Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2012
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Walter Krämer: Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten. München: Piper 2011. 320 S., 19,99€, ISBN 978-3-492054867
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2012
Dagmar Schmauks
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Reviews 176 Walter Krämer: Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten. München: Piper 2011. 320 S., 19,99 , ISBN 978-3-492054867 Statistiken über häufige Ängste und deren Vergleich mit den tatsächlichen Gefahren sind für Unbeteiligte eine sichere Quelle der Erheiterung. Wann endlich setzt ein findiger Regisseur dem Weißen Hai den Thriller Die Kokosnuss des Grauens entgegen, wo doch jährlich rund 150 Menschen durch herabfallende Kokosnüsse sterben, aber nur 10 durch Haie? In seinem neuesten populärwissenschaftlichen Buch Die Angst der Woche geht der Statistikprofessor Walter Krämer (TU Dortmund) der Frage nach, warum in den deutschen Medien alle paar Wochen ein neuer Angstauslöser auf der Titelseite auftaucht, obwohl wir in den letzten Jahren so manche Apokalypse überlebt haben, unter anderem Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, SARS, Schweinegrippe und EHEC. Die Analysen konzentrieren sich auf Risiken durch Chemikalien und Krankheiten, während Gefahren durch Mitmenschen und Tiere wenig Raum einnehmen. Die vorliegende Rezension skizziert zunächst in Abschnitt 1 den Inhalt. Anschließend greifen die Abschnitte 2 und 3 die psychologischen und ökologischen Aspekte noch einmal genauer auf und bringen kritische Ergänzungen an. Abschnitt 4 versucht ein Fazit und macht einige Vorschläge für nachfolgende Aufklärungsbücher. 1. Struktur und Inhalt des Buches In 12 süffigen Kapiteln beleuchtet Krämer unsere widersprüchlichen Einstellungen gegenüber Risiken aus verschiedenen Blickwinkeln. Das 1. Kapitel listet alphabetisch von “Airbag als Todesfalle” bis “zuckerfreie Limonade gesundheitsschädlich” über 120 Angstmeldungen auf, die in den letzten 5 Jahren durch die Presse gingen. Typisch hierbei ist, dass Umfang und Platzierung der Nachricht nicht vom Ausmaß der Gefahr abhängen, denn die Infektionen im Krankenhaus (50.000 Tote jährlich in der EU) stehen gleichwertig neben dem explodierenden Fön, der als seltene Todesart natürlich interessanter ist. Krämers Vergleich mit anderen Ländern zufolge melden die Massenmedien in Deutschland drohende Gefahren besonders häufig und an auffallender Stelle. Zitierte Autoren bieten etliche Erklärungen an, etwa die “German Angst” sei durch Kriegserlebnisse fest im kollektiven Unterbewusstsein verankert, oder die Technikfeindlichkeit speziell der deutschen Romantik wirke noch nach. Das 2. Kapitel formuliert im Ratgeberstil die wichtigsten Panikregeln, die eine Gefahrenmeldung auf die Titelseite bringen: • Betone die bloße Existenz einer Gefahr, • verwende vorzugsweise den Konjunktiv, • senke die Grenzwerte so lange ab, bis die Messwerte darüber liegen, • nenne das relative Risiko statt des absoluten, • vermenge Korrelation und Kausalität, • vertraue auf den Herdentrieb und • nenne möglichst einen Sündenbock, den man dann attackieren kann. Kapitel 3 zeichnet nach, wie immer feinere Messverfahren mittlerweile jeden Stoff auch in kleinsten Mengen nachweisbar gemacht haben. Um den tolerierbaren Grenzwert wird hartnäckig gefeilscht, denn die Risikoverursacher hätten ihn gerne hoch, die Verbraucherschützer niedrig. Da aber alle Stoffe überall vorkommen, ist die Forderung nach einem Grenzwert von Null grundsätzlich kaum erfüllbar. Ähnliche Kämpfe toben in der Medizin, wo die ständige Absenkung “normaler” Grenzwerte für Blutdruck, Blutzucker und Cholesterin immer mehr Menschen zu Kranken macht, welche die Pharmaindustrie dann behandelt. Das 4. Kapitel vergleicht die Bewohner der Industrienationen mit der höchst sensiblen Prinzessin auf der Erbse. Obwohl unsere Lebenserwartung immer noch steigt und unser Lebensstandard höher ist als je zuvor, reagieren wir seismographisch noch auf feinste Risiken. Eine Erklärung unseres “Jammerns auf hohem Niveau” liefert das Weber-Fechner’sche Gesetz (113f). Ihm zufolge ist ein Reizunterschied umso leichter wahrnehmbar, je niedriger der Ausgangsreiz ist. Angst vor Schadstoffen im Trinkwasser kann also nur eine Person entwickeln, die erstklassiges Wasser aus dem Hahn gewohnt ist - aber nicht eine, die aus verschmutzten Tümpeln schöpft. Umgekehrt ist auch ein zu hoher Lebensstandard gefährlich: Wenn durch übertriebene Hygiene unser Immunsystem nicht mehr ausreichend gefordert wird, entstehen häufiger Allergien. Kleine Reviews 177 süffisante Ergänzung: Gerade testet man Allergie-Impfstoffe, die aus Stalldreck gewonnen werden … Kapitel 5 untersucht, warum wir bestimmte Risiken besonders fürchten, obwohl sie weder häufiger noch gefährlicher sind als andere. Evolutionär gesehen war Angst überlebenswichtig, denn der Mensch in seinem Urzustand war sehr wehrlos und daher ständig bedroht. Tollkühne Frühmenschen, die unbewaffnet einem Bären gegenübertraten, lebten daher nicht lange genug, um unsere Vorfahren zu werden. Heute besteht immer die Gefahr, dass die nützlichen Warnsysteme Angst und Ekel bei den falschen Auslösern anschlagen. Einerseits halten wir künstliche Stoffe für grundsätzlich schädlicher als natürliche, obwohl gerade Chemikalien zum Konservieren von Lebensmitteln und zum Desinfizieren entscheidend zur Steigerung der Lebenserwartung beitrugen. Andererseits unterschätzen wir die Risiken durch Rauchen, Alkohol und ungeschützten Geschlechtsverkehr erheblich, weil wir bei freiwilligen Verhaltensweisen irrigerweise glauben, wir hätten sie unter Kontrolle. Und schließlich gehen wir intuitiv eher mit vagen Mengenangaben wie “viele” oder “kaum einer” um als mit exakten Zahlen. Diese Erkenntnisse wendet das 6. Kapitel auf die besonders verbreitete Angst vor Krebs an. So prangern die Medien häufig Lebensmittelzusätze, Asbest und dgl. an, obwohl Rauchen und fettes Essen weit häufigere Krebsursachen sind. Hinzu kommt das Alter, denn “wer lange genug lebt, stirbt irgendwann auf jeden Fall an Krebs” (149). Demographisch gesehen sind viele Krebstote also umgekehrt eher ein Zeichen dafür, dass die meisten Menschen lange leben. Dramatische Schlagzeilen wie “Immer mehr Menschen sterben an Krebs” beschreiben folglich eine Entwicklung, um die uns viele arme Länder, in denen die Lebenserwartung heute noch unter 40 Jahren liegt, stark beneiden. Zu ergänzen wäre die ebenfalls zu etwas mehr Bescheidenheit führende Einsicht, dass Langlebigkeit jenseits des reproduktionsfähigen Alters ohnehin kein Ziel der Evolution ist. Kapitel 7 kommt auf unsere Angst vor chemischen Stoffen zurück und beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden durch entsprechende Verbote. Ferner wird gefordert, bei der Bewertung einer Chemikalie müsse der erwartete Nutzen durch ein Verbot immer auch mit dem Schaden durch den Verzicht verrechnet werden. Das Verbot von DDT etwa bewirkte, dass seither mehrere Millionen Menschen zusätzlich an Malaria starben. Auch das 8. Kapitel relativiert unsere Angst vor künstlichen Giftstoffen. Viele Pilze und Pflanzen enthalten natürliche tödliche Gifte oder krebserzeugende Stoffe, viele weitere werden erst durch Kochen genießbar, und auch unbehandelte Kuhmilch enthält Keime, die empfindlichen Menschen schaden können. Eine Fallstudie zeichnet detailliert nach, wie der Nachweis von Dioxin in Hühnereiern ab Weihnachten 2010 in den Medien zu einer erheblichen Gefahr aufgebaut und dann wieder vergessen wurde. Dieselbe Dramaturgie zeigte sich bereits 2002 beim Nitrofenskandal. Kapitel 9 widmet sich der oft behaupteten Entstehung von Leukämie durch radioaktive Strahlung. Den zitierten Quellen zufolge hält die angebliche Häufung von Krankheitsfällen in der Nähe von Kernkraftwerken einer statistischen Analyse nicht stand. Insbesondere haben viele Studien mögliche andere Faktoren nicht mit einbezogen. Das 10. Kapitel würdigt die Rolle der Epidemiologie. Einerseits hat sie entscheidend zur heutigen Lebensqualität beigetragen, weil sie die Ursachen von Malaria, Cholera und Kindbettfieber erkannte und somit eindämmbar machte. Andererseits werden epidemiologische Forschungen heute gern benutzt, um Ängste zu schüren. Da man mit Menschen gefährliche Experimente nicht machen kann, stammen die Fakten oft aus reinen Beobachtungsstudien. Wie bereits geschildert, bleiben auch hier viele weitere Faktoren unberücksichtigt. Kapitel 11 belegt an Beispielen, welche negativen Auswirkungen die immer neuen Horrormeldungen sowie die anschließenden Verbote haben. Panik bewirkt nicht nur finanzielle Einbußen, sondern kann auch ganze Existenzen vernichten, so begingen in England rund 150 Bauern Suizid wegen der BSE-Krise. Das abschließende 12. Kapitel formuliert einige Ratschläge, wie man mit künftigen Gefahren rationaler umgehen könnte. Unverzichtbar ist das nüchterne Eingeständnis, dass unser alter “bauchgesteuerter” Gefahrenmelder heute oft falsch reagiert. Ferner gilt es zu verinnerlichen, dass Leben immer gefährlich ist und sich Risiken niemals hundertprozentig ausschalten lassen. Reviews 178 Grenzwerte müssen also auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse festgelegt werden, wobei Risikoabschätzung und Risikomanagement klar zu trennen sind. Und auch der Einzelne ist gefordert, denn wenn er besser mit Zahlen und Wahrscheinlichkeiten umgehen könnte, würde manche bedrohliche Meldung gar nicht erst so viel Resonanz erhalten. Zu ergänzen ist, dass die Medien bei manchen Nachrichtensorten besser ganz auf missverständliche Wahrscheinlichkeitsangaben verzichten sollten. Sagt etwa der Wetterbericht eine Regenwahrscheinlichkeit von 50% vor, so nehmen Laien oft an, es würde die Hälfte des Tages oder in der Hälfte des Sendegebiets regnen (wohingegen die Deutungen, die Hälfte aller Fußgänger würde nass oder die Hälfte der Meteorologen hätte so gewettet, nur als absichtlicher Unsinn das Problem illustrieren sollen). 2. Der psychologische Blickwinkel Krämer erhellt seine Hauptthesen öfters durch den Hinweis, unsere Gefühlswelt habe sich schon vor einigen Hunderttausend Jahren aufgefächert und sei daher mit heutigen Lebensumständen oft überfordert. Es gibt etliche Listen von Basisemotionen, aber die Angst ist immer dabei und nimmt eine wichtige Stellung ein. Psychologen unterscheiden zwar zwischen der Furcht vor einer bestimmten Sache und der unspezifischen Angst, aber im Alltag sind wir weniger trennscharf und verwenden die beiden Ausdrücke oft synonym, ebenso wie Krämer im Titel seines Buches. Auch die Gefühle selbst sind nicht leicht abzugrenzen, denn selbst irrational wirkende Ängste gehen oft auf eine ganz handfeste erste Bedrohung zurück. Einige besonders lebhafte Ängste sind angeboren und reichen weit in die Stammesgeschichte zurück, etwa die Angst vor Dunkelheit, Aufenthalt in großer Höhe, Alleinsein, Schmerzen und Sterben. Andere Ängste sind kultur- und epochenspezifisch wie die Nomophobie (“No Mobile Phone Phobia”) - die Angst, ohne Handy unerreichbar und somit sozial nicht-existent zu sein. Ganz bizarre schließlich erheitern andere wie die Triskaidekaphobie, die Angst vor der Zahl 13. Durch immer mehr und immer wirksamere Werkzeuge schwang sich der Mensch zwar in Jahrtausenden zum Beherrscher der Natur auf, blieb dabei aber das, was Sigmund Freud so treffend einen “Prothesengott” nannte. Dass wir ohne unsere Prothesen weiterhin nicht sehr wehrhafte Bodenbewohner und damit ideale Beutetiere sind, hat der US-amerikanische Zeichner Gary Larson eindrucksvoll ins Bild gesetzt. Auf einem Cartoon sonnen sich zwei vollgefressene Alligatoren neben einem zerfetzten Kayak und der eine schwärmt: “Das war fantastisch. Kein Fell, keine Hörner, Geweihe und so Zeug … Alles nur zart und rosig …” Krämer stellt eine Fülle von Beispielen dafür vor, dass wir Gefahren systematisch überschätzen, weil wir mit Wahrscheinlichkeiten nur schlecht umgehen können. Zu ergänzen wäre, dass wir auch beim Abschätzen erfreulicher Ereignisse groteske Fehlurteile fällen. Die Hoffnung auf einen fetten Gewinn lässt viele Menschen Lotto spielen, obwohl in Deutschland die Wahrscheinlichkeit einer Niete (höchstens 2 Treffer bei 6 Zahlen) bei über 98% liegt. Und sogar Hütchenspieler finden immer wieder Mitspieler, die sich das Verfolgen der flinken Kugel zutrauen, obwohl hier bekanntermaßen ausschließlich beauftragte Lockvögel gewinnen. Eine gründlichere Betrachtung verdient hätte die interessante und scheinbar paradoxe Tatsache, dass nach Erhöhung der Sicherheit durch Gesetze (Helmpflicht) oder Technik (ABS) die Unfallzahlen nicht zurückgehen, weil nun die Menschen riskanter fahren (261f). Dieses Verhalten heißt in der Psychologie “Risikokompensation” und tritt immer dann auf, wenn man sich nach einer Änderung sicherer fühlt und daher sorgloser handelt. Beispiele gibt es überall, so muss die Bergwacht immer wieder Wanderer retten, die durch gut markierte und gesicherte Steige in ein Gelände geraten sind, das ihre Fähigkeiten deutlich übersteigt. Einige Anthropologen nehmen an, der Mensch hätte ein so starkes Bedürfnis nach Angst und Bewährungsproben, dass er bei Fehlen vorhandener Gefahren selbst welche erfindet. Ein Beleg hierfür wäre - neben den vielen Gefahrenmeldungen - unsere Sehnsucht nach “Angstlust”, die vom kindlichen Versteckspiel über Horrorfilme und Geisterbahnen bis zu riskanten Sportarten viele Beschäftigungen motiviert. Außer mehr oder weniger archaischen Ängsten besitzen wir noch weitere “althergebrachte” Eigenschaften, die zur Erklärung scheinbar irrationaler Verhaltensweisen beitragen könnten. Reviews 179 Dass wir etwa auf personalisierte Spendenaufrufe hilfsbereiter reagieren als auf abstrakte Katastrophenmeldungen (134f), hängt damit zusammen, dass unser Gefühlsleben für den Zusammenhalt von Kleingruppen optimiert ist. Dies ist auch eine Ursache des sog. “Zuschauereffekts”, dem zufolge die Zeugen eines Unfalls oder Verbrechens umso wahrscheinlicher eingreifen, je weniger potentielle Helfer anwesend sind. Ein Einzelner in einer größeren Menge fühlt sich deutlich weniger verantwortlich. (Schon das Alte Testament kannte diese Zusammenhänge, denn es fordert, seinen Nächsten zu lieben - und nicht etwa den Übernächsten …) 3. Der ökologische Blickwinkel “Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.” Paracelsus Das Zitat von Paracelsus fasst präzise und griffig die Einsichten zusammen, die der aufmerksame Leser hoffentlich in seinen Alltag mitnimmt. Es wäre schon viel gewonnen, wenn er künftig nicht nach jeder Gefahrenmeldung hektisch gleich seinen ganzen Speisezettel umgestalten würde. Wünschenswert wäre allerdings der stärkere Einbezug von Argumenten, die über eine anthropozentrische Sicht bzw. eine reine Kosten- Nutzen-Rechnung hinausgehen. So hat die BSE- Krise (243ff) nicht nur Milliarden Euro gekostet und zahlreiche Bauern in den Suizid getrieben, sondern auch zur Tötung von gesunden Tieren geführt. Tierschützer kritisierten vor allem, dass einige Staaten die sog. “Herodes-Prämie” zahlten, wenn neugeborene Kälber gleich geschlachtet wurden, um den Markt zu regulieren. Kernpunkt dieser Kritik war nicht, dass man sinnlos Geld verschleudert, sondern dass man lebende Wesen wie Abfall behandelt. Ebenfalls verkürzt dargestellt sind die Wirkungen von Zuckerersatzstoffen, die auch Nicht- Diabetiker gerne benutzen, um Kalorien zu sparen. Der Haupteinwand gegen sie ist aber nicht, dass sie als Substanz gesundheitsschädlich wären, sondern dass ihre ständige Verwendung den Körper an immer mehr Süße gewöhnt. Das auf die USA bezogene Argument, erst das Verbot von Zuckerersatzstoffen habe viele Menschen fettleibig gemacht, weil sie nun notgedrungen wieder Zucker konsumieren mussten (248), stimmt so nicht. Das Kernproblem ist der Maissirup, der gezielt subventioniert und den meisten Softdrinks zugesetzt wird. Sein hoher Fructoseanteil führt dazu, dass trotz erheblicher Kaloriendichte kein Sättigungsgefühl eintritt. Folglich war die Gier nach allzu viel Zucker schon vorhanden, bevor sein Ersatz überhaupt auf den Markt kam. Noch komplexer ist die Bewertung von DDT (166f, 246). Da es auch die Anopheles-Mücke bekämpft, kann sein Einsatz fraglos viele Todesfälle durch Malaria verhindern. Erst nach einigen Jahrzehnten sorglosem Einsatz entdeckte man jedoch, dass DDT lange in der Umwelt verbleibt, sich weit verbreitet und in der Nahrungskette anreichert. Während man es früher flächendeckend mit Flugzeugen ausbrachte, darf es heute nur noch im Malariagebieten lokal als Insektenspray benutzt werden. Auch diese begrenzte Verwendung ist höchst umstritten, da betroffene Länder sie kaum kontrollieren und daher nicht vermeiden können, dass DDT doch wieder in die Umwelt gelangt. Inzwischen sind nicht nur DDTresistente Mückenstämme entstanden, sondern auch alternative Bekämpfungsmethoden weit fortgeschritten, die vom Trockenlegen der Brutstätten bis zum massenhaften Ausbringen sterilisierter Mückenmännchen reichen. Die Geschichte von DDT belegt beispielhaft, dass man die Gefährlichkeit einer Technik nur nach langfristigen Untersuchungen realistisch bewerten kann. Würde eine übergeordnete Handlungsregel davon abraten, lang andauernde Probleme zu erzeugen, wäre das Paradebeispiel natürlich die Kernkraft. Selbst angesichts der Unfälle in Tschernobyl und Fukushima ist das Hauptargument gegen Kernkraftwerke nämlich nicht die Gefahr von Unfällen, sondern die völlig unklare Endlagerung radioaktiver Abfälle. Stoffe, deren Halbwertszeit 1000 Jahre oder länger beträgt, überfordern unsere Vorstellungskraft erheblich - auch das sollte ein Fazit des Buches sein. Zu fragen ist schließlich noch, ob die untersuchten Gefahrenmeldungen denn überhaupt vor allem ANGST auslösen. Personen mit ökologischem Hintergrundwissen werden wohl auch öfters WUT empfinden, weil längst bekannte Gefahren weiterhin missachtet werden, oder SCHAM, wenn der homo sapiens wieder einmal unbekümmert die Lebensqualität von Artgenos- Reviews 180 sen und Mitgeschöpfen beeinträchtigt. Die an mehreren Stellen sehr positiv gezeichnete Entwicklung in Deutschland (etwa 105ff) mit immer mehr gesundem Wald, klarem Wasser und sauberer Luft müsste relativiert werden durch den Hinweis, dass auch bei uns trotz des Bevölkerungsrückgangs negative Entwicklungen wie Zersiedelung und Flächenversiegelung noch nicht beendet sind. Und weltweit gesehen muss man schon ein eingefleischter Optimist sein, um Probleme wie Erderwärmung, Wüstenbildung, Wassermangel, Wald- und Humusverlust unter “alles halb so schlimm” (264) abzuheften. Wichtig ist jedoch, dass wir darauf nicht mit Angststarre reagieren, sondern mit Aufklärung und sinnvollem Handeln. 4. Fazit und Wunschzettel “Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.” Nikos Kazantzakis Die Angst der Woche liest sich leicht und genussvoll und wird bei jedem Leser, der selbst kein Statistiker ist, einige Erkenntnisschübe bewirken. Witzige Episoden wie die über das gefährliche Dihydrogenmonoxid (157f) machen abstrakte Zusammenhänge leicht verständlich. Einige Entscheidungen bleiben allerdings auch nach der Lektüre schwierig. Wird einem etwa ein neues Medikament verordnet, so könnte dieses überflüssig und nur ein neues Erfolgsmodell der Pharmaindustrie sein (93ff), andererseits könnte der gezielte Verzicht darauf aber auch das Leben verkürzen (251). Nicht-Medizinern bleibt als ganz altmodische Entscheidungshilfe letztlich nur das Vertrauen zum Arzt. Mein eigenes Lieblingskapitel ist fraglos das sechste, da es weit über reine Statistik hinausgreift und den Tod als ein letztlich unvermeidbares, aber durch viele Faktoren beeinflusstes und beeinflussbares Ereignis darstellt. An die Visualisierung der Todesursachen als Ergebnis einer Wette (154) und an Wendungen wie “Krebs ist die letzte Hoffnung des Sensenmannes” (152) werde ich mich jedenfalls lange erinnern. Für nachfolgende Aufklärungsbücher seien noch einige Anregungen skizziert. Eine betrifft unsere Angst vor gefährlichen Tieren, von denen das vorliegende Buch nur die Krankheitserreger betrachtet. Heftige Proteste gegen die Wiederansiedlung von Wölfen oder Luchsen belegen, wie leicht unsere archaische Angst vor Raubfeinden wieder aufflackert. Im 20. Jahrhundert wurde in Deutschland kein einziger Mensch durch einen Wolf getötet, aber es gab einige Dutzend tödliche Hundeattacken. Trotzdem ist der wilde Wald immer noch gefährlich, denn dort lauern Zecken, die kein Grimm’sches Märchen je als Angstauslöser inszeniert hat. Ein weiteres dankbares Thema ist die Kriminalstatistik. Filme und Bücher beschreiben besonders häufig die Taten dämonischer Serientäter, aber echte Gewalttaten haben überwiegend banale Motive wie Eifersucht, Hass, Rachsucht oder Habgier. Viele Frauen fürchten sich davor, auf dunklen Straßen oder beim Waldspaziergang überfallen zu werden, obwohl die eigene Wohnung und die Wohnung von männlichen Bekannten weit gefährlichere Orte sind. Statistiken zufolge stammen bei Sexualdelikten mehr als 90 % der Täter aus dem sozialen Nahbereich. Und schließlich gibt es noch eine weit verbreitete Angst, der die Statistiker wenig entgegensetzen können, nämlich die Angst vor Demenz oder sonstiger Pflegebedürftigkeit am Ende des Lebens. Auch sie ist natürlich eine Nebenwirkung unserer Langlebigkeit (Kapitel 6), was aber Betroffene wenig trösten kann. Eine interessante Frage auf Meta-Ebene wäre, warum wir Artikel und Bücher über statistische Fehlurteile so gerne lesen (schon das Risikobarometer von Klaus Heilmann von 2010 war ein Renner). Sicher geht es nicht um bloßen Erkenntniszuwachs, sondern immer auch um eine gewisse Schadenfreude, wie irrational andere handeln. So konnte man während der EHEC- Krise süffisant über Sprossenphobiker grinsen, die sich zur Beruhigung rasch eine Kippe anzünden mussten. Eine besonders glückliche Hand hatte Krämer, als er gezielt Michael Sowas witzige Zeichnung Haie der Vorstadt als Titelbild auswählte. In einer ansonsten stillen Straße mit schwach erleuchteten Häusern und einer bescheidenen Eckkneipe tobt das Grauen, denn einige bösartig glotzende Haie mit gewaltigen Zähnen durchpflügen die schon meterhoch schäumenden Fluten. Im unbedrohten Mitteleuropa amüsiert uns der Kontrast zwischen den piefigen “Pilsner Stuben” und den lauernden Raubfischen, aber während des Hochwassers in Australien im Januar 2011 trat genau dieses Szenario ein und in den Tageszeitungen konnte man Überschriften wie Reviews 181 “Großstadtfische” und “Haie auf der Hauptstraße” lesen. Festzuhalten ist also, dass auch ein äußerst unwahrscheinliches Ereignis durchaus eintreten KÖNNTE - schließlich fallen manchmal Meteore vom Himmel, feiern fidele Kettenraucher ihren hundertsten Geburtstag, oder finden Glückspilze mitten im MediaMarkt einen lupenreinen Diamanten. Dagmar Schmauks (Berlin)
