörfler inzwischen tut, von Zeichenanstatt von Darstellungssystemen zu sprechen. Da der Begriff “Darstellungssystem” aber einigermaßen etabliert ist, behalten wir ihn bei. Er bedarf aber noch einer eingehenden Klärung. In Darstellungssystemen existieren Regeln und Konventionen für die Erstellung von Inskriptionen und Diagrammen. Es werden bestimmte Token nach Regeln verwendet. Es werden Prinzipien wie jenes des Stellenwerts zur Formulierung von Relationen genützt. In Darstellungssystemen gelten darüber hinaus Regeln für das Lesen und Verwenden der Diagramme. Sie legen fest welche Transformationen zugelassen sind und welche nicht. Mit der Veränderung des Systems können sich auch diese Regeln ändern. Für Hoffmann (2005, S. 136) hat daher jedes Darstellungssystem eine eigene Rationalität. Diese Rationalität ist durch die verwendeten Diagramme und die Konventionen, nach denen diese alleine und in ihrem Zusammenwirken Relationen formulieren, bestimmt. Beispiel: Im Diagrammtyp “a + bi” sind Schreib- und Leseregeln wirksam (Konventionen der Algebra). Beispielsweise entspräche die Schreibweise “+,b,a” nicht den Konventionen dieses Darstellungssystems. Neben dem in der Definition angeführten Darstellungssystem “Stellenwertprinzip” dürften auch das “Euklidische Darstellungssystem” (Verwendung von Punkten und Geraden) oder das Zeichensystem der Mengenlehre als eigene Darstellungssysteme angesehen werden können. Herstellungsprinzipien haben an sich bereits große Bedeutung für die Darstellungslänge. Beispielsweise bewirkt das Stellenwertsystem als multiplikatives System deutlich kürzere Darstellungen als vergleichbare additive Systeme. Beispiel: | | | | | | | | | | | | | | | Usw. Das angeführte System erfordert für die Herstellung großer Zahlen unvergleichlich mehr “atomare” Zeichen als etwa das Stellenwertsystem. Die Wahl des Darstellungssystems an sich hat also großen Einfluss auf die Darstellungslänge. Um dies sichtbar zu machen, schlägt beispielsweise Polya (1949, S. 71) ein einfaches Experiment vor. Er empfiehlt, einige niedrige Zahlen nicht unter Verwendung arabischer, sondern mit Hilfe von römischen Zahlenzeichen zu addieren. Für die Kürze mathematischer Darstellungen war die Entwicklung von Darstellungssystemen, welche möglichst viele Spezialfälle abdecken, von entscheidender Bedeutung. Martin Brunner 32 Die in Darstellungssystemen verwendeten Herstellungsprinzipien erlauben nicht nur Darstellungskürze, gewisse Darstellungen sind überhaupt erst durch sie möglich. Betrachten wir eine Darstellung wie “1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, …”. Es versteht sich im Sinne von Rotman (2000) von selbst, dass ein unendlicher Zählprozess nicht ausführbar ist. Aufgrund des Herstellungsprinzips “Stellenwert” ist aber die Generierung der Zeichen geklärt. Egal an welcher Stelle man sich befindet, man weiß wie das nächste Zeichen aussieht. Die Inskription “1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, …” zeigt als so genannter “unmittelbarer Interpretant” auf “1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, …”, diese wieder auf “1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, …” usw. Der semiotische “Trick” dieser Inskription ist die Befreiung des Zählprozesses (als induktiver Prozess in der Zeit) vom Zeitaspekt und damit die Darstellung in Gleichzeitigkeit. Obige Darstellung wäre etwa mit römischen Zahlen nicht denkbar. Sie weisen kein System für die ungehinderte Generierung der Zeichen auf. In der Praxis bildet der “semiotische Trick” der Darstellung eines unendlichen Prozesses in Gleichzeitigkeit die Grundlage für viele mathematische Darstellungen: Parameterdarstellungen, Folgen, Reihen, “Schleifentechniken” wie usw. Die “Flächigkeit” vieler mathematischer Darstellungen bewirkt zusätzlich Darstellungskürze. Die notwendigen Zeichen werden auf engem Raum gebündelt. Darstellungen (Hoch- oder Tiefstellungen usw.) ermöglichen Kürze und Gleichzeitigkeit der Informationsübertragung. Beispiele: Brüche, Matrizen, geometrische Figuren, Graphen von Funktionen, usw. Durch das wirksame Stellenwertprinzip lassen sich auf die beschriebene Art “0,1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, …”die so genannten “Natürlichen Zahlen” herstellen. Die Axiome von G. Peano sind bekanntermaßen erfüllt. Viele Kurzdarstellungen lassen sich auf der Basis der immanenten Logik des Darstellungssystems finden und mittels vollständiger Induktion beweisen. Beispiel: 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 + 10 + 11 + … + (n - 1) + n = n·(n + 1)·0,5 5.2 Diagrammkomprimierung und -vernetzung Innerhalb eines Darstellungssystems wird in der Mathematik die ständige Restrukturierung der Diagramme betrieben (vgl. Brunner, 2011). Die wiederholte Ausführung von gleichen Diagrammen wird mit Hilfe von neuen Diagrammen oder Schreibweisen abgekürzt. Die Diagramme werden so “relational zusammengefasst”. Für diese Art der Restrukturierung gibt es in der Mathematik unzählige Beispiele: Die verkürzte Ausführung gleicher Additionen ist die Multiplikation. Die Wiederholung von Multiplikationen der Form “x·x” wird durch die Potenzschreibweise abgekürzt, Gleichungssysteme werden zu Matrizen zusammengefasst usw. All diese Restrukturierungen sind Ausdruck von Verallgemeinerungen. Sie ermöglichen Darstellungskürze und verbessern die operative Handhabbarkeit. Die Schaffung eines gemeinsamen Darstellungssystems von vorher getrennten Subsystemen ist eine Form der Verallgemeinerung. Mormann sieht Verallgemeinerung als einen Prozess der Reorganisation und Erweiterung des Wissens (Hoffmann, 2005, S. 219). Nach Hofmann (2005, S. 216) zielt die mathematische Verallgemeinerung - verkürzt und semiotisch betrachtet - darauf ab, mit möglichst wenigen Darstellungsmitteln möglichst viel darzustellen. Aufbauend auf die Überlegungen von Mormann, Molodsij und Bourbaki beschreibt Hofmann (2005, S. 220) Verallgemeinerung als eine Restrukturierung von Darstellungssystemen, die an mehreren Zielen orientiert ist. Sie führt unter anderem zu einer Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 33 • Vereinheitlichung der Darstellung von Sachverhalten, das heißt zur Schaffung eines gemeinsamen Darstellungssystems für bislang getrennte Subsysteme. • Erweiterung der Anwendungsmöglichkeiten, des Gegenstandsbereichs oder der Erklärungsleistung des neuen Darstellungssystems. Daneben werden durch diese Restrukturierung von Darstellungssystemen bestehende Mängel beseitigt und neue Forschungshorizonte eröffnet. Als Beispiele zitiert Hofmann solche von Mormann und Molodsij. Molodsij hält die analytische Geometrie von Descartes-Fermat im Vergleich zur euklidischen Geometrie für abstrakter. Dank der Koordinatenmethode wird in der analytischen Geometrie die Untersuchung geometrischer Formen mit algebraischen Mitteln durchgeführt. In diesem Zusammenhang ermöglichte es die analytische Geometrie, den inneren Zusammenhang und die Einheit vieler geometrischer Tatsachen aufzudecken, die in der euklidischen Geometrie als isolierte Fakten angesehen und entsprechend untersucht wurden. Eben deshalb gestatten es die Methoden der analytischen Geometrie, eine Reihe geometrischer Aufgaben zu lösen, die im Rahmen der euklidischen Geometrie nicht gelöst werden konnten. Die analytische Geometrie verwendet eine Kombination der Darstellungssysteme “Stellenwertprinzip” und “Euklidisches Darstellungssystem” kombiniert mit einigen “Sonderzeichen” (z.B.: “ ” als Index bzw. Symbol für Vektor). Ein besonderes Beispiel für die Erweiterung der Erklärungsleistung und die Vermehrung der Anwendungsmöglichkeiten durch die Kombination der Darstellungsmittel bei gleichzeitiger Zeichenökonomie ist die Verallgemeinerung der reellen durch die komplexen Zahlen. Die Diagrammart “a + bi” entsteht durch Kombination des neuen Diagrammtyps “bi” mit dem Diagrammtyp “a” (a, b ). Durch diese Diagrammerweiterung kommt es zur Einbettung der reellen in die komplexen Zahlen. “i” wird durch eine syntaktische Ersetzungsregel eingeführt: i 2 = -1. Ersetzungsregeln sind nichts Ungewöhnliches. Beispiele: 4i = 2(2i)= (2·2)i = 6i - 2i usw. Die materielle Basis ist von “a” zu “a + bi” erweitert. Dabei hat das Strukturzeichen “+” algebraisch keine Bedeutung. “a” und “bi” können auf keine Weise so addiert werden, dass das Zeichen “+” verschwindet. Das syntaktische Zeichen “+” spiegelt also in erster Linie den Entstehungskontext in Form konkreter Gleichungslösung wider. Es steht für die Paarbildung. Bei der Gauß’schen Zahlenebene wird ein Prinzip angewandt, das bereits bei der Zahlengeraden vorkommt. Die reellen Zahlen werden als Punkte auf der Zahlengeraden veranschaulicht. Die Diagrammerweiterung besteht nun darin, dass der zweiten Achse - durch die Deutung von “i” als Länge - imaginäre Zahlen zugeordnet werden können. Dabei werden die Diagramme “a” und “b” (a, b ) zur Gänze mitgenommen. Das Darstellungssystem hat sich aber geändert. Es ist ein geometrisches anstelle eines algebraischen. Durch die Art der Einbettung können geometrische Gebilde algebraisch gedeutet werden. Es gelten andere Regeln. Die Verknüpfung “+” erhält erst jetzt eine Bedeutung. Zu den reellen Zahlen und der imaginären Einheit “i” kommen Punkte, Vektoren, Winkel usw. hinzu. Es entsteht ein Vektorraum mit der Basis {1, i}. Es werden neue Aspekte wie etwa “Richtung” hergestellt. Durch die Art der Einbettung führen Operationen wie (a + bi) + (c + di) bei algebraischer und bei geometrischer Ausführung zu gleichen Ergebnissen. Durch die Erweiterung der Aspekte können gleiche Objekte wie etwa “Punkte” durch unterschiedliche Diagrammarten (a/ b) und (r/ ) (Polarkoordinaten) repräsentiert werden. Der bestehende Isomorphismus zwischen (a/ b) und (r/ ) erlaubt die Zuordnung der beiden Diagramme zum gleichen abstrakten Objekt “Komplexe Zahl”. Die Transformation von (a/ b) zu (r/ ) geht mit einer anderen Sichtweise einher, die auch Auswirkungen hat. Beispielsweise ist nun und + 2 dieselbe Zahl z zugeordnet oder es besteht nun auch der bekannte Zusammenhang zwischen der Multiplika- Martin Brunner 34 tion komplexer Zahlen und der Addition der zugehörigen Winkel: “ z 1 ·z 2 = r 1 ·r 2 ((cos 1 + 2 ) + i·sin ( 1 + 2 ))”. Die Festlegung von Punkten durch Polarkoordinaten eröffnet wiederum neue Möglichkeiten. Beispielsweise kann ein weitreichender Zusammenhang zwischen trigonometrischen Funktionen und der Exponentialfunktion hergestellt werden. (Potenzieren, Wurzelziehen usw.) Auch weitere Diagrammarten der komplexen Zahlen wie die Matrizendarstellung oder die Darstellung mit Hilfe der Riemann’schen Zahlenkugel können mit der Diagrammerweiterung mittels Tokeneinbettung erklärt werden. Aus der Diagrammerweiterung von “a” zu “a + bi” (a, b ) durch die Ersetzung von i 2 = -1 resultieren bekanntermaßen Vorteile wie: die Rechenregeln der reellen Zahlen lassen sich anwenden, algebraische Abgeschlossenheit (jede algebraische Gleichung vom Grad größer 0 besitzt eine Lösung über - Fundamentalsatz der Algebra), jede auf einer offenen Menge einmal komplex differenzierbare Funktion ist dort von selbst beliebig oft differenzierbar (anders als in ) usw. Jede der beschriebenen Diagrammerweiterungen eröffnet neue Möglichkeiten. Beispiel: Eine quadratische Gleichung hat in eben auch im Falle einer negativen Diskriminante zwei Lösungen. Die Kompaktifizierung der komplexen Ebene wird durch Verbreiterung der materiellen Basis (Riemannsche Zahlenkugel) und die Hinzunahme des zu denkenden “unendlich fernen Punktes” erreicht. Wiederum wird ein Mangel behoben. Funktionen wie “1/ f” haben an den Polen ja keinen Funktionswert. Man bezahlt aber auch einen Preis für die errungenen Vorteile. Beispiel: Man kann die komplexen Zahlen nicht mehr anordnen. Wie ausgeführt sind die Diagramme nicht nur innerhalb der Darstellungssysteme selbst, sondern darstellungssystemübergreifend miteinander vernetzt. Dies ist eine weitere wesentliche Ursache von Darstellungskürze. Wiederum werden hohe Anforderungen an Mathematik-Betreibende gestellt. Der Einstieg an einer bestimmten Stelle ermöglicht, sofern man dazu in der Lage ist, die Nutzung des gesamten Systems. Dabei kann aufgrund von großer Vertrautheit vieles “internalisiert”, also rein gedanklich ohne das Anschreiben von Diagrammen und Diagrammtransformationen durchgeführt werden. Speziell in Texten, die professionelle Mathematiker zu Adressaten haben, führt diese “Internalisierung” oft zu extremer Darstellungskürze. Dies ist für weniger Geübte häufig ein Problem. Sie sind gezwungen durch Erläuterungen in Form von ergänzenden Diagrammen und Transformationen Texte ihrem Verständnisniveau anzupassen. 6 Kürze durch Aussparung bzw. Indizierung Wie oben im Zusammenhang mit Internalisierungen angedeutet resultiert die Kürze mathematischer Texte vor allem auch daraus, dass vieles nicht notiert oder nur indiziert wird. Dies betrifft nicht nur Diagramme oder Transformationsschritte, sondern generell Wissen welches im Zusammenhang mit angeschriebenen Diagrammen steht. Wiederum werden hohe Ansprüche an Mathematik-Betreibende gestellt. Im Folgenden werden nun Besonderheiten im Zusammenhang mit der Aussparung und Indizierung von Diagrammen, Diagrammbestandteilen und erforderlichem Wissen betrachtet. 6.1 Fokales und kollaterales Wissen Hoffmann (2005, S. 38ff.) unterscheidet bei der Repräsentation von Wissen in Sätzen oder Diagrammen zwischen “fokalem” und “kollateralem” Wissen. “Fokales” Wissen steht im Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 35 Zentrum der Aufmerksamkeit, “kollaterales” Wissen steht hingegen nicht im Mittelpunkt, es wird vorausgesetzt. Beispiel: Für die Durchführung einer Kurvendiskussion benötigen wir zahlreiche Begriffe und Sätze der Analysis. Wir verwenden Begriffe wie die Ableitung einer Funktion kollateral. Indizierungen wie “f’” oder “(sin)’ = cos” weisen kollateral auf Diagramme hin, sie indizieren Diagramme. Wir verwenden dieses Wissen, sehen aber, um Hoffmanns Ausdrucksweise zu verwenden, durch die Zeichen “f’”, “(sin)’” oder “cos” hindurch. Aus verschiedenen Gründen können wir diese Zeichen aber in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stellen. Sie werden dadurch zu fokalem Wissen. Wir können dieses Wissen explizit machen, die Diagramme anschreiben und uns mit den Eigenschaften der Diagramme beschäftigen. “Kollaterales” Wissen ist solches aus anderen, meist tieferen Schichten oder assoziierten Fachgebieten. Es wird häufig nur indiziert oder überhaupt nicht notiert. Das bloße Indizieren oder Aussparen von “kollateralem” Wissen ist also ein weiterer wesentlicher Grund für Darstellungskürze. Ein Diagramm kann aber seinen Zweck nur dann erfüllen, wenn der Anwender über das entsprechende “kollaterale Wissen” verfügt, also die Voraussetzung für die Indizierungen, nämlich die damit verbundenen Symbolisierungsprozesse beherrscht. In den nachfolgend angeführten Beispielen (z.B. Abschnitt 7) wird öfters indiziertes kollaterales Wissen erwähnt. 6.2 Symbolisierung und Indizierung Symbole erfordern Interpretanten, welche die Beziehung zwischen ihnen und den entsprechenden Objekten per Gewohnheit herstellen. Nach Peirce sind es die einzigen Zeichen, denen eine verstehbare Bedeutung zukommt. “Marken” wie “ ” oder “e (Eulersche Zahl)” sind für Peirce aber nicht die Symbole selbst. Sie sind lediglich Repliken von Symbolen. Das Symbol selbst ist für Peirce ausschließlich das, was die intelligible Bedeutung des hingeschriebenen Zeichens ermöglicht. Eine Beziehung zwischen repräsentiertem Objekt und Zeichen kann für den Interpreten nur bestehen, wenn er zur Herstellung derselben in der Lage ist. Entscheidend ist also die Verbindung einer Darstellung mit den erforderlichen Interpretanten. Diese Verbindung beruht auf Konventionen. Der eigentliche Träger der Information muss also der Mathematik-Betreibende selbst sein. Dies ist ein wesentlicher Grund für Darstellungskürze. Darstellungskürze steht natürlich nicht immer im Vordergrund. Strukturelle Information ist oft viel bedeutsamer. Beispiele: Wie bereits erwähnt haben Indizes nach Peirce die Funktion, die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken. Sie “zeigen”. Der Index “behauptet”, dass das existiert, was er indiziert. Er verkürzt und erleichtert damit Darstellungen. Zeichen können häufig nur dann als Indizes fungieren, wenn vorher Erfahrungen mit den indizierten Objekten gemacht wurden. Koordinaten können in einem Orthogonalsystem beispielsweise nur dann als Indizes genützt werden, Martin Brunner 36 wenn man mit den Konventionen des Systems bereits vertraut ist. Ansonsten behaupten Indizes nur die Existenz von irgendetwas. Durch das Zusammenspiel von Index und Symbol werden komplexe Informationspakete mittels Kurzdarstellung abrufbar. Beispiel: “ 3 ”. Für den Wissenden zeigt “ 3 ” als Index auf ein genau bestimmtes Paket von Symbolzusammenhängen. Die in der Darstellung verwendeten, “atomaren” Zeichen “ ” und “3” liefern dabei die unbedingt nötigen Informationen zur Identifikation des Paketes. Sie sind ihrerseits wieder Indizes, welche auf Bündel von Symbolzusammenhängen verweisen. Indizes verweisen in der Mathematik häufig auf Sprache und kürzen sie ab. Bei der Formalisierung der mathematischen Sprache arbeitet man beispielsweise mit Indizes. Neben der so genannten Signatur (Relations-, Funktions- und Individuenzeichen) verwendet man in einer mathematischen Theorie noch Variablen für Individuen x, y, z, …, logische Zeichen -, =, , , , , , sowie technische Hilfszeichen. Viele dieser Zeichen bewirken durch ihre indexikale Funktion Darstellungskürze. Die logischen Zeichen zeigen beispielsweise auf Wörter oder Wortgruppen, deren Bedeutung genau fixiert ist (z.B.: “ ” steht für “es existiert”). Von besonderer Bedeutung ist die Indizierung von so genannten abstrakten Objekten. Beispiele für abstrakte Objekte wären: Natürliche Zahlen, Komplexe Zahlen, Grenzwert, Dreieck, Banachraum, n usw. Wie wir oben (Abschnitt 5.2) gesehen haben unterscheiden wir zwischen der Sprechweise “Komplexe Zahlen” und den zugeordneten Diagrammen und Diagrammarten: “a + bi”; “(a, b)”; geometrische, vektorielle und trigonometrische Darstellung, Darstellung in Polarkoordinaten, Matrizendarstellung oder die Darstellung mit Hilfe der Riemann’schen Zahlenkugel. Wir halten uns daher im Folgenden an Dörflers (2006) Vorschlag und betrachten die “abstrakten Objekte” als Sprechweisen über Diagramme. Dörfler (2010, 33) zeigt an Sätzen der Reellen Analysis, dass die abstrakten Objekte häufig keine “andere Existenzform denn als Referenten von Indizes in Diagrammen” haben. Nach Dörfler (2010, 33) beobachtet man die zugehörigen Diagramme und nicht die abstrakten Objekte selbst. In diesem Sinne sind Beweise auch Beweise über Diagramme. Die Eigenschaften der abstrakten Objekte resultieren ebenfalls aus den Diagrammen. Prinzipiell können wir Erkenntnisse über abstrakte Objekte nur über die ihnen zugeordneten Diagramme gewinnen. Der Begriff “abstraktes Objekt” hat daher keinen ontologischen Charakter. Er ermöglicht aber eine Art des Sprechens über Diagramme. Namen für abstrakte Objekte werden häufig durch sprachliche Indizes bzw. Symbole abgekürzt. Beispiele: IN für “Natürliche Zahlen”; e für “Ebene” oder V für “Volumen”. Je nach gewähltem Diagramm können abstrakte Objekte mit mehr oder weniger “atomaren Zeichen” repräsentiert werden. Eine Ebenengleichung erfordert beispielsweise im 3 deutlich weniger “atomare Zeichen” als etwa eine Parameterdarstellung. Das Zusammenspiel von abstrakten Objekten kann wiederum durch Diagramme in Kurzschreibweise mittels Indizes geregelt werden. Der Anwender muss natürlich vielfältige Fertigkeiten im Umgang mit den Diagrammen und deren Transformation haben (Hoffmann, 2005; Dörfler, 2006). Um dieses Wissenskompendium nutzen zu können, muss er die symbolisierten oder indizierten abstrakten Objekte zumindest in den durch den Kontext relevanten Aspekten kennen und zu Informationsdechiffrierung mittels Diagramminterpretation, -transformation und -wechsel fähig sein. Beispiel: “V = r 2 . .h”. Die angeführte Formel stellt eine Gesetzmäßigkeit dar, welche im abstrakten Objekt “Zylinder” wirksam ist. Das explizit dargestellte abstrakte Objekt “Volumen” ist mit anderen abstrakten Objekten verbunden. Eine Transformation wie “r 2 = V/ .h” kann beispielsweise das abstrakte Objekt “Flächeninhalt des Quadrates des Radius” relational veranschaulichen. Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 37 Die Darstellung der Relationalität wird in Diagrammen von geometrischem Charakter durch die Bezeichnung (Indizierung) mit Hilfe von Buchstaben zusätzlich erleichtert. Mit Hilfe von festgelegten Regeln ist es möglich, die erforderliche Bezeichnung von Eckpunkten, Seiten, Winkeln usw. zu vereinheitlichen und auf das jeweils unbedingt notwendige Maß zu reduzieren. Das Alphabet ist zur Kennzeichnung von Gleichheit und Verschiedenheit von Objektkategorien wie “Eckpunkte”, “Seiten” oder “Winkel” bestens geeignet. Es ist ein Zeichensystem, das durch seine Ordnung und die Möglichkeit der Ausführung in verschiedenen “Qualitäten” (verschiedene Schriften, Groß- und Kleinschreibung,…) vielfältige Kategorisierungen ermöglicht. Mit Hilfe des Alphabets ist es möglich, gleichzeitig die Zusammengehörigkeit und die Unterschiedlichkeit von Objekten hinsichtlich verschiedener bedeutungstragender Wirkungen zu bezeichnen. “A, a, ” oder “B, b, ” ermöglichen etwa die Kennzeichnung der Zusammengehörigkeit von Eckpunkten, Seiten und Winkeln, aber auch die Unterscheidung von “A” und “B”. Von besonderer Bedeutung für die Kürze von Darstellungen sind Variablen. Nach Hoffmann (2005, S. 127) sind Variablen sowohl Indizes als auch Symbole. Sie sind Indizes, da sie “die Aufmerksamkeit auf etwas lenken”, nämlich auf die Zahlen, als deren Stellvertreter sie fungieren. Sie sind aber auch Symbole, da wir bereits über eine bestimmte Konvention verfügen müssen, damit wir sie überhaupt als Variablen im Sinne der Algebra interpretieren können. Es ist eben beispielsweise per Konvention festgelegt, dass man jedes Element der indizierten Menge für die Variable einsetzen darf. 6.3 Kontext Der Kontext indiziert für den Wissenden kollaterales Wissen. Wie bereits erwähnt sind die Verwendungsregeln von Token vom jeweiligen Kontext abhängig. Man muss also auch über die Fähigkeit verfügen, die Verwendungsformen und Sichtweisen von Token den jeweiligen Kontexten anzupassen. Die Sichtweise auf obige Darstellung bestimmt die Auswahl der relevanten Interpretanten, der geltenden Konventionen, der Lese- und Schreibregeln, der Verwendungsweisen usw. Je nach Sichtweise ( 2 oder 3 ) müssen etwa zur Berechnung des Normalabstandes in obiger Darstellung unterschiedliche Diagramme und Verwendungsweisen herangezogen werden. Kürze wird im Zusammenhang mit Diagrammen durch die Beschränkung auf die zur Darstellung der Relationen unbedingt nötigen Zeichen erreicht. “Grundkonstellationen” werden etwa als vertrauter Kontext vorausgesetzt und nicht notiert. Beispiel: Stellenwertsystem (etwa “23,32 statt 2·10 1 + 3·10 0 + 3·1 0-1 + 2·1 0-2 ”). In den durch die Darstellung der Relationalität erfassten Merkmalen werden durch diese Reduktion sowohl die operative Handhabbarkeit, die Informationsbewertung als auch der Erkenntnisgewinn erleichtert. Beispiele: 23,32 + 234,05 ist einfacher als (2·10 1 + 3·10 0 + 3·1 0-1 + 2·1 0-2 ) + (2·10 2 + 3·10 1 + 4·10 0 + 0·1 0-1 + 5·1 0-2 ) oder die Reduktion eines Gleichungssystems zu einer Matrix erleichtert das Finden der Lösung. Mit Hilfe von Konventionen wird die Anzahl der Zeichen weiter reduziert. Beispiele: 1·x 1 = x; 000123 = 123. Martin Brunner 38 7 Multiple semiotische Deutung, Flächigkeit und Herstellungsprozesse Je komplexer ein Zeichen ist, desto mehr verschiedene semiotische Sichtweisen bietet es (Otte, 2001; Hoffmann, 2005). Zeichen haben in diesem Sinne häufig Mehrfachfunktionen. Dies ist ein entscheidender Grund für Darstellungskürze. Viele mathematische Inskriptionen erfordern daher, will man sie inhaltlich ausloten, die Interpretation nach verschiedenen Peirceschen Kategorien und damit nach verschiedenen semiotischen Sichtweisen. Die Darstellung von Prozessen in “Gleichzeitigkeit” oder die “flächenhafte” Notation von Informationen ermöglichen überhaupt erst viele Darstellungen und bewirken zusätzlich Kürze und Übersichtlichkeit. Betrachten wir dazu folgendes Diagramm: “e” ist ein Index. Er verweist auf das abstrakte Objekt “Ebene”. Wird “e” gewohnheitsmäßig oder per Konvention für “Ebene” verwendet, so ist es auch ein Symbol. Das abstrakte Objekt Ebene wird nach dem Doppelpunkt durch ein konkretes Diagramm dargestellt. In ihm sind, da es ein Ikon ist, Zeichen für Relationen (“=”, “+”, “.”) und Zeichen für Relata (Punkte, Vektoren, Parameter …) wirksam. Das Ikon formuliert eine Herstellungsidee: “alle Punkte einer Ebene sind mit Hilfe eines festen Punktes und zweier linear unabhängiger Vektoren mittels Stauchung und Dehnung erzeugbar”. So wie die angeführte Parameterform der Ebene stellen viele Diagramme den Herstellungsprozess eines abstrakten Objekts dar. Alle unendlich vielen Punkte X der Ebene können faktisch nicht hergestellt werden. Man kann aber immer wieder einen neuen Punkt finden. Grundlage einer solchen “erzeugenden” Darstellung sind die gesicherte Möglichkeit der Darstellung jedes Einzelelementes und die “Gleichzeitigkeit” der Darstellung. Insgesamt handelt es sich also um die Darstellung der Relationen “in Möglichkeit”. Per Konvention sieht man die Ebene durch dieses Verfahren als hergestellt an. “=” formuliert eine Einschränkung. X kann nicht irgendein beliebiger Punkt des 3 sein. Er muss das Diagramm der rechten Gleichungsseite erfüllen. Es werden verschiedene Kategorien von “atomaren” Zeichen (Groß-, Kleinschreibung, Sondernotationen wie “ ”, …) zur Indizierung verschiedener Arten von abstrakten Objekten wie “Punkten”, Vektoren”, “Parametern” oder “Zahlenmengen” verwendet. Zusatzzeichen erhöhen dabei die Anzahl der darstellbaren Objektklassen. Um die Vektoren von den Parametern unterscheiden zu können, werden etwa hochgestellte Pfeile in “flächenhaftem” Zeichenaufbau hinzugefügt. Der hochgestellte Pfeil hat übrigens ideographische Züge. Die Indizierung von abstrakten Objekten hat den Vorteil, dass alle Diagramme, über welche die jeweiligen Verwender im Zusammenhang mit dem angesprochenen abstrakten Objekt verfügen, aktiviert werden können. Das gesamte Netz der verfügbaren Diagramme wird aktiviert. Beim Diagrammbestandteil “ ” sind es etwa entsprechende geometrische Diagramme (gedehnte oder gestauchte Pfeile in unterschiedlicher Richtung) oder Diagramme in Koordinatenschreibweise. Das Teildiagramm “ ” stellt wiederum eine Gerade dar. Auch hier können andere Diagramme durch die Sprechweise “Gerade” aktiviert werden. Mit dem Index “e” für Ebene wird der kompetente Anwender weitere Diagramme, die ebenfalls dem abstrakten Objekt “Ebene im 3 ” zugeordnet werden können, wie etwa die Ebenengleichung oder die Normalvektorform assoziieren und gegebenenfalls in Beziehung zum gegebenen Diagramm stellen. Generell ist eine Fülle von kollateralem Wissen für die regelkonforme Verwendung der gegebenen Parameterdarstellung erforderlich. Beispielsweise müssen die beiden Vektoren der Ebenengleichung linear unabhängig sein. Viele der Zeichen sind Symbole in mehrfacher Kürze als Resultat mathematischer Darstellungs- und Verwendungsprinzipien 39 Hinsicht. Sie müssen multipel gedeutet werden. Beispielsweise ist “X” einerseits ein Symbol im Zusammenhang mit der bedeutungstragenden Wirkung “Punkt im 3 ”, andererseits ist “X” aber auch ein Symbol hinsichtlich der bedeutungstragenden Wirkung “beliebiger Punkt”. “A” symbolisiert ebenfalls “Punkt im 3 ”, steht aber andererseits für die bedeutungstragende Wirkung “festgewählter Punkt”. Erst der gewohnheitsmäßige Umgang mit diesen Symbolen ermöglicht das Verständnis der abstrakten Objekte “Punkt”, “Vektor”, der Diagramme “Addition von Punkt und Vektor”, “Addition von Vektor plus Vektor” oder “Multiplikation von Skalar mal Vektor”. 8 Zusammenfassung Aufgrund der verwendeten Darstellungsbzw. Herstellungsmethoden und der betriebenen Zeichenökonomie ist Bedeutungskonstruktion im Zusammenhang mit mathematischen Zeichen nur Wissenden möglich. Das erforderliche Wissen bleibt ja häufig ausgespart oder es wird nur mit Hilfe von Indizes oder durch Symbole angedeutet. Mathematik-Betreibende müssen in der Lage sein, die jeweiligen Darstellungsmittel im Dienste unterschiedlicher Typen, nach verschiedenen Sichtweisen und Funktionen zu verwenden. Nur durch große Vertrautheit mit den Regeln des Schreibens, der Verwendung und des Lesens ist es ihnen möglich, Diagramme und die zugrunde liegenden Darstellungssysteme im Sinne der Konventionen der Mathematik zu verwenden. Speziell betrifft dies die operative Nutzung der verwendeten Zeichen und den Gebrauch der Diagramme als Experimentierfelder. Die angesprochene Vertrautheit muss auch im Hinblick auf die Vernetzung, die Komprimierung und das Zusammenwirken der Diagramme und Darstellungssysteme bestehen. 9 Literatur Brunner, M. (2011): “Ständige Restrukturierung - ein Erfordernis des Lernens von Mathematik”, in: Mathematica didactica, Hildesheim, Berlin: Franzbecker Davis, Philip J. und Hersh, Reuben (1985): Erfahrung Mathematik. 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