eJournals Kodikas/Code 36/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2013
363-4

Sprache, Zeichen und Erkenntnis

121
2013
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Gesine Leonore Schiewer
kod363-40161
* Johann Heinrich Lambert (1728-1777), Schweizer Philosoph und Mathematiker. Eine englische Fassung dieses Beitrags erschien in dieser Zeitschrift erstmals 2002 unter dem Titel: „Lambert’s Semiotics. Memory, Cognition, and Communication“, in: K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 25.1-2 (2002): 145-158; die deutsche Erstveröffentlichung war ein Tagungsbeitrag unter dem Titel „‚Der Gebrauch ist der Meister‘. Zeichen, ‚Wortstreite‘, Einfache Begriffe. Über das kommunikationstheoretische Interesse an der Semiotik des Johann Heinrich Lambert“, in: Dieter Krallmann & H. Walter Schmitz (eds.) 1998: Perspektiven einer Kommunikationswissenschaft (= Internationales Gerold Ungeheuer-Symposium Essen 1995), vol. 2, Münster: Nodus Publikationen, 341-356; eine erweiterte Fassung wurde gleichzeitig auch in die Dokumentation des von Brigitte Schlieben-Lange präsidierten Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik aufgenommen: „Lamberts Semiotik. Gedächtnis, Erkenntnis, Kommunikation“, in: Ernest W.B. Hess-Lüttich & Brigitte Schlieben-Lange (eds.) 1998: Signs & Time Zeit und Zeichen. An International Conference on the Semiotics of Time in Tübingen (= K ODIKAS Supplement Series 24), Tübingen: Gunter Narr, 208-227. Auf Wunsch von Achim Eschbach wurde eine überarbeitete Fassung des Beitrags in diese Sammlung aufgenommen. „Der Gebrauch ist der Meister“ Johann Heinrich Lambert (1728-1777) Sprache, Zeichen und Erkenntnis Über das kommunikationstheoretische Interesse am Sprach- und Zeichenbegriff des Johann Heinrich Lambert * Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 1 memoria und ratio Memoria: ein großes Thema mit langer Tradition. Seit etlichen Jahren hat es Hochkonjunktur in einer ganzen Reihe von Disziplinen. Die Flut einschlägiger historischer, philosophischer, linguistischer, semiotischer, auch kognitionstheoretischer, neurophysiologischer, computer- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 36 (2013) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 162 1 Lambert 1764 [1965], 2. Bd., Semiotik, § 8, 9. Im Folgenden zitiert durch Angabe des jeweiligen Buches des Neuen Organon, d.h. Dianoiologie und Alethiologie (1. Bd.) sowie Semiotik und Phänomenologie (2. Bd.). technischer und medienwissenschaftlicher Literatur ist mittlerweile unübersehbar geworden. Harald Weinrich hat dazu einmal einen eindrucksvollen Kontrapunkt gesetzt: Lethe - Kunst und Kritik des Vergessens (Weinrich 1997). Eigentlich hatte er, wie er in einem Spiegel- Gespräch zur Präsentation des Buches seinerzeit bekannte (Weinrich 1997 a: 194), auch eine Geschichte des Erinnerns schreiben wollen, aber es wäre die Rekonstruktion eines Niedergangs geworden, in der die Aufklärung eine Hauptrolle spiele. Sie wendet die in der Tradition der antiken Rhetorik formulierten Fragen nach ars und techné der memoria um zu denen nach Quellen und Grenzen des Wissens und der Vernunft. Das 18. Jahrhundert bringt die entscheidende Wende in der Auseinandersetzung zwischen memoria und ratio, rhetorischer Mnemologie und kognitiver Erkenntnistheorie. Das war der Ausgangspunkt für die Weinrich-Schülerin Regina Freudenberg (1996), die Frage nach dem Stellenwert des Gedächtnisses in der deutschen und französischen Aufklärung noch einmal neu zu stellen vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Vernunftdenkens und zugleich mit dem Blick auf die Wurzeln neuzeitlicher Gedächtnisreflexion. Die ausgreifende Untersuchung der Stationen des Kampfes zwischen Vernunft und Gedächtnis führt sie zur Frage nach dessen Zeichen und Medien. Mnemonisch akzentuierte Zeichentheorien wurden ja schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts diskutiert, zu einer Zeit, in der die Logik von Port-Royal entsteht. Gemeinsam ist ihnen das Verständnis des Zeichens als Erinnerungsbild. Damit gerät endlich die sonst kaum beachtete Zeichentheorie Johann Heinrich Lamberts in den Blick, der immerhin den von John Locke übernommenen Begriff der Semiotik in den deutschen philosophischen Sprachgebrauch eingeführt hat (cf. Arndt 1979: 306). Seinem von Hans Werner Arndt edierten philosophischen Hauptwerk Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein (1764) widmet Freudenberg das Abschlusskapitel ihrer Untersuchung (1996: 196-220). Sein Zeichenbegriff zielt auf dessen Funktion als Vorstellungsbild und verbindet mnemonische und kognitive Aspekte, indem die Erkenntnisleistung des Zeichens, in seiner Materialität vergangene Erfahrung zu erneuern, die nicht unmittelbar empfunden werden kann, empirisch an seine memorielle Verankerung geknüpft wird. Die Erneuerung von Begriffen als Vorstellungen des Verstandes bedürfen einer Erinnerungsrelation mittels Zeichen, denn „das Zeichen erinnert uns an den Begriff“. 1 Es ist also das Gedächtnis, das eine Verbindung schafft einerseits zwischen Zeichen und Begriff, andererseits zwischen Zeichen und Zeichen durch assoziative Verknüpfung, die sich umsetzt in der Linearität des Redens oder der Sätze. Freudenberg (1996: 203) versucht dieses Verhältnis modern mit den Begriffen Roman Jakobsons als das von Similarität und Kontiguität zu erfassen. Es ist die „Erinnerungsfunktion der Zeichen“ (Hubig 1979: 337), die beides in Zusammenhang bringt. Christoph Hubig hatte seinerzeit die problemorientierte Zeichenklassifikation Lamberts mit großer Klarheit rekonstruiert und dabei sowohl auf die Bedeutung der Linearität des Redens und Schreibens in der Zeit als auch des Hypothetischen der Sprache für die Auflösung von „Misshelligkeiten in der Wortverwendung“ hingewiesen (ibid. 341). Mit diesem letztlich pragmatischen Kriterium des Sprachgebrauchs weist Lambert über die Lockeschen Kriterien der Erfahrung ebenso hinaus wie über die der Wolffschen Verbindungskunst. Die sprach- Sprache, Zeichen und Erkenntnis 163 2 Semiotik, § 61, 39. 3 Semiotik § 110, 66. 4 Semiotik § 58, 36f. 5 Cf. Ungeheuer 1972: 168; dort auch zum Folgenden. Cf. auch die Einleitung von H.Walter Schmitz (= Schmitz 1990) zu der von ihm besorgten Ausgabe der Schriften Ungeheuers aus dem Nachlass (= Ungeheuer 1990). lichen Misshelligkeiten oder Unvollkommenheiten entspringen nach Lambert einem Mangel an sprachlichen Ausdrücken, also der Begrenztheit des Wortschatzes gegenüber der Unbegrenztheit der zu bezeichnenden Sachen, aber auch einem Mangel in der Verwendung der Zeichen als Erinnerungsbildern, insofern deren Verhältnis zum Bezeichneten willkürlich oder eben bloß symbolisch ist. Diese Spannung zwischen Similarität und Differenz bestimmt auch Lamberts berühmte Zeichendefinition: Ein Zeichen bedeutet schlechthin die dadurch vorgestellte Sache, sofern es willkührlich ist, das will sagen, so fern es mit der Sache keine solche Ähnlichkeit hat, dass es ein sinnliches Bild derselben wäre. 2 Die Konsequenzen für die sprachtheoretische Konzeption reichen weit und sind überraschend aktuell, auch für das moderne kommunikationstheoretische Interesse an Lambert übrigens. Ist der Ähnlichkeitsgrad niedrig, wird Sprache zur reinen Gedächtnissache 3 , ist er hoch, wird Sprache zum Mittel der Anschauung 4 , die weniger mnemonischen Aufwand erfordert. Dabei können die oben bezeichneten Mängel behoben werden durch das Konzept der Tropisierung natürlicher Sprache (cf. Schmitz 1985: 251-253). Gerold Ungeheuer (1979/ 1990) hat sich mit diesem Konzept am Beispiel des Abschnitts über das Prinzip des „Hypothetischen in der Sprache“ auseinandergesetzt und als einen Ansatz vorgestellt, „Konditionen für die Wahrheit des Satzes wie auch für seine Verständlichkeit“ zu formulieren (Ungeheuer 1979: 84). Sein kommunikationstheoretisches Interesse an Lambert - Freudenberg stellt ihn (1996: 198) beiläufig als Germanisten vor, der er natürlich nie war - verdient in einem kurzen Exkurs vielleicht eine etwas genauere Begründung, bevor wir uns wieder der Semiotik Lamberts selbst zuwenden. 2 Das kommunikationstheoretische Interesse Gerold Ungeheuers Interesse an „zwischenmenschlicher Verständigung“ hat sich übersichtlicher disziplinsystematischer Rubrizierung stets entzogen. Die Zuordnung seiner Fragestellungen zu fachsystematisch etablierten Forschungssektoren war für ihn immer sekundär: „ein Scheinproblem“ (Ungeheuer 1972: 168). 5 Ihm kam es auf die klar formulierte Problemstellung an und auf die Beachtung grundlegender Maximen wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei wusste er, von Ausbildung und Neigung her entsprechend disponiert, mathematischlogisch-naturwissenschaftliches mit historisch-hermeneutisch-humanwissenschaftlichem Denken zu verbinden und sich damit von der traditionellen Gefechtsformation antagonistischer Wissenschaftskulturen zu emanzipieren. Als Naturwissenschaftler sah er genauer hin - und der Gegenstand seines Interesses war ihm immer zu komplex, als dass er sich je erlaubt hätte, ihn in der Manier mancher Linguisten auf das zurechtzustutzen, was in die vorgefertigten Kästchen der Kategorien seiner Beschreibung passt. Als Humanwissenschaftler sah er genauer hin - und was die Menschen machen, wenn sie miteinander sich zu verständigen suchen, überschritt für ihn zu deutlich die Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 164 6 Zum Begriff ‚problematischer Kommunikation‘ (mit besonderer Berücksichtigung der literarischen Kommunikation) cf. Hess-Lüttich 1984, vor allem die Einleitung, aber auch Hess-Lüttich 1981, bes. Kapitel 2.4. 7 Ungeheuer 1987: 85; cf. Schmitz 1990: 12. 8 Zur angemessenen Einordnung der historisch-semiotischen Arbeiten in das Ungeheuersche Gesamtwerk cf. jedoch Schmitz 1990. gemeißelten Grenzen einer kommunikationsethischen Postulatorik „kontrafaktischer“ Regularien, die manche Philosophen und Soziologen dem Interesse an der flüchtigen, ständig sich wandelnden Vielgestalt faktischer Verständigung setzen zu sollen überzeugt sind, aber es verlor sich auch nicht in den entgrenzten Zeichen-Welten, von denen manche Semiologen raunen, wenn sie über die intertextuell verwobenen Spuren und Texturen der Verständigung spekulieren. Die Pseudo-Präzision der system- und pragmalinguistischen Reduktionismen machte ihn ebenso skeptisch wie der allzu ausgreifende Gestus von Ansätzen, die in einer kommunikationstheoretischen Nacht versinken, in der alle semiotischen Katzen grau werden. Sein Interesse zielte vielmehr auf die Lösung ‚praktischer‘ Probleme, Kommunikation war ihm, in des Wortes umfassendem Sinne, ‚problematisch‘. 6 Ihn interessierte, wie „kommunikative Interaktion als Sozialhandlung spezifischer Struktur aufgebaut [ist] und nach welchen Regularitäten […] sich ihre Verwirklichung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen [ändert]“. 7 Nicht wenigen, die sich nach seinen problemsystematischen Skizzen eine kohärent ausgebaute Kommunikationstheorie erhofften, erschienen die historischen und semiotischen Studien, denen sich Ungeheuer in seinen letzten Jahren zunehmend widmete, als Umwege, wenn nicht Abwege. Sie dürften seine Denkweise gründlich missverstanden haben. 8 Gerade aufgrund seines hohen Präzisionsanspruchs suchte er sich stets des früher schon gefundenen und oftmals wieder vergessenen Wissens der Besten im Terrain zu versichern, des jeweils einschlägigen Wissensbestandes, der zur Lösung einer von ihm formulierten Problemstellung beizutragen versprach. Und angesichts des reichen Gerichts, das er auf solch festem Grund uns anzurichten versteht, erscheint uns das heute von manchen Linguisten, Sprechakttheoretikern, Sprachphilosophen, Kommunikationssoziologen Angerührte doch als recht dünne Brühe. Es ist von daher nur folgerichtig, dass sich Ungeheuer immer wieder mit den Arbeiten von Johann Heinrich Lambert (1728-1777) auseinandersetzte. Die Schriften dieses Mathematikers, Physikers, Philosophen, der nicht nur die Photometrie begründete, die Trigonometrie erweiterte, die Irrationalität der Kreiszahl nachwies, Gesetze zur Berechnung von Planetenbewegungen formulierte, sondern auch die sprachphilosophischen Ansätze von Gottfried Wilhelm Leibniz fortentwickelte und eine Erkenntnistheorie auf explizit semiotischer Grundlage entwarf, diese in kristallener Wissenschaftsprosa verfassten Arbeiten erwiesen sich für Ungeheuer als eine Fundgrube, aus der er, wie wir meinen, gewiss auch aus wissenschaftshistorischem, vor allem und in erster Linie aber aus kommunikationstheoretischem Interesse schöpfen konnte. Im Zentrum dieses Interesses steht die Wieder-Lektüre der beiden wichtigsten philosophischen Werke von Lambert, ein „Neues Organon der Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein“ (Leipzig 1764) und die „Anlage zur Architectonic oder Theorie des Ersten und des Einfachen in der philosophischen und mathematischen Erkenntnis“ (Riga 1771). Der Profilierung der semiotischen Position Lamberts gelten dabei nun die folgenden Skizzen, und zwar insonderheit Sprache, Zeichen und Erkenntnis 165 9 Cf. Schmitz 1990: 20. 10 Cf. Ungeheuer l990 a: 117. 11 Cf. Neues Organon, Vorrede, 1f. (unpaginiert). 12 Cf. die Begründung dieser Annahme und die Hervorhebung speziell der Bedeutung der Sprache für das menschliche Erkennen in dem 1. Hauptstück, §§ 6ff., 8ff. der Semiotik. derjenigen Aspekte, die Ungeheuer zu seiner intensiven Auseinandersetzung mit diesem Autor motiviert haben dürften: dem kommunikativen Aspekt von Sprache, zu dem Lambert als einziger seiner Zeit vorstößt 9 ; der Unvollkommenheit der natürlichen Sprache als Medium und Vehikel wissenschaftlicher Erkenntnis; der auf das handelnde Subjekt bezogenen sprachtheoretischen Position; der Sprache als eines unter vielen Zeichensystemen unterschiedlicher Struktur, Leistung und Modalität; der erkenntnistheoretischen Grundlagen wissenschaftlicher Begriffsbildung. In der Tradition der zur festen Wendung gewordenen Fügung „Doch der Gebrauch ist der Meister …“ aus dem § 109 der Unvorgreiflichen Gedanken Leibniz’ steht Lamberts (und Ungeheuers) Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer vollkommen regelhaften Sprache, sein (ihr) Interesse an der Sprache als einem System von Zeichen-in-Funktion, das als von fehlbaren Individuen gebrauchtes das gemäße ‚Gefäß ‘grundsätzlich fallibler Verständigung ist; damit ist zugleich die Skepsis gegenüber (heutigen) konsenstheoretischen Positionen der Kommunikationstheorie impliziert, denn die Probleme kommunikativer Übereinstimmung, des „Einsseins“ zweier Subjekte in der Verständigung, liegen in ihrem Medium und semiotischen Modus begründet, dem zugleich (in zu spezifizierender Weise) die Quelle der faktisch verbreiteten „Wortstreite“ innewohnt; diese sind nur zu entscheiden durch die Explikation des komplexen Kommunikats in „einfachen Begriffen“, die ihrerseits als aus gemeinsamer Anschauung und geteiltem Wissen gewonnene außer Streit sind. Die gerade in der „Theorie der Wortstreite“ entwickelte Begriffshierarchie und die damit verknüpften sprachkritischen (auch kommunikationsskeptischen) Überlegungen belegen für Ungeheuer die fundamentale Bedeutung, die bei Lambert das Interesse an der Praxis verbalen Kommunizierens hat. 10 3 Lamberts Semiotik 3.1 Die Problemstellung In der Vorrede zu dem Neuen Organon (1764) formuliert Johann Heinrich Lambert die prinzipielle Ausrichtung seines Interesses an Fragen der Zeichentheorie: Es geht ihm bei der Semiotik um eine Untersuchung des Einflusses der Sprache und von Zeichen im allgemeinen auf die Erkenntnis der Wahrheit, welche seiner Ansicht zufolge „einförmig und unveränderlich ist“ und die zu suchen dem Menschen natürlich sei. 11 Vorausgesetzt wird dabei von Lambert, dass die menschliche Verstandes- und Erkenntnistätigkeit als solche abhängt von der Verwendung von Zeichen, insbesondere von Wörtern und somit von der natürlichen Sprache. 12 Neben der sorgfältigen Prüfung der möglichen negativen Einflüsse, die Zeichen infolgedessen auf die Erkenntnis ausüben können, hält Lambert auch eine Reflexion der Möglichkeiten für erforderlich, wie Zeichensysteme gestaltet sein sollten, damit sie der wissenschaftlichen Erkenntnissuche nicht nur angemessen, sondern sogar förderlich sein können. Hierin soll die zweite Aufgabe der Semiotik Lamberts bestehen. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 166 13 Cf. die entsprechenden Fragen und deren Diskussion in: Neues Organon, Vorrede, 3ff. (unpaginiert). 14 Cf. Neues Organon, Vorrede, 11 (unpaginiert). 15 Dies ist von Ungeheuer in seiner Untersuchung der Bedeutung Lamberts für Klopstocks Gelehrtenrepublik als einer der gemeinsamen Standpunkte Lamberts und Klopstocks hervorgehoben worden. Cf. Ungeheuer 1990 b [Lambert in Klopstocks „Gelehrtenrepublik“], in: Ungeheuer 1990: 144f. 16 Cf. Semiotik, § 2, 6. 17 Cf. Semiotik, § l f., 5f. Gerold Ungeheuer hat die in diesem Zusammenhang zentrale Formulierung Lamberts vom Sprachgebrauch als dem „Tyrann“ der Sprachen in der Untersuchung über Klopstocks Gelehrtenrepublik auf ihre Originalität hin genauestens überprüft. Cf. Ungeheuer 1990 b: 152-160. 18 Semiotik, § 70, 44. 19 Cf. die Einleitung von Hans Werner Arndt in dem 1. Bd. der von ihm herausgegebenen Philosophischen Schriften Lamberts, X. Der Wissenschaft der Semiotik, deren Notwendigkeit sich für Lambert aufgrund einer Analyse der möglichen Quellen menschlicher Erkenntnisfehler ergibt 13 , ist das dritte Buch des Neuen Organons gewidmet, dessen vollständiger Titel bereits eine Definition einschließt: Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge. Hier konzentriert sich Lambert, entsprechend der Ankündigung in der Vorrede, im Wesentlichen auf eine Untersuchung der natürlichen Sprache hinsichtlich derjenigen Aspekte, die im Zusammenhang der Erkenntnis von Wahrheit als relevant betrachtet werden. Die der Untersuchung zugrundeliegenden allgemeinen zeichentheoretischen Prinzipien, die dann in der nachfolgenden Untersuchung als Maßstab dienen, werden vor allem in dem ersten Kapitel oder „Hauptstück“ problematisiert. Lambert rechtfertigt seine Konzentration auf das Zeichensystem der natürlichen Sprache in der Vorrede mit Hinweisen auf die Annahme der Notwendigkeit der Sprache für das Denken, ihre Komplexität und außerdem mit den Argumenten, dass die natürliche Sprache bei allen anderen Arten von Zeichen ebenfalls vorkomme und dass sie ferner immer „das allgemeine Magazin unserer ganzen Erkenntniß“ bleibe, welches freilich „wahres, irriges und scheinbares ohne Unterschied“ umfasse. 14 Diese Akzentuierung der menschlichen Sprache in der Semiotik weist auf eine gewisse Priorisierung der natürlichen Sprache gegenüber anderen Zeichen hin, die trotz des unmittelbar einsichtigen Verweises auf ihre Komplexität einer Erklärung bedarf, wenn man sich vor Augen führt, dass Lambert die Sprache hinsichtlich der Erfordernisse wissenschaftlicher Erkenntnis keineswegs als das bestmögliche Zeichensystem betrachtet. Eine sprachkritische Haltung ist bereits der zitierten Formulierung zu entnehmen, dass in den Sprachen sowohl Wahres als auch Falsches anzutreffen sei, da es Lambert gerade um die Erkenntnismöglichkeiten der Wahrheit geht. Tatsächlich vertritt Lambert einen eindeutig anomalistischen Standpunkt 15 - und sogar hinsichtlich der Realisierungsmöglichkeit der Idee „großer Gelehrter“ 16 , eine künstlich zu schaffende einfache und vollkommen regelmäßige Sprache zum Standard zu machen, äußert er sich höchst pessimistisch mit der Begründung, dass der „Gebrauch zu reden“ zwangsläufig zu Unregelmäßigkeiten in einem Sprachsystem führen müsse. 17 Diese skeptische Einschätzung der Möglichkeit der „Lehre einer allgemeinen Sprache“ 18 überrascht nun aber umso mehr, als Lambert als der letzte bedeutende Vertreter der Idee einer mathesis universalis 19 in die Tradition Leibniz’ eingeordnet werden kann, welcher seinerseits die Gedanken einer ars characteristica und einer lingua universalis auf logisch-philosophischer Basis Zeit seines Lebens verfolgt hat. Schließlich stellt Lambert fest, dass die natürlichen Sprachen dem von ihm in der Semiotik formulierten zeichentheoretischen Grundsatz ebenfalls nur bedingt genügen, wie in dem 3. Buch des Neuen Organons detailliert Sprache, Zeichen und Erkenntnis 167 20 Cf. Semiotik, §§ 23f., 16. 21 Cf. Semiotik, §§ 35ff., 23f. 22 Gerold Ungeheuer hat bereits darauf hingewiesen, dass Lamberts Ausführungen zur Zeichentheorie nicht auf die Semiotik beschränkt sind, sondern über das gesamte Werk verteilt sind: cf. Ungeheuer 1990 c [Lamberts semantische Tektonik des Wortschatzes als universales Prinzip]: 171. Dies ist jedoch nicht allein mit der durchaus zutreffenden Bemerkung zu erklären, dass die Entwicklung der Gedanken Lamberts „eher sprungweise von Kapitel zu Kapitel und in diesen spiralig meditierend“ als kontinuierlich fortschreitend verläuft, sondern hat auch einen systematischen Hintergrund, der aus dem oben Gesagten hervorgeht: Lamberts Zeichentheorie ist von einem erkenntnistheoretischen Interesse geleitet und fließt somit in seine Ausführungen zur Logik und zur Wahrheitstheorie an jeweils entsprechender Stelle ein. Ebensowenig kann der Gedankengang in der Semiotik von Lamberts sowohl sensualistisch-empiristischen als auch rationalistischen Basisannahmen abgelöst werden, wie sich besonders in der Wortklassifikation in dem 9. Hauptstück der Semiotik zeigt, die auf dem Prinzip der Vergleichbarkeit von „Körper-“ und „Intellektualwelt“ gründet. Auch diesem Aspekt der Semiotik Lamberts hat Gerold Ungeheuer in verschiedenen Aufsätzen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. 23 Alethiologie, § 1, 453. 24 Alethiologie, § 1, 454 [Hervorh. i. Orig. durch Fettdruck bzw. Sperrung]. 25 Cf. das gesamte 1. Hauptstück der Dianoiologie. dargelegt wird. Dieser Grundsatz besagt, dass Zeichen nur dann wissenschaftlichen Maßstäben voll gerecht werden, wenn mit der Theorie der Zeichen anstelle der Theorie der Sachen operiert werden könne 20 , d.h. dass derartige Zeichen es ermöglichen sollen, ohne Rückgriff auf den betreffenden Gegenstand beispielsweise der Natur allein aufgrund von Zeichenoperationen einen zuverlässig richtigen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Vorbild ist dabei für Lambert ebenso wie für Leibniz selbstverständlich die Mathematik. 21 Die exponierte Behandlung der natürlichen Sprache in der Semiotik wird daher erst vollständig deutlich, wenn die angeführten Argumente, dass sie bei allen anderen Arten von Zeichen vorkomme und dass sie das allgemeine Magazin der gesamten Erkenntnis sei, expliziert werden können. Zu diesem Zweck müssen die Ausführungen Lamberts in den ersten beiden Büchern des Neuen Organons beigezogen werden, da hier in der Diskussion der Verwendungsmöglichkeiten anderer Arten von Zeichen auch die Grenzen nicht-natürlichsprachlicher Zeichensysteme aufgezeigt werden. 22 3.2 Wissenschaftstheoretische Grundlagen: Lamberts „mathesis universalis“ Während das erste Buch, die Dianoiologie, als die Logik Lamberts vor allem den Gesetzen oder der Form des Denkens gewidmet ist, stellt Lambert in seiner Alethiologie oder Lehre von der Wahrheit mit der Untersuchung der „Materie“ oder des „Stoffes“, d.h. der Gegenstände des Denkens, „die Wahrheit selbst“ 23 in das Zentrum, denn: Die Bedingungen, welche die Theorie der Form voraussetzt, müssen folglich einmal categorisch werden, das will sagen: Man muß sich versichern, daß das, wobey man anfängt, wahr sey, damit die Wege, die uns sonst auch von Irrthum zu Irrthum führen können, wie dieses bei der Deductione ad absurdum geschieht, (Dianoiol. §. 348-371.) uns von Wahrheit zu Wahrheit führen. 24 Dem gesamten erkenntnistheoretischen Konzept Lamberts liegt eine Begriffstheorie auf merkmalslogischer Basis zugrunde 25 , welche den Entwurf seiner mathesis universalis fundiert. Ausgangspunkt ist dabei das von Lambert angenommene Prinzip der Erfahrungsabhängigkeit menschlicher Verstandes- und Erkenntnistätigkeit; in dieser Hinsicht knüpft Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 168 26 Cf. die entsprechenden Hinweise Lamberts in der Vorrede zu dem Neuen Organon, 5-8 (unpaginiert). 27 Dianoiologie, § 646, 416f. 28 Dianoiologie, § 647, 417. 29 Cf. Dianoiologie, § 647, 417f. 30 Cf. Dianoiologie, § 9, 7. 31 Dianoiologie, § 652, 420. 32 Cf. Locke 4 1981: 130. Lambert explizit an die empiristisch-sensualistische Tradition John Lockes an. 26 Sinnliche Eindrücke werden als Voraussetzung der Ausbildung von - sowohl in phyloals auch ontogenetischer Hinsicht - ersten Verstandesbegriffen betrachtet, welche aufgrund der Verwendung von sprachlichen Zeichen erfolgt. Unmittelbare Empfindungen der sogenannten „gemeinen Erfahrung“, d.h. der alltäglichen Wahrnehmungsweise, führen dabei zu solchen Begriffen, die Lambert der Kategorie der „Erfahrungsbegriffe“ zuordnet. 27 Deren Möglichkeit als solche steht aufgrund ihrer Erfahrbarkeit für Lambert außer Zweifel, jedoch sind sie „individual, sowohl in Absicht auf die Sache, die wir empfinden, als in Absicht auf das Bewußtseyn jeder einzelnen Eindrücke, die die Sache in den Sinnen macht“ 28 und somit nicht wissenschaftlich. Dennoch können Lambert zufolge auf der Basis der gemeinen Erkenntnis allgemeine und abstrakte Begriffe ausgebildet werden, da das Vergleichen mehrerer Empfindungen untereinander zur Einteilung der Dinge, deren Wahrnehmung die Empfindungen bedingen, in Arten und Gattungen führt. 29 Jedoch bleiben die auf diese Weise erworbenen Begriffe - und besonders im Fall abstrakter Begriffe - hinsichtlich ihres Merkmalsumfangs unbestimmt. Das bedeutet für Lambert, dass die Merkmale des betreffenden Begriffs und ihre Verbindung nicht eindeutig benannt werden können, womit wissenschaftliche Maßstäbe wiederum unerfüllt bleiben. 30 Demgegenüber zeichnet sich die Klasse der sogenannten „Lehrbegriffe“ dadurch aus, dass die Möglichkeit der Zusammensetzung der diese komplexen Begriffe konstituierenden Merkmale ohne Rückgriff auf die Erfahrung bewiesen werden konnte. Lehrbegriffe werden von Lambert daher als apriorische Begriffe aufgefasst und sie genügen infolgedessen dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Jedoch sind sie insofern nicht vollkommen von der Erfahrung abgelöst, als „Lehrbegriffe und Erfahrungsbegriffe in einander verwandelt werden können, wenn man nämlich zu den letzten den Beweis findet, erstere aber durch die Erfahrung gleichsam auf die Probe setzt.“ 31 Der besondere Erfahrungsbegriff kann somit aufgrund einer Untersuchung der ihn konstituierenden Merkmale und ihrer Kombinierbarkeit den Status eines allgemeinen Lehrbegriffs erhalten; dieser muss sich seinerseits in einer Prüfung seiner Übereinstimmung mit der Erfahrung bewähren. Den prinzipiell zusammengesetzten Lehrbegriffen und den tendenziell zusammengesetzten Erfahrungsbegriffen stellt Lambert schließlich die „Grundbegriffe“ oder „einfachen Begriffe“ gegenüber, die durch Analyse zusammengesetzter Begriffe in die konstituierenden Merkmale gewonnen werden können. Sie sollen genau ein Merkmal umfassen und daher frei von Widersprüchen sein. Ihre Möglichkeit ergibt sich Lambert zufolge auf diese Weise zwangsläufig. Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um rein theoretisch fundierte, analytische Bestandteile komplexer Begriffe, sondern es liegt ihnen ebenfalls eine Empfindung oder Vorstellung zugrunde, auf der sie basieren und die als „durchaus einförmig“ gekennzeichnet wird, wenn Lambert sich auch nicht festlegt, ob beispielsweise die Begriffe der Farben und der Töne, die von Locke als entsprechende Beispiele angeführt werden 32 , einfach seien. Sprache, Zeichen und Erkenntnis 169 33 Cf. besonders das 1. und das 3. Hauptstück der Alethiologie. Diese Kapitel sind mit den entsprechenden Titeln auch überschrieben. 34 Alethiologie, § 21, 466 [Hervorh. i. Orig. durch Sperrung]. 35 Dianoiologie, § 656, 421f. [Hervorh. i. Orig. durch Sperrung]. Cf. zu dem a priori-Begriff Lamberts die 1980 publizierte Arbeit von Gereon Wolters, Basis und Deduktion, und Gesine L. Schiewers Untersuchung der Rezeption dieser Auffassung des Begriffs bei Herder in: Schiewer 1996: 146-160. 36 Cf. Alethiologie, § 124, 519. 37 Architektonik, 1. Bd., § 20, 16. Die grundlegende Unterscheidung zwischen den sogenannten „einfachen oder für sich gedenkbaren Begriffen“ und den „zusammengesetzten Begriffen“ ist zentral für die Alethiologie, in der die Grundzüge der mathesis universalis Lamberts entworfen werden. 33 Ziel der Untersuchung der „einfachen oder für sich gedenkbaren Begriffe“ ist es diesem Entwurf zufolge aufzuklären, […], woher wir die erste Grundlage zu unsern Begriffen haben, und wiefern etwas einfaches darinn ist, welches sich sodann als a priori ansehen lasse. Dieses macht, daß wir bey den schlechthin klaren Begriffen, die wir durch unmittelbare Empfindungen erlangen, stehen bleiben, und sie theils durch ihre Namen, theils durch ihre nächsten Verhältnisse und verwandte Begriffe suchen, kenntlich und im folgenden brauchbar zu machen. Denn da unsre Begriffe oder wenigstens das Bewußtseyn derselben, durch Empfindungen veranlaßt werden, so müssen wir, wenn wir unsre Erkenntniß wissenschaftlich machen wollen, anfangs immer wenigstens so weit a posteriori gehen, bis wir die Begriffe ausgelesen haben, die einfach sind, und die sich folglich, nachdem wir sie einmal haben, sodann als für sich subsistirend ansehen lassen (Dianoiol. §. 656.). Hiezu aber sind unstreitig die Begriffe, so uns die unmittelbare Empfindung giebt, die dienlichsten, weil wir sie am wenigsten weit herzuholen haben. 34 Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nun Lambert zufolge dadurch gekennzeichnet, dass sie a priori sind in dem Sinn, dass sie von einfachen Begriffen ausgehend systematisch gefolgert werden können. Als apriorisch werden die solchermaßen erschlossenen Wissensinhalte bezeichnet, […] da sich die Möglichkeit eines Grundbegriffes zugleich mit der Vorstellung aufdringt, (§ 654) so wird er von der Erfahrung dadurch ganz unabhängig, so, daß, wenn wir ihn auch schon der Erfahrung zu danken haben, diese uns gleichsam nur den Anlaß zu dem Bewußtseyn desselben giebt. Sind wir uns aber einmal desselben bewußt, so haben wir nicht nöthig, den Grund seiner Möglichkeit von der Erfahrung herzuholen, weil die Möglichkeit mit der bloßen Vorstellung schon da ist. Demnach wird sie von der Erfahrung unabhängig. Und dieses ist ein Requisitum der Erkenntniß a priori im strengsten Verstande (§ 639). 35 Jedoch sei es nicht ausreichend, „einfache Begriffe ausgelesen zu haben, sondern wir müssen auch sehen, woher wir in Ansehung ihrer Zusammensetzung allgemeine Möglichkeiten (Dianoiolog. §§ 692 seqq.) aufbringen können“. Da die einfachen Begriffe ihrerseits Bestimmungen und Modifikationen zulassen sowie untereinander Verhältnisse aufweisen, die durch Vergleiche der Begriffe untereinander aufgefunden werden können, führen diese Begriffe weiterhin auf Grundsätze und Postulate, welche die Möglichkeiten ihrer Zusammensetzungen aufzeigen. 36 Die Bedeutung der Grundsätze und Postulate ergibt sich nach Lambert daraus, dass solche einfachen Begriffe, die einander ausschließen, nicht zu komplexen zusammengesetzt werden können: sie bestimmen „die Möglichkeit der Zusammensetzung der Begriffe a priori, allgemein und genau“. 37 Das Konzept seiner mathesis universalis ist daher folgendermaßen bestimmt: Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 170 38 Architektonik, 1. Bd., § 74, 57 [Hervorh. i. Orig. durch Fettdruck]. 39 Neues Organon, Vorrede, 4 (unpaginiert). 40 Alethiologie, § 119, 516. 41 Alethiologie, § 121, 517. 42 Alethiologie, § 142, 526. 43 Alethiologie, § 144, 528. 44 Alethiologie, § 137, 524. 45 Cf. besonders Alethiologie, § 156, 536 und Dianoiologie, § 103, 64 sowie die mit Beispielen erläuterten Ausführungen in der Alethiologie, §§ 149-158, 530-537. Da die einfachen Begriffe die erste Grundlage unserer Erkenntniß sind, und bey den zusammen gesetzten Begriffen, so fern wir sie uns sollen vorstellen können (§ 9), sich alles in solche auflösen läßt; so machen diese einfachen Begriffe einzeln und unter einander combinirt, zusammen genommen ein System aus, welches nothwendig jede ersten Gründe unserer Erkenntniß enthält. Von diesem Systeme läßt sich eine wissenschaftliche Erkenntniß gedenken (§ 71), und die Sprache beut uns dem buchstäblichen Verstande nach die Wörter Grundlehre, Grundwissenschaft, Architectonic, Urlehre &c. als Namen dazu an. 38 3.3 Natürliche vs. künstliche Zeichensysteme Alle diese Operationen wären nun aber von der Verwendung von Zeichen nur dann unabhängig, „wenn der menschliche Verstand seine Erkenntniß nicht an Wörter und Zeichen binden müßte“. 39 Da dies seiner Auffassung nach jedoch gegeben ist, unternimmt Lambert in der Alethiologie eine differenzierte Betrachtung der Bedeutungsrelationen zwischen den verschieden Arten von Begriffen und den diese bezeichnenden Wörtern. In dem Fall der einfachen Begriffe wird die „gemeine Bedeutung der gebrauchten Wörter“ 40 , d.h. ihre alltagssprachliche Primärbedeutung, auch für wissenschaftliche Zwecke als hinreichend exakt betrachtet. Lambert hebt hervor, dass diejenigen Wörter, die für einfache Begriffe verwendet werden, vergleichsweise die größte Eindeutigkeit und den geringsten Bedeutungswandel aufweisen. Eine Definition dieser Wörter würde daher in einen „logischen Zirkel führen“ 41 , denn es müsste auf solche Wörter zurückgegriffen werden, die ihrerseits in ihrer Bedeutung wesentlich unbestimmter und in stärkerem Maß veränderlich sind, so dass ein derartiges Vorgehen vollkommen unzweckmäßig wäre. Da hingegen bei solchen komplexen Begriffen, welche nicht auf eine als Ganzes vorliegende Sache rekurrieren, eine Vielzahl unterschiedlicher möglicher Zusammensetzungen gegeben ist, indem beispielsweise mehr oder weniger Merkmale zusammengefasst werden, handelt es sich hierbei um „gleichsam willkührliche Einheiten“ 42 , welche eine Definition erforderlich machen. 43 Es ergibt sich auf diese Weise, […], daß die Wörter, wodurch man solche zusammengesetzte Verhältnisbegriffe ausdrückt, von sehr veränderlicher Bedeutung sind, und theils vieldeutig werden, theils auch mit der Zeit ihre Bedeutung ganz ändern, und zu Wortstreitigkeiten häufigen Anlaß geben. 44 Lambert erklärt dies mit einem Hinweis darauf, dass eine Sprache nicht eine ausreichende Anzahl von Wörtern aufweisen könne, um sämtliche möglichen Merkmalskombinationen mit einem eigenen Ausdruck zu belegen. Aus diesem Grund müsse es zu Mehrdeutigkeiten kommen, so dass die Bedeutungen solcher Wörter nicht eindeutig bestimmbar seien, weil andernfalls nicht mehr Begriffe bezeichnet werden könnten, als Wörter verfügbar seien. 45 Sprache, Zeichen und Erkenntnis 171 46 Dianoiologie, § 114, 73. 47 Cf. die Untersuchung des Zeichenbegriffs Lamberts von Gerold Ungeheuer (1990 a) in seiner Studie „Über das ‚Hypothetische in der Sprache‘ bei Lambert“ [1979], in: Ungeheuer 1990: 105. 48 Cf. Dianoiologie, § 113, 72f. 49 Cf. Dianoiologie, § 114, 73. 50 Cf. Dianoiologie, § 113, 72f. sowie Schiewer 1996, 104-113. 51 Cf. Dianoiologie, §§ 173-194, 109-120. Cf. auch Ungeheuer 1990f [Der Tanzmeister bei den Philosophen], in: Ungeheuer 1990: 244-280, bes. 267f. 52 Dianoiologie, § 232, 141f. 53 Dianoiologie, § 446, 288f. [Hervorh. i. Orig. durch Sperrung]. Es ist daran zu erinnern, dass im 18. Jahrhundert noch mit der traditionellen Logik gearbeitet wurde und erst im 19. Jahrhundert formale Logiken eingeführt wurden. Die zentrale Bedeutung zusammengesetzter Begriffe für die wissenschaftliche Erkenntnis - in der es sich bei zusammengesetzten Begriffen um abstrakte oder allgemeine Gattungsbegriffe handelt - einerseits und die Unerlässlichkeit der Zeichenverwendung andererseits veranlasst Lambert zu einer weiteren Auseinandersetzung mit der Problematik der Bezeichnung. Er geht nun davon aus, dass es „figürliche Vorstellungen von Begriffen geben sollte, die ganz abstract sind“. 46 Eine solche „figürliche“ Darstellungsweise entspricht dem Ideal Lamberts wissenschaftlicher Zeichensysteme, da hier ein Abbildungsverhältnis auf ikonischer Basis zwischen der entsprechenden Sache respektive ihrem Begriff und dem Zeichen vorliegt. 47 Lambert führt verschiedene Beispiele solcher Darstellungsmöglichkeiten an, wie z.B. die genealogischen Stammtafeln 48 , Tabellen 49 sowie die Verwendung „genauester Metaphern“ 50 , die als konkreter Ausdruck in der übertragenen Verwendung einen abstrakten Begriff veranschaulichen können, und entwickelt eigene Figurendiagramme zur Abbildung einfacher Sätze. 51 Derartige Darstellungsweisen bezeichnet Lambert insgesamt als Übersetzungen, da es sich um die „Verwechslung gleichgültiger Redensarten, nämlich der figürlichen und solcher, die nicht figürlich sind“, handelt, „weil die figürlichen Redensarten als eine besondere und zur Zeichnung dienende Sprache angesehen werden können“. 52 Zugrundeliegendes Prinzip ist daher bei all diesen Darstellungsformen das der „doppelten Uebersetzung“, die Lambert explizit hervorhebt: Die Data sind eine Frage über ein vorgegebenes Object, und zwar mit eigenen Wörtern ausgedrückt. Das Quaesitum ist, eben diese Frage mit logischen Wörtern oder durch logische Begriffe dergestalt vorzustellen, daß man vermittelst derselben die Methode zur Auflösung der Frage finden, und folglich dieselbe wirklich auflösen könne. 53 Diese Ausführungen machen nun das von Lambert in der Vorrede angeführte Argument, dass die Sprache bei allen anderen Arten von Zeichen vorkomme, einsichtig: Sie bleibt das Fundament der Zeichenverwendung auch im wissenschaftlichen Kontext, in dem „figürliche Darstellungen“ zur Unterstützung der Problemlösung beigezogen werden sollen. Jedoch ist damit noch nicht erklärt, aus welchem Grund hier nicht vollständig auf die natürliche Sprache verzichtet werden kann. Bereits in der Diskussion der von ihm eingeführten Liniendiagramme gibt Lambert die entscheidende Voraussetzung an, welche als Bedingung für eine konsequenten Verwendung ikonischer Darstellungsweisen betrachtet werden muss: Man sieht aus allem diesem, daß die hier angegebene Zeichnungsart eben so weit geht, als unser Erkenntniß bestimmt ist, und uns überdies noch augenscheinlich zeigt, wie und wo sie anfängt Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 172 54 Dianoiologie, § 194, 119. 55 Leibniz beschränkt die Nützlichkeit seines Ansatzes tatsächlich zunächst explizit auf die Formebene, da er mit nur vorläufigen charakteristischen Zeichen operieren muß: „Ich machte nämlich die Fiktion, jene so wunderbaren charakteristischen Zahlen seien schon gegeben, und man habe an ihnen irgend eine allgemeine Eigenschaft beobachtet. Dann nehme ich einstweilen Zahlen an, die irgendwie mit dieser Eigentümlichkeit übereinkommen und kann nun mit ihrer Hülfe sogleich mit erstaunlicher Leichtigkeit alle Regeln der Logik zahlenmäßig beweisen und zugleich ein Kriterium dafür angeben, ob eine gegebene Argumentation der Form nach schlüssig ist. Ob aber ein Beweis der Materie nach zutreffend und schlüssig ist, das wird sich erst dann ohne Mühe und ohne die Gefahr eines Irrtums beurteilen lassen, wenn wir im Besitze der wahren charakteristischen Zahlen der Dinge selbst sein werden.“ Leibniz 3 1966: „Zur allgemeinen Charakteristik“, in: Leibniz 3 1966, 1. Bd., 37f. 56 Dianoiologie, § 656, 421 [Hervorh. i. Orig. durch Sperrung]. 57 Dianoiologie, § 686, 438. 58 Dianoiologie, § 656, 422 [Hervorh. i. Orig. durch Fettdruck]. 59 Dianoiologie, § 700, 450 [Hervorh. i. Orig. durch Fettdruck]. 60 Cf. Dianoiologie, § 686, 438. unbestimmt zu werden, und wo wir die fernere Bestimmung aus der Natur der Sache selbst noch erst herleiten müssen. Ferner sehen wir gleichfalls daraus, daß, wenn man diese Bestimmungen vollständig machen könnte, unsere Erkenntniß figürlich und in eine Art von Geometrie und Rechenkunst verwandelt werden könnte. 54 Hier knüpft Lambert nun unmittelbar an den Entwurf Leibniz’ einer „ars characteristica“ und „ars combinatoria“ an, verlagert jedoch das Problem ihrer Einrichtung von der Schwierigkeit der Auffindung solcher Zeichen, die in idealer Weise charakteristisch sind, auf die Ebene der „Materie“ der Erkenntnis. 55 Es wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass die Verwirklichung von Lamberts apriorischem Ideal der Wissenschaft davon abhängt, ob es gelingt, komplexe Begriffe in Grundbegriffe so zu zergliedern, […] daß unsre wissenschaftliche Erkenntniß ganz und im strengsten Verstande (§ 639) a priori seyn würde, wenn wir die Grundbegriffe sämmtlich kenneten und mit Worten ausgedrückt hätten, und die erste Grundlage zu der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung wüßten. 56 Sofern die Grundbegriffe und ihre Kombinierbarkeit untereinander in einer Wissenschaft vollständig bekannt sind, ist es möglich, komplexe Lehrbegriffe a priori zu bilden, womit die Wissenschaftlichkeit in jeder Hinsicht gewährleistet wäre. Dann können, so Lambert, die entsprechenden Wörter zur Bezeichnung der Grundbegriffe als reine „Benennungen“ betrachtet werden, die allein zur Unterscheidung der Grundbegriffe dienen. Vorauszusetzen ist dabei allein, dass „jeder von allen Menschen mit einerley Namen benennt“ werde, wie Lambert weiter unten spezifiziert. 57 Auf diese Weise könne die „anschauende Erkenntniß mit der figürlichen“ 58 verbunden werden: Denn wäre dieses, so wären wir auch nicht mehr so an die Wörter gebunden, und könnten, wie in der Algeber, statt derselben, wissenschaftliche Zeichen annehmen, und die ganze Erkenntniß auf eine demonstrative Art figürlich machen (§ 114, 173). 59 Dieses wünschenswerte Ziel ist nach Lambert jedoch nur in einigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie beispielsweise der Algebra, der Geometrie und der Phoronomie, erreicht worden, die von den natürlichen Sprachen weitgehend unabhängig seien. Hier seien die einfachen Begriffe aber durch die entsprechenden einfachen Gegenstände gegeben, was ihre Auffindung erheblich erleichtere. 60 Jedoch seien in den meisten Wissenschaften die Sprache, Zeichen und Erkenntnis 173 61 Cf. Dianoiologie, § 696, 445. Lambert weist hier ferner darauf hin, dass auch die zweite Bedingung apriorischer Erkenntnis nicht erfüllt sei, da ihre Bezeichnung durch Wörter innerhalb einer Sprachgemeinschaft nicht ganz einheitlich erfolge. 62 Zur sprachphilosophischen Tradition des Skeptizismus cf. Taylor 1992; zur kritischen Diskussion s. Hess- Lüttich & Lüscher 1993. 63 Semiotik, §§ 23 und 24, 16; cf. Ungeheuer 1990 a: 101 u. 121, Fn. 14. 64 Neues Organon, Vorrede, 9 (unpaginiert); cf. Ungeheuer 1990 a: 104. einfachen Begriffe keineswegs vollständig bekannt und in eindeutiger Weise bestimmt 61 , so dass die „materielle“ Basis der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht als gesichert bezeichnet werden kann. Dies wäre jedoch die unabdingbare Voraussetzung für die Erzielung wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns mittels reiner Zeichenoperationen. Aus diesem Grund - so muss aus dem zuletzt angeführten Zitat gefolgert werden - ist es nicht möglich, auf die natürliche Sprache zu verzichten und sie durch wissenschaftliche Zeichen zu ersetzen, obwohl sie, wie Lambert durchaus bewusst ist, im Hinblick auf wissenschaftliche Erfordernisse als problematisch zu bezeichnen ist. Dies klärt nun die Formulierung, dass die Sprache das allgemeine Magazin der gesamten Erkenntnis sei: neben der „gemeinen Erkenntnis“ muss sie auch weite Teile der wissenschaftlichen umfassen. Darüber hinaus verweist die zitierte Erläuterung Lamberts, dass sie „wahres, irriges und scheinbares ohne Unterschied“ einbezieht, aber auch auf die detaillierte Untersuchung in der Semiotik des „Metaphysischen“, des „Charakteristischen“ und des „Willkürlichen“ der Sprache, welches bedingt, dass sie einerseits Aspekte aufweist, die sehr wohl als figürlich bezeichnet werden können und daher wissenschaftlichen Ansprüchen Genüge leisten, und andererseits durch rein arbiträre Strukturen konstituiert wird. Der Prüfung dieser heterogenen Struktur natürlicher Sprache ist in Konzentration auf das Deutsche die Semiotik gewidmet, da sich für Lambert gezeigt hat, dass Sprache aus den angeführten Gründen auch für den wissenschaftlichen Kontext ein unabdingbares Instrument darstellt. 4 Ungeheuers Lambert-Lektüre Für Ungeheuer steht Lambert mit seiner Semiotik, deren Titel auf Lockes Essay concerning Human Understanding zurückgehen dürfte, in sprachkritischer Tradition. 62 Er zitiert (1990 a: 101) programmatisch aus der „Vorrede“ die Grundfrage der Semiotik: „Ob die Sprache, in die [der menschliche Verstand] die Wahrheit einkleidet, durch Mißverstand, Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit sie unkenntlicher und zweifelhafter mache, oder andere Hindernisse in den Weg lege? “ - und er stimmt der Antwort Lamberts zu, der Einsicht nämlich in die kruziale Fallibilität natürlicher Sprache. Lamberts Lösung des Problems ist, kurz gesagt, die mathesis universalis; seine Forderung, „die Theorie der Sache auf die Theorie der Zeichen [zu] reduciren“ 63 , dient dem Ziel, Sprache als Verständigungsmittel des Alltags tauglich zu machen für den wissenschaftlichen Gebrauch. Ihn interessiert, „was in den Sprachen willkührliches, natürliches, nothwendiges und zum theil auch wissenschaftliches vorkömmt, und wie sich das metaphysische in den Sprachen von dem characteristischen und bloß grammatischen unterscheide“. 64 Das Programm der Lambertschen Zeichentheorie ist damit formuliert, aber sie ist nirgends systematisch ausgearbeitet. Ihre Rekonstruktion bleibt auf der Agenda, trotz der von Ungeheuer verdienstvollerweise zusammengetragenen Elemente. Lambert hat den „Gebrauch der Ernest W.B. Hess-Lüttich & Gesine Lenore Schiewer 174 65 Cf. Ungeheuer 1990 a: 108. 66 Cf. Ungeheuer 1990 a: 119. 67 Cf. zu einer frühen theoretischen Fundierung der Analyse dialogförmiger Kommunikation die von Ungeheuer angeregte (und von seinem Schüler Helmut Richter betreute) Habilitationsschrift über die „Grundlagen der Dialoglinguistik“ (Hess-Lüttich 1981). 68 Semiotik, § 334, 203; cf. Ungeheuer 1990 a: 115. 69 Ungeheuer 1990 c [Tektonik des Wortschatzes]: 168-179. 70 Semiotik, §§ 336ff., 204ff. Sprache“ im Auge, also die „kommunikative Praxis“, und „die Verständnisschwierigkeiten bei der Mitteilung von Wissen“. 65 Aufgrund der Abhängigkeit der Begriffe und Bedeutungen von den je individuellen Erfahrungen kommunizierender Subjekte kommt es zu den „Wortstreiten". Wir stellen Hypothesen auf über das vom anderen mit seinen Äußerungen Gemeinte, den Sinn seiner Rede, soweit er (der Sinn) bzw. es (das Gemeinte) nicht aufgrund der „figürlichen“, d.h. unstreitigen und gemeinsam prüfbaren, Ähnlichkeit der darin verwandten Zeichen zum significatum unmittelbar anschaulich, klar und eindeutig ist. Verstehen ist also immer approximativ aufgrund des gegebenen Anteils an den „willkührlichen“ Struktureigenschaften natürlicher Sprachen und ihres daraus folgenden hypothetischen Charakters. Die Hypothesen gehen dabei „immer über die Bedeutungssetzungen des jeweiligen Kommunikationspartners. Dieses Einbeziehen der anderen am Kommunikationsakt beteiligten Personen macht ein wesentliches Stück in der Bestimmung des Begriffs aus.“ 66 Die Einsicht in diese dialogische Grundstruktur von Kommunikation und Semiosis muss heute noch immer gegen die vielfach einseitig sprecherorientierten mainstream-Konzeptionen sprach- und kommunikationstheoretischer Ansätze verteidigt werden. 67 Nach der „Maxime der hermeneutischen Billigkeit“, deren Formulierung manches von dem kommunikations- und zeichentheoretisch antizipiert, was in der modernen Diskursforschung in Konzepten wie dem der triadischen Unterstellungsstruktur mutueller Idealisierungen (Alfred Schütz) oder dem der essentiellen Vagheitsbedingung mundaner Kommunikationspraxis (Harold Garfinkel) wieder zutage tritt, vollzieht sich Verständigung trotz ihres prinzipiell hypothetischen Charakters alltagspraktisch und routinemäßig (automatisiert) unproblematisch, zumindest bis zu dem Punkt, „als bis der eine von den Unterredenden anfängt, zu vermuthen, es müsse Mißverstand in den Worten und Ausdrücken versteckt liegen, vor dessen Aufklärung man nicht sehen könne, ob man in der That nicht einerley Meynung sey“. 68 Diese zu metakommunikativer Problematisierung (oder, mit Fritz Schütze, zu „höhersymbolischer Re-Interpretation“ im Falle metaphorisierter Rede, entsprechend Lamberts zweiter Klasse von Wörtern) nötigenden Punkte sind nun nicht etwa beliebig verteilt im Redefluss (im Kommunikationsprozess), sondern semiotisch begründet. Ungeheuer rekonstruiert die Begründung im Blick auf die Konstitution des Zeichenbegriffs am Beispiel der „semantischen Tektonik des Wortschatzes“ als einem universalen Prinzip. 69 Aus der Anwendung seiner trichotomischen Klassifikation des Lexikons auf die „Theorie der Wortstreite“ leitet Lambert 70 die Vermutung ab, dass die Probleme kommunikativer Übereinstimmung von der semiotischen Modalität des significandum abhängen, d.h. auf einer Achse zwischen Iconizität und Symbolizität zu beschreiben sind: wo Wort, Begriff und Sache unmittelbar miteinander zu verbinden sind, ist die Konfliktwahrscheinlichkeit gering, weil über den sinnlichen Eindruck von Ähnlichkeiten in der „Körperwelt“ leichter Einigkeit zu erzielen ist als über metaphorisierte Gebrauchsroutinen von auf „tertii comparationis“ (statt den Literal- Sprache, Zeichen und Erkenntnis 175 71 Semiotik, § 347, 211; cf. Ungeheuer 1990 a: 117. 72 Ungeheuer 1990 c [Tektonik des Wortschatzes]: 177. 73 Ungeheuer 1990 c [Tektonik des Wortschatzes]: 176. 74 Ungeheuer 1990 c [Tektonik des Wortschatzes]: 178. sinn) bezogenen Zeichen oder gar über definitionsbedürftige Zeichen der „Intellectualwelt“, die auf Wahl und Wille (Kur, Willkür) und Vereinbarung (Konvention) beruhen und immer „Quellen der Vorurtheile“ darstellen, „die von der Auferziehung und Umständen jeder einzelner Menschen herrühren, und die sodann in ganze philosophische Systemen einen augenscheinlichen Einfluß haben“. 71 Demgemäß steige beim Übergang von der ersten über die zweite zur dritten Wortklasse die Wahrscheinlichkeit der Wortstreite, und tatsächlich sei empirisch eine Zunahme der Häufigkeit von Wortstreiten in dieser Richtung zu beobachten. 72 Umgekehrt können die Kriterien zur Bestimmung der lexico-semantischen Klassen - also Ostension (Indexikalität), Similarität (Körperwelt/ Intellectualwelt), Definition (Nominalismus) - als Prozeduren zur Offenlegung, vielleicht gar Beilegung, von Kommunikationskonflikten dienen. 73 Dennoch sind sie unvermeidlich, weil sie in den je individuellen Bedingungen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis wurzeln. Ungeheuer zitiert an herausgehobener Stelle (zum Abschluss seines Aufsatzes) 74 : „Erfahrungen […] machen wir entweder selbst, oder wir haben sie von andern. Erstere sind eigen, letztere fremd. Zwischen beyden Arten findet sich ein vielfacher Unterschied, […]. Einmal sind fremde Erfahrungen in Absicht auf uns allzeit hypothetisch, […] (§ 560, Dian.). „Die eigentliche Klarheit ist individual, und demnach ist unsere ganze allgemeine Erkenntnis schlechthin symbolisch, ungeachtet die klaren Vorstellungen, und besonders die einfachen Begriffe die Grundlage dazu sind.“ (§ 9, Archit.). „Hier liegt“, fügt Ungeheuer (ibid.) hinzu, „das grundsätzliche Problem, das Lambert beschäftigt hat, und hier liegt es für uns heute noch“. Literatur Arndt, Hans Werner 1979: „Semiotik und Sprachtheorie im klassischen Rationalismus der deutschen Aufklärung. Eine historische Einordnung“, in: Zeitschrift für Semiotik 1.4 (1979): 305-308 Freudenfeld, Regina 1996: Gedächtnis-Zeichen. 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