eJournals Kodikas/Code 37/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2014
371-2

Aufmarsch der Phantome

61
2014
Patrick Rupert-Kruse
kod371-20069
Aufmarsch der Phantome Mentale Präsenz und das Empathisieren abwesender Figuren im Film Patrick Rupert-Kruse (Kiel) This article is based on the hypothesis that empathic processes may be directed towards absent characters in movies, which are imagined and, thus, beyond the scope of the analogon of the moving image. This phenomenon can be described as the presence of the absent: the virtual present-making of absent characters in movies through the imagination of the viewer. This point marks the parade of the phantoms: they are the projective additions of the recipient, who fills the vacancies left by the absent characters in order to establish unity and coherence within the particular setting or the referential totality (Verweisungsganzheit) of the mental model of the movie. The presence of the absent, thus, describes the virtual presence of an absent figure in the movie as a mental representation constructed by means of empathic processes. Through this internal construction of an empathic perspective the perceiving and interpreting self becomes a projector that fills the blank spaces within the cinematic image(-system). This effects a transformation of the absent into an object with which one can establish emotional, moral, and similar relationships and to which one can respond. At the center of these considerations is the mental model of the empathic perspective on an absent character, which can be considered a dispositif for empathic emotions or empathic reactions such as sympathy or pity. 1 Einleitung “Dies war der wahre Mensch, wachgehalten von Phantomen” (Don DeLillo). Die Bilder auf der Leinwand, dem Bildschirm oder Monitor, die im Strom der Sukzession vor unseren Augen vorbeiströmen, sind - anders als Fotografien oder Gemälde - nicht allein aus ihrer unbewegten und unveränderten Erscheinung heraus wirksam. Beim Film ist es notwendig, die einzelnen Einstellungen, Szenen und Sequenzen mit ihren Inhalten aktiv und stetig miteinander in Beziehung zu setzen. Es zählt somit nicht allein, was in den filmischen Bildern zu sehen ist, sondern es zählen diejenigen Bilder, die sich der Zuschauer innerhalb der Rezeption macht. Diese Aktivität ist ebenfalls als Voraussetzung für das Empathisieren filmischer Figuren anzusehen. Empathische Prozesse sollen hier als Prozesse des Nachvollzugs verstanden werden, die sich nicht allein auf die visuelle Repräsentation filmischer Figuren beziehen, sondern auf die Erzählung im Allgemeinen, um so in die Konstruktion mentaler Modelle zu münden und zugleich darauf aufzubauen. Ausgehend von der daran anschließenden These, dass sich empathische Prozesse zudem auf abwesende Figuren richten können und folglich imaginativ über das Analogon des filmischen Lichtbildes hinaus gehen, soll ein Phänomen vorgestellt werden, das als Präsenz des Absenten umschrieben werden kann: Das phänome- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Patrick Rupert-Kruse 70 1 Die Unterscheidung zwischen den Ebenen der somatischen und der mental-diskursiven Imagination bezieht sich auf die Gewichtung der beteiligten Systeme. Während die somatische Imagination die basale neuronale Aktivität der Spiegelneuronen betont, werden für die mental-diskursive Imagination höhere kognitive Prozesse einbezogen (zudem kommt hier meist ein narratives Moment bezogen auf die jeweilige Fiktion hinzu). Diesbezüglich schreibt auch Manuela Lenzen: “Die Aktivität der Spiegelneuronen könnte die neuronale Basis der […] mentalen Mimikry oder zumindest eine rudimentäre Basis derselben, eine phylogenetische Vorstufe sein. […] Die Aktivität der Spiegelneuronen ist keine Form theoretischen Schließens, sondern sie produziert im Beobachter einen ähnlichen mentalen Zustand wie im Beobachteten” (Lenzen 2005: 155). Es reicht allerdings nicht aus, mentale Zustände somatisch nachbilden zu können, um anschließend korrekte Vorhersagen über aktuelles oder zukünftiges Verhalten, involvierte emotionale Zustände, Träume, Wünsche oder Begierden von Figuren treffen zu können (vgl. Lenzen 2005: 161). Für eine solche elaborierte empathische Modellierung reichen die Informationen, die allein aus einem neuronalen Nachvollzug und einer Analogisierung resultieren, nicht aus (vgl. Esken 2006: 76). nale Anwesend-Machen abwesender Figuren im Film durch die Imaginationstätigkeit des Rezipienten. Dieser Punkt markiert den Aufmarsch der Phantome: Sie sind die projektiven Ergänzungen (vgl. Voss 2006: 78) des Rezipienten, der die Leerstellen, welche die abwesenden Figuren hinterlassen haben, auffüllen muss, um innerhalb des Relationsgefüges Film Einheit und Zusammenhang zu stiften. Eben so strukturiert sich in der Rezeption von Filmen die Präsenz des Absenten: Anhand von Spuren, die auf die Anwesenheit einer Figur hinweisen, modelliert der Rezipient eine empathische Perspektive - ohne die tatsächliche Anwesenheit der Figur im Filmbild. Er erschafft ein Phantom. Die Spuren, die zu diesem Phantom führen, sind u.a. körpernahe Artefakte, diegetische Objekte und Erzählungen von Figuren. Durch sie wird der Rezipient dazu angeregt, eine empathische Perspektive zu modellieren. Dies erscheint notwendig, da diese Spuren auf eine Position im medialen Text hinweisen, der von einer Figur besetzt sein müsste. Sie umreißen eine empathische Perspektive, bestimmen wie Vektoren einen Schnittpunkt im Raum, ein Figurenmodell innerhalb des mentalen Gesamtmodells des Films. Das Figurenmodell ohne wahrnehmbare Entsprechung auf der Leinwand - das Phantom - ist die durch das Repräsentationsvermögen (re-)generierte Figur, die als notwendig in den Film hineingedacht wird. Die Präsenz des Absenten entspricht der Auffüllung einer Leerstelle, die nur von einem Figurenmodell - also einer empathischen Perspektive - besetzt werden kann. Diese Leerstelle bezieht sich auf eine Position innerhalb des filmischen Sozialsystems, die besetzt zu sein scheint - da Spuren zu dieser Position hinführen -, an deren Stelle aber keine verkörperte, verbildlichte Figur auszumachen ist. Das Figurenmodell würde somit als analoge mentale Repräsentation eine Figur simulieren, die im Film nicht konkret wahrnehmbar ist. Dennoch weist es Eigenschaften der Figur auf, wodurch die Figur als partiell vorhanden gedacht werden kann (vgl. Engell 1994: 41): eine artifizielle Präsenz innerhalb des virtuellen Modells des Films, welches vom Zuschauer innerhalb der Rezeption konstruiert worden ist. Dieser Vorgang kann detailliert über folgende zwei Ausformungen empathischer Prozesse beschrieben werden: somatische Empathie und Perspektiveninduktion. Diese beiden Formen stehen zugleich für zwei unterschiedliche Ebenen der Imagination bzw. Simulation: die somatische und die mental-diskursive. 1 Als Beispiele für erstere dienen u.a. Filme der Ersten- Person-Perspektive wie [Rec] (ESP 2007, Jaume Balagueró & Paco Plaza) und [Rec] 2 (ESP 2011, Jaume Balagueró & Paco Plaza) oder Cloverfield (USA 2008, Matt Reeves), für letztere sollen die Filme Lars und die Frauen (Lars and the Real Girl, USA 2007, Craig Gillespie) Aufmarsch der Phantome 71 und Der Unsichtbare Dritte (North by Northwest, USA 1959, Alfred Hitchcock) herangezogen werden. 2 Rezeption und die mentale Modellierung des Erlebnisraums In der kognitiven Medienpsychologie wird das Bewusstsein des Rezipienten als Simulator bzw. Modellgenerator angesehen (vgl. Ohler 1994; van Dijk & Kintsch 1983; Wuss 1993): Unabhängig davon, ob wir uns in der realen Welt bewegen, ein Buch lesen oder einen Film schauen, simulieren wir mental Welten, Personen oder Figuren sowie deren Emotionen und Handlungen. Bezogen auf die Rezeption von Filmen kann man sagen, dass erst durch unsere imaginative Tätigkeit den filmischen Ereignissen ihr Erlebnischarakter zugewiesen wird. Erst durch die Strukturierung des filmischen Materials als Interaktionsgefüge mentaler Modelle artikuliert sich der Erlebnisraum des Rezipienten. Mentale Modelle sind als von ihrer Komplexität her reduzierte analoge Konstruktionen der Welt zu verstehen, mit denen das menschliche Verstehen - als Prozess der (Wissens-)Strukturbildung - und Inferenzbildung erklärt werden kann (vgl. Johnson-Laird 1983: 2ff.). Analog bedeutet, dass das mentale Repräsentat einen hohen Grad an Ähnlichkeit mit den inhärenten funktionellen und/ oder strukturellen Eigenschaften des Repräsentandums aufweist. Dies lässt darauf schließen, dass ein semiotischer Zusammenhang zwischen den Formen mentaler Repräsentationen und der Welt bestehen muss. Die aktuelle mentale Repräsentation filmischer Informationen - also das mentale Modell eines Films -, die als analog zur Struktur der filmischen Erzählung anzusehen ist, können wir als Situationsmodell (situation model) bezeichnen. Der Begriff des Situationsmodells wurde von Teun A. van Dijk und Walter Kintsch geprägt und ist einer der Kernbausteine ihrer kognitiven Theorie des Verstehens narrativer Texte: A major feature of our model is the assumption that discourse understanding involves not only the representation of a textbase in episodic memory, but, at the same time, the activation, updating, and other uses of a so-called situation model in episodic memory: this is the cognitive representation of the events, actions, persons, and in general the situation, a text is about. (1983: 12; Hervorh. im Original) Das mentale Situationsmodell eines Films beinhaltet nun die filmische Geschichte und ihre Entwicklung bis zum aktuellen Rezeptionszeitpunkt und verknüpft - Peter Ohlers Ausführungen folgend - “die im audiovisuellen Text am stärksten im Vordergrund stehenden Protagonisten, Handlungsräume und Ereignisse” (1994: 32f.). Dieses Modell der filmischen Welt kann nun heuristisch in zwei Arten von Teilmodellen unterteilt werden: in ein Modell der diegetischen Objektwelt und ein Figurenmodell. Durch diese Teilmodelle können wir nicht nur die Figuren und deren Handlungen in Interaktion mit der Diegese erfassen, verstehen und gegebenenfalls nachvollziehen, sondern wir können sie uns in bestimmten Situationen auch imaginierend vergegenwärtigen - mit all ihren Emotionen, Wünschen, Plänen, Motivationen usw. Als Ko-Konstrukteur nimmt der Zuschauer die Bilder auf der Leinwand als Material für die Strukturierung eines virtuellen Repräsentationssystems des Films, das er durch seine imaginative Tätigkeit vielfältig anreichert. Erst durch die mentale Modellierung des filmischen Materials strukturiert sich der Erlebnisraum des Rezipienten: Patrick Rupert-Kruse 72 Aus gespeicherten Informationen und dem ständigen Input, den ihnen die Sinnesorgane liefern, konstruieren sie ein internes Modell der äußeren Wirklichkeit. Dieses Modell ist ein Echtzeit- Modell: Es wird mit so hoher Geschwindigkeit und Effektivität aktualisiert, daß wir es im allgemeinen nicht mehr als ein Modell erleben. Die phänomenale Wirklichkeit ist für uns kein von einem Gehirn erzeugter Simulationsraum, sondern auf sehr direkte und erlebnismäßig unhintergehbare Weise schlicht die Welt, in der wir leben. (Metzinger 1999: 242; Hervorh. im Original) Auf ganz ähnliche Weise, wie wir durch das Modell hindurch in die Welt sehen, blicken wir durch die Bilder der Leinwand hindurch in die diegetische Welt, als ob sie real wäre. Dieses Als-ob jedoch muss als Resultat mentaler Operationen angesehen werden, die an eine Art ästhetischer Einstellung gekoppelt sind. Erst durch die imaginative Tätigkeit des Rezipienten wird den filmischen Ereignissen ihr Erlebnischarakter zugewiesen. Als Zuschauer vollziehen wir im Akt der Rezeption eine Belebung der Bilder, wir reichern sie durch unsere Phantasie an und wandeln die flachen Bilder im Bewusstsein zu “plastischen Dingen” (Münsterberg 1996: 83) um. Dadurch kann die filmische Welt in das phänomenale - das bedeutet ins erlebnishafte - Jetzt dringen und auf den Rezipienten einwirken. Die mentale Konstruktion der filmischen Welt als repräsentationales Konstrukt artikuliert sich folglich als eine virtuelle Gegenwart: “[Und] an diesem Punkt kann man sich erst klarmachen, was es überhaupt bedeutet, zu sagen, dass der phänomenale Raum ein virtueller Raum ist: Sein Inhalt ist eine mögliche Realität” (Metzinger 2000: 339; Hervorh. im Original). In der Rezeption artikuliert sich ein Modus des Als-ob als ästhetische Einstellung und der Rezipient übernimmt seine Rolle als “illusionsbildende[s] Medium des Kinos” (Voss 2006: 73). Dies ist als notwendige Leistung jener rezeptiven Prozesse anzusehen, die vorrangig als phänomenal zu beschreiben sind: Es geht um ein Erleben des Films, das grundsätzlich mit einer imaginativen Belebung des Dargestellten im Modus des Als-ob einer sowohl physiologischen als auch psychologischen Apperzeption und dem Verstehen des Materials gekoppelt ist und folglich mit der Konstitution von Sinn. Diese Belebung vollzieht sich nahezu umgehend, wenn wir einen Film sehen, sehen wir doch Indiana Jones in Jäger des verlorenen Schatzes (Raiders of the Lost Ark, USA 1981, Steven Spielberg) oder Captain Jack Sparrow aus Fluch der Karibik (Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl, USA 2003, Gore Verbinski) nicht als projizierte Objekte unserer Wahrnehmung, sondern als Figuren, zu denen wir eine emotionale Einstellung haben, zu denen wir uns manchmal verhalten, als ob sie real wären. Der Sinn des Films wiederum ist - um eine zentrale Begrifflichkeit Wolfgang Isers aufzugreifen - als die implizite Verweisungsganzheit (1994: 245) zu verstehen, die durch den Rezipienten aus den Fragmenten des Films erst erzeugt werden muss. Folglich müssen die Einstellungen und Szenen mit all ihren Inhalten und dargestellten Beziehungen zusammenhängend modelliert werden, damit sich ein sinn- und erlebnishaftes Gesamtbild ergeben kann. Auf eben dieses Gesamtbild beziehen wir uns, wenn wir von dem Film reden. In der Verweisungsganzheit findet eine Synthese von Wahrnehmung und Vorstellung statt: Lichtbilder und mentale Bilder werden zu einer intermedialen Virtualität vernäht. Aufmarsch der Phantome 73 3 Formen der Empathie: Somatische Empathie und Perspektiveninduktion Im Folgenden soll der Begriff der Empathie nicht als “Hineinversetzen”, “Beseelen” oder das vielzitierte “putting yourself in the shoes of another” (Gordon 1987: 139) mit all seinen Andeutungen von Ich-Verlust und Anders-Werdung gebraucht werden. Vielmehr soll Empathie als Fähigkeit verstanden werden, die Gedanken, Intentionen und Emotionen eines anderen zu erkennen und zu verstehen oder allgemeiner als mentaler Nachvollzug innerer Zustände und Vorgänge von Personen oder Figuren. Anknüpfend an Empathie-Modelle von Stefanie Preston und Frans de Waal (2002) und in medienwissenschaftlicher Sicht besonders von Hans Jürgen Wulff (2002/ 2003), sollen vor allem zwei Ausformungen empathischer Prozesse näher untersucht werden: zum einen die basale Form der somatischen Empathie und zum anderen die kognitive Form der sozialen Empathie bzw. der Perspektiveninduktion. 3.1 Somatische Empathie Somatische Empathie beschreibt den mehr oder weniger automatischen körperlichen Mitvollzug beobachteter motorischer Akte anderer. Hans Jürgen Wulff beschreibt somatische Empathie als eine basale Reaktion, die weitgehend auf einer vorbewussten Leib-Koppelung an das Leinwandgeschehen beruht. Folglich geht es nicht um einen kognitiven Nachvollzug figurenspezifischer Intentionen, Überzeugungen oder komplexer Emotionen, sondern um eine rein affektive Spiegelung. Empathie ist in diesem Rahmen zunächst einmal als ein grundlegender Prozess menschlichen Verstehens anzusehen, der in seinem Fundament auf neurobiologischer Resonanz bzw. Simulation begründet ist. Preston und de Waal formulieren dies - in Anlehnung an die frühe Einfühlungstheorie eines Theodor Lipps (1907) - in ihrer Perception-Action Hypothese folgendermaßen: [Perception] and action share a common code of representation in the brain […]. According to the perception-action hypothesis, perception of a behaviour in another automatically activates one’s own representations for the behaviour, and output from this shared representation automatically proceeds to motor areas of the brain where responses are prepared and executed. (2002: 9f.) Durch die direkte Aktivität der Spiegelneuronen wird so auf somatischer Ebene ein inneres Verstehen einer Person oder Filmfigur aufgrund ihres wahrnehmbaren Verhaltens möglich, da sich die inneren Prozesse von Rezipient und Filmfigur überlagern bzw. spiegeln. Für den kurzen Moment des Erkennens von Emotion oder Bewegung teilen sich folglich Rezipient und Figur die gleichen neuronalen Repräsentationen. Man könnte auch sagen, dass der Rezipient der Figur seinen Körper leiht, um ihr Leben einzuhauchen. Der Rezipient wird so zum temporären Leihkörper; zum cinästhetischen Körper, wie Christiane Voss es in Anlehnung an Vivian Sobchack (vgl. 1992) formuliert: In philosophischer Hinsicht geht es dabei darum, eine starre Subjekt-Objekt-Trennung mit Blick auf das Verhältnis von Leinwandgeschehen und Zuschauerposition aufzuheben, sofern der “cinästhetische Körper” gerade als ein dritter Teil beides umgreift und dieses Verhältnis als eine reziprok dynamische Relation erfahrbar macht. (2006: 80) Patrick Rupert-Kruse 74 Die Informationen, die der Rezipient durch neuronale Simulation über das Innenleben der Figur zu erhalten glaubt, werden aber schon im nächsten Schritt nicht mehr als dem Selbst zugehörig empfunden, sondern mit dem mentalen Figurenmodell verknüpft und somit klar vom Selbstmodell unterschieden. 3.2 Perspektiveninduktion Durch den empathischen Prozess der Perspektiveninduktion gelangen wir schließlich zu einem mentalen Modell der Psyche einer Figur, das wir in ein Gesamtmodell der Figur einbetten. Dieses Gesamtmodell ist es, mit dem wir interagieren und welches das Objekt rezeptiver Prozesse darstellt. Diese Prozesse sind dabei nicht ausschließlich auf den Nachvollzug oder das Mit-Fühlen von Emotionen begrenzt, sondern lassen sich auch auf das Erschließen oder Vermuten anderer Komponenten der Figurenpsyche ausweiten, da Emotionen mit Annahmen, Intentionen, Wahrnehmungen usw. verbunden sind (vgl. Persson 2003: 164). Figurenrezeption bzw. -wahrnehmung unterscheidet sich allerdings durch einen differenten Modus des Denkens von der alltäglichen Personenwahrnehmung. In einer Rezeptionssituation ist die Figurenwahrnehmung eng an den Modus des narrativen Denkens geknüpft, der aus der Interaktion von Weltwissen und kinematografischem Wissen resultiert. Die Narration sorgt dafür, dass der Rezipient die Figuren so modelliert, dass deren Implementierung in den Handlungskontext nachvollziehbar und sinnvoll ist. So gesteuerte kognitive Operationen erlauben die Verknüpfung von Figuren mit anderen Figuren oder Objekten der diegetischen Welt - sie artikulieren das interaktionistische Moment, das die empathische Perspektive einer Figur ausmacht. Dadurch wird es dem Rezipienten möglich, die Figuren mit der Narration zu verknüpfen und somit den weiteren Handlungsverlauf und Figurenverhalten zu antizipieren. Dabei ist zu beachten, dass eine Figur niemals isoliert betrachtet werden kann und darf, da sie normalerweise innerhalb eines Films mit anderen Figuren interagiert. Auch von diesen Figuren werden mentale Modelle generiert und in deren gemeinsamem Handlungsraum miteinander in Verbindung gebracht. Das bedeutet, dass der Rezipient die Fähigkeit und Möglichkeit hat, mehrere Figurenperspektiven zu induzieren und somit zur Nachbildung mehrerer voneinander unterscheidbarer intentionaler Horizonte in der Lage ist. Dies entspricht nach Wulff der Modellierung eines empathischen Feldes und beinhaltet die Gesamtheit der Figurenmodelle, die miteinander interagieren und somit gegenseitig Veränderungen ihrer Modelle hervorrufen können (vgl. 2002: 112f.). Empathische Reaktionen des Rezipienten, wie etwa die Emotion des Mitleids oder die Verifikation von Hypothesen über das Verhalten von Figuren, beziehen sich schließlich auf die verschiedenen Figurenmodelle als Inhalte des empathischen Feldes und wirken sich auf die weiteren Rezeptionsprozesse aus, die ihrerseits wiederum die Modellierung der Perspektiven beeinflussen können. Ein abschließendes Figurenmodell - was nicht bedeutet, dass es ein lückenloses Modell sein muss - steht dem Rezipienten erst am Ende des Films zur Verfügung. Aufmarsch der Phantome 75 4 Somatische Empathie und die Erste-Person-Perspektive Der point of view shot im Film ist verkürzt als derjenige Punkt zu verstehen, von dem aus der Rezipient schauend gemacht wird. Spricht man jedoch von der subjektiven Perspektive im engeren Sinne, ist diese nach Edward Branigan vor allem als Repräsentation des Blicks einer diegetischen Figur zu beschreiben (vgl. 1984: 2). Diese Form der Kamerahandlung bringt diejenige Figur zum Verschwinden, deren Platz die Kamera im filmischen Raum einnimmt, und es kommt zu einer Überlagerung der beteiligten Blicke. Dadurch wird der Zuschauer sowohl im diegetischen Raum des Films als auch im Raum der aktuellen Rezeption verankert und als resonanter Zuschauerkörper ein performativer Teil des Films (vgl. Voss 2006: 81). Durch den optischen point of view shot als nicht-repräsentationales Zeichen einer Figurenpräsenz (vgl. Dyer 1981: 178) wird es dem Rezipienten möglich, die Figur auf somatischer Ebene zu erfahren. Dies entspricht aktuellen Ergebnissen der Spiegelneuronenforschung, die davon ausgehen, dass es eine bidirektionale Verbindung zwischen dem wahrnehmbaren Effekt einer Bewegung und der neuronalen Struktur gibt, die diese Bewegung erzeugt. Demnach wird die Adaption der Ersten-Person-Perspektive eines anderen als Voraussetzung dafür angesehen, dass ein anderer - z.B. ein filmischer - Körper als der eigene wahrgenommen bzw. imaginiert werden kann. Dieser Körper muss jedoch nicht visuell repräsentiert sein, es genügt, wenn Körperteile oder andere Zeichen der Körperlichkeit auf ihn verweisen. Sind nun also bestimmte visuelle, taktile oder propriozeptive Informationen des Films mit der eigenen Wahrnehmung der jeweiligen Umgebung aus der Ich-Perspektive kongruent, vollzieht sich etwas, das in der neurowissenschaftlichen Fachliteratur body swapping genannt wird: Der imaginierte Körper der diegetischen Figur strukturiert sich als Quasi-Präsenz und der resonante Zuschauerkörper wird gleichsam von den kinetischen und synästhetischen Qualitäten des Films zum Schwingen gebracht - die Überlagerung des Blicks wird zur Überlagerung des somatischen Erlebens. Vivian Sobchack spricht diesbezüglich auch von einer embodied vision - einer Umwandlung visueller Daten in synästhetische Empfindungen durch unseren Körper. Dies äußert sich schließlich in neuronaler Aktivität der beteiligen Spiegelneuronennetzwerke und in somatischen Reaktionen des Rezipienten und ist gleichsam als Artikulation des Körperlichen der körperlich abwesenden, blickenden Figur anzusehen. Der Zuschauer wird folglich im Rezeptionsprozess zum somatischen Bedeutungsraum. Filme, die verstärkt mit dem eben beschriebenen Phänomen in Verbindung gebracht werden können, sind neben Blair Witch Project (The Blair Witch Project, USA 1999, Daniel Myrick & Eduardo Sánchez), vor allem Filme wie [Rec], Cloverfield oder [Rec] 2 , die durch ihre besondere subjektive Erzählperspektive für Aufsehen gesorgt haben. In diesen Filmen wird das filmische Erleben exemplarisch über das Zusammenspiel von Zuschauer und dem Konstrukt des Figur/ Kamera-Hybriden (vgl. Grabbe & Kruse 2008: 306; Kruse 2010: 251ff.) strukturiert. Er beschreibt das Kollektiv aus Figur und Kamera als funktionelles kybernetisches Ensemble und ist als eine Verschmelzung der filmischen Figur mit der diegetischen Kamera anzusehen. Durch die Zuschreibung der Erste-Person-Perspektive zu einem kybernetischen Ensemble und deren gleichzeitige Adaption als eigene Perspektive erlebt der Rezipient die Bewegungen des Hybriden im filmischen Raum am eigenen Leib mit. Dies wird in Cloverfield vor allem in den Szenen deutlich, in denen die Protagonisten auf der Flucht vor dem außerirdischen Monster sind, das Manhattan in Schutt und Asche legt (Abb. 1). Patrick Rupert-Kruse 76 Abbildung 2: Larras Einsatz im Lüftungsschacht ist über dessen Helmkamera mitzuverfolgen. (Quelle: [Rec] 2 ) Abbildung 1: Kopflose Flucht durch New York. (Quelle: Cloverfield) In den beiden [Rec]-Filmen konzentriert sich dieses Moment vor allem auf die Kampfsequenzen mit den zu Zombies mutierten Bewohnern des Mietshauses. Doch während die Perspektivierung in [Rec] und Cloverfield vor allem über die Handkamera geschieht, wird in [Rec] 2 zusätzlich dazu eine Helmkamera etabliert, durch die der Zuschauer sich dem natürlichen Blick der Figuren noch stärker annähert. Diese Kameras befinden sich an den Helmen der Mitglieder eines Einsatzkommandos, das zusammen mit dem zweifelhaften Dr. Owen vom Gesundheitsministerium in das vom Zombie-Virus befallene Haus eindringt, das bereits aus dem ersten Teil bekannt ist. Durch die Helmkamera in [Rec] 2 hat man als Zuschauer das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, u.a. dadurch, dass manchmal zu sehen ist, wie die Waffe oder die Hand des Helmkameraträgers am unteren Bildschirmrand in den filmischen Raum hineinragt (Abb. 2). Aufmarsch der Phantome 77 Abbildung 3: Bianca wird in die Gemeinde integriert. (Quelle: Lars und die Frauen) Diese Konstitution des Blicks, die direkt durch die Geschehnisse innerhalb des diegetischen Raums beeinflusst wird, kann als nicht-repräsentationales Zeichen für das somatische Erleben des Hybriden gelesen werden. Durch den Blick des Hybriden erlebt der Rezipient folglich dessen Flucht am eigenen Leib mit. Die ständige Bewegung des Blicks springt auf den Körper des Rezipienten über, steckt ihn an und bringt ihn als Resonanzkörper des filmischen Bildes zum Schwingen. Die Schwingungen werden als somatische Qualia der empathischen Perspektive des Abwesenden in einem mentalen Modell repräsentiert: als Präsenz des Absenten. 5 Empathische Perspektive als Fiktion Während in Erste-Person-Perpektive-Filmen die Kamerahandlung als Ausdrucksakt einer wahrnehmenden Figur auf somatischer Ebene gedeutet werden kann, geht von dem Objekt im folgenden Beispiel keinerlei Ausdrucksverhalten aus. Hier vollzieht sich die Modellierung der empathischen Perspektive des Objekts als Figur über das Verhalten der übrigen Figuren und damit über diskursive und pseudo-interaktionistische Strukturen. Das Objekt, um das es in Lars und die Frauen geht, ist die lebensechte Puppe Bianca, die sich der schüchterne und zurückgezogen lebende Lars Lindstrom - gespielt von Ryan Gosling - im Internet bestellt. Lars lebt nach dem Tod der Eltern in der Garage seines Elternhauses. Als er eines Tages verkündet, dass er jemanden kennen gelernt hat, sind sein Bruder und dessen Frau außer sich vor Freude. Doch das ändert sich schnell, als Lars ihnen die Puppe Bianca als seine neue Freundin vorstellt. Während Lars Bianca wie einen echten Menschen behandelt, sind Gus und Karin von der Situation überfordert. Unter einem Vorwand locken sie Lars zu der Ärztin Dagmar, damit sich diese ein Bild von Lars’ psychischem Zustand machen kann. Dagmar teilt ihnen mit, dass Lars unter Wahnvorstellungen leidet, die ihn Bianca als reale Person sehen lassen. Sie bewertet dies als seinen Versuch, mit den Veränderungen seiner Umwelt und den daraus resultierenden Problemen klarzukommen. Obwohl die Beziehung zwischen Lars und Bianca in der Kleinstadtgemeinde zunächst auf Unverständnis stößt, akzeptieren die Bewohner bald, dass sie Lars nur helfen können, wenn auch sie Bianca wie eine reale Person behandeln. Damit beginnt die Integration der Puppe in die Gemeinde: Bianca beginnt, in einer Boutique auszuhelfen, wird neu frisiert und liest den Kindern im Krankenhaus vor (Abb. 3). Patrick Rupert-Kruse 78 Aufgrund der Behandlung durch Dagmar und der Beziehung zu Bianca, die durch ihre Aktivitäten immer häufiger von Lars getrennt ist, beginnt Lars schließlich, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen - ganz besonders seiner Kollegin Margo, die schon seit Langem in ihn verliebt ist. Dann, eines Morgens, wacht Bianca nicht mehr auf. Alle Versuche von Lars, sie aufzuwecken, scheitern und so wird sie schließlich ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einigen Untersuchungen durch Dagmar berichtet Lars Gus und Karin, dass Bianca schwer erkrankt ist und wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat. Zwar scheint es Bianca schon bald wieder besser zu gehen, doch als Lars und sie zusammen mit Gus und Karin einen Ausflug machen, haucht sie schließlich in Lars’ Armen ihr Leben aus. Dieser Augenblick ist nicht nur für die Figuren des Films, sondern auch - und vor allem - für den Zuschauer ein höchst emotionaler Moment mit der Puppe Bianca als empathisches Zentrum, da ihr in jenem Moment eine empathische Perspektive zugeschrieben wird. Doch wie ist das möglich? Um diese Frage zu beantworten, sollen Hans Jürgen Wulffs Theorie des Schichtenbaus der Diegese und Elena Espositos Konzept der Realitätsverdopplung herangezogen werden. Wulff (2007) schlägt für den Prozess des Diegetisierens eine Unterteilung der filmischen Welt in vier Teilschichten vor: die physikalische Welt, die Wahrnehmungswelt, die soziale Welt und die moralische Welt. Diese vier Schichten zusammen bilden die diegetische Welt. Die Wahrnehmungswelt - auf die sich die folgenden Ausführungen beschränken sollen - enthält alles, was von den Figuren wahrgenommen werden kann. Allerdings können die Wahrnehmungswelten verschiedener Figuren auch voneinander abweichen. In The Sixth Sense (USA 1999, M. Night Shyamalan) ist es beispielsweise so, dass nur der neunjährige Cole Geister sieht, die unter den Menschen wandeln, während den übrigen Figuren dies nicht gestattet ist. Ganz ähnlich stellt sich die Strukturierung der Wahrnehmungsräume in Lars und die Frauen dar. Aufgrund seiner Wahnvorstellung sieht Lars die Puppe Bianca als eine lebendige Frau an und interagiert dementsprechend mit ihr. Dadurch wird schnell klar, dass Bianca als lebendige Person nur im Kopf von Lars existiert, während sie in der Realität lediglich als Puppe anwesend ist. Da sie für Lars lebendig ist, er für alle sichtbar mit ihr interagiert und sie mit den anderen interagieren lässt, kann sie nicht als nicht-real angesehen werden, sondern muss als “auf andere Weise realistisch” (2007: 8) beschrieben werden, wie Elena Esposito es in Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität formuliert. Und zwar als Fiktion. Da Bianca als Frau Teil von Lars’ Wahrnehmungswelt ist, ist sie in dieser als real beschreibbar, während sie in der Wahrnehmungswelt aller anderen - inklusive der Zuschauer - als fiktiver Charakter angesehen werden muss. Sie ist die Fiktion eines fiktionalen Charakters. An diesem Punkt vollzieht sich die Realitätsverdoppelung, die Esposito postuliert: Der Wahrnehmungswelt der Kleinstadtbewohner und Zuschauer muss die Wahrnehmungswelt von Lars als eine mögliche Realität hinzugefügt werden. Diese macht vor allem Sinn, wenn man bedenkt, dass im Verlauf der Erzählung niemand Bianca als Puppe behandelt, sondern als die Frau, die sie in der Einbildung von Lars zu sein scheint. Als Frau ist Bianca der Ausgangspunkt und Endpunkt diverser Handlungen mit unterschiedlichen Figuren, d.h. sie ist Teil eines filmischen Sozialsystems, das durch seine Handlungen auf eine Position hinweist, die von einer Figur besetzt sein müsste. Die Fiktion kann daher nicht als reines Produkt der Einbildungskraft von Lars angesehen werden, da die fiktive Realität reale Auswirkungen auf Lars, dessen Familie und die übrigen Dorfbewohner hat. In der Rezeption vollzieht der Zuschauer die Differenz der beiden Realitätsebenen bzw. diegetischen Schichten mit. Das bedeutet aber auch, dass er beide Welten mental repräsentie- Aufmarsch der Phantome 79 ren muss, da sie sich überschneidende Handlungsräume darstellen. Da der Rezipient keinen direkten Zugang zu der Wahrnehmungswelt von Lars und somit zu der fiktiven Bianca als Frau hat, sondern nur zur allgemeinen Realität und der Puppe Bianca, muss er in der Modellierung der fiktiven empathischen Perspektive den Umweg über die Figuren gehen, die mit Bianca interagieren. Folglich führen Spuren von den Figuren des Films zu Bianca und definieren sie als Trägerin einer empathischen Perspektive: Ihr wird eine Lebensgeschichte eingeschrieben, Emotionen und Wünsche zugeschrieben. Empathisieren beschreibt in diesem Fall also kein Lesen und Repräsentieren einer Perspektive, wie es eigentlich der Fall ist, sondern ein Projizieren und Einschreiben, also das Simulieren einer Perspektive: Das mentale Modell von Bianca als Frau befindet sich in einem Modus der Fiktion. Den Kern der Präsenz des Absenten in Lars und die Frauen bildet folglich der Nachvollzug einer empathischen Perspektive als Fiktion, die ihren Ursprung in einem anderen hat. Die empathische Perspektive entspricht damit dem lesbaren Geist, den Béla Balázs (2001: 16) in der Literatur ausgemacht hat (ganz im Gegensatz zum sichtbaren Geist im Film) und die empathischen Prozesse ähneln denen, die sich in der literarischen Rezeption einer erzählten Figur artikulieren. Biancas innere Prozesse werden dem Rezipienten erzählt und sind folglich als ein vermitteltes Wissen anzusehen. Damit wird die Diegese zum Spurentext, der sowohl von Figuren des Films als auch vom Zuschauer gelesen werden kann. Auf eine besondere Weise wird dies in Alfred Hitchcocks berühmtem Film Der unsichtbare Dritte deutlich, in dem sich die Präsenz des Absenten in Form der Perspektiveninduktion anders strukturiert als bei Lars und die Frauen. In Der unsichtbare Dritte verhält es sich so, dass die abwesende Figur des Geheimagenten George Kaplan sich als Simulakrum strukturiert, dessen Anwesenheit allein durch Zeichen geschaffen bzw. vorgegaukelt wird (vgl. Baudrillard 1994: 6). Denn die Figur George Kaplan existiert nicht. Wie wirksam Spuren der objekthaften Diegese eine empathische Perspektive induzieren können, muss der New Yorker Werbefachmann Roger O. Thornhill (Cary Grant), der Protagonist in Der unsichtbare Dritte, am eigenen Leib erfahren, als er bei einem geschäftlichen Treffen im Plaza-Hotel mit einem gewissen George Kaplan verwechselt und anschließend von bewaffneten Männern entführt wird. Sie bringen ihn zu einem gewissen Mr. Townsend, der ihn auffordert, ihm zu verraten, wie viel er über die Tätigkeit seiner Organisation weiß und wie er zu diesem Wissen gekommen ist. Da sich der verwirrte Thornhill jedoch weigert zu kooperieren, wird er von Townsends Sekretär und einigen Schlägern mit Whisky abgefüllt und in ein gestohlenes Auto gesetzt, mit dem sie ihn über eine Klippe fahren lassen wollen. Doch Thornhill entkommt ihnen und fällt im betrunkenen Zustand der Polizei in die Hände. Zusammen mit einigen Beamten und seiner Mutter (Jessie Royce Landis) will er am nächsten Tag alles aufklären, doch in der Villa ist keine Spur der Verbrecher mehr zu finden. Enttäuscht macht sich Thornhill auf die Suche nach George Kaplan, da dieser der einzige zu sein scheint, der die Verwechslung aufklären kann. Doch in seinem Zimmer im Plaza-Hotel ist Kaplan nicht zu finden. Stattdessen halten sogar die Angestellten in dem Hotel Roger Thornhill für George Kaplan, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen haben. Sie konstruieren - wie Thornhill und die Zuschauer - seine Identität aufgrund der Spuren, die er hinterlassen hat. Im Verlauf seiner Suche nach dem mysteriösen George Kaplan muss Thornhill schließlich feststellen, dass dieser lediglich ein fiktiver Charakter ist, den eine Gruppe von Mitarbeitern der CIA erdacht hat, um die Aufmerksamkeit der Organisation Vandamms von derjenigen Person abzulenken, die sich in die Organisation eingeschlichen hat. Die Figur des George Kaplan kann als ein leerer Charakter beschrieben werden: Er besteht lediglich aus Spuren, die in einer Leerstelle münden. Da aber nur ein Jemand Spuren hinter- Patrick Rupert-Kruse 80 Abbildung 4: Thornhill auf Spurensuche in Kaplans Hotelzimmer. (Quelle: Der unsichtbare Dritte) lassen kann, wird die Leerstelle, die als Ursprung der Spuren identifiziert wird, mit einem Inhalt gefüllt: dem Agenten George Kaplan. Wie dies in dem Film Der unsichtbare Dritte vor sich geht, wird besonders deutlich in der Szene, in der Thornhill und seine Mutter das Hotelzimmer von Kaplan aufsuchen und dort anhand der vorhandenen Spuren auf den Bewohner schließen (Abb. 4). Zusammen mit den beiden formulieren die Zuschauer beim Durchstöbern des Zimmers Figurenhypothesen aufgrund der Annahme, dass das Umfeld seinen Bewohner widerspiegelt. Dies resultiert aus der wechselseitigen Beziehung, in der ein Mensch zu seiner Umwelt steht. Und da “keine Tatsache festgestellt werden kann, ohne daß irgendein Zeichen verwendet wird, das als Index dient” (Sebeok 2000: 92; Hervorh. im Original), kann von der Struktur, in die eine Person eingebettet ist oder war, auf eben diese Person geschlossen werden. Als Thornhill ein Foto auf dem Schreibtisch findet, auf dem Mr. Townsend zu sehen ist, bestätigt dies nicht nur die Verbindung zwischen Townsend und Kaplan, sondern dient ihm auch als Beweis für Kaplans tatsächliche Existenz. Dasselbe semiotische Spiel vollzieht sich ebenfalls anhand der anderen Hinweise, die Thornhill in jenem Zimmer findet. Anhand eines Kamms, in dem übermäßig viele Haare stecken, wird Kaplan Haarausfall zugeschrieben. Bei der Anprobe eines Anzuges aus Kaplans Hotelschrank zieht Thornhill Rückschlüsse auf dessen Größe. Das liegt daran, dass diese Spuren in einem kausalen Verhältnis zu ihrem Verursacher stehen (vgl. Oehler 2000: 20); sie stehen also stellvertretend für den Abwesenden und regen den Rezipienten zur Modellierung einer empathischen Perspektive an, die als Ursprung dieser gegenständlichen Aura gedacht werden kann - in diesem Falle ist dies der Agent George Kaplan. Die so strukturierte Präsenz des Absenten vollzieht sich in einer rezeptiven Geste des Puzzelns. Wie Thornhill sucht auch der Rezipient das fehlende Stück eines Puzzles (und zwar George Kaplan). Beschreibt man nun die soziale Struktur innerhalb Aufmarsch der Phantome 81 des Films als eine semantische Matrix, können sowohl Figuren als auch Gegenstände als Zeichen angesehen werden, die innerhalb der Matrix aufeinander verweisen. Daraus wird ersichtlich, wie wichtig das Verhältnis des Abwesenden zu den strukturell eingebundenen Figuren und Dingen der Matrix ist: Sie sind Verweise, die den Rezipienten als Puzzlespieler darauf hinweisen, wie das fehlende Teil - sprich: das Abwesende - auszusehen hat. Das fehlende Teil im Puzzle wird, wenn man so will, durch die umliegenden Puzzleteile in seiner Form und seinem Inhalt bestimmt. Dadurch kann der Rezipient auf die abwesende Figur schließen und deren Perspektive empathisch modellieren. 6 Schluss Es sollte deutlich geworden sein, dass sich empathische Prozesse in der Rezeption von Filmen - doch auch darüber hinaus - über ein Wechselspiel von Wahrnehmung und Imagination bzw. Simulation strukturieren. Zentrum dieser Prozesse sind mentale Repräsentationen, durch die sich das Verstehen und Erleben des Zuschauers artikuliert. Ähnlich wie Traumbildern, Phantasien oder Halluzinationen kann daher nicht nur den tatsächlich sichtbaren Figuren, sondern auch den Phantomen des Films - den lediglich anwesend gedachten Figuren - eine phänomenale Wirklichkeit zugesprochen werden. Unabhängig davon, ob sie Resultate einer neurophysiologischen Imagination oder einer kognitiv gefärbten mental-diskursiven Imagination sind, sind die Figurenmodelle, die sich innerhalb der Präsenz des Absenten strukturieren, nicht weniger authentisch oder funktional als andere Figurenmodelle (vgl. Sobchack 2006: 192ff.). Sie sind wie diese ein Teil der Erlebniswirklichkeit des Rezipienten. Ihre somatische und mentale Strukturierung bildet die Grundlage für unterschiedliche Ebenen empathischer Reaktionen und somit filmischen Erlebens. Bibliographie Balázs, Béla 2001: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baudrillard, Jean 1994: Simulacra and Simulation, Ann Arbor: The University of Michigan Press. Branigan, Edward 1984: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin / New York / Amsterdam: Mouton Publishers. 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